Language of document : ECLI:EU:C:2013:86

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

21. Februar 2013(*)

„Art. 48 AEUV – Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen –Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und (EG) Nr. 883/2004 – Alters- und Todesfallversicherung – Besonderheiten bei der Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften zur Altersversicherung – Berechnung der Leistungen“

In der Rechtssache C‑282/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Superior de Justicia de Galicia (Spanien) mit Entscheidung vom 9. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juni 2011, in dem Verfahren

Concepción Salgado González

gegen

Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS),

Tesorería General de la Seguridad Social (TGSS)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano (Berichterstatter) sowie der Richter M. Ilešič, E. Levits, J.‑J. Kasel und der Richterin M. Berger,

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzlerin: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Mai 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS) und der Tesorería General de la Seguridad Social (TGSS), vertreten durch A. R. Trillo García und P. García Perea, abogados,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Pardo Quintillán und V. Kreuschitz als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. September 2012

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 629/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006 (ABl. L 114, S. 1, im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) sowie der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1), geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. L 284, S. 43, im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Salgado González und dem Instituto Nacional de la Seguridad Social (INSS) (im Folgenden: INSS) sowie der Tesorería General de la Seguridad Social (TGSS) über die Höhe der Altersrente der Klägerin des Ausgangsverfahrens.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

„Die Personen, für die diese Verordnung gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten auf Grund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.“

4        Art. 45 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

„Ist nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Anspruchs auf die Leistungen eines Systems, das kein Sondersystem im Sinne des Absatzes 2 oder 3 ist, davon abhängig, dass Versicherungs‑ oder Wohnzeiten zurückgelegt worden sind, berücksichtigt der zuständige Träger dieses Mitgliedstaats, soweit erforderlich, die nach den Rechtsvorschriften jedes anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten; dabei ist unwesentlich, ob diese in einem allgemeinen oder in einem Sondersystem, in einem System für Arbeitnehmer oder in einem System für Selbständige zurückgelegt worden sind. Zu diesem Zweck berücksichtigt er diese Zeiten, als ob es sich um nach den von ihm anzuwendenden Rechtsvorschriften zurückgelegte Zeiten handelte.“

5        Art. 46 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

„Sind die Voraussetzungen für den Leistungsanspruch nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nur nach Anwendung des Artikels 45 und/oder des Artikels 40 Absatz 3 erfüllt, so gilt Folgendes:

a)      Der zuständige Träger berechnet den theoretischen Betrag der Leistung, auf die die betreffende Person Anspruch hätte, wenn alle nach den für den Arbeitnehmer oder Selbständigen geltenden Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungs- und/oder Wohnzeiten nur in dem betreffenden Staat und nach den für diesen Träger zum Zeitpunkt der Feststellung der Leistung geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären. …

b)      Der zuständige Träger ermittelt sodann den tatsächlich geschuldeten Betrag auf der Grundlage des unter Buchstabe a) genannten theoretischen Betrages nach dem Verhältnis zwischen den nach seinen Rechtsvorschriften vor Eintritt des Versicherungsfalles zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten und den gesamten nach den Rechtsvorschriften aller beteiligten Mitgliedstaaten vor Eintritt des Versicherungsfalles zurückgelegten Versicherungs- und Wohnzeiten.“

6        Art. 47 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

„Für die Berechnung des theoretischen Betrags und des zeitanteiligen Betrags nach Artikel 46 Absatz 2 gilt Folgendes:

g)      Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften bei der Berechnung von Leistungen eine durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage heranzuziehen ist, ermittelt diese Durchschnittsgrundlage gemäß den allein nach den Rechtsvorschriften dieses Staates zurückgelegten Versicherungszeiten.“

7        Gemäß Art. 89 der Verordnung sind „im Anhang VI Besonderheiten bei der Anwendung der Rechtsvorschriften bestimmter Mitgliedstaaten aufgeführt“.

8        Ziff. 4 des Abschnitts H über das Königreich Spanien in Anhang VI der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

„a)      In Anwendung des Artikels 47 erfolgt die Berechnung der spanischen theoretischen Leistung anhand der Bemessungsgrundlagen für tatsächlich entrichtete Beiträge des Versicherten in den Jahren unmittelbar vor Entrichtung des letzten Beitrags zur spanischen sozialen Sicherheit.

b)      Der so ermittelte Betrag der Rente wird für Renten gleicher Art um die für jedes folgende Jahr errechneten Steigerungs– und Anpassungsbeträge erhöht.“

9        Art. 90 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor, dass die Verordnung Nr. 1408/71 mit dem Geltungsbeginn der Verordnung Nr. 883/2004 im Wesentlichen aufgehoben wird.

10      Art. 87 Abs. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 enthält die folgende Übergangsbestimmung:

„Die Ansprüche einer Person, der vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung in einem Mitgliedstaat eine Rente gewährt wurde, können auf Antrag der betreffenden Person unter Berücksichtigung dieser Verordnung neu festgestellt werden.“

11      Nach Art. 91 der Verordnung Nr. 883/2004 gilt diese Verordnung ab dem Tag des Inkrafttretens der Durchführungsverordnung.

12      Die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 284, S. 1) ist gemäß ihrem Art. 97 am 1. Mai 2010 in Kraft getreten.

 Spanisches Recht

13      Nach Art. 161 Abs. 1 Buchst. b des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (Ley General de la Seguridad Social), geändert und genehmigt durch das Königliche Dekret Nr. 1/1994 vom 20. Juni 1994, in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: LGSS) setzt der Anspruch auf Altersrente u. a. einen Mindestbeitragszeitraum von 15 Jahren voraus.

14      Art. 162 Abs. 1 LGSS bestimmt:

„Die Berechnungsgrundlage der beitragsabhängigen Altersrente entspricht dem Quotienten, der sich ergibt, wenn die Beitragsbemessungsgrundlagen des Antragstellers der letzten 180 Monate vor dem Monat des Eintritts des Versicherungsfalls durch 210 geteilt werden.“

 Der Ausgangsrechtsstreit und die Vorlagefragen

15      Frau Salgado González entrichtete in Spanien Beiträge zum Sondersystem für Selbständige (Régimen Especial de Trabajadores Autónomos) vom 1. Februar 1989 bis zum 31. März 1999, d. h. für 3 711 Tage, und in Portugal Beiträge vom 1. März 2000 bis zum 31. Dezember 2005, d. h. für 2 100 Tage.

16      Sie beantragte eine Altersrente in Spanien. Am 9. November 2006 wurde ihr diese Rente vom INSS mit Wirkung ab 1. Januar 2006 gewährt.

17      Zunächst setzte das INSS die „Berechnungsgrundlage“ der Leistung nach Art. 162 Abs. 1 LGSS auf 341,65 Euro monatlich fest.

18      Dieser Betrag ergibt sich aus der Addition der Bemessungsgrundlagen der in Spanien vom 1. Januar 1991 bis zum 31. Dezember 2005 entrichteten Beiträge und der Division des Ergebnisses durch 210, wobei dieser Teiler – wie aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte ersichtlich – den gesamten ordentlichen (zwölf pro Jahr) und außerordentlichen (zwei pro Jahr) Beitragszahlungen entspricht, die in einem Zeitraum von 180 Monaten, d. h. 15 Jahren geleistet wurden.

19      Diese Berechnungsgrundlage wurde einer ersten Anpassung, d. h. einer Verminderung um 53 % unterzogen, um die Beitragsjahre von Frau Salgado González zu berücksichtigen. Nach dieser ersten Anpassung betrug die Berechnungsgrundlage 181,07 Euro.

20      Dieser Betrag wurde sodann erneut angepasst, um den Teil der Altersrente festzustellen, für den das Königreich Spanien aufzukommen hatte. Zu diesem Zweck berücksichtigte das INSS das Verhältnis der von Frau Salgado González in Spanien geleisteten Beitragszahlungen zur Gesamtheit der Beitragszahlungen. Der Teil, für den Spanien aufzukommen hatte, wurde auf 63,86 % der angepassten Berechnungsgrundlage festgesetzt, was 115,63 Euro entsprach. Dieser Betrag wurde nach Anpassung und unter Einbeziehung von Aufzahlungen schließlich auf 371,36 Euro festgelegt.

21      Am 8. Januar 2007 beantragte Frau Salgado González, nach deren Auffassung in die Berechnung der Altersleistungen, auf die sie Anspruch hat, auch die von ihr in Portugal gezahlten Beiträge einzubeziehen sind, dass dieser Betrag überprüft und auf 864,14 Euro monatlich festgesetzt werde.

22      Das INSS wies diesen Antrag ab und setzte in weiterer Folge diesen Betrag auf 336,86 Euro monatlich fest.

23      Dieser Betrag ergibt sich, wenn man gemäß Art. 162 Abs. 1 LGSS die Beitragsbemessungsgrundlagen zwischen dem 1. April 1984 und dem 31. März 1999, d. h. während der 15 Jahre vor Entrichtung des letzten von Frau Salgado González in Spanien geleisteten Beitrags, addiert und sie durch 210 dividiert. Da die Klägerin des Ausgangsverfahrens jedoch erst am 1. Februar 1989 begonnen hat, Beiträge an die spanische Sozialversicherung zu entrichten, wurden die Beiträge zwischen dem 1. April 1984 und dem 31. Januar 1989 mit null angesetzt.

24      Auf dieser Berechnungsgrundlage nahm das INSS die in den Randnrn. 19 und 20 des vorliegenden Urteils beschriebenen Anpassungen vor, um den tatsächlichen Betrag der Leistung festzusetzen.

25      Nach Ausschöpfung des Verwaltungswegs reichte Frau Salgado González beim Juzgado de lo Social n° 3 de Ourense eine Klage ein, die ebenfalls ohne Erfolg blieb.

26      Nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts, das als Rechtsmittelinstanz angerufen worden ist, hat das INSS zur Bestimmung der Berechnungsgrundlage für die der Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens zustehende Altersrente Ziff. 4 von Abschnitt H des Anhangs VI der Verordnung Nr. 1408/71 in Verbindung mit Art. 162 Abs. 1 LGSS herangezogen.

27      Das vorlegende Gericht hegt keinen Zweifel daran, dass die von Frau Salgado González in Portugal gezahlten Beiträge nicht in die Berechnung der Berechnungsgrundlage ihrer spanischen Altersrente einbezogen werden können. Es ist jedoch der Auffassung, dass die vom INSS zur Berechnung dieses Betrags verwendete Methode weder den in Art. 48 AEUV genannten Anforderungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Bezug auf die Sozialversicherungsleistungen noch der in Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Gleichbehandlung zwischen sesshaften Erwerbstätigen und Wandererwerbstätigen entspreche.

28      Insbesondere stelle die Anwendung des Teilers 210 bei Wandererwerbstätigen aus der Gemeinschaft, auch wenn sie weniger als 15 Jahre in Spanien Beiträge entrichtet hätten, eine Ungleichbehandlung gegenüber Nichtwandererwerbstätigen dar, die in Spanien ihre Beiträge entrichteten. Bei Beitragszahlungen, die denen eines Nichtwandererwerbstätigen, der in Spanien Beiträge entrichte, entsprächen, falle nämlich die Berechnungsgrundlage für einen Wandererwerbstätigen aus der Gemeinschaft, der seine Beiträge teils im Königreich Spanien, teils in einem anderen Mitgliedstaat entrichtet habe, umso niedriger aus, je weniger Beiträge der Betroffene in Spanien entrichtet habe. Ein solches Ergebnis laufe dem in Art. 48 AEUV vorgesehenen Gemeinschaftsziel zuwider, das darin bestehe, zu verhindern, dass der Betrag der Leistung, die der Wandererwerbstätige erhalten hätte, wenn er nicht Wandererwerbstätiger gewesen wäre, herabgesetzt werde (vgl. Urteile vom 9. August 1994, Reichling, C‑406/93, Slg. 1994, I‑4061, Randnr. 26, und vom 12. September 1996, Lafuente Nieto, C‑251/94, Slg. 1996, I‑4187, Randnr. 38).

29      Je mehr ein Erwerbstätiger in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Spanien Beiträge zahle, umso weniger Zeit bleibe ihm während seiner beruflichen Laufbahn, um Beiträge in Spanien – die als einzige nach Ziff. 4 des Abschnitts H des Anhangs VI der Verordnung Nr. 1408/71 berücksichtigt werden könnten – während des in Art. 162 Abs. 1 LGSS genannten Zeitraums von 15 Jahren zu entrichten. Dies mache den Unterschied zwischen der Lage eines Wandererwerbstätigen, der Beiträge in Spanien zahle, und der eines Nichtwandererwerbstätigen, der ebenfalls in Spanien Beiträge zahle, aus, da Letzterer seine gesamte berufliche Laufbahn zur Verfügung habe, um diese 15 Beitragsjahre abzudecken.

30      Das Tribunal Superior de Justicia de Galicia hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Steht eine Auslegung von Ziff. 4 Abschnitt H des Anhangs VI der Verordnung Nr. 1408/71 dahin, dass für die Berechnung der spanischen theoretischen Leistung auf der Grundlage der tatsächlichen Beitragsbemessungsgrundlagen des Versicherten in den Jahren unmittelbar vor Entrichtung des letzten Beitrags zum spanischen System der sozialen Sicherheit die derart errechnete Summe durch 210 geteilt wird, weil Art. 162 Abs. 1 LGSS diesen Teiler für die Ermittlung der Berechnungsgrundlage der Altersrente vorsieht, mit den in Art. 48 AEUV und Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 niedergelegten Zielen der Gemeinschaft im Einklang?

2.      Sollte die erste Frage verneint werden:

Steht eine Auslegung von Ziff. 4 des Abschnitts H des Anhangs VI der Verordnung Nr. 1408/71 dahin, dass für die Berechnung der spanischen theoretischen Leistung auf der Grundlage der tatsächlichen Beitragsbemessungsgrundlagen des Versicherten in den Jahren unmittelbar vor Entrichtung des letzten Beitrags zum spanischen System der sozialen Sicherheit die derart errechnete Summe durch die Zahl der in Spanien zurückgelegten Beitragsjahre geteilt wird, mit den in Art. 48 AEUV und Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 niedergelegten Zielen der Gemeinschaft im Einklang?

3.      Sollte die zweite Frage verneint werden und unabhängig von der Bejahung oder Verneinung der ersten Frage:

Kommt im vorliegenden Fall eine analoge Anwendung von Anhang XI, Abschnitt „Spanien“, Ziff. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 in Betracht, um den in Art. 48 AEUV und Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 niedergelegten Zielen Rechnung zu tragen, wenn infolge dieser Anwendung auf die portugiesischen Beitragszeiten unter Berücksichtigung der Entwicklung der Verbraucherpreise die spanische Beitragsbemessungsgrundlage angerechnet wird, die zeitlich diesem Zeitraum am ehesten entspricht?

4.      Sollten die erste, die zweite und die dritte Frage verneint werden:

Welche für die Entscheidung des Rechtsstreits zweckdienliche Auslegung von Ziff. 4 des Abschnitts H des Anhangs VI der Verordnung Nr. 1408/71 entspricht, sofern keine der zuvor dargestellten Auslegungen ganz oder teilweise zutrifft, am ehesten den in Art. 48 AEUV und Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 verankerten Zielen der Gemeinschaft sowie dem Wortlaut von Ziff. 4 des Abschnitts H des Anhangs VI?

 Zu den Vorlagefragen

31      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 48 AEUV und Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 sowie Ziff. 4 des Abschnitts H des Anhangs VI dieser Verordnung oder aber Anhang XI, Abschnitt „Spanien“, Ziff. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 der Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, wonach der theoretische Betrag der Altersrente des Selbständigen unabhängig davon, ob er Wandererwerbstätiger ist oder nicht, unveränderlich auf Basis der durch 210 dividierten Beitragsbemessungsgrundlagen dieses Erwerbstätigen während des fixen Referenzzeitraums von 15 Jahren vor der Entrichtung des letzten Beitrags in diesem Mitgliedstaat berechnet wird, wobei weder die Dauer dieses Zeitraums noch der verwendete Teiler angepasst werden können, um den Umstand zu berücksichtigen, dass der betroffene Erwerbstätige sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat.

32      Einleitend ist festzustellen, dass gemäß Art. 91 der Verordnung Nr. 883/2004 in Verbindung mit Art. 97 der Verordnung Nr. 987/2009 die Verordnung Nr. 883/2004 erst ab 1. Mai 2010 gilt.

33      Wie sich aus Randnr. 16 des vorliegenden Urteils ergibt, gewährte das INSS Frau Salgado González am 9. November 2006 eine Altersrente mit Wirkung ab 1. Januar 2006. Wie überdies auch der Generalanwalt in Nr. 30 seiner Schlussanträge betont hat, lässt sich anhand der Akte nicht nachweisen, dass Frau Salgado González die nach Art. 87 Abs. 5 dieser Verordnung zustehende Möglichkeit im Hinblick auf eine neue Feststellung ihrer Rechte in Anspruch genommen hat.

34      Daher kommt die Verordnung Nr. 883/2004 auf das Ausgangsverfahren in zeitlicher Hinsicht nicht zur Anwendung.

35      In Beantwortung der vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Fragen ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1408/71 kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit geschaffen hat, sondern eigene nationale Systeme bestehen lässt und diese nur koordinieren soll. Die Mitgliedstaaten sind daher nach ständiger Rechtsprechung weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig (vgl. Urteile vom 1. April 2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C‑212/06, Slg. 2008, I‑1683, Randnr. 43, sowie vom 21. Juli 2011, Stewart, C‑503/09, Slg. 2011, I‑6497, Randnr. 75).

36      In Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene bestimmt somit das Recht eines jeden Mitgliedstaats u. a. die Voraussetzungen für die Begründung von Ansprüchen auf Leistungen (Urteil Stewart, Randnr. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen des AEU‑Vertrags über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit beachten, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Urteil Stewart, Randnr. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Dabei berücksichtigt nach Art. 45 der Verordnung Nr. 1408/71 im Fall, dass nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats der Erwerb des Anspruchs auf in dieser Vorschrift vorgesehene Leistungen wie etwa die Altersrente davon abhängt, dass Versicherungszeiten zurückgelegt worden sind, der zuständige Träger dieses Mitgliedstaats, soweit erforderlich, die nach den Rechtsvorschriften jedes anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Versicherungszeiten. Zu diesem Zweck berücksichtigt er diese Zeiten, als ob es sich um nach den von ihm anzuwendenden Rechtsvorschriften zurückgelegte Zeiten handele.

39      Im Ausgangsverfahren steht außer Streit, dass das INSS bei der Prüfung, ob Frau Salgado González während des von Art. 161 Abs. 1 Buchst. b LGSS vorgesehenen Mindestzeitraums von 15 Jahren Beiträge gezahlt hat, gemäß Art. 45 der Verordnung Nr. 1408/71 sowohl die in Spanien als auch die in Portugal zurückgelegten Zeiten berücksichtigt hat.

