SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
JULIANE KOKOTT
vom 19. März 2015(1)
Rechtssache C‑153/14
Minister van Buitenlandse Zaken
gegen
K und A
(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Niederlande])
„Richtlinie 2003/86/EG – Familienzusammenführung – Drittstaatsangehörige – Art. 7 Abs. 2 – Integrationsmaßnahmen – Nachweis von Grundkenntnissen der Amtssprache und von landeskundlichen Kenntnissen“
I – Einführung
1. In der vorliegenden Rechtssache geht es darum, ob von einem Drittstaatsangehörigen verlangt werden kann, dass er erfolgreich eine Prüfung über Sprache und Landeskunde eines Mitgliedstaats ablegt, bevor ihm gestattet wird, im Rahmen einer Familienzusammenführung in diesen Mitgliedstaat einzureisen, in dem sich sein ebenfalls drittstaatsangehöriger Ehegatte bereits rechtmäßig aufhält.
2. In diesem Zusammenhang muss der Gerichtshof Art. 7 der Richtlinie 2003/86(2) zum Recht auf Familienzusammenführung (im Folgenden: Familienzusammenführungsrichtlinie) auslegen und beurteilen, ob die fragliche Prüfung eine zulässige „Integrationsmaßnahme“ ist, die der Mitgliedstaat einem nachzugswilligen Drittstaatsangehörigen nach dieser Vorschrift auferlegen darf.
II – Rechtlicher Rahmen
A – Unionsrecht
3. Der Begriff der Integrationsmaßnahme findet nicht nur in der Familienzusammenführungsrichtlinie, sondern auch in der Richtlinie 2003/109(3) betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (im Folgenden: Daueraufenthaltsrichtlinie) und in der Richtlinie 2009/50(4) über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung (im Folgenden: Hochqualifizierten-Richtlinie) Verwendung.
1. Familienzusammenführungsrichtlinie
4. Nach ihrem Art. 1 verfolgt die Familienzusammenführungsrichtlinie das Ziel, „die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige“ festzulegen.
5. Das Kapitel IV der Richtlinie ist mit „Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung“ überschrieben. Es enthält in seinem Art. 7 Abs. 2 die Regelung zu den Integrationsmaßnahmen und bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können gemäß dem nationalen Recht von Drittstaatsangehörigen verlangen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen.
Im Hinblick auf die in Artikel 12 genannten Flüchtlinge und/oder Familienangehörigen von Flüchtlingen können die in Unterabsatz 1 genannten Integrationsmaßnahmen erst Anwendung finden, wenn den betroffenen Personen eine Familienzusammenführung gewährt wurde.“
6. In Kapitel VII („Sanktionen und Rechtsmittel“) bestimmt Art. 17 der Richtlinie:
„Im Fall der Ablehnung eines Antrags, dem Entzug oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland.“
2. Daueraufenthaltsrichtlinie
7. Nach Art. 5 Abs. 2 der Daueraufenthaltsrichtlinie kann ein Mitgliedstaat von einem Drittstaatsangehörigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten anstrebt, verlangen, dass er „Integrationsanforderungen“ gemäß dem nationalen Recht erfüllt.
8. Beantragt der in einem Mitgliedstaat langfristig Aufenthaltsberechtigte einen Aufenthaltstitel in einem zweiten Mitgliedstaat, kann dieser nach Art. 15 Abs. 3 der Daueraufenthaltsrichtlinie gemäß dem nationalen Recht verlangen, dass der Betreffende Integrationsmaßnahmen nachkommt, sofern er nicht zuvor bereits gemäß Art. 5 Abs. 2 der Daueraufenthaltsrichtlinie Integrationsanforderungen erfüllen musste, um die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu erlangen.
3. Hochqualifizierten-Richtlinie
9. Die Hochqualifizierten-Richtlinie privilegiert bestimmte Drittstaatsangehörige, um deren Einwanderung zu fördern. Art. 15 Abs. 3 dieser Richtlinie lautet:
„Abweichend von … Artikel 7 Absatz 2 der [Familienzusammenführungsrichtlinie] … dürfen die darin vorgesehenen Integrationsvoraussetzungen und ‑maßnahmen nur zur Anwendung kommen, nachdem den betroffenen Personen die Familienzusammenführung gewährt wurde.“
B – Niederländisches Recht
10. Nach niederländischem Recht hat der nachzugswillige Ehegatte vor seiner Einreise Grundkenntnisse der niederländischen Sprache auf dem Niveau A1(5) des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für moderne Sprachen(6) und grundlegende landeskundliche Kenntnisse nachzuweisen.
11. Um diesen Nachweis zu erbringen, muss er eine kostenpflichtige Integrationsprüfung bestehen. Wer die mit der Integrationsprüfung verbundenen Kosten in Höhe von 350 Euro nicht beglichen hat, wird nicht zur Prüfung zugelassen.
12. Von der Integrationsprüfung kann bei gravierender geistiger oder körperlicher Behinderung eine Befreiung erteilt werden.
13. Außerdem kann sich der Nachzugswillige auf eine Härtefallklausel berufen, wenn er aufgrund ganz besonderer individueller Umstände dauerhaft nicht zum Bestehen der Prüfung in der Lage ist und nachweist, dass er alle Anstrengungen unternommen hat, die von ihm für das erfolgreiche Ablegen der Prüfung billigerweise erwartet werden können.
14. Schließlich sind auch Staatsangehörige bestimmter Drittstaaten von der Prüfungsobliegenheit freigestellt.
III – Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen
15. Frau K, eine aserbaidschanische Staatsangehörige, und Frau A, eine nigerianische Staatsangehörige, möchten in die Niederlande einreisen, wo sich ihre jeweiligen Ehegatten, die ebenfalls Drittstaatsangehörige sind(7), bereits aufhalten.
16. Um von der Integrationsprüfung befreit zu werden, beriefen sie sich auf körperliche bzw. auf psychische Leiden. Die zuständige Behörde hielt diese aber nicht für hinreichend gravierend und lehnte die Anträge von Frau K und Frau A deshalb ab.
17. Der nunmehr mit dem Rechtsstreit befasste Raad van State hegt Zweifel an der Vereinbarkeit der niederländischen Regelungen zur Integrationsprüfung mit der Familienzusammenführungsrichtlinie. Er ersucht den Gerichtshof, im Wege der Vorabentscheidung folgende Fragen zu beantworten:
1.a) Kann der Begriff „Integrationsmaßnahmen“ in Art. 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie so ausgelegt werden, dass die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten von einem Familienangehörigen eines Zusammenführenden den Nachweis verlangen dürfen, dass er über Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats auf einem Niveau, das dem Niveau A1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für moderne Fremdsprachen entspricht, und über Grundkenntnisse über die Gesellschaft dieses Mitgliedstaats verfügt, bevor diese Behörden diesem Familienangehörigen die Erlaubnis zur Einreise und zum Aufenthalt erteilen?
1.b) Ist es für die Beantwortung dieser Frage erheblich, dass auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, wie im Grünbuch der Europäischen Kommission vom 15. November 2011 zum Recht auf Familienzusammenführung[(8)] beschrieben, nach der nationalen Regelung, die die unter 1.a angeführte Verpflichtung enthält, der Antrag auf Erlaubnis zur Einreise und zum Aufenthalt, sofern der Familienangehörige nicht nachgewiesen hat, dass er aufgrund einer geistigen oder körperlichen Behinderung dauerhaft nicht in der Lage ist, die Integrationsprüfung abzulegen, nur dann nicht abgelehnt wird, wenn ganz besondere persönliche Umstände zusammentreffen, die die Annahme rechtfertigen, dass der Familienangehörige dauerhaft nicht in der Lage ist, den Integrationsvoraussetzungen zu genügen?
2. Steht der Zweck der Familienzusammenführungsrichtlinie und insbesondere deren Art. 7 Abs. 2 im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung, wie in dem erwähnten Grünbuch beschrieben, dem entgegen, dass für die Prüfung, durch die festgestellt wird, ob der Familienangehörige die erwähnten Integrationsvoraussetzungen erfüllt, jedes Mal, wenn die Prüfung abgelegt wird, Kosten in Höhe von 350 Euro und für das Paket zur Vorbereitung auf die Prüfung einmalige Kosten in Höhe von 110 Euro anfallen?
IV – Rechtliche Würdigung
A – Zur ersten Vorlagefrage
18. Die erste Vorlagefrage besteht aus zwei Teilen. Erstens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die niederländische Integrationsprüfung als eine „Integrationsmaßnahme“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie angesehen werden kann. Zweitens fragt das vorlegende Gericht danach, ob die niederländischen Behörden, indem sie nachzugswillige Familienangehörige nur unter engen Voraussetzungen von dieser Prüfungsobliegenheit befreien, gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.
1. Die niederländische Integrationsprüfung als „Integrationsmaßnahme“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie
19. Als Tatbestandsmerkmal des Unionsrechts ist der Begriff der „Integrationsmaßnahme“ autonom auszulegen.
20. Im Unionsrecht findet sich zwar keine Definition des Begriffs der Integrationsmaßnahme, anhand deren sich beurteilen ließe, ob er auch Integrationsprüfungen wie die niederländische umfassen kann. Allerdings ist der Begriff der „Maßnahme“ hinreichend offen, um einen Integrationstest(9) einzuschließen.
21. Dies wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass Art. 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie nicht in allen Sprachfassungen den gleichen Wortlaut aufweist. Während in der Mehrzahl der Sprachfassungen(10) von „Integrationsmaßnahmen“ die Rede ist, spricht die niederländische Fassung von „integratievoorwarden“, also Integrationsvoraussetzungen.
22. Zum einen kann gerade der Wortlaut der niederländischen Fassung so verstanden werden, dass als Familienzusammenführungsvoraussetzung eine Integrationsprüfung verlangt werden darf.
23. Zum anderen ist die „Integrationsmaßnahme“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie unabhängig vom Wortlaut der jeweiligen Sprachfassung als eine „Voraussetzung“ für die Familienzusammenführung konzipiert, worauf die Überschrift von Kapitel IV der Familienzusammenführungsrichtlinie hinweist. Dass der fraglichen Integrationsmaßnahme hinlänglich nachgekommen wurde und mithin die „Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung“ im Sinne des Kapitels IV erfüllt ist, muss für den jeweiligen Mitgliedstaat daher auch nachprüfbar sein, zumal in der Integration der Drittstaatsangehörigen eines der Ziele der Richtlinie liegt.
24. Vor diesem Hintergrund ist es weder begrifflich noch systematisch, noch teleologisch ausgeschlossen, dass eine Integrationsmaßnahme im Sinne der Familienzusammenführungsrichtlinie eine Prüfung umfasst, mit deren Hilfe der Nachweis erbracht wird, dass eine integrationsbezogene Familienzusammenführungsvoraussetzung vorliegt.
25. Dass eine solche Prüfung zudem vom Nachzugswilligen in der Regel vorab eingefordert werden kann, zeigen im Übrigen Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie, der Integrationsmaßnahmen vor dem Familiennachzug nur bei Flüchtlingen ausschließt, sowie Art. 15 Abs. 3 der Hochqualifizierten-Richtlinie, der für die Angehörigen dieser privilegierten Einwanderergruppe die gleiche Erleichterung vorsieht.
26. Auch aus der Daueraufenthaltsrichtlinie, die zeitgleich mit der Familienzusammenführungsrichtlinie beraten wurde, lassen sich keine Argumente herleiten, die zwingend dagegen sprächen, dass Integrationsmaßnahmen im Sinne der Familienzusammenführungsrichtlinie mit dem erfolgreichen Ablegen einer Prüfung verbunden wären.
27. Nach der Daueraufenthaltsrichtlinie kann der Drittstaatsangehörige in einem ersten Mitgliedstaat „Integrationsanforderungen“ unterworfen werden, braucht aber, falls er diesen genügt hat, keinen weiteren „Integrationsmaßnahmen“ in einem zweiten Mitgliedstaat nachzukommen, wenn er dort einen Aufenthaltstitel beantragt.
