Language of document : ECLI:EU:C:2017:118

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

15. Februar 2017(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 8 bis 15 – Zuständigkeit auf dem Gebiet der Unterhaltspflichten – Verordnung (EG) Nr. 4/2009 – Art. 3 Buchst. d – Entgegengesetzte Entscheidungen von Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten – Kind mit gewöhnlichem Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, in dem sich seine Mutter aufhält – Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich der Vater aufhält, für die Änderung einer rechtskräftigen Entscheidung, die sie zuvor bezüglich des Aufenthaltsorts des Kindes, der Unterhaltspflichten und der Ausübung des Umgangsrechts erlassen haben – Fehlen“

In der Rechtssache C‑499/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht Vilnius, Litauen) mit Entscheidung vom 16. September 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 22. September 2015, in dem Verfahren

W,

V

gegen

X

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Regan, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund (Berichterstatter),

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. November 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von W und V, vertreten durch P. Markevičius,

–        von X, vertreten durch R. de Falco, advokatas,

–        der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas und J. Nasutavičienė als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. Dezember 2016

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen W und V (im Folgenden: Kind V) auf der einen und X auf der anderen Seite betreffend die elterliche Verantwortung und die Unterhaltspflichten.

 Rechtlicher Rahmen

 Verordnung Nr. 2201/2003

3        Der zwölfte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.“

4        Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

7.     ‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;

…“

5        Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung bestimmt:

„(1) Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2)   Absatz 1 findet vorbehaltlich der Artikel 9, 10 und 12 Anwendung.“

6        Art. 12 („Vereinbarung über die Zuständigkeit“) der Verordnung bestimmt in den Abs. 1 und 2:

„(1) Die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem nach Artikel 3 über einen Antrag auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe zu entscheiden ist, sind für alle Entscheidungen zuständig, die die mit diesem Antrag verbundene elterliche Verantwortung betreffen, wenn

b)     die Zuständigkeit der betreffenden Gerichte von den Ehegatten oder von den Trägern der elterlichen Verantwortung zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt wurde und im Einklang mit dem Wohl des Kindes steht.

(2)   Die Zuständigkeit gemäß Absatz 1 endet,

a)     sobald die stattgebende oder abweisende Entscheidung über den Antrag auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe rechtskräftig geworden ist,

b)     oder in den Fällen, in denen zu dem unter Buchstabe a) genannten Zeitpunkt noch ein Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung anhängig ist, sobald die Entscheidung in diesem Verfahren rechtskräftig geworden ist,

c)     oder sobald die unter den Buchstaben a) und b) genannten Verfahren aus einem anderen Grund beendet worden sind.“

7        Art. 14 („Restzuständigkeit“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„Soweit sich aus den Artikeln 8 bis 13 keine Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats ergibt, bestimmt sich die Zuständigkeit in jedem Mitgliedstaat nach dem Recht dieses Staates.“

 Verordnung (EG) Nr. 4/2009

8        Art. 3 („Allgemeine Bestimmungen“) der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (ABl. 2009, L 7, S. 1) sieht vor:

„Zuständig für Entscheidungen in Unterhaltssachen in den Mitgliedstaaten ist

a)     das Gericht des Ortes, an dem der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder

b)     das Gericht des Ortes, an dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder

c)     das Gericht, das nach seinem Recht für ein Verfahren in Bezug auf den Personenstand zuständig ist, wenn in der Nebensache zu diesem Verfahren über eine Unterhaltssache zu entscheiden ist, es sei denn, diese Zuständigkeit begründet sich einzig auf der Staatsangehörigkeit einer der Parteien, oder

d)     das Gericht, das nach seinem Recht für ein Verfahren in Bezug auf die elterliche Verantwortung zuständig ist, wenn in der Nebensache zu diesem Verfahren über eine Unterhaltssache zu entscheiden ist, es sei denn, diese Zuständigkeit beruht einzig auf der Staatsangehörigkeit einer der Parteien.“

 Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

9        W, litauischer Staatsangehöriger, und X, niederländische und argentinische Staatsangehörige, schlossen am 9. Dezember 2003 in den Vereinigten Staaten die Ehe. Es handelt sich hierbei um den Vater und die Mutter des Kindes V, das am 20. April 2006 in den Niederlanden geboren wurde. Das Kind V besitzt die litauische und die italienische Staatsbürgerschaft. Es hat nie in Litauen gelebt und Litauen auch nie besucht.

10      W, X und das Kind V lebten von 2004 bis 2006 in den Niederlanden. Nach einem kurzen Aufenthalt in Italien zogen sie im Jahr 2007 nach Kanada. W und X leben seit Dezember 2010 getrennt.

11      Im Juli 2011 verzog X mit dem Kind V nach Italien. Im November 2011 reiste sie mit dem Kind in die Niederlande, wo die beiden ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.

12      W dagegen hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Litauen.

13      X reichte bei einem kanadischen Gericht die Scheidung ein. Das kanadische Gericht erließ ab Mai 2011 mehrere Beschlüsse, darunter einen Beschluss vom 17. April 2012, mit dem die Ehe zwischen W und X geschieden und X das alleinige Sorgerecht für das Kind V zugesprochen wurde.

14      Die Beschlüsse des kanadischen Gerichts wurden allerdings weder von den litauischen noch von den in weiterer Folge angerufenen niederländischen Gerichten anerkannt.

 Die Entscheidungen der litauischen Gerichte vor dem Ausgangsverfahren

15      Am 18. April 2011 erhob W beim Vilniaus miesto 1 apylinkės teismas (Gericht des 1. Bezirks der Stadt Vilnius, Litauen) gegen X Klage, mit der er die Scheidung wegen Verschuldens von X begehrte und beantragte, zu bestimmen, dass das Kind V seinen Aufenthaltsort bei ihm haben solle.

16      Am 28. April 2011 gab das Vilniaus miesto 1 apylinkės teismas (Gericht des 1. Bezirks der Stadt Vilnius) dem Antrag von W auf Erlass einer einstweiligen Anordnung statt und bestimmte, dass das Kind V für die Dauer der Prüfung der Rechtssache bei W leben solle.

17      Unter Berufung auf diese Anordnung beantragte W am 3. Juli 2012 beim Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht der Stadt Vilnius) im Rahmen einer Klage wegen Kindesentführung, die Rückgabe des Kindes V anzuordnen. Dieser Antrag wurde abgelehnt.

18      Die einstweilige Anordnung vom 28. April 2011 wurde in weiterer Folge durch eine sofort durchführbare Entscheidung des Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht der Stadt Vilnius) aufgehoben. Diese Entscheidung wurde in der Berufungsinstanz bestätigt. Daraufhin legte W Kassationsbeschwerde ein, die aber für unzulässig erklärt wurde.

19      Mit Urteil des Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht der Stadt Vilnius) vom 8. Oktober 2013 wurde die Ehe zwischen W und X geschieden. Zudem wurde entschieden, dass das Kind V seinen Aufenthaltsort bei X haben solle, sowie die Umgangsregelung für W und die Höhe des Unterhalts festgelegt, den W für das Kind V zu zahlen habe.

20      Dieses Urteil wurde mit Entscheidung des Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius, Litauen) vom 30. Mai 2014 bestätigt. Mit Beschluss vom 8. September 2014 entschied der Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof von Litauen), die von W eingelegte Kassationsbeschwerde nicht zuzulassen.

 Die Entscheidungen der niederländischen Gerichte vor dem Ausgangsverfahren

21      Mit Entscheidung vom 29. Januar 2014 verurteilte die Rechtbank Overijssel (Gericht Overijssel, Niederlande) W zur Zahlung von Unterhalt an X in Höhe von 4 323 Euro monatlich ab dem 18. Mai 2012 und an das Kind V in Höhe von 567 Euro monatlich für die Zeit vom 27. Juni 2011 bis zum 1. November 2011, danach – für die Zeit ab dem 2. November 2011 – in Höhe von 790 Euro, wobei diese Beträge jährlich – beginnend ab dem 1. Januar 2013 – überprüft wurden.

22      Mit Entscheidung vom 22. August 2014 sprach dieses Gericht X das alleinige Sorgerecht für das Kind V zu.

23      Es merkte an, dass nach niederländischem Recht einem Elternteil das alleinige Sorgerecht übertragen werden könne, wenn ein unvertretbares Risiko bestehe, dass das Kind aufgrund von Meinungsverschiedenheiten der Eltern leiden könnte und in naher Zukunft keine Aussicht auf ausreichende Verbesserungen bestehe, oder wenn eine Änderung der Sorgerechtsregelung aus sonstigen Gründen im Hinblick auf das Wohl des Kindes erforderlich sei.

 Anerkennung und Vollstreckung der erlassenen Entscheidungen

24      Mit Entscheidung vom 31. Oktober 2014 lehnte es die Rechtbank Overijssel (Gericht Overijssel) ab, das Urteil des Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht der Stadt Vilnius) vom 8. Oktober 2013 in den Niederlanden anzuerkennen und für vollstreckbar zu erklären, soweit darin die Scheidung der beiden Eheleute aus gemeinsamem Verschulden ausgesprochen wurde, bestimmt wurde, dass das Kind V bei seiner Mutter leben solle, die Unterhaltspflichten von W zugunsten des Kindes V festgelegt und die Kosten auferlegt wurden. Anerkannt und für vollstreckbar erklärt wurden mit dieser Entscheidung in den Niederlanden die Verfügungen dieses Urteils, durch die das Umgangsrecht des Vaters festgelegt wurde.

25      Mit Entscheidung vom 2. Februar 2015 lehnte es das von W angerufene Lietuvos apeliacinis teismas (Litauisches Appellationsgericht) ab, die Entscheidung der Rechtbank Overijssel (Gericht Overijssel) vom 29. Januar 2014, mit der die Unterhaltspflichten von W zugunsten der X und des Kindes V festgelegt wurden, für vollstreckbar zu erklären, lehnte es ab, die Entscheidung dieses Gerichts vom 22. August 2014, mit der X das alleinige Sorgerecht für das Kind V zugesprochen worden war, anzuerkennen und für vollstreckbar zu erklären, und stellte das Verfahren ein, soweit es die Nichtanerkennung der Entscheidung des genannten Gerichts vom 31. Oktober 2014 in Litauen betrifft.

 Verfahren vor dem vorlegenden Gericht und Vorlagefrage

26      Am 28. August 2014 befasste W das Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht der Stadt Vilnius) mit Anträgen auf Änderung der Festlegungen, die dieses Gericht in seinem Urteil vom 8. Oktober 2013 hinsichtlich des Aufenthaltsorts des Kindes V, der Höhe des Kindesunterhalts und der Regelung zum Umgang mit dem Kind getroffen hatte.

27      Mit Beschluss vom 25. September 2014 wies das Gericht die Anträge mit der Begründung zurück, W habe keine seit dem Erlass des Urteils vom 8. Oktober 2013 eingetretenen Änderungen der Umstände belegt.

28      In seiner Entscheidung vom 16. Dezember 2014 prüfte das Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius) das von W gegen die Entscheidung des Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht Vilnius) vom 25. September 2014 eingelegte Rechtsmittel, hob diese Entscheidung teilweise auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Untergericht zurück.

29      Mit Beschluss vom 23. Dezember 2014 erklärte sich das Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht Vilnius) für unzuständig, über die Anträge von W zu entscheiden, weil die Zuständigkeitsvorschriften in der Verordnung Nr. 2201/2003 Vorrang vor der litauischen Zivilprozessordnung hätten. Diesem Gericht zufolge ist es, außer in bestimmten Fällen betreffend den Wechsel des Aufenthaltsorts des Kindes oder in Fällen, in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben, Sache der Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat – das ist im vorliegenden Fall das Königreich der Niederlande –, über diese Anträge zu entscheiden. Das genannte Gericht wies W darauf hin, dass er die Sache bei einem zuständigen Gericht in den Niederlanden anhängig machen könne.

30      In seiner Entscheidung vom 31. März 2015 prüfte das Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius) das von W gegen den Beschluss des Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht Vilnius) vom 23. Dezember 2014 eingelegte Rechtsmittel, hob diesen Beschluss auf und verwies die Rechtssache an das erstinstanzliche Gericht zurück, damit dieses erneut über die Zulässigkeit der Anträge von W entscheidet. Das Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius) vertrat die Auffassung, das Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht Vilnius) habe sich zu Unrecht für unzuständig erklärt, über diese Anträge zu entscheiden. Denn sie seien auf die Änderung des rechtskräftigen Urteils des Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht Vilnius) vom 8. Oktober 2013 gerichtet gewesen, das insbesondere den Aufenthaltsort des Kindes V, die Umgangsregelung und den Kindesunterhalt betreffe. Eine derartige Änderung könnte sich nur aus einer neuen rechtskräftigen Gerichtsentscheidung ergeben. Insofern als die niederländischen Gerichte die Anerkennung des Urteils vom 8. Oktober 2013 ablehnten, sei es aber im vorliegenden Fall W unmöglich, die niederländischen Gerichte mit seinem Antrag auf Änderung der im Urteil enthaltenen Rechte und Pflichten zu befassen.

31      Unter diesen Umständen hat das Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht Vilnius) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Welcher Mitgliedstaat – die Republik Litauen oder das Königreich der Niederlande – ist nach den Art. 8 bis 14 der Verordnung Nr. 2201/2003 für die Entscheidung über einen Rechtsstreit betreffend einen Antrag auf Änderung des Aufenthaltsorts, der Höhe des Kindesunterhalts und der geltenden Umgangsregelung im Hinblick auf das minderjährige Kind V, das seinen gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden hat, zuständig?

 Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

32      Mit am 20. Dezember 2016 eingegangenem Schriftsatz hat W nach Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt, das mündliche Verfahren wiederzueröffnen und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen.

33      Was als Erstes den Antrag, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen, betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in keiner Weise – weder nach Art. 83 noch nach einer anderen Bestimmung seiner Verfahrensordnung – dazu befugt ist.

34      Was als Zweites den Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens betrifft, macht W eine Tatsache geltend, die er für neu hält und die vor dem Gerichtshof nicht verhandelt wurde, nämlich dass die Rechtbank Overijssel (Gericht Overijssel) mit einer Entscheidung vom 20. Mai 2016 entschieden habe, dass die niederländischen Gerichte nicht über die Änderung des Urteils des Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht Vilnius) vom 8. Oktober 2013 entscheiden könnten und die Teile dieser Entscheidung betreffend das Umgangsrecht weder anerkannt noch für vollstreckbar erklärt würden. W vertritt zudem die Auffassung, dass die Sachverhaltsdarstellung in den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht der Wirklichkeit entspreche.

35      Dazu ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass der Gerichtshof gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung von Amts wegen, auf Vorschlag des Generalanwalts oder auf Antrag der Parteien die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung anordnen kann, wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen als entscheidungserheblich ansieht (Urteil vom 15. September 2011, Accor, C‑310/09, EU:C:2011:581, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dagegen sehen die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die Parteien vor, zu den Schlussanträgen des Generalanwalts Stellung zu nehmen (Urteil vom 16. Dezember 2010, Stichting Natuur en Milieu u. a., C‑266/09, EU:C:2010:779, Rn. 28 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Was die Neuheit der von W vorgebrachten Tatsache anbelangt, genügt der Hinweis, dass die Entscheidung der Rechtbank Overijssel (Gericht Overijssel) vom 20. Mai 2016 keine neue Tatsache darstellt, da mit dieser Entscheidung wie mit der Entscheidung vom 31. Oktober 2014 desselben Gerichts im Wesentlichen die Anerkennung des Urteils vom 8. Oktober 2013 abgelehnt wird.

37      Mit seinen Anmerkungen zu den Ausführungen in den Schlussanträgen des Generalanwalts in der vorliegenden Rechtssache möchte W die Schlussanträge kritisieren. Aus der in Rn. 35 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung geht aber hervor, dass die das Verfahren vor dem Gerichtshof regelnden Vorschriften keine solche Stellungnahme vorsehen.

38      Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts der Ansicht, dass er im vorliegenden Fall über alle erforderlichen Angaben verfügt, um die Vorlagefrage beantworten zu können, und dass zwischen den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten alle Argumente erörtert worden sind, die für die Entscheidung der Rechtssache erforderlich sind.

39      Der Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens ist daher zurückzuweisen.

 Zur Vorlagefrage

40      Vorab ist als Erstes das Vorbringen von W und der Europäischen Kommission zurückzuweisen, mit dem die Zuständigkeit des Gerichtshofs in Frage gestellt wird. W und die Kommission machen in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, das vorlegende Gericht ersuche den Gerichtshof, den Mitgliedstaat namentlich zu bestimmen, dessen Gerichte für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits zuständig seien. Diese Aufgabe obliege aber insofern dem vorlegenden Gericht, als der Gerichtshof lediglich dafür zuständig sei, die Vorschriften des Unionsrechts auszulegen, und nicht dafür, inhaltlich über die Fragen zu entscheiden, mit denen die nationalen Gerichte befasst seien.

41      In einem Verfahren nach Art. 267 AEUV ist der Gerichtshof zwar nur befugt, sich zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern (Urteil vom 10. November 2011, X und X BV, C‑319/10 und C‑320/10, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:720, Rn. 29). Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, den bei ihm anhängigen Rechtsstreit unter Berücksichtigung der Antwort des Gerichtshofs zu entscheiden (Urteil vom 4. Februar 2010, Genc, C‑14/09, EU:C:2010:57, Rn. 31).

42      Im vorliegenden Fall geht jedoch klar aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, wie die Verordnung Nr. 2201/2003 auszulegen ist, um das zuständige Gericht zu bestimmen.

43      Daher kann die bloße Erwähnung – darüber hinaus nur in Klammern – der Mitgliedstaaten, deren Gerichte zuständig sein könnten, in der Vorlagefrage dem Gerichtshof nicht die Zuständigkeit nehmen, auf die Vorlagefrage zu antworten.

44      Als Zweites ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht seine Frage nur im Hinblick auf die Verordnung Nr. 2201/2003 stellt, obwohl aus der Vorlagefrage wie auch aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, dass das Ausgangsverfahren nicht nur die elterliche Verantwortung, sondern auch die – von der Verordnung nicht umfassten – Unterhaltspflichten betrifft.

45      Insoweit hindert der Umstand, dass ein einzelstaatliches Gericht sein Vorabentscheidungsersuchen seiner Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, den Gerichtshof nicht daran, diesem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können (vgl. u. a. Urteil vom 29. September 2016, Essent Belgium, C‑492/14, EU:C:2016:732, Rn. 43).

46      Daher ist die Vorlagefrage so umzuformulieren, dass sie die maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung Nr. 4/2009 erfasst.

47      So ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Vorlagefrage letztlich wissen möchte, ob Art. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 4/2009 dahin auszulegen sind, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, die eine rechtskräftige Entscheidung betreffend die elterliche Verantwortung und die Unterhaltspflichten für ein minderjähriges Kind erlassen haben, weiterhin dafür zuständig sind, über einen Antrag auf Änderung der in dieser Entscheidung getroffenen Verfügungen zu entscheiden, obwohl das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hat.

48      Um diese Frage beantworten zu können, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 4/2009 für Entscheidungen in Unterhaltssachen in den Mitgliedstaaten das Gericht zuständig ist, das nach der Verordnung Nr. 2201/2003 für ein Verfahren in Bezug auf die elterliche Verantwortung zuständig ist, wenn in der Nebensache zu diesem Verfahren über eine Unterhaltssache zu entscheiden ist.

49      Sodann ist auf den durch die Verordnung Nr. 2201/2003 eingeführten Mechanismus und die von ihr verfolgten Ziele hinzuweisen.

50      Die Verordnung Nr. 2201/2003 beruht auf der Zusammenarbeit und dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Gerichten (Urteil vom 9. November 2010, Purrucker, C‑296/10, EU:C:2010:665, Rn. 81), weshalb gerichtliche Entscheidungen gegenseitig anzuerkennen sind, was für die Schaffung eines echten europäischen Rechtsraums unabdingbar ist (Urteil vom 15. Juli 2010, Purrucker, C‑256/09, EU:C:2010:437, Rn. 70).

51      Wie aus dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 hervorgeht, wurde diese mit dem Ziel erlassen, dem Wohl des Kindes zu entsprechen, weshalb sie dem Kriterium der räumlichen Nähe den Vorzug gibt. Der Gesetzgeber war nämlich der Auffassung, dass das in geografischer Nähe zum gewöhnlichem Aufenthalt des Kindes gelegene Gericht die im Interesse des Kindes anzuordnenden Maßnahmen am besten beurteilen kann (Urteil vom 15. Juli 2010, Purrucker, C‑256/09, EU:C:2010:437, Rn. 91). Nach diesem Erwägungsgrund sollte die Zuständigkeit vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein, außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.

52      Art. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 setzt dieses Ziel um, indem er für die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, eine allgemeine Zuständigkeit vorsieht.

53      Nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist die Zuständigkeit eines Gerichts „zum Zeitpunkt der Antragstellung“ festzustellen, d. h. gemäß Art. 16 dieser Verordnung zu dem Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück bei diesem Gericht eingereicht wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2014, E., C‑436/13, EU:C:2014:2246, Rn. 38).

54      Wie der Generalanwalt in Nr. 45 seiner Schlussanträge unter Bezugnahme auf Rn. 40 des Urteils vom 1. Oktober 2014, E. (C‑436/13, EU:C:2014:2246), festgestellt hat, ist diese Zuständigkeit zudem in jedem Einzelfall, wenn bei einem Gericht ein Verfahren anhängig gemacht wird, zu prüfen und zu bestimmen. Das bedeutet, dass die Zuständigkeit nicht über den Abschluss des Verfahrens hinaus bestehen bleibt.

55      Abweichend von Art. 8 bestimmt Art. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003, dass beim Umzug des Kindes die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes unter bestimmten Voraussetzungen aufrechterhalten wird, während Art. 12 Abs. 1 dieser Verordnung vorsieht, dass im Fall einer Einigung zwischen den Trägern der elterlichen Verantwortung unter bestimmten Voraussetzungen die Zuständigkeit des Gerichts vereinbart wird, das für die Entscheidung über einen Antrag auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes oder Ungültigerklärung einer Ehe zuständig ist und nicht das Gericht des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes ist.

56      Nach der Verordnung Nr. 2201/2003 gelten zudem besondere Vorschriften für Fälle von Kindesentführung oder für widerrechtliches Zurückhalten eines Kindes (Art. 10 und 11) sowie wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes, das sich in einem Mitgliedstaat befindet, nicht festgestellt werden kann und die Zuständigkeit nicht gemäß Art. 12 bestimmt werden kann (Art. 13), soweit sich aus den Art. 8 bis 13 keine Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats ergibt (Art. 14), und in Ausnahmefällen und unter bestimmten Voraussetzungen, wenn das zuständige Gericht den Fall an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats verweist, das seines Erachtens den Fall besser beurteilen kann (Art. 15).

57      Die Vorlagefrage ist im Licht dieser Erwägungen zu prüfen.

58      Ausweislich der Vorlageentscheidung begehrt Herr W mit seiner Klage die Änderung der Verfügungen des rechtskräftigen Urteils des Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht Vilnius) vom 8. Oktober 2013 betreffend die elterliche Verantwortung und die Unterhaltspflichten für das Kind V. Das vorlegende Gericht führt hierzu näher aus, dass dieses Urteil durch eine Entscheidung des Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius) vom 30. Mai 2014 bestätigt worden sei und das von W dagegen eingelegte Rechtsmittel mit Entscheidung des Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Oberster Gerichtshof von Litauen) vom 8. September 2014 zurückgewiesen worden sei.

59      Unter diesen Voraussetzungen ist der am 28. August 2014 eingebrachte Antrag auf Änderung der Verfügungen des Urteils vom 8. Oktober 2013 als Beginn eines neuen Verfahrens anzusehen. Folglich hat das angerufene Gericht, im vorliegenden Fall das Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht Vilnius), das zuständige Gericht zu bestimmen, indem es gemäß Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorzugsweise den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes V zum Zeitpunkt der Antragstellung berücksichtigt.

60      In seinem Urteil vom 22. Dezember 2010, Mercredi (C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 46), das in ständiger Rechtsprechung bestätigt wurde (vgl. u. a. Urteil vom 9. Oktober 2014, C, C‑376/14 PPU, EU:C:2014:2268, Rn. 50), hat der Gerichtshof entschieden, dass die Bedeutung und die Tragweite des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“ dem Wohl des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe zu bestimmen sind. Unter diesem Begriff ist der Ort zu verstehen, an dem eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld zu erkennen ist. Dieser Ort ist vom nationalen Gericht unter Berücksichtigung der besonderen tatsächlichen Umstände jedes Einzelfalls festzustellen. Relevant sind insbesondere die Umstände und Gründe des Aufenthalts des Kindes im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sowie dessen Staatsangehörigkeit. Neben der körperlichen Anwesenheit des Kindes in einem Mitgliedstaat muss aus anderen Faktoren hervorgehen, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, Mercredi, C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 47 bis 49).

61      Demnach erfordert es die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes in einem bestimmten Mitgliedstaat zumindest, dass das Kind in diesem Mitgliedstaat körperlich anwesend war.

62      Im Ausgangsverfahren ist aber unstrittig, dass das Kind V Litauen nie besucht hat.

63      Vor diesem Hintergrund reicht der Umstand, dass das Kind V u. a. die litauische Staatsangehörigkeit hat, nicht aus, um im Sinne der Verordnung Nr. 2201/2003 davon auszugehen, dass es in Litauen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

64      Dass das Kind V ausweislich einer rechtskräftigen Entscheidung, im vorliegenden Fall des Urteils des Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht Vilnius) vom 8. Oktober 2013, in einem anderen Mitgliedstaat, im vorliegenden Fall dem Königreich der Niederlande, bei einem Elternteil über mehrere Jahre hinweg körperlich anwesend war, eignet sich dagegen als Nachweis, dass das Kind V dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, und zur Begründung der Zuständigkeit der Gerichte dieses Mitgliedstaats für die Entscheidung über Klagen betreffend die elterliche Verantwortung und die Unterhaltspflichten für dieses Kind. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn Tatsachen vorlägen, die zu einer Ausnahme von der Regel der allgemeinen Zuständigkeit des Ortes des gewöhnlichen Aufenthalts führten.

65      Solche Tatsachen gehen aber in keiner Weise aus den dem Gerichtshof übermittelten Akten hervor. Im Einzelnen ist weder ersichtlich, dass das Kind V vor der Anrufung des Vilniaus miesto apylinkės teismas (Bezirksgericht Vilnius) von Litauen in die Niederlande umgezogen ist, noch, dass eine Vereinbarung zwischen den Trägern der elterlichen Verantwortung hinsichtlich der Zuständigkeit der litauischen Gerichte bestanden hat. Im Übrigen erwähnt das vorlegende Gericht in keiner Weise eine Entführung oder ein widerrechtliches Zurückhalten des Kindes V und ist auch nicht ersichtlich, dass die niederländischen Gerichte die litauischen Gerichte als am besten für die Beurteilung des Ausgangsrechtsstreits geeignete Gerichte bestimmt haben.

66      Somit sind in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die vom vorlegenden Gericht derart bestimmten Gerichte sind im vorliegenden Fall die niederländischen Gerichte.

67      Folglich ist es Sache der niederländischen Gerichte, über Anträge wie die von W auf Änderung des Aufenthaltsorts des Kindes, der Höhe des Kindesunterhalts und der Regelung des Umgangsrechts des betreffenden Elternteils zu entscheiden.

68      Es ist darauf hinzuweisen, dass – wie der Generalanwalt in den Nrn. 43 bis 49 seiner Schlussanträge festgestellt hat – den Gerichten, die über die Ehescheidung entschieden haben – im vorliegenden Fall den litauischen Gerichten –, in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens keine Vereinbarung über die Zuständigkeit zugutekommt. Selbst wenn die Zuständigkeit dieser Gerichte von X gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2201/2003 ausdrücklich oder auf andere eindeutige Weise anerkannt worden wäre, hat diese Zuständigkeit gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. a und b dieser Verordnung jedenfalls geendet, als die Entscheidung, mit der die Ehe geschieden und über die elterliche Verantwortung entschieden wurde, rechtskräftig geworden ist.

69      Der Umstand, dass die rechtskräftige Entscheidung, auf die der betreffende Elternteil seinen Änderungsantrag stützt, von den Gerichten des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes insgesamt oder zum Teil – ganz gleich, ob begründeterweise – nicht anerkannt worden ist, steht nicht dem entgegen, dass diese Gerichte für die Entscheidung über diesen Antrag zuständig sind, da durch diesen Antrag ein neues Verfahren eingeleitet wird.

70      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 und Art. 3 der Verordnung Nr. 4/2009 dahin auszulegen sind, dass in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens die Gerichte des Mitgliedstaats, die eine rechtskräftige Entscheidung betreffend die elterliche Verantwortung und die Unterhaltspflichten für ein minderjähriges Kind erlassen haben, nicht mehr dafür zuständig sind, über einen Antrag auf Änderung der in dieser Entscheidung getroffenen Verfügungen zu entscheiden, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hat. Für die Entscheidung über den Antrag sind die Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats zuständig.

 Kosten

71      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 8 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 und Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen sind dahin auszulegen, dass in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens die Gerichte des Mitgliedstaats, die eine rechtskräftige Entscheidung betreffend die elterliche Verantwortung und die Unterhaltspflichten für ein minderjähriges Kind erlassen haben, nicht mehr dafür zuständig sind, über einen Antrag auf Änderung der in dieser Entscheidung getroffenen Verfügungen zu entscheiden, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats hat. Für die Entscheidung über den Antrag sind die Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats zuständig.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Litauisch.