40      Das vorlegende Gericht stellt sich jedoch die Frage, ob das Unionsrecht den vom INSS angewandten Modalitäten zur Berechnung des in Rede stehenden theoretischen Betrags der Leistung entgegensteht.

41      Dabei ist nach Art. 46 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 der theoretische Betrag der Leistung so zu berechnen, als habe der Versicherte seine gesamte berufliche Tätigkeit ausschließlich in dem betreffenden Mitgliedstaat ausgeübt (Urteil vom 21. Juli 2005, Koschitzki, C‑30/04, Slg. 2005, I‑7389, Randnr. 27).

42      Überdies sieht Art. 47 der Verordnung Nr. 1408/71 ergänzende Vorschriften für die Berechnung der Leistungen vor. Insbesondere bestimmt er in Abs. 1 Buchst. g, dass der zuständige Träger in Fällen, in denen nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats bei der Berechnung von Leistungen eine durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage heranzuziehen ist, diese Durchschnittsgrundlage gemäß den allein nach den Rechtsvorschriften dieses Staates zurückgelegten Versicherungszeiten ermittelt. Überdies erläutert Abschnitt H des Anhangs VI der Verordnung Nr. 1408/71, der die Besonderheiten bei der Anwendung der spanischen Rechtsvorschriften darlegt, in Ziff. 4 Buchst. a, dass die Berechnung der spanischen theoretischen Leistung in Anwendung des Art. 47 dieser Verordnung anhand der Bemessungsgrundlagen für tatsächlich entrichtete Beiträge des Versicherten in den Jahren unmittelbar vor Entrichtung des letzten Beitrags zur spanischen sozialen Sicherheit erfolgt.

43      Nach ständiger Rechtsprechung sind Art. 46 Abs. 2 und Art. 47 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 unter Berücksichtigung des Zwecks von Art. 48 AEUV auszulegen, der insbesondere darin besteht, dass die Wandererwerbstätigen nicht dadurch, dass sie ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben, eine Verminderung des Betrags der Sozialversicherungsleistungen erleiden dürfen (Urteile Reichling, Randnrn. 21 und 22, und Lafuente Nieto, Randnr. 33).

44      Zur Feststellung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Leistung hat das INSS den theoretischen Betrag der Altersrente von Frau Salgado González unter Anwendung von Art. 162 Abs. 1 LGSS berechnet, wonach der Betrag anhand der durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage zu berechnen ist.

45      Für die Anerkennung des Leistungsanspruchs hat es zwar gemäß Art. 45 der Verordnung Nr. 1408/71 die Beitragszahlungen in Portugal so berücksichtigt, als handle es sich um nach spanischen Rechtsvorschriften zurückgelegte Beitragszeiten.

46      Doch nach Art. 47 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 1408/71 ist die durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage ausschließlich nach Maßgabe der Höhe der nach den betroffenen Rechtsvorschriften entrichteten Beiträge zu berechnen (vgl. entsprechend Urteil Lafuente Nieto, Randnr. 39).

47      Offensichtlich hat das INSS im Rahmen der Berechnung des theoretischen Betrags der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Leistung die durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage von Frau Salgado González nicht ausschließlich anhand der von ihr in Spanien zurückgelegten Versicherungszeiten in den Jahren unmittelbar vor Entrichtung des letzten Beitrags zur spanischen sozialen Sicherheit berechnet, wie es Art. 47 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 1408/71 und Ziff. 4 Buchst. a des Abschnitts H des Anhangs VI dieser Verordnung vorschreibt.

48      Frau Salgado González hat nämlich vom 1. Februar 1989 bis zum 31. März 1999 insgesamt 3 711 Tage lang, d. h. ca. zehn Jahre und zwei Monate, Beiträge zur spanischen sozialen Sicherheit geleistet, während das INSS einen fiktiven Beitragszeitraum vom 1. April 1984 bis zum 30. Januar 1989 hinzugerechnet hat, damit die Voraussetzung eines Beitragszeitraums von 15 Jahren vor dem letzten Beitrag von Frau Salgado González erfüllt ist. Damit bezweckte das INSS, einen Zähler festzulegen, der durch den in Art. 162 Abs. 1 LGSS vorgesehenen Teiler 210 dividiert wird, und so die durchschnittliche Beitragsbemessungsgrundlage zu berechnen, die notwendig ist, um die Berechnungsgrundlage der Altersrente festzulegen.

49      Da jedoch Frau Salgado González zwischen dem 1. April 1984 und dem 31. März 1989 keine Beiträge entrichtete, berücksichtigte das INSS bei der Berechnung Versicherungszeiten, die nicht in Spanien zurückgelegt worden waren. Da diese Zeiten zwangsläufig mit null angesetzt wurden, hatte deren Berücksichtigung eine Verminderung der durchschnittlichen Beitragsbemessungsgrundlage von Frau Salgado González zur Folge.

50      Fest steht, dass eine solche Verminderung nicht erfolgt wäre, wenn Frau Salgado González nur in Spanien Beiträge entrichtet hätte, ohne ihr Recht auf Freizügigkeit auszuüben. Anders gesagt, entgegen den von Art. 46 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 aufgestellten Anforderungen, wie sie in Randnr. 41 des vorliegenden Urteils genannt worden sind, ist der theoretische Betrag der Altersrente von Frau Salgado González nicht so berechnet worden, als hätte sie ihre gesamte berufliche Tätigkeit ausschließlich in Spanien ausgeübt.

51      Anders würde es sich verhalten, wenn, wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge aufgezeigt hat, die nationalen Rechtsvorschriften Mechanismen zur Anpassung der Berechnungsmodalitäten für den theoretischen Betrag der Altersrente vorsähen, um zu berücksichtigen, dass der Erwerbstätige sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat. Im vorliegenden Fall könnte aufgrund der in Art. 162 Abs. 2 LGSS vorgesehenen Modalitäten der Teiler angepasst werden, um der Zahl der Beiträge für ordentliche und außerordentliche Entgelte, die der Versicherte tatsächlich entrichtet hat, Rechnung zu tragen.

52      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 48 AEUV, 3, 46 Abs. 2 Buchst. a und 47 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung Nr. 1408/71 sowie Ziff. 4 von Abschnitt H des Anhangs VI der Verordnung dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, wonach der theoretische Betrag der Altersrente des Selbständigen unabhängig davon, ob er Wandererwerbstätiger ist oder nicht, unveränderlich auf Basis der durch einen festen Teiler dividierten Beitragsbemessungsgrundlagen dieses Erwerbstätigen während eines fixen Referenzzeitraums vor der Entrichtung des letzten Beitrags in diesem Mitgliedstaat berechnet wird, wobei weder die Dauer dieses Zeitraums noch dieser Teiler angepasst werden können, um den Umstand zu berücksichtigen, dass der betroffene Erwerbstätige sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat.

 Kosten

53      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 48 AEUV, 3, 46 Abs. 2 Buchst. a und 47 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 629/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006, sowie Ziff. 4 von Abschnitt H des Anhangs VI der Verordnung sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, wonach der theoretische Betrag der Altersrente des Selbständigen unabhängig davon, ob er Wandererwerbstätiger ist oder nicht, unveränderlich auf Basis der durch einen festen Teiler dividierten Beitragsbemessungsgrundlagen dieses Erwerbstätigen während eines fixen Referenzzeitraums vor der Entrichtung des letzten Beitrags in diesem Mitgliedstaat berechnet wird, wobei weder die Dauer dieses Zeitraums noch dieser Teiler angepasst werden können, um den Umstand zu berücksichtigen, dass der betroffene Erwerbstätige sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Spanisch.