28. Aus dem begrifflichen Gegensatz zwischen „Integrationsanforderung“ und „Integrationsmaßnahme“ folgert Generalanwalt Szpunar für die Daueraufenthaltsrichtlinie, dass bloße Integrationsmaßnahmen keine „Anforderungen“ vorsehen dürften; sie dürften insbesondere „weder de iure noch de facto ein Instrument der Selektion von Personen oder der Migrationskontrolle sein“(11).
29. Es bleibt abzuwarten, ob der Gerichtshof dieser Auffassung folgt. Unabhängig davon ist es allerdings nicht zwingend, den Begriff der Integrationsmaßnahme in der Familienzusammenführungsrichtlinie und in der Daueraufenthaltsrichtlinie gleich auszulegen(12). Denn die Konstellationen, die die Richtlinien regeln, sind voneinander verschieden.
30. Die begriffliche Differenzierung zwischen Maßnahme und Anforderung in der Daueraufenthaltsrichtlinie erklärt sich damit, dass verhindert werden soll, dass Drittstaatsangehörige mit Daueraufenthaltsrecht, die eine Integrationsprüfung in einem ersten Mitgliedstaat bereits bestanden und damit einer dortigen Integrationsanforderung genügt haben, in einem weiteren Mitgliedstaat sich neuerlichen Integrationsprüfungen unterziehen müssen. Der erstmalige Zuzug von Familienangehörigen in die Union, den die Familienzusammenführungsrichtlinie zum Gegenstand hat, hat dagegen eine andere Qualität: Für eine begriffliche Differenzierung wie in der Daueraufenthaltsrichtlinie bestand in der Familienzusammenführungsrichtlinie kein Anlass, weil es dort um den Nachzug von Familienangehörigen ins Unionsgebiet geht und kein erneuter Vollzug von Integrationsmaßnahmen nach bereits anderweitig erfüllten Integrationsanforderungen zu befürchten war.
31. Die niederländische Integrationsprüfung als Einreisevoraussetzung lässt sich daher ungeachtet der Terminologie der Daueraufenthaltsrichtlinie als „Integrationsmaßnahme“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie verstehen(13).
32. Allerdings muss die fragliche niederländische Maßnahme auch in Bezug auf den verfolgten Integrationszweck angemessen sein und darf die praktische Wirksamkeit der Familienzusammenführungsrichtlinie nicht in Frage stellen(14), was im Folgenden im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu untersuchen ist.
2. Zur Verhältnismäßigkeit der niederländischen Integrationsprüfung
33. Nach Auffassung des Königreichs der Niederlande soll mit der Integrationsprüfung die Ausgangslage der Nachziehenden in den Niederlanden verbessert und damit deren Integration in die niederländische Gesellschaft gefördert werden.
34. Die niederländische Regelung verfolgt damit legitime, auf die Integration der Nachziehenden abstellende Ziele(15) und bedient sich hierfür geeigneter Mittel. Denn das Erlernen der Landessprache ist eine wesentliche Voraussetzung für die Integration(16). Sprachkenntnisse verbessern nicht nur die Aussichten von Drittstaatsangehörigen auf dem Arbeitsmarkt(17), sondern ermöglichen es ihnen auch, sich in Notsituationen selbständig um Hilfe im Aufnahmeland zu bemühen(18). Landeskundliche Grundkenntnisse machen den Nachziehenden darüber hinaus mit wichtigen Grundregeln des Zusammenlebens(19) vertraut, was Missverständnisse und Rechtsverstöße vermeiden helfen kann.
35. Zwar mag es zutreffen, dass im Aufnahmemitgliedstaat selbst durchgeführte Sprach‑ und Integrationskurse eine größere Wirkung entfalten könnten als im Ausland absolvierte Schulungen. Dies tut der Erforderlichkeit der von den Niederlanden gewählten und vor dem Familiennachzug durchgeführten Integrationsmaßnahme aber keinen Abbruch. Denn es geht den Niederlanden gerade um einen Beitrag zur Verbesserung der Ausgangslage der Nachziehenden. Schulungen, die erst nach der Einreise einsetzten, wären daher nicht gleich wirksam.
36. Die Integrationsprüfung ist auch in ihrer Struktur grundsätzlich angemessen: Sprachkenntnisse auf dem Niveau A1 des Europäischen Referenzrahmens, wie in der Integrationsprüfung verlangt, sind elementare Grundkenntnisse, die sich anzueignen im Normalfall – insbesondere mit Hilfe von entsprechendem Vorbereitungsmaterial(20) – ohne größere Mühen möglich ist.
37. Berücksichtigt man außerdem, dass es sich beim Nachzug aus einem Drittstaat in die Union um eine einschneidende persönliche Entscheidung handelt, ist es auch folgerichtig, vom Nachzugswilligen zu verlangen, sich bereits im Vorfeld in Grundzügen mit dem Aufnahmestaat und seinen Regeln auseinandergesetzt zu haben, zumal dies nicht nur im Interesse des Aufnahmestaats, sondern auch im Interesse des Nachziehenden selbst liegt.
38. Dass für die Staatsangehörigen bestimmter Drittstaaten – etwa Kanadas und der Vereinigten Staaten von Amerika – von der Integrationsprüfung abgesehen wird, muss nicht zur Inkohärenz der niederländischen Regelung führen, da es dem Königreich der Niederlande gemäß Art. 3 Abs. 4 Buchst. a der Familienzusammenführungsrichtlinie freisteht, aufgrund bilateraler Übereinkünfte bestimmte Drittstaaten gegenüber den Richtlinienbestimmungen privilegiert zu behandeln. Umso mehr muss Entsprechendes für nationale Integrationsmaßnahmen gelten, deren Erlass der Unionsgesetzgeber in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt hat.
39. Unangemessen ist die niederländische Regelung gleichwohl dann, wenn bei ihrer Anwendung individuelle Umstände nicht hinreichend gewürdigt werden(21). Dass über einen Nachzugsantrag maßgeblich auf der Grundlage einer Einzelfallbeurteilung zu entscheiden ist, folgt aus Art. 17 der Familienzusammenführungsrichtlinie, wonach u. a. die Art und die Stärke der familiären Bindungen gebührend berücksichtigt werden müssen.
40. Gänzlich von der Pflicht zur Integrationsprüfung sind neben den privilegierten Drittstaatsangehörigen, soweit vom vorlegenden Gericht mitgeteilt, schwer behinderte Antragsteller befreit. Im Übrigen hat das vorlegende Gericht auf eine Härtefallklausel hingewiesen, deren Anwendung voraussetzt, dass der Antragsteller aufgrund ganz besonderer individueller Umstände dauerhaft zum Bestehen der Prüfung außerstande ist und nachweist, dass er alle Anstrengungen unternommen hat, die von ihm für das erfolgreiche Ablegen der Prüfung billigerweise erwartet werden können.
41. Welche Fallgruppen nach niederländischem Recht von dieser Härtefallklausel erfasst werden können, hat das vorlegende Gericht zu beurteilen.
42. Im Licht der von der Richtlinie verfolgten Ziele ist die Härtefallklausel – und mit ihr die niederländische Regelung zur Integrationsprüfung – jedoch nur dann angemessen, wenn sie der individuellen Lage des Antragstellers und namentlich seinen Sprachkenntnissen und seinem Bildungshorizont Rechnung trägt und ihn bei erwiesener Unzumutbarkeit von den Prüfungsobliegenheiten freistellt.
43. Dabei können neben dem Gesundheitszustand des Betroffenen, seinen kognitiven Fähigkeiten und seinem Bildungsstand auch Faktoren wie die Verfügbarkeit von ihm verständlichem Vorbereitungsmaterial, die anfallenden Kosten und die zeitliche Belastung von Bedeutung sein.
44. Nicht in jedem Fall wird man etwa von einem Nachzugswilligen, der keiner der 18 Sprachen mächtig ist, in denen die Schulungsmaterialien zur Verfügung stehen, mit denen man sich auf die Prüfung vorbereiten kann, erwarten dürfen, sich in einem ersten Schritt eine der Schulungssprachen anzueignen, um dann in einem zweiten Schritt mit deren Hilfe die eigentliche Prüfungsvorbereitung zu beginnen.
45. Darüber hinaus darf das Nichtbestehen der Integrationsprüfung nicht automatisch zur Verweigerung des Nachzugs führen, wenn im Einzelfall Gründe vorliegen, die die Genehmigung des Nachzugs doch erfordern. Ermöglicht es die niederländische Regelung, insbesondere über die Härtefallklausel, im Einzelnen diesen Belangen Rechnung zu tragen, steht ihr die Familienzusammenführungsrichtlinie nicht entgegen.
46. Dies festzustellen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.
47. Die fragliche Richtlinie und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stehen daher der Anwendung einer Integrationsmaßnahme wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegen, wenn deren Prüfungsobliegenheit in Situationen entfällt, in denen sie für Nachzugswillige unter Berücksichtigung ihrer individuellen Lage nicht zumutbar ist oder wenn aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls Gründe vorliegen, die trotz nicht bestandener Prüfung eine Gestattung des Nachzugs erfordern. Diese Würdigung anzustellen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.
B – Zur zweiten Vorlagefrage
48. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Familienzusammenführungsrichtlinie einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der für die Ablegung der Integrationsprüfung jeweils Antrittsgebühren in Höhe von 350 Euro und für die Schulungsmaterialien zur Prüfungsvorbereitung einmalige Kosten in Höhe von 110 Euro anfallen.
49. Nach Ansicht des Königreichs der Niederlande entsprechen die Gebühren den tatsächlich entstehenden Kosten und sind daher verhältnismäßig. Verfüge ein Antragsteller nicht über ausreichende Mittel zur Gebührenentrichtung, könne die Situation durch die Anwendung der Härtefallklausel berücksichtigt werden.
50. Die Familienzusammenführungsrichtlinie regelt nicht, ob und in welchem Ausmaß die Mitgliedstaaten Gebühren erheben dürfen, wenn sie von ihrer Ermächtigung nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie Gebrauch machen und Drittstaatsangehörigen Integrationsmaßnahmen auferlegen. Folglich verfügt der nationale Gesetzgeber über einen gewissen Handlungsspielraum im Rahmen der Verfahrensautonomie.
51. Gebühren dürfen jedoch weder bezwecken noch bewirken, dass damit ein Hindernis für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung geschaffen wird, da sonst das mit der Richtlinie verfolgte Ziel beeinträchtigt würde(22). Sind die Gebühren mit für die Betreffenden erheblichen finanziellen Auswirkungen verbunden, könnten sie Drittstaatsangehörigen die Möglichkeit nehmen, das durch die Richtlinie verliehene Recht auf Familienzusammenführung geltend zu machen(23).
52. Diese Gefahr ist vorliegend gegeben.
53. Gebühren in der angeführten Höhe können in weiten Teilen der Welt in Anbetracht des dortigen Pro-Kopf-Einkommens eine beträchtliche finanzielle Belastung bedeuten. Damit könnten sie im Einzelfall ein unverhältnismäßiges Hindernis schaffen, das das mit der Familienzusammenführungsrichtlinie verfolgte Ziel sowie ihre praktische Wirksamkeit beeinträchtigt, zumal die Antrittsgebühren bei jedem Prüfungsversuch erneut anfallen. Abhilfe könnte in solchen Fällen u. a. durch Erlass- oder Stundungsmaßnahmen geschaffen werden. Ob und inwieweit dies nach niederländischem Recht möglich ist, wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben.
54. Auf die zweite Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie nationalen Vorschriften entgegensteht, die eine Integrationsprüfung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit Gebühren verknüpfen, wenn diese Gebühren und ihre Erhebung geeignet sind, den Nachzugswilligen an der Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung zu hindern.
V – Ergebnis
55. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen wie folgt zu antworten:
1. Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familienzusammenführung und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stehen der Anwendung einer Integrationsmaßnahme wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegen, wenn deren Prüfungsobliegenheit in Situationen entfällt, in denen sie dem Nachzugswilligen unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage nicht zumutbar ist oder wenn aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls Gründe vorliegen, die trotz nicht bestandener Prüfung eine Gestattung des Nachzugs erfordern. Diese Würdigung anzustellen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.
2. Die Richtlinie 2003/86/EG steht nationalen Vorschriften entgegen, die eine Integrationsprüfung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit Gebühren verknüpfen, wenn diese Gebühren und ihre Erhebung geeignet sind, den Nachzugswilligen an der Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung zu hindern.