Language of document : ECLI:EU:T:2011:274

BESCHLUSS DES GERICHTS (Dritte Kammer)

15. Juni 2011(*)

„Nichtigkeitsklage – Finanzieller Beistand der Union für einen Mitgliedstaat, der von gravierenden wirtschaftlichen oder finanziellen Störungen betroffen ist – Verordnung, mit der die Bedingungen und das Verfahren der Gewährung des finanziellen Beistands der Union festgelegt werden – Art. 263 Abs. 4 AEUV – Keine unmittelbare Betroffenheit – Unzulässigkeit“

In der Rechtssache T‑259/10

Thomas Ax, wohnhaft in Neckargemünd (Deutschland), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt J. Baumann,

Kläger,

gegen

Rat der Europäischen Union, vertreten durch T. Middleton, M. Bauer und A. De Gregorio Merino als Bevollmächtigte,

Beklagter,

unterstützt durch

Europäische Kommission, vertreten durch B. Smulders, J.‑P. Keppenne und H. Krämer als Bevollmächtigte,

und durch

Republik Lettland, vertreten durch M. Borkoveca und A. Nikolajeva als Bevollmächtigte,

Streithelferinnen,

betreffend einen Antrag auf Nichtigerklärung der Verordnung (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (ABl. L 118, S. 1)

erlässt

DAS GERICHT (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten O. Czúcz (Berichterstatter), der Richterin I. Labucka und des Richters D. Gratsias,

Kanzler: E. Coulon,

folgenden

Beschluss

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Die Verordnung (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (ABl. L 118, S. 1) soll es ermöglichen, auf akute Schwierigkeiten, die die weltweite Wirtschafts‑ und Finanzkrise sowie den Konjunkturrückgang in einem Mitgliedstaat verursachen können, koordiniert, rasch und wirksam zu reagieren.

2        Die Erwägungsgründe 1 und 2 dieser Verordnung sehen vor, dass „[n]ach Artikel 122 Absatz 2 des Vertrags … einem Mitgliedstaat, der aufgrund außergewöhnlicher Ereignisse, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist, ein finanzieller Beistand der Union gewährt werden [kann]“ und dass „[s]olche Schwierigkeiten … durch eine ernsthafte Verschlechterung der internationalen Wirtschafts‑ und Finanzlage verursacht werden [können]“.

3        Nach ihrem Art. 1 werden in der Verordnung Nr. 407/2010 die Bedingungen und das Verfahren festgelegt, nach denen einem Mitgliedstaat, der von gravierenden wirtschaftlichen Störungen betroffen ist, ein finanzieller Beistand gewährt werden kann. Nach Art. 2 der Verordnung wird der finanzielle Beistand dem betreffenden Mitgliedstaat in Form eines Darlehens oder einer Kreditlinie gewährt und ist auf den bei den Mitteln für Zahlungen bis zur Eigenmittel-Obergrenze vorhandenen Spielraum begrenzt.

4        Mit der Verordnung Nr. 407/2010 wird ein System des finanziellen Beistands eingeführt, das auf Antrag des betroffenen Mitgliedstaats und gemäß einem darauf folgenden Beschluss des Rates der Europäischen Union, der nach dem in Art. 3 der Verordnung festgelegten Verfahren auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit gefasst wird, umgesetzt wird. Dieser Beschluss muss insbesondere wirtschaftspolitische Bedingungen enthalten, die der begünstigte Mitgliedstaat erfüllen muss, um den Beistand zu erhalten.

5        Nachdem die Kommission überprüft hat, ob die Wirtschaftspolitik des begünstigten Mitgliedstaats mit den vom Rat festgelegten Bedingungen übereinstimmt, hat sie gemäß den Art. 4 und 5 der Verordnung Nr. 407/2010 die Darlehen auszuzahlen oder die Mittel aus der Kreditlinie freizugeben. Gemäß Art. 6 der Verordnung muss sie zu diesem Zweck Anleihen auf den Kapitalmärkten auflegen oder Darlehen bei Kreditinstituten aufnehmen. Zudem verwaltet die Kommission nach Art. 8 der Verordnung die Darlehen mit der Europäischen Zentralbank.

 Verfahren und Anträge der Verfahrensbeteiligten

6        Mit Klageschrift, die am 8. Juni 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Kläger, Herr Thomas Ax, die vorliegende Klage erhoben.

7        Mit am 16. September 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem Schriftsatz hat die Kommission beantragt, als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen zu werden. Mit Beschluss vom 18. Oktober 2010 hat der Präsident der Dritten Kammer die Kommission als Streithelferin zugelassen.

8        Mit besonderem Schriftsatz, der am 20. September 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Rat gemäß Art. 114 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben.

9        Mit Schriftsatz, der am 22. Oktober 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Republik Lettland ebenfalls beantragt, als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen zu werden. Diesem Antrag hat der Präsident der Dritten Kammer mit Beschluss vom 29. November 2010 stattgegeben.

10      Die Kommission hat am 30. November 2010 ihre Stellungnahme zur Einrede der Unzulässigkeit des Rates eingereicht. Der Kläger und die Republik Lettland haben keine Stellungnahmen zu dieser Einrede eingereicht.

11      Der Kläger beantragt,

–        die Verordnung Nr. 407/2010 für nichtig zu erklären;

–        dem Rat die Kosten aufzuerlegen.

12      Der Rat und die Kommission beantragen,

–        die Klage als offensichtlich unzulässig abzuweisen;

–        dem Kläger die Kosten aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

13      Das Gericht kann gemäß Art. 114 der Verfahrensordnung auf Antrag einer Partei vorab über die Unzulässigkeit entscheiden. Nach Art. 114 § 3 wird über den Antrag mündlich verhandelt, sofern das Gericht nichts anderes bestimmt.

14      Im vorliegenden Fall hält sich das Gericht durch die Verfahrensunterlagen für ausreichend informiert und beschließt, ohne mündliche Verhandlung durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

15      Der Rat trägt, unterstützt durch die Kommission, im Wesentlichen vor, eine der in Art. 263 Abs. 4 AEUV aufgestellten Zulässigkeitsvoraussetzungen, nämlich, dass die betreffende Handlung bzw. der betreffende Rechtsakt den Kläger unmittelbar betreffen müsse, sei eindeutig nicht erfüllt. Der Mechanismus für die Leistung von finanziellem Beistand, der mit der Verordnung Nr. 407/2010 geschaffen worden sei, könne keine unmittelbare Wirkung gegenüber dem Kläger entfalten, da die Durchführung der Verordnung von verschiedenen anderen Rechtsakten abhänge, die von den Organen angenommen werden müssten und bei denen diese über einen großen Ermessensspielraum verfügten. Daher sei der Kläger nicht klagebefugt.

16      Der Kläger macht geltend, natürliche und juristische Personen seien klagebefugt. Zwar könnten bei Individualklagen nur Entscheidungen mit der Nichtigkeitsklage angefochten werden, es komme jedoch auf die materielle Natur der jeweiligen Handlung an, so dass auch Entscheidungen, die in Form einer Verordnung ergangen seien, mit einer solchen Klage angefochten werden könnten.

 Würdigung durch das Gericht

17      Nach Art. 263 Abs. 4 AEUV kann „[j]ede natürliche oder juristische Person … gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben“.

18      Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die Verordnung Nr. 407/2010 nicht an den Kläger gerichtet ist. Er behauptet jedoch, unmittelbar und individuell von ihr betroffen zu sein.

19      Angesichts der Umstände des Falles ist zunächst das Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit des Klägers zu prüfen.

20      Nach ständiger Rechtsprechung, die auf Art. 230 Abs. 4 EG beruht, verlangt die Voraussetzung, dass eine natürliche oder juristische Person von der mit der Klage angefochtenen Entscheidung unmittelbar betroffen sein muss, dass zwei kumulative Kriterien erfüllt sind, nämlich dass sich die beanstandete Maßnahme erstens auf die Rechtsstellung dieser Person unmittelbar auswirkt und zweitens ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, ihr Erlass vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ergibt, ohne dass weitere Durchführungsvorschriften angewandt werden (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 22. März 2007, Regione Siciliana/Kommission, C‑15/06 P, Slg. 2007, I‑2591, Randnr. 31, und Beschluss des Gerichtshofs vom 15. September 2009, Município de Gondomar/Kommission, C‑501/08 P, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21      Da die in Art. 263 Abs. 4 AEUV enthaltene Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit nicht geändert wurde, gilt diese Rechtsprechung auch für den vorliegenden Fall.

22      Die Verordnung Nr. 407/2010 ist nicht geeignet, sich unmittelbar auf die Rechtsstellung des Klägers auszuwirken. Erstens beschränkt sie sich darauf, die Bedingungen und Verfahren festzulegen, nach denen einem Mitgliedstaat, der von gravierenden wirtschaftlichen Störungen betroffen ist, ein finanzieller Beistand gewährt werden kann, und kann daher den Kläger nicht unmittelbar betreffen.

23      Zweitens ergibt sich aus den Art. 3 bis 5 der Verordnung, dass die Gewährung eines derartigen Beistands von einigen weiteren Handlungen der Organe abhängt. Hinsichtlich der Argumentation des Klägers, wonach seine Rentenanwartschaften infolge des Erlasses der Verordnung Nr. 407/2010 einen Wertverlust erlitten, ist daher festzustellen, dass sich ein solcher Verlust nicht unmittelbar aus der Verordnung ergeben kann, da dem Rat ein erheblicher Ermessensspielraum verbleibt, insbesondere in Bezug auf die wirtschaftspolitischen Bedingungen, die der begünstigte Mitgliedstaat erfüllen muss, um finanziellen Beistand erhalten zu können. Der vom Kläger behauptete etwaige Wertverlust seiner Rentenanwartschaften würde darüber hinaus von zahlreichen weiteren, von der fraglichen Verordnung unabhängigen Faktoren abhängen.

24      Was das Vorbringen des Klägers angeht, wonach die Verordnung Nr. 407/2010 ihn unmittelbar betreffe, da sie unter Verstoß gegen die Art. 122 und 125 AEUV erlassen worden sei und einer „demokratischen Legitimation“ entbehre, genügt die Feststellung, dass die in Art. 263 Abs. 4 AEUV aufgestellte Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit ihres Sinns entleert wäre, wenn der bloße Umstand, Unionsbürger zu sein, wie der Kläger geltend macht, ihm die Befugnis einräumte, gegen alle Handlungen Klage zu erheben, die nach seiner Ansicht gegen die Bestimmungen des Vertrags verstoßen.

25      Da die oben in Randnr. 20 angeführten Kriterien nicht erfüllt sind, kann der Kläger nicht als von der Verordnung Nr. 407/2010 unmittelbar betroffen angesehen werden. Da es sich außerdem um eine Zulässigkeitsvoraussetzung handelt, die für Klagen gegen Handlungen, die nicht an den Kläger gerichtet sind, und Klagen gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, gleichermaßen gilt, braucht nicht über die Frage entschieden zu werden, ob die fragliche Verordnung einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter im Sinne des Art. 263 Abs. 4 AUEV darstellt, um festzustellen, dass der Kläger im vorliegenden Fall nicht klagebefugt ist.

 Kosten

26      Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Kläger unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag des Rates die Kosten aufzuerlegen.

27      Nach Art. 87 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Die Republik Lettland und die Kommission tragen daher ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Dritte Kammer)

beschlossen:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Herr Thomas Ax trägt seine eigenen Kosten und die Kosten des Rates der Europäischen Union.

3.      Die Republik Lettland und die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten.

Luxemburg, den 15. Juni 2011.

Der Kanzler

 

      Der Präsident

E. Coulon

 

      O. Czúcz


* Verfahrenssprache: Deutsch.