Language of document : ECLI:EU:C:2014:1320

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

5. Juni 2014 (*)

„Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Art. 15 – Inhaftnahme – Haftverlängerung – Verpflichtungen der Verwaltungs- oder Justizbehörde – Gerichtliche Nachprüfung – Fehlen von Identitätsdokumenten bei einem Drittstaatsangehörigen – Hindernisse für den Vollzug der Abschiebungsentscheidung – Weigerung der Botschaft des betreffenden Drittstaats, ein Identitätsdokument auszustellen, das die Rückkehr des Angehörigen dieses Staates ermöglicht – Fluchtgefahr – Hinreichende Aussicht auf Abschiebung – Mangelnde Kooperationsbereitschaft – Etwaige Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats, ein vorläufiges Dokument über den Status des Betroffenen auszustellen“

In der Rechtssache C‑146/14 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 28. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren

Bashir Mohamed Ali Mahdi

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund und A. Ó Caoimh (Berichterstatter), der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 28. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,

aufgrund der Entscheidung der Dritten Kammer vom 8. April 2014, diesem Antrag stattzugeben,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der bulgarischen Regierung, vertreten durch E. Petranova und D. Drambozova als Bevollmächtigte,

–        des Direktor na Direktsia „Migratsia“ pri Ministerstvo na vatreshnite raboti, vertreten durch D. Petrov als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou‑Durande und S. Petrova als Bevollmächtigte,

nach Anhörung des Generalanwalts

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines auf Betreiben des Direktor na Direktsia „Migratsia“ pri Ministerstvo na vatreshnite raboti (Direktor der Direktion „Migration“ des Innenministeriums, im Folgenden: Direktor) eingeleiteten Verwaltungsverfahrens, in dem der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia) von Amts wegen über die Fortdauer der Haft von Herrn Mahdi, einem sudanesischen Staatsangehörigen, im Sonderzentrum der genannten Direktion für die vorübergehende Unterbringung von Ausländern in Busmantsi in der Stolichna obshtina (Hauptstadtgemeinde) (im Folgenden: Sonderzentrum Busmantsi) entscheiden soll.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Richtlinie 2008/115 wurde insbesondere auf der Grundlage von Art. 63 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b EG (jetzt Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV) erlassen. In ihren Erwägungsgründen 6, 11 bis 13, 16, 17 und 24 heißt es:

„(6)      Die Mitgliedstaaten sollten gewährleisten, dass der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens beendet wird. Im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts sollten Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden, was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten. …

(11) Um die Interessen der Betroffenen wirksam zu schützen, sollte für Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr eine Reihe gemeinsamer rechtlicher Mindestgarantien gelten. Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, sollten die erforderliche Prozesskostenhilfe erhalten. Die Mitgliedstaaten sollten in ihrem einzelstaatlichen Recht festlegen, in welchen Fällen Prozesskostenhilfe als erforderlich gelten soll.

(12)  Die Situation von Drittstaatsangehörigen, die sich unrechtmäßig im Land aufhalten, aber noch nicht abgeschoben werden können, sollte geregelt werden. Die Festlegungen hinsichtlich der Sicherung des Existenzminimums dieser Personen sollten nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften getroffen werden. Die betreffenden Personen sollten eine schriftliche Bestätigung erhalten, damit sie im Falle administrativer Kontrollen oder Überprüfungen ihre besondere Situation nachweisen können. Die Mitgliedstaaten sollten hinsichtlich der Gestaltung und des Formats der schriftlichen Bestätigung über einen breiten Ermessensspielraum verfügen und auch die Möglichkeit haben, sie in aufgrund dieser Richtlinie getroffene Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr aufzunehmen.

(13) Der Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele ausdrücklich den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Wirksamkeit unterliegen. Für den Fall einer Rückführung sollten Mindestverhaltensregeln aufgestellt werden; …

(16)      Das Mittel der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung sollte nur begrenzt zum Einsatz kommen und sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen. Eine Inhaftnahme ist nur gerechtfertigt, um die Rückkehr vorzubereiten oder die Abschiebung durchzuführen und wenn weniger intensive Zwangsmaßnahmen ihren Zweck nicht erfüllen.

(17)      In Haft genommene Drittstaatsangehörige sollten eine menschenwürdige Behandlung unter Beachtung ihrer Grundrechte und im Einklang mit dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht erfahren. …

(24)      Die Richtlinie wahrt die Grundrechte und Grundsätze, die vor allem in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [im Folgenden: Charta] verankert sind.“

4         Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2008/115 lautet:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

5        In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„ Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

7.      ‚Fluchtgefahr‘: das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich Drittstaatsangehörige einem Rückkehrverfahren durch Flucht entziehen könnten;

….“

6        Art. 6 Abs. 4 dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können jederzeit beschließen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegen eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. In diesem Fall wird keine Rückkehrentscheidung erlassen. Ist bereits eine Rückkehrentscheidung ergangen, so ist diese zurückzunehmen oder für die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels oder der sonstigen Aufenthaltsberechtigung auszusetzen.“

7        Art. 15 („Inhaftnahme“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„(1) Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)       Fluchtgefahr besteht oder

b)      die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.

(2) Die Inhaftnahme wird von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde angeordnet.

Die Inhaftnahme wird schriftlich unter Angabe der sachlichen und rechtlichen Gründe angeordnet.

Wurde die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so gilt Folgendes:

a)      [E]ntweder lässt der betreffende Mitgliedstaat die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme so schnell wie möglich nach Haftbeginn innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüfen,

b)      oder der Mitgliedstaat räumt den betreffenden Drittstaatsangehörigen das Recht ein zu beantragen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüft wird, wobei so schnell wie möglich nach Beginn des betreffenden Verfahrens eine Entscheidung zu ergehen hat. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich über die Möglichkeit, einen solchen Antrag zu stellen.

Ist die Inhaftnahme nicht rechtmäßig, so werden die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freigelassen.

(3) Die Inhaftnahme wird in jedem Fall – entweder auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen oder von Amts wegen – in gebührenden Zeitabständen überprüft. Bei längerer Haftdauer müssen die Überprüfungen der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen.

(4) Stellt sich heraus, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Absatz 1 nicht mehr gegeben sind, so ist die Haft nicht länger gerechtfertigt und die betreffende Person unverzüglich freizulassen.

(5) Die Haft wird so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben sind und wie dies erforderlich ist, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten. Jeder Mitgliedstaat legt eine Höchsthaftdauer fest, die sechs Monate nicht überschreiten darf.

(6) Die Mitgliedstaaten dürfen den in Absatz 5 genannten Zeitraum nicht verlängern; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern:

a)      mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder

b)      Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten.“

 Bulgarisches Recht

8        Die Richtlinie 2008/115 wurde durch das Gesetz über die Ausländer in der Republik Bulgarien (Zakon za chuzhdentsite v Republika Balgaria, DV Nr. 153 vom 23. Dezember 1998) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (DV Nr. 108 vom 17. Dezember 2013) (im Folgenden: Ausländergesetz) in bulgarisches Recht umgesetzt.

9        Art. 44 Abs. 5 des Ausländergesetzes sieht vor:

„Ist der Ausländer daran gehindert, unverzüglich das Land zu verlassen oder in ein anderes Land einzureisen, muss er auf Anordnung der Behörde, die die Verfügung erlassen hat, mit der die Verwaltungszwangsmaßnahme verhängt wurde, wöchentlich nach Maßgabe der Anwendungsverordnung zu diesem Gesetz bei der Gebietsstelle des Innenministeriums an seinem Wohnort erscheinen, sofern nicht die Hindernisse für den Vollzug der Rückführung oder Ausweisung weggefallen sind und Maßnahmen für eine sofortige Abschiebung getroffen worden sind.“

10      Nach Art. 44 Abs. 6 des Ausländergesetzes kann, wenn eine Verwaltungszwangsmaßnahme gegen einen Ausländer nicht vollzogen werden kann, weil seine Identität nicht feststeht, der Betreffende den Vollzug der Verfügung, mit der die Maßnahme verhängt wird, behindert oder offenkundige Fluchtgefahr besteht, die Behörde, die die Verfügung erlassen hat, die zwangsweise Unterbringung des Ausländers in einem Zentrum für die vorübergehende Unterbringung von Ausländern anordnen, um die Rückführung zur Grenze der Republik Bulgarien oder die Ausweisung durchzuführen.

11      Art. 44 Abs. 8 des Ausländergesetzes bestimmt:

„Die Unterbringung dauert bis zum Wegfall der in Abs. 6 genannten Umstände, jedoch nicht länger als sechs Monate. Die zuständigen Behörden … prüfen einmal monatlich gemeinsam mit dem Direktor …, ob die Voraussetzungen für eine zwangsweise Unterbringung … vorliegen. Ausnahmsweise kann die Dauer der Unterbringung zusätzlich auf bis zu zwölf Monate verlängert werden, wenn der Betreffende die Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden verweigert oder sich die Übermittlung der für die Rückführung oder Ausweisung erforderlichen Unterlagen verzögert. Wird angesichts der konkreten Umstände des Falles festgestellt, dass aus rechtlichen oder technischen Gründen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht, ist der Betreffende unverzüglich freizulassen.“

12      Nach Art. 46a Abs. 1 des Ausländergesetzes kann die Anordnung der zwangsweisen Unterbringung in einem Sonderzentrum innerhalb von 14 Tagen ab dem tatsächlichen Beginn der Unterbringung nach Maßgabe der Verwaltungsprozessordnung (Administrativnoprotsesualen kodeks) angefochten werden.

13      Art. 46a Abs. 2 dieses Gesetzes sieht vor:

„Das Gericht nach Abs. 1 prüft den Rechtsbehelf in öffentlicher Sitzung und erlässt seine Entscheidung innerhalb eines Monats ab Einleitung des Verfahrens. Der Betreffende ist nicht zum Erscheinen verpflichtet. Die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts kann beim Varhoven administrativen sad [Oberster Verwaltungsgerichtshof] angefochten werden, der innerhalb von zwei Monaten entscheidet.“

14      Art. 46a Abs. 3 und 4 des Ausländergesetzes bestimmt:

„(3)      Der Leiter des Sonderzentrums für die vorübergehende Unterbringung von Ausländern legt alle sechs Monate eine Liste der Ausländer vor, die dort seit mehr als sechs Monaten untergebracht sind, weil ihrer Abschiebung Hindernisse entgegenstehen. Die Liste wird an das Verwaltungsgericht des Ortes gesandt, in dem sich das Sonderzentrum befindet.

(4)      Nach jeweils sechs Monaten Unterbringung im Sonderzentrum für die vorübergehende Unterbringung von Ausländern entscheidet das Gericht von Amts wegen oder auf Antrag des betreffenden Ausländers in nichtöffentlicher Sitzung durch Beschluss über die Fortdauer, Ersetzung oder Beendigung der Unterbringung. Der Beschluss des Gerichts ist nach Maßgabe der Verwaltungsprozessordnung anfechtbar.“

15      Nach § 1 Nr. 4c der Ergänzungsbestimmungen zum Ausländergesetz besteht „Fluchtgefahr bei einem Ausländer, gegen den eine Verwaltungszwangsmaßnahme erlassen wurde“, wenn angesichts der tatsächlichen Umstände der begründete Verdacht besteht, dass der Betreffende versuchen wird, sich dem Vollzug der Maßnahme zu entziehen. Eine solche Gefahr kann nach diesen Bestimmungen aus dem Umstand folgen, dass der Betreffende unter der von ihm angegebenen Wohnanschrift nicht auffindbar ist, dass frühere Verstöße gegen die öffentliche Ordnung oder frühere Verurteilungen des Betreffenden vorliegen – ungeachtet einer Resozialisierung –, dass der Betreffende das Land nicht innerhalb der ihm gesetzten Frist für eine freiwillige Ausreise verlassen hat, dass er eindeutig gezeigt hat, dass er der gegen ihn erlassenen Maßnahme nicht nachkommen wird, dass er falsche oder keine Papiere besitzt, dass er falsche Angaben gemacht hat, dass er bereits geflohen ist und/oder dass er ein Einreiseverbot nicht beachtet hat.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16      Herr Mahdi wurde am 9. August 2013 an einem Grenzposten in Bregovo in Bulgarien festgenommen. Er besaß keine Identitätsdokumente, gab aber an, er heiße Bashir Mohamed Ali Mahdi und sei sudanesischer Staatsangehöriger.

17      Mit Verfügungen vom selben Tag wurden gegen Herrn Mahdi die Verwaltungszwangsmaßnahmen „Rückführung eines Ausländers zur Grenze“ und „Verbot der Einreise eines Ausländers in die Republik Bulgarien“ verhängt.

18      Aufgrund dieser Verfügungen wurde Herr Mahdi am nächsten Tag, dem 10. August 2013, im Sonderzentrum Busmantsi untergebracht, bis der Vollzug der Verwaltungszwangsmaßnahmen möglich wäre, d. h., bis er Papiere erhalten würde, die ihm die Ausreise aus Bulgarien ermöglichten.

19      Am 12. August 2013 unterschrieb Herr Mahdi bei den bulgarischen Verwaltungsbehörden eine Erklärung, wonach er freiwillig nach Sudan zurückkehren wollte.

20      Mit Schreiben vom 13. August 2013 unterrichtete der Direktor die Botschaft der Republik Sudan über die gegen Herrn Mahdi getroffenen Maßnahmen und seine Unterbringung im Sonderzentrum Busmantsi.

21      In der Folge fand zu einem in den Akten nicht genannten Zeitpunkt ein Treffen zwischen einem Vertreter dieser Botschaft und Herrn Mahdi statt, bei dem der Vertreter die Identität des Betroffenen bestätigte, es aber ablehnte, ihm ein Identitätsdokument auszustellen, das ihm die Ausreise aus Bulgarien ermöglichen würde. Diese Ablehnung wurde offenkundig darauf gestützt, dass Herr Mahdi nicht nach Sudan zurückkehren wollte. Der Betroffene erklärte anschließend gegenüber den bulgarischen Behörden, dass er nicht freiwillig nach Sudan zurückkehren wolle. Der Vertreter der Botschaft der Republik Sudan scheint gegenüber dem vorlegenden Gericht erklärt zu haben, dass es unter diesen Umständen nicht möglich sei, ein Reisedokument auszustellen, wenn Herr Mahdi nicht freiwillig in sein Herkunftsland zurückkehren wolle.

22      Am 16. August 2013 gab Frau Ruseva, eine bulgarische Staatsangehörige, eine notarielle Erklärung ab, wonach gewährleistet war, dass Herr Mahdi während seines Aufenthalts in Bulgarien über Mittel zur Bestreitung des eigenen Unterhalts und über eine Unterkunft verfüge, und beantragte beim Direktor, Herrn Mahdi gegen Zahlung einer Kaution freizulassen. Diese Erklärung wurde am 26. August 2013 von den Polizeibehörden überprüft und bestätigt.

23      Am 27. August 2013 schlug der Direktor seinem Vorgesetzten angesichts der Erklärung von Frau Ruseva vor, die Anordnung der zwangsweisen Unterbringung von Herrn Mahdi aufzuheben und ihm eine weniger intensive Zwangsmaßnahme, und zwar das „wöchentliche Erscheinen bei der Gebietsstelle des Innenministeriums am Wohnort“ aufzuerlegen, bis die Hindernisse für den Vollzug der Rückführungsentscheidung wegfielen.

24      Am 9. September 2013 wurde dieser Vorschlag mit der Begründung abgelehnt, dass Herr Mahdi nicht legal nach Bulgarien eingereist sei, dass er keinen Aufenthaltstitel für Bulgarien besitze, dass die nationale Flüchtlingsagentur ihm am 29. Dezember 2012 die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft versagt habe und dass er mit dem Überqueren der Staatsgrenze zwischen Bulgarien und Serbien außerhalb der dafür vorgesehenen Stellen eine Straftat begangen habe.

25      Weder gegen die Anordnung der zwangsweisen Unterbringung noch gegen die Weigerung, diese Anordnung durch die vom Direktor vorgeschlagenen weniger intensiven Zwangsmaßnahmen zu ersetzen, wurde ein Rechtsbehelf eingelegt.

26      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Botschaft der Republik Sudan bisher kein Identitätsdokument ausgestellt hat, das Herrn Mahdi die Ausreise aus Bulgarien ermöglichen würde, und dass Herr Mahdi nach wie vor im Sonderzentrum Busmantsi untergebracht ist.

27      Das Ausgangsverfahren wurde durch ein Schreiben des Direktors eingeleitet, das um den 9. Februar 2014 am Ende des ersten Haftzeitraums von sechs Monaten beim vorlegenden Gericht eingereicht wurde und mit dem beantragt wurde, von Amts wegen auf der Grundlage von Art. 46a Abs. 3 und 4 des Ausländergesetzes die Fortdauer der Haft von Herrn Mahdi anzuordnen.

28      Das vorlegende Gericht erläutert, dass nach Art. 46a Abs. 3 und 4 des Ausländergesetzes der Leiter eines Sonderzentrums dem Verwaltungsgericht des Ortes, in dem sich das Zentrum befinde, alle sechs Monate eine Liste der Ausländer vorlege, die seit mehr als sechs Monaten dort untergebracht seien, weil ihrer Abschiebung Hindernisse entgegenstünden. Nach Ablauf von jeweils sechs Monaten Unterbringung in einem Sonderzentrum entscheide das Verwaltungsgericht von Amts wegen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ob die Unterbringung des Betreffenden zu verlängern sei, Ersatzmaßnahmen zu erlassen seien oder die Unterbringung zu beenden sei.

29      Das vorlegende Gericht wirft in diesem Zusammenhang u. a. die Frage auf, ob das im bulgarischen Recht vorgesehene Verwaltungsverfahren der Überprüfung der Unterbringung in einer Hafteinrichtung mit dem Unionsrecht und insbesondere mit den Erfordernissen der Richtlinie 2008/115 vereinbar ist.

30      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts hängt die Art der Kontrolle, die es vornehmen könne, davon ab, ob es als Gericht oder als Verwaltungsbehörde handle. Insbesondere könne es, wenn es als Gericht entscheide, nicht in der Sache entscheiden und die ursprüngliche Entscheidung, mit der die Unterbringung in einer Hafteinrichtung angeordnet worden sei, nicht überprüfen, da seine Rolle nach bulgarischem Verfahrensrecht auf die Prüfung der Gründe für die Verlängerung der Haft des Betroffenen beschränkt sei, wie sie im Schreiben des Direktors, das das Ausgangsverfahren in Gang gesetzt habe, dargelegt worden seien. Das Gericht wirft außerdem Fragen zur Fluchtgefahr in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens auf, in dem der Betroffene, der keine Identitätsdokumente besitze, gegenüber den bulgarischen Behörden erklärt habe, er wolle nicht in sein Herkunftsland zurückkehren. Weiter stellt das vorlegende Gericht Überlegungen zum Verhalten des Betroffenen an. Fraglich sei, ob der Umstand, dass der Betroffene keine Identitätsdokumente besitze, als mangelnde Kooperationsbereitschaft im Abschiebungsverfahren angesehen werden könne. Aufgrund all dieser Umstände ist sich das vorlegende Gericht nicht sicher, ob eine Verlängerung der Haft von Herrn Mahdi gerechtfertigt wäre.

31      Der Administrativen sad Sofia-grad hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 6 und 47 der Charta sowie mit dem Recht auf gerichtliche Überprüfung und effektiven gerichtlichen Rechtsschutz dahin auszulegen, dass:

a)      wenn eine Verwaltungsbehörde nach dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats zur monatlichen Überprüfung der Inhaftnahme verpflichtet ist, ohne dass ausdrücklich eine Pflicht zum Erlass einer Verwaltungsmaßnahme besteht, und sie dem Gericht von Amts wegen eine Liste der wegen Abschiebungshindernissen über die gesetzlich bestimmte Höchstdauer der erstmaligen Haft hinaus inhaftierten Drittstaatsangehörigen vorlegen muss, die Verwaltungsbehörde verpflichtet ist, entweder zum Zeitpunkt des Ablaufs des in der individuellen Entscheidung über die erstmalige Inhaftnahme festgelegten Zeitraums eine ausdrückliche Maßnahme der Überprüfung der Inhaftnahme im Hinblick auf die im Unionsrecht vorgesehenen Gründe für die Verlängerung des Haftzeitraums zu erlassen oder den Betreffenden freizulassen;

b)      wenn das nationale Recht des Mitgliedstaats eine Befugnis des Gerichts vorsieht, nach Ablauf der im nationalen Recht vorgesehenen Höchstdauer der erstmaligen Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung die Verlängerung des Zeitraums der Haft anzuordnen, sie durch eine weniger intensive Maßnahme zu ersetzen oder die Freilassung des Drittstaatsangehörigen anzuordnen, das Gericht in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme der Überprüfung der Inhaftnahme, die rechtliche und tatsächliche Gründe für die Notwendigkeit einer Verlängerung des Haftzeitraums und dessen Länge anführt, zu prüfen hat, indem es über die Fortdauer der Haft, ihre Ersetzung oder die Freilassung des Betreffenden in der Sache entscheidet;

c)      er es dem Gericht erlaubt, die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme der Überprüfung der Inhaftnahme, die nur die Gründe anführt, aus denen die Entscheidung, einen Drittstaatsangehörigen abzuschieben, nicht vollzogen werden kann, im Hinblick auf die im Unionsrecht vorgesehenen Gründe für die Verlängerung des Haftzeitraums zu prüfen, indem es allein auf der Grundlage der von der Verwaltungsbehörde angeführten Tatsachen und vorgelegten Beweise sowie der vom Drittstaatsangehörigen vorgebrachten Einwände und Tatsachen den Streit durch Entscheidung über die Fortdauer der Haft, ihre Ersetzung oder die Freilassung des Betreffenden in der Sache entscheidet?

2.      Ist Art. 15 Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2008/115 in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen, dass der im nationalen Recht vorgesehene eigenständige Haftverlängerungsgrund, dass „der Betreffende … keine Identitätsdokumente [hat]“, unter dem Gesichtspunkt des Unionsrechts als unter beide Fälle des Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie subsumierbar zulässig ist, wenn nach dem nationalen Recht des Mitgliedstaats aufgrund des genannten Umstands von der begründeten Annahme ausgegangen werden kann, dass der Betreffende versuchen wird, den Vollzug der Abschiebungsentscheidung zu umgehen, was wiederum eine Fluchtgefahr im Sinne des Rechts dieses Mitgliedstaats darstellt?

3.      Ist Art. 15 Abs. 1 Buchst. a und b und Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit ihren Erwägungsgründen 2 und 13 über die Achtung der Grundrechte und der Menschenwürde von Drittstaatsangehörigen sowie die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen, dass er es zulässt, auf eine begründete Fluchtgefahr aufgrund der Umstände zu schließen, dass der Betreffende keine Identitätsdokumente hat, illegal die Staatsgrenze überquert hat und erklärt, dass er nicht in sein Herkunftsland zurückkehren will, obwohl er zuvor eine Erklärung über die freiwillige Rückkehr in sein Land ausgefüllt und richtige Angaben über seine Identität gemacht hat, wobei diese Umstände unter den Begriff „Fluchtgefahr“ beim Adressaten einer Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie fallen, der im nationalen Recht als die auf der Grundlage von Tatsachen bestehende begründete Annahme definiert wird, dass der Betreffende versuchen wird, den Vollzug der Rückkehrentscheidung zu umgehen?

4.      Ist Art. 15 Abs. 1 Buchst. a und b, 4 und 6 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit ihren Erwägungsgründen 2 und 13 über die Achtung der Grundrechte und der Menschenwürde von Drittstaatsangehörigen sowie die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen, dass:

a)      der Drittstaatsangehörige keine Kooperationsbereitschaft bei der Vorbereitung des Vollzugs der Entscheidung über seine Rückkehr in sein Herkunftsland zeigt, wenn er gegenüber einem Bediensteten der Botschaft dieses Landes mündlich bekundet, dass er nicht in sein Herkunftsland zurückkehren will, obwohl er zuvor eine Erklärung über die freiwillige Rückkehr ausgefüllt und richtige Angaben über seine Identität gemacht hat, und dass Verzögerungen bei der Übermittlung der Unterlagen durch einen Drittstaat vorliegen und eine hinreichende Aussicht auf Vollzug der Rückkehrentscheidung besteht, wenn unter diesen Umständen die Botschaft dieses Landes nicht das für die Reise des Betreffenden in sein Herkunftsland notwendige Dokument ausstellt, obwohl sie die Identität des Betreffenden bestätigt hat;

b)      im Fall der wegen Nichtbestehens einer hinreichenden Aussicht auf Vollzug einer Abschiebungsentscheidung erfolgenden Freilassung eines Drittstaatsangehörigen, der keine Identitätsdokumente hat, illegal die Staatsgrenze überquert hat und erklärt, dass er nicht in sein Herkunftsland zurückkehren will, davon auszugehen ist, dass der Mitgliedstaat zur Ausstellung eines vorläufigen Dokuments über den Status des Betreffenden verpflichtet ist, wenn die Botschaft des Herkunftslands unter diesen Umständen nicht das für die Reise des Betreffenden in sein Herkunftsland notwendige Dokument ausstellt, obwohl sie die Identität des Betreffenden bestätigt hat?

 Zum Eilverfahren

32      Der Administrativen sad Sofia-grad hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

33      Das vorlegende Gericht hat diesen Antrag damit begründet, dass der im Ausgangsverfahren betroffene Drittstaatsangehörige inhaftiert sei und dass seine Situation unter die Bestimmungen von Titel V des AEU-Vertrags über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts falle. Angesichts der Situation von Herrn Mahdi seien die Antworten des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen von entscheidender Bedeutung für die Frage, ob der Betroffene im Sonderzentrum Busmantsi bleiben oder freigelassen werden müsse. Es sei angezeigt, so schnell wie möglich über die Verlängerung der Haft des Betroffenen zu entscheiden.

34      Hierzu ist erstens festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsverfahren die Auslegung der Richtlinie 2008/115 betrifft, die unter Titel V Kapitel 3 des AEU-Vertrags fällt. Das Ersuchen ist daher geeignet, dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 107 seiner Verfahrensordnung unterworfen zu werden.

35      Zweitens ist festzustellen, dass, wie das vorlegende Gericht betont, Herr Mahdi derzeit inhaftiert ist und die Entscheidung des Ausgangsverfahrens zu seiner sofortigen Freilassung führen kann.

36      Aus diesen Gründen hat die Dritte Kammer des Gerichtshofs auf Bericht des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

 Zu den Vorlagefragen

 Zu Frage 1a

37      Mit Frage 1a möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 im Licht der Art. 6 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Entscheidung, die eine zuständige Behörde bei Ablauf der Höchstdauer der erstmaligen Haft eines Drittstaatsangehörigen über die Fortdauer der Haft erlässt, in Form einer schriftlichen Maßnahme ergehen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Entscheidung angegeben sind.

38      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass im Einklang mit Art. 79 Abs. 2 AEUV das Ziel der Richtlinie 2008/115, wie es sich aus deren Erwägungsgründen 2 und 11 ergibt, die Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik ist, die auf gemeinsamen Normen und rechtlichen Garantien beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.

39      Die durch diese Richtlinie eingeführten Verfahren zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger sind somit gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten auf die Rückführung dieser Drittstaatsangehörigen anwendbar sind. Die Mitgliedstaaten verfügen in mehrfacher Hinsicht über ein Ermessen, wenn sie die Bestimmungen der Richtlinie unter Berücksichtigung der Besonderheiten des nationalen Rechts umsetzen.

40      Nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 sollten die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens beendet wird. Ebenfalls nach diesem Erwägungsgrund und im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts sollten Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf der Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden, was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten.

41      Nach Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 ist die erstmalige Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen, bei der die Haftdauer sechs Monate nicht überschreiten darf, von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde schriftlich unter Angabe der der Haftentscheidung zugrunde liegenden sachlichen und rechtlichen Gründe anzuordnen (vgl. in diesem Sinne Urteil G. und R., C‑383/13 PPU, EU:C:2013:533, Rn. 29).

42      Nach Art. 15 Abs. 6 der genannten Richtlinie kann diese erstmalige Haft im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängert werden, wenn bestimmte materielle Voraussetzungen vorliegen. Überschreitet die Haftdauer sechs Monate, ist dies gemäß Art. 15 Abs. 5 der Richtlinie als längere Haftdauer im Sinne von Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie anzusehen.

43      Ferner bestimmt Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115, dass die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen in jedem Fall – entweder auf Antrag des Betreffenden oder von Amts wegen – in gebührenden Zeitabständen zu überprüfen ist. Bei längerer Haftdauer müssen die Überprüfungen der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen.

44      Aus der Gesamtheit dieser Bestimmungen geht hervor, dass das einzige ausdrücklich in Art. 15 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Erfordernis bezüglich des Erlasses einer schriftlichen Maßnahme dasjenige nach Art. 15 Abs. 2 ist, nämlich die schriftliche Anordnung der Inhaftnahme unter Angabe der tatsächlichen und rechtlichen Gründe. Dieses Erfordernis des Erlasses einer schriftlichen Entscheidung ist so zu verstehen, dass es sich zwangsläufig auf jede Entscheidung über die Haftverlängerung bezieht, denn zum einen sind die Inhaftnahme und die Haftverlängerung vergleichbar, weil dem betreffenden Drittstaatsangehörigen durch beide zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder zur Durchführung seiner Abschiebung die Freiheit entzogen wird, und zum anderen muss dieser Drittstaatsangehörige in beiden Fällen in der Lage sein, die Gründe für die ihm gegenüber getroffene Entscheidung zu erfahren.

45      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist diese Verpflichtung zur Mitteilung der Gründe sowohl erforderlich, um es dem betreffenden Drittstaatsangehörigen zu ermöglichen, seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für ihn von Nutzen ist, den zuständigen Richter anzurufen, als auch, um diesen vollständig in die Lage zu versetzen, die Rechtmäßigkeit der fraglichen Entscheidung zu kontrollieren (vgl. in diesem Sinne Urteile Heylens u. a., 222/86, EU:C:1987:442, Rn. 15, sowie Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 337).

46      Jede andere Auslegung von Art. 15 Abs. 2 und 6 der Richtlinie 2008/115 würde dazu führen, dass es für einen Drittstaatsangehörigen schwieriger wäre, die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der seine Haft verlängert wird, in Frage zu stellen als die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der seine erstmalige Inhaftnahme angeordnet wird, wodurch das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verletzt würde.

47      Art. 15 der Richtlinie 2008/115 verlangt jedoch nicht, dass eine schriftliche „Maßnahme der Überprüfung“ erlassen wird, wie das vorlegende Gericht dies in Frage 1a formuliert. Die Behörden, die die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 1 dieser Richtlinie in gebührenden Zeitabständen überprüfen, sind nicht verpflichtet, bei jeder Überprüfung eine ausdrückliche Maßnahme zu erlassen, die in schriftlicher Form ergeht und eine Darstellung ihrer tatsächlichen und rechtlichen Gründe enthält.

48      Wenn die Behörde, die bei Ablauf der nach Art. 15 Abs. 5 der Richtlinie 2008/115 zulässigen Höchstdauer der erstmaligen Haft mit einem Überprüfungsverfahren befasst wird, über die Fortdauer der Haft entscheidet, ist sie allerdings verpflichtet, ihre Entscheidung schriftlich unter Angabe der Gründe zu erlassen. In einem solchen Fall erfolgen die Überprüfung der Inhaftnahme und der Erlass einer Entscheidung über die Fortdauer der Haft im selben Verfahrensabschnitt. Folglich muss diese Entscheidung die Erfordernisse des Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 erfüllen.

49      Weder aus dem Vorabentscheidungsersuchen noch aus den von der bulgarischen Regierung in der Sitzung abgegebenen Erklärungen wird deutlich, ob die Liste des Direktors, die dem vorlegenden Gericht bei Ablauf der Höchstdauer der erstmaligen Haft zugesandt wurde, eine Entscheidung über die Fortdauer der Haft des Betroffenen enthält. Sollte der Direktor mit dieser Liste u. a. über die Fortdauer der Haft entschieden haben, muss die Liste ebenfalls die in Rn. 48 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernisse erfüllen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die insoweit notwendigen Prüfungen durchzuführen. Eine solche Entscheidung muss nach Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 jedenfalls der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen.

50      Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung in Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften über die Verfahrensmodalitäten bezüglich der Maßnahme der Haftüberprüfung die Mitgliedstaaten gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie dafür zuständig bleiben, diese Modalitäten unter Gewährleistung der Achtung der Grundrechte und der vollen Wirksamkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen über diese Maßnahme zu regeln (vgl. entsprechend Urteil N., C‑604/12, EU:C:2014:302, Rn. 41).

51      Folglich untersagt das Unionsrecht nicht, dass eine nationale Regelung unter Wahrung dieser Grundsätze vorsieht, dass die Behörde, die die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 in gebührenden Zeitabständen überprüft, nach jeder Überprüfung eine ausdrückliche Maßnahme erlassen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Maßnahme angegeben sind. Eine solche Verpflichtung würde sich ausschließlich aus dem nationalen Recht ergeben.

52      Demnach ist auf Frage 1a zu antworten, dass Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 im Licht der Art. 6 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass jede Entscheidung, die eine zuständige Behörde bei Ablauf der Höchstdauer der erstmaligen Haft eines Drittstaatsangehörigen über die Fortdauer der Haft erlässt, in Form einer schriftlichen Maßnahme ergehen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Entscheidung angegeben sind.

 Zu den Fragen 1b und 1c

53      Mit den Fragen 1b und 1c möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 6 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Kontrolle, die die mit einem Antrag auf Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen befasste Justizbehörde vorzunehmen hat, dieser erlauben muss, im jeweiligen Einzelfall in der Sache darüber zu entscheiden, ob die Haft des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu verlängern ist, ob sie durch eine weniger intensive Zwangsmaßnahme ersetzt werden kann oder ob der Drittstaatsangehörige freizulassen ist, wobei die Justizbehörde dementsprechend befugt ist, sich auf die von der antragstellenden Verwaltungsbehörde vorgelegten Tatsachen und Beweise sowie auf eine etwaige Stellungnahme des Drittstaatsangehörigen zu stützen.

54      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass Art. 15 der Richtlinie 2008/115 unbedingt und hinreichend genau ist, so dass es keiner weiteren besonderen Gesichtspunkte bedarf, um seine Umsetzung durch die Mitgliedstaaten zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil El Dridi, C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 47).

55      Wie aus den Erwägungsgründen 13, 16, 17 und 24 der Richtlinie 2008/115 hervorgeht, ist jede angeordnete Inhaftnahme, die unter diese Richtlinie fällt, in den Bestimmungen des Kapitels IV der Richtlinie streng geregelt, damit zum einen die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele und zum anderen die Wahrung der Grundrechte der betreffenden Drittstaatsangehörigen gewährleistet ist.

56      Wie in Rn. 43 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, ergibt sich außerdem eindeutig aus dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115, dass die Überprüfung jeder längeren Haft eines Drittstaatsangehörigen der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen muss. Eine Justizbehörde, die über die Möglichkeit einer Verlängerung der erstmaligen Haft entscheidet, muss diese Haft somit zwingend kontrollieren, auch wenn die Behörde, die sie angerufen hat, diese Kontrolle nicht ausdrücklich beantragt hat und auch wenn die Haft des betreffenden Drittstaatsangehörigen bereits von der Behörde überprüft wurde, die die erstmalige Inhaftnahme angeordnet hatte.

57      Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 regelt allerdings nicht, welcher Art diese Kontrolle sein muss. Daher ist an die Grundsätze des Art. 15 dieser Richtlinie zu erinnern, die in einem Verfahren wie dem im Ausgangsfall fraglichen Anwendung finden und deshalb von einer Justizbehörde bei der Kontrolle zu berücksichtigen sind.

58      Erstens ergibt sich aus den in Art. 15 Abs. 6 dieser Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen, dass die erstmalige Haft nur verlängert werden darf, wenn die Abschiebungsmaßnahme trotz der angemessenen Bemühungen der Mitgliedstaaten wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten wahrscheinlich länger dauern wird. Eine solche Verlängerung ist im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht anzuordnen und darf nicht über zwölf Monate hinausgehen.

59      Zweitens ist Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit deren Art. 15 Abs. 4 zu lesen, wonach, wenn sich herausstellt, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht mehr gegeben sind, die Haft des betreffenden Drittstaatsangehörigen nicht länger gerechtfertigt und dieser unverzüglich freizulassen ist.

60      Zum ersten Erfordernis nach Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass nur dann vom Fortbestand einer „hinreichenden Aussicht auf Abschiebung“ im Sinne dieser Bestimmung ausgegangen werden kann, wenn zum Zeitpunkt der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft durch das nationale Gericht eine tatsächliche Aussicht auf erfolgreichen Vollzug der Abschiebung unter Berücksichtigung der in Art. 15 Abs. 5 und 6 dieser Richtlinie festgelegten Zeiträume besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil Kadzoev, C‑357/09 PPU, EU:C:2009:741, Rn. 65).

61      Das zweite Erfordernis nach Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 besteht in einer Überprüfung der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen, die als Grundlage für die ursprüngliche Entscheidung, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu inhaftieren, gedient haben. Die Behörde, die darüber entscheidet, ob die Haft dieses Drittstaatsangehörigen zu verlängern oder ob er freizulassen ist, muss somit erstens prüfen, ob im konkreten Fall ausreichende, aber weniger intensive Zwangsmaßnahmen als die Haft wirksam angewandt werden können, zweitens, ob bei dem Drittstaatsangehörigen Fluchtgefahr besteht, und drittens, ob er die Vorbereitung seiner Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgeht oder behindert.

62      Eine Justizbehörde, die über einen Antrag auf Haftverlängerung entscheidet, muss folglich in der Lage sein, über alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände zu befinden, die relevant für die Feststellung sind, ob eine Haftverlängerung unter Berücksichtigung der in den Rn. 58 bis 61 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernisse gerechtfertigt ist, was eine eingehende Prüfung der tatsächlichen Umstände des jeweiligen Falles erfordert. Wenn die ursprünglich angeordnete Inhaftnahme unter Berücksichtigung dieser Erfordernisse nicht mehr gerechtfertigt ist, muss die zuständige Justizbehörde in der Lage sein, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde oder gegebenenfalls der Justizbehörde, die die erstmalige Inhaftnahme angeordnet hat, durch ihre eigene Entscheidung zu ersetzen und über die Möglichkeit zu befinden, eine Ersatzmaßnahme oder die Freilassung des betreffenden Drittstaatsangehörigen anzuordnen. Zu diesem Zweck muss die Justizbehörde, die über einen Antrag auf Haftverlängerung entscheidet, in der Lage sein, sowohl die tatsächlichen Umstände und Beweise zu berücksichtigen, die von der Verwaltungsbehörde angeführt werden, die die erstmalige Inhaftnahme angeordnet hat, als auch jede etwaige Stellungnahme des Drittstaatsangehörigen. Außerdem muss es ihr möglich sein, jeden anderen für ihre Entscheidung relevanten Umstand zu ermitteln, falls sie dies für erforderlich hält. Folglich können die Befugnisse der Justizbehörde im Rahmen einer Kontrolle keinesfalls auf die von der betreffenden Verwaltungsbehörde vorgelegten Umstände beschränkt werden.

63      Jede andere Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2008/115 würde dazu führen, dass Art. 15 Abs. 4 und 6 die praktische Wirksamkeit genommen und die nach Art. 15 Abs. 3 Satz 2 erforderliche gerichtliche Kontrolle inhaltlich ausgehöhlt wird, wodurch die Erreichung der mit der Richtlinie verfolgten Ziele gefährdet würde.

64      Folglich ist auf die Fragen 1b und 1c zu antworten, dass Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass die Kontrolle, die die mit einem Antrag auf Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen befasste Justizbehörde vorzunehmen hat, dieser erlauben muss, im jeweiligen Einzelfall in der Sache darüber zu entscheiden, ob die Haft des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu verlängern ist, ob sie durch eine weniger intensive Zwangsmaßnahme ersetzt werden kann oder ob der Drittstaatsangehörige freizulassen ist; die Justizbehörde ist dementsprechend befugt, sich auf die von der antragstellenden Verwaltungsbehörde vorgelegten Tatsachen und Beweise sowie auf die ihr eventuell während dieses Verfahrens unterbreiteten Tatsachen, Beweise und Stellungnahmen zu stützen.

 Zu den Fragen 2 und 3

65      Mit den Fragen 2 und 3, die zusammen zu erörtern sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach ein erster Haftzeitraum von sechs Monaten bereits deswegen verlängert werden kann, weil der betreffende Drittstaatsangehörige keine Identitätsdokumente besitzt und daher Fluchtgefahr bei ihm besteht.

66      Erstens ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff der Fluchtgefahr in Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie 2008/115 definiert ist als das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich Drittstaatsangehörige einem Rückkehrverfahren durch Flucht entziehen könnten.

67      Zweitens ist das Bestehen einer solchen Fluchtgefahr einer der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ausdrücklich angeführten Gründe, die es rechtfertigen, Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, in Haft zu nehmen, um ihre Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen. Wie in Rn. 61 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, kann nach dieser Bestimmung eine solche Inhaftnahme nur erfolgen, wenn in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können.

68      Drittens kann, wie in Rn. 58 des vorliegenden Urteils erläutert worden ist, eine Haftverlängerung nach Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 nur dann angeordnet werden, wenn die Abschiebungsmaßnahme trotz der angemessenen Bemühungen der Mitgliedstaaten wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten wahrscheinlich länger dauern wird; der Umstand, dass der Betroffene keine Identitätsdokumente besitzt, wird nicht genannt.

69      Schließlich ist in Rn. 61 des vorliegenden Urteils festgestellt worden, dass jeder Entscheidung über die Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen und damit über das Vorliegen der in Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 genannten tatsächlichen Umstände eine Überprüfung der materiellen Voraussetzungen vorausgehen muss, die als Grundlage für die erstmalige Inhaftnahme des betreffenden Drittstaatsangehörigen gedient haben, was voraussetzt, dass die Justizbehörde bei der nach Art. 15 Abs. 3 Satz 2 dieser Richtlinie erforderlichen Prüfung die Umstände beurteilt, die zur ursprünglichen Feststellung einer Fluchtgefahr geführt haben.

70      Im Übrigen muss, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, jede Beurteilung in Bezug auf eine Fluchtgefahr eine individuelle Prüfung des Falles des Betroffenen zur Grundlage haben (vgl. Urteil Sagor, C‑430/11, EU:C:2012:777, Rn. 41). Außerdem sollten nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 die Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf der Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden.

71      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das bulgarische Recht in § 1 Nr. 4c der Ergänzungsbestimmungen zum Ausländergesetz bestimmt, dass bei einem Ausländer, gegen den eine Verwaltungszwangsmaßnahme erlassen wurde, Fluchtgefahr besteht, wenn angesichts der tatsächlichen Umstände der begründete Verdacht besteht, dass der Betroffene versuchen wird, sich dem Vollzug der Maßnahme zu entziehen. Die objektiven Kriterien, die eine solche Gefahr begründen können, sind in § 1 Nr. 4c angeführt und umfassen u. a. den Umstand, dass der Betreffende kein Identitätsdokument besitzt.

72      Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, eine Beurteilung der tatsächlichen Umstände im Zusammenhang mit der Situation des betreffenden Drittstaatsangehörigen vorzunehmen, um bei der Überprüfung der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 genannten Voraussetzungen festzustellen, ob, wie der Direktor im Ausgangsfall vorgeschlagen hat, eine weniger intensive Zwangsmaßnahme wirksam auf diesen Drittstaatsangehörigen angewandt werden kann bzw. – falls sich das als nicht möglich erweisen sollte – ob weiterhin Fluchtgefahr besteht. Nur im Rahmen des letztgenannten Falles darf das vorlegende Gericht das Fehlen von Identitätsdokumenten berücksichtigen.

73      Demnach kann der Umstand, dass der betreffende Drittstaatsangehörige keine Identitätsdokumente besitzt, nicht bereits eine Haftverlängerung nach Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 rechtfertigen.

74      Folglich ist auf die Fragen 2 und 3 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach ein erster Haftzeitraum von sechs Monaten bereits deswegen verlängert werden kann, weil der betreffende Drittstaatsangehörige keine Identitätsdokumente besitzt. Es ist allein Sache des vorlegenden Gerichts, eine fallspezifische Beurteilung der tatsächlichen Umstände der betreffenden Sache vorzunehmen, um festzustellen, ob eine weniger intensive Zwangsmaßnahme wirksam auf den Drittstaatsangehörigen angewandt werden kann oder ob Fluchtgefahr bei ihm besteht.

 Zu Frage 4a

75      Mit Frage 4a möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 6 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens kein Identitätsdokument erhalten hat, das seine Abschiebung aus dem betreffenden Mitgliedstaat ermöglicht hätte, „mangelnde Kooperationsbereitschaft“ im Sinne dieser Bestimmung zeigt.

76      Bezüglich der Situation von Herrn Mahdi steht fest, dass er keine Identitätsdokumente besitzt und dass die Botschaft der Republik Sudan es abgelehnt hat, ihm solche Dokumente auszustellen, die den Vollzug der Abschiebungsentscheidung ermöglicht hätten.

77      Mit Frage 4a wird der Gerichtshof somit um Aufschluss darüber ersucht, ob die Weigerung der Botschaft der Republik Sudan, Herrn Mahdi Identitätsdokumente auszustellen, nachdem dieser erklärt hatte, er wolle nicht in sein Herkunftsland zurückkehren, dem Betroffenen zugerechnet werden kann. Sollte dies bejaht werden, wird der Gerichtshof ersucht, klarzustellen, ob das Verhalten von Herrn Mahdi als mangelnde Kooperationsbereitschaft im Sinne von Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 angesehen werden kann, was die Verlängerung der Haft des Betroffenen um höchstens zwölf Monate rechtfertigen würde.

78      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, die dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegenden Tatsachen festzustellen und daraus die Folgerungen für seine Entscheidung zu ziehen (vgl. u. a. Urteile WWF u. a., C‑435/97, EU:C:1999:418, Rn. 32, und Danosa, C‑232/09, EU:C:2010:674, Rn. 33).

79      Im Rahmen der Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten ist es nämlich grundsätzlich Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob in der bei ihm anhängigen Rechtssache die Tatbestandsvoraussetzungen für die Anwendung einer Norm des Unionsrechts erfüllt sind, wobei der Gerichtshof in seiner Entscheidung zu einem Vorabentscheidungsersuchen gegebenenfalls Klarstellungen vornehmen kann, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteile Haim, C‑424/97, EU:C:2000:357, Rn. 58, Vatsouras und Koupatantze, C‑22/08 und C‑23/08, EU:C:2009:344, Rn. 23, und Danosa, EU:C:2010:674, Rn. 34).

80      Der Gerichtshof hat daher die vom vorlegenden Gericht gestellten Vorabentscheidungsfragen nach der Auslegung des Unionsrechts zu beantworten, dem vorlegenden Gericht aber die Aufgabe zu belassen, die konkreten Umstände des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu überprüfen und insbesondere die Frage zu klären, ob das Fehlen von Identitätsdokumenten allein darauf beruht, dass Herr Mahdi seine Erklärung über die freiwillige Rückkehr zurückgenommen hat (vgl. entsprechend Urteil Danosa, EU:C:2010:674, Rn. 36).

81      In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass Herr Mahdi, wie sich dem Vorabentscheidungsersuchen entnehmen lässt, mit den bulgarischen Behörden hinsichtlich der Offenlegung seiner Identität und des Abschiebungsverfahrens kooperiert hat. Allerdings hat er seine Erklärung über die freiwillige Rückkehr zurückgenommen.

82      Der Begriff der mangelnden Kooperationsbereitschaft im Sinne von Art. 15 Abs.6 der Richtlinie 2008/115 erfordert aber, dass die Behörde, die über einen Antrag auf Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen entscheidet, zum einen sein Verhalten während des ersten Haftzeitraums untersucht, um festzustellen, ob er nicht mit den zuständigen Behörden hinsichtlich der Durchführung der Abschiebung zusammengearbeitet hat, und zum anderen prüft, ob die Abschiebung wegen dieses Verhaltens des Drittstaatsangehörigen wahrscheinlich länger dauern wird. Wenn die Abschiebung des Betroffenen aus einem anderen Grund länger als vorgesehen dauern wird oder gedauert hat, kann kein Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Drittstaatsangehörigen und der Dauer der Abschiebung und damit keine mangelnde Kooperationsbereitschaft des Betreffenden festgestellt werden.

83      Außerdem verlangt Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115, dass die betreffende Behörde, bevor sie prüft, ob der Drittstaatsangehörige mangelnde Kooperationsbereitschaft zeigt, nachweisen kann, dass die Abschiebung trotz ihrer angemessenen Bemühungen länger dauern wird als vorgesehen, was im Ausgangsfall erfordert, dass der betreffende Mitgliedstaat sich aktiv bemüht hat und immer noch bemüht, die Ausstellung von Identitätsdokumenten für diesen Drittstaatsangehörigen zu erreichen.

84      Die Feststellung, dass der betreffende Mitgliedstaat angemessene Bemühungen zur Durchführung der Abschiebung unternommen hat und dass der Drittstaatsangehörige mangelnde Kooperationsbereitschaft zeigt, setzt folglich eine eingehende Prüfung der tatsächlichen Umstände des gesamten ersten Haftzeitraums voraus. Eine solche Prüfung betrifft Tatfragen, für die, wie bereits erwähnt, im Verfahren nach Art. 267 AEUV nicht der Gerichtshof, sondern das innerstaatliche Gericht zuständig ist (Urteil Merluzzi, 80/71, EU:C:1972:24, Rn. 10).

85      Demnach ist auf Frage 4a zu antworten, dass Art. 15 Abs. 6 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass bei einem Drittstaatsangehörigen, der unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens kein Identitätsdokument erhalten hat, das seine Abschiebung aus dem betreffenden Mitgliedstaat ermöglicht hätte, nur dann „mangelnde Kooperationsbereitschaft“ im Sinne dieser Bestimmung angenommen werden kann, wenn die Prüfung des Verhaltens des Drittstaatsangehörigen während der Haft ergibt, dass er nicht bei der Durchführung der Abschiebung kooperiert hat und dass diese wegen dieses Verhaltens wahrscheinlich länger dauern wird als vorgesehen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

 Zu Frage 4b

86      Mit Frage 4b möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet sein kann, einem Drittstaatsangehörigen, der keine Identitätsdokumente besitzt und von seinem Herkunftsland keine solchen Dokumente erhalten hat, einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen, nachdem ein nationaler Richter diesen Drittstaatsangehörigen mit der Begründung freigelassen hat, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr im Sinne von Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie bestehe.

87      Wie aus dem in Rn. 38 des vorliegenden Urteils angeführten Ziel der Richtlinie 2008/115 folgt, hat diese nicht zum Zweck, die Voraussetzungen für den Aufenthalt illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, gegen die eine Rückkehrentscheidung nicht vollzogen werden kann oder konnte, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu regeln.

88      Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 erlaubt den Mitgliedstaaten jedoch, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen des Vorliegens eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. Der zwölfte Erwägungsgrund dieser Richtlinie wiederum sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen, die sich unrechtmäßig im Land aufhalten, aber noch nicht abgeschoben werden können, eine schriftliche Bestätigung ihrer Situation ausstellen sollten. Hinsichtlich der Gestaltung und des Formats der schriftlichen Bestätigung verfügen die Mitgliedstaaten über einen breiten Ermessensspielraum.

89      Folglich ist auf Frage 4b zu antworten, dass die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet sein kann, einem Drittstaatsangehörigen, der keine Identitätsdokumente besitzt und von seinem Herkunftsland keine solchen Dokumente erhalten hat, einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen, nachdem ein nationaler Richter diesen Drittstaatsangehörigen mit der Begründung freigelassen hat, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr im Sinne von Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie bestehe. Der Mitgliedstaat hat dem Drittstaatsangehörigen jedoch in einem solchen Fall eine schriftliche Bestätigung seiner Situation auszustellen.

 Kosten

90      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist im Licht der Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass jede Entscheidung, die eine zuständige Behörde bei Ablauf der Höchstdauer der erstmaligen Haft eines Drittstaatsangehörigen über die Fortdauer der Haft erlässt, in Form einer schriftlichen Maßnahme ergehen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Entscheidung angegeben sind.

2.      Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass die Kontrolle, die die mit einem Antrag auf Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen befasste Justizbehörde vorzunehmen hat, dieser erlauben muss, im jeweiligen Einzelfall in der Sache darüber zu entscheiden, ob die Haft des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu verlängern ist, ob sie durch eine weniger intensive Zwangsmaßnahme ersetzt werden kann oder ob der Drittstaatsangehörige freizulassen ist; die Justizbehörde ist dementsprechend befugt, sich auf die von der antragstellenden Verwaltungsbehörde vorgelegten Tatsachen und Beweise sowie auf die ihr eventuell während dieses Verfahrens unterbreiteten Tatsachen, Beweise und Stellungnahmen zu stützen.

3.      Art. 15 Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach ein erster Haftzeitraum von sechs Monaten bereits deswegen verlängert werden kann, weil der betreffende Drittstaatsangehörige keine Identitätsdokumente besitzt. Es ist allein Sache des vorlegenden Gerichts, eine fallspezifische Beurteilung der tatsächlichen Umstände der betreffenden Sache vorzunehmen, um festzustellen, ob eine weniger intensive Zwangsmaßnahme wirksam auf den Drittstaatsangehörigen angewandt werden kann oder ob Fluchtgefahr bei ihm besteht.

4.      Art. 15 Abs. 6 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass bei einem Drittstaatsangehörigen, der unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens kein Identitätsdokument erhalten hat, das seine Abschiebung aus dem betreffenden Mitgliedstaat ermöglicht hätte, nur dann „mangelnde Kooperationsbereitschaft“ im Sinne dieser Bestimmung angenommen werden kann, wenn die Prüfung des Verhaltens des Drittstaatsangehörigen während der Haft ergibt, dass er nicht bei der Durchführung der Abschiebung kooperiert hat und dass diese wegen dieses Verhaltens wahrscheinlich länger dauern wird als vorgesehen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

5.      Die Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet sein kann, einem Drittstaatsangehörigen, der keine Identitätsdokumente besitzt und von seinem Herkunftsland keine solchen Dokumente erhalten hat, einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen, nachdem ein nationaler Richter diesen Drittstaatsangehörigen mit der Begründung freigelassen hat, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr im Sinne von Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie bestehe. Der Mitgliedstaat hat dem Drittstaatsangehörigen jedoch in einem solchen Fall eine schriftliche Bestätigung seiner Situation auszustellen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Bulgarisch.