Language of document : ECLI:EU:C:2018:121

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

28. Februar 2018(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuern – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Vorsteuerabzug – Art. 183 – Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses – Verspätete Erstattung – Betrag der nach nationalem Recht geschuldeten Verzugszinsen – Herabsetzung dieses Betrags aus Gründen, die vom Steuerpflichtigen unabhängig sind – Zulässigkeit – Neutralität der Steuer – Rechtssicherheit“

In der Rechtssache C‑387/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen) mit Entscheidung vom 5. Juli 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Juli 2016, in dem Verfahren

Valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos

gegen

Nidera BV,

Beteiligte:

Vilniaus apskrities valstybinė mokesčių inspekcija,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, der Richter C. Vajda (Berichterstatter) und E. Juhász, der Richterin K. Jürimäe sowie des Richters C. Lycourgos,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Juni 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Nidera BV, vertreten durch I. Misiūnas, V. Vičius und I. Pašvenskaitė als Bevollmächtigte,

–        der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas, R. Butvydytė und R. Krasuckaitė als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Oktober 2017

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos (Staatliche Steuerinspektion beim Finanzministerium der Republik Litauen, im Folgenden: Staatliche Steuerinspektion) und der Nidera BV wegen des Betrags der ihr aufgrund der verspäteten Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses geschuldeten Verzugszinsen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Übersteigt der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.“

 Litauisches Recht

4        Nach Art. 91 Abs. 10 des Lietuvos Respublikos pridėtinės vertės mokesčio įstatymas (Gesetz der Republik Litauen über die Mehrwertsteuer) in der Fassung des Gesetzes Nr. IX‑751 vom 5. März 2002 war zu viel gezahlte Mehrwertsteuer nach dem Verfahren und innerhalb der Fristen des Lietuvos Respublikos mokesčių administravimo įstatymas (Gesetz der Republik Litauen über die Steuerverwaltung) zurückzuerstatten.

5        Art. 8 Abs. 3 des Gesetzes der Republik Litauen über die Steuerverwaltung in der Fassung des Gesetzes Nr. X‑1249 vom 3. Juli 2007 (im Folgenden: Gesetz über die Steuerverwaltung) sieht vor:

„Die Steuerbehörden beachten bei der Steuerverwaltung die Kriterien der Angemessenheit und der Billigkeit.“

6        Art. 87 Abs. 5 bis 7 und 9 des Gesetzes über die Steuerverwaltung bestimmt:

„(5)      Vom Steuerpflichtigen zu viel gezahlte Steuerbeträge sind nach Verrechnung mit eventuellen Zahlungsrückständen auf Antrag des Steuerpflichtigen zu erstatten. …

(6)      Die Steuerverwaltung ist berechtigt, nach dem Verfahren und innerhalb der Fristen dieses Gesetzes zu prüfen, ob der Antrag des Steuerpflichtigen auf Erstattung zu viel gezahlter Steuern begründet ist. …

(7)      … [D]ie Steuerverwaltung erstattet dem Steuerpflichtigen zu viel gezahlte Steuern wie folgt:

1.      Die zu viel gezahlte Steuer ist innerhalb von 30 Tagen nach Eingang eines schriftlichen Antrags auf Erstattung der zu viel gezahlten Steuer zu erstatten. Fordert die Steuerverwaltung den Steuerpflichtigen zur Vorlage zusätzlicher Unterlagen auf, ist die vorgenannte Frist von 30 Tagen ab dem Eingang der angeforderten Unterlagen zu berechnen. … Die in diesem Unterabsatz genannten Fristen gelten nicht im Fall der in Nr. 2 dieses Absatzes genannten Umstände.

2.      Wird im Hinblick auf eine Erstattung zu viel gezahlter Steuern ein Steuerprüfungsverfahren durchgeführt oder sind Fragen im Zusammenhang mit der Erstattung zu viel gezahlter Steuern wesentlicher Bestandteil eines von der Steuerverwaltung im Hinblick auf den Steuerpflichtigen durchgeführten Prüfungsverfahrens, sind zu viel gezahlte Steuern innerhalb von nicht mehr als 20 Tagen nach dem Zeitpunkt zu erstatten, zu dem dem Steuerpflichtigen die Entscheidung der Steuerverwaltung, mit der die Steuer und/oder damit in Zusammenhang stehende Beträge neu berechnet und gegen den Steuerpflichtigen festgesetzt werden, (bzw. der positive Bescheid, wenn keine Verstöße festgestellt wurden) mitgeteilt wird.

(9)      Nimmt die Steuerverwaltung die Erstattung der zu viel gezahlten Steuer nicht innerhalb der in Abs. 7 dieses Artikels genannten Frist vor, berechnet sie darauf Zinsen zugunsten des Steuerpflichtigen bis zur Erstattung der zu viel gezahlten Steuer. Der Zinssatz dieser Zinsen entspricht demjenigen der Verzugszinsen bei verspäteter Entrichtung von Steuern.“

7        Art. 99 des Gesetzes über die Steuerverwaltung sieht vor:

„Der Finanzminister legt den Zinssatz der Verzugszinsen und ihre Berechnungsmodalitäten unter Berücksichtigung des gewichteten mittleren jährlichen Zinssatzes für die in den letzten drei Monaten vom litauischen Staat gegen Gebot emittierten Schatzwechsel fest. Der Zinssatz der Verzugszinsen ergibt sich aus der Anhebung dieses mittleren Zinssatzes um zehn Prozentpunkte.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

8        Zwischen Februar und Mai 2008 erwarb Nidera, ein in den Niederlanden ansässiges Unternehmen, von Lieferanten landwirtschaftlicher Erzeugnisse in Litauen Weizen. Der Gesamtbetrag der gemäß den Rechnungen der Lieferanten entrichteten Mehrwertsteuer belief sich auf 11 743 259 litauische Litas (LTL) (rund 3,4 Mio. Euro). Im gleichen Zeitraum führte Nidera diesen Weizen in Drittstaaten aus und wandte dabei den im litauischen Recht vorgesehenen Mehrwertsteuersatz von 0 % an.

9        Am 12. August 2008 wurde Nidera in Litauen als Mehrwertsteuerpflichtige registriert. In ihrer Mehrwertsteuererklärung für den Zeitraum vom 12. bis 31. August 2008 erklärte sie den genannten Betrag an entrichteter Mehrwertsteuer und beantragte seine Erstattung.

10      Mit Bescheid vom 19. März 2009, der den Prüfungsbericht bestätigte, lehnte die Vilniaus apskrities valstybinė mokesčių inspekcija (Steuerinspektion des Bezirks Vilnius) diese Erstattung mit der Begründung ab, dass Nidera zum Zeitpunkt der in Rede stehenden Weizenlieferungen nicht für Mehrwertsteuerzwecke registriert gewesen sei, so dass sie nach litauischem Recht nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt gewesen sei.

11      Nach dem Urteil vom 21. Oktober 2010, Nidera Handelscompagnie (C‑385/09, EU:C:2010:627), erkannte jedoch die Mokestinių ginčų komisija prie Lietuvos Respublikos Vyriausybės (Kommission für Steuerstreitigkeiten bei der Regierung der Republik Litauen) mit Bescheid vom 24. November 2010 an, dass Nidera zum Vorsteuerabzug berechtigt war, und gab der Steuerverwaltung auf, ihr den betreffenden Betrag zu erstatten. Am 22. Dezember 2010 erstattete die Staatliche Steuerinspektion Nidera den Mehrwertsteuerüberschuss in Höhe von 11 743 259 LTL (rund 3,4 Mio. Euro).

12      Daraufhin beantragte Nidera die Zahlung der Zinsen, die ihr wegen der ursprünglichen Weigerung, ihr den Mehrwertsteuerüberschuss zu erstatten, zustünden. Am 11. August 2011 zahlte ihr die Staatliche Steuerinspektion des Bezirks Vilnius den Betrag von 214 902,27 LTL (rund 60 000 Euro) als Zinsen auf diesen Überschuss für den Zeitraum zwischen der Verkündung des genannten Urteils und der Erstattung des Überschusses. Die Inspektion lehnte es hingegen ab, Verzugszinsen für die Zeit vor der Verkündung dieses Urteils zu zahlen. Mit Entscheidung vom 2. Oktober 2013 wies die Staatliche Steuerinspektion den von Nidera hiergegen eingelegten Einspruch zurück.

13      Hierauf erhob Nidera Klage beim Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionales Verwaltungsgericht Vilnius) auf Aufhebung der Entscheidung der Staatlichen Steuerinspektion sowie auf Änderung des Bescheids der Steuerinspektion des Bezirks Vilnius und beantragte, dass angeordnet werde, ihr einen Betrag von 3 864 706,66 LTL (rund 1,1 Mio. Euro) als Zinsen zu zahlen. Die Zinsen müssten vom Beginn des Steuerprüfungsverfahrens, d. h. ab dem 21. November 2008, bis zur Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses berechnet werden. Das Regionale Verwaltungsgericht Vilnius gab der Klage von Nidera teilweise statt und gab der Steuerinspektion des Bezirks Vilnius auf, Nidera Zinsen für den Zeitraum vom 17. Februar 2009 bis zur genannten Erstattung zu zahlen. Gegen diese Entscheidung legte die Staatliche Steuerinspektion ein Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein.

14      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass sich insbesondere aus dem Urteil vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3 (C‑107/10, EU:C:2011:298), ergebe, dass Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie unter Berücksichtigung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität einer nationalen Regelung entgegenstehe, wonach die normale Frist für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses, nach deren Ablauf Verzugszinsen auf den zu erstattenden Betrag geschuldet würden, im Fall der Einleitung eines Steuerprüfungsverfahrens verlängert werde. Daher sei davon auszugehen, dass die Nidera geschuldeten Zinsen nicht vom Ablauf der in Art. 87 Abs. 7 Nr. 2 des Gesetzes über die Steuerverwaltung genannten Frist, sondern vom Ablauf der in Art. 87 Abs. 7 Nr. 1 dieses Gesetzes genannten Frist, nämlich 30 Tage nach Eingang des Antrags auf Erstattung des Überschusses, an zu berechnen sei.

15      Das vorlegende Gericht stellt sich jedoch die Frage, ob nationale Behörden, einschließlich der Gerichte, die Befugnis haben, die geschuldeten Zinsen unter Berufung auf die besonderen Umstände des Ausgangsverfahrens herabzusetzen. Insbesondere fragt sich das vorlegende Gericht, ob es über ein Ermessen hinsichtlich der Frage verfügt, welcher Zinsbetrag dem Grunde und der Höhe nach geschuldet wird, indem es unter anderem berücksichtigt, in welchem Verhältnis dieser Betrag zum Betrag des nicht erstatteten Überschusses steht, für welchen Zeitraum die Erstattung ausblieb und welche Gründe es hierfür gab – im vorliegenden Fall das im nationalen Recht vorgesehene Verbot des Vorsteuerabzugs durch nicht für Mehrwertsteuerzwecke registrierte Personen – und welche Verluste dem Steuerpflichtigen tatsächlich entstanden sind.

16      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kann das Urteil vom 24. Oktober 2013, Rafinăria Steaua Română (C‑431/12, EU:C:2013:686, Rn. 25), so verstanden werden, dass der Betrag der geschuldeten Zinsen nicht durch die Berücksichtigung von Umständen herabgesetzt werden darf, die mit dem Handeln des betreffenden Steuerpflichtigen selbst nichts zu tun haben. Da mit diesen Zinsen die Verluste des Steuerpflichtigen ausgeglichen werden sollten, die ihm wegen der fehlenden Verfügbarkeit der entsprechenden Mittel entstanden seien, könne jedoch ein langer Zeitraum, in dem die Mittel nicht verfügbar gewesen seien, zu einem Zinsbetrag führen, der mit Blick auf die tatsächlich entstandenen Verluste unverhältnismäßig sei. Die Kriterien der Angemessenheit und der Billigkeit, an die gemäß Art. 8 Abs. 3 des Gesetzes über die Steuerverwaltung sowohl die Steuerbehörden als auch die nationalen Gerichte gebunden seien, könnten zu einer Herabsetzung dieses Betrags führen.

17      Angesichts der Ziele der Mehrwertsteuererstattung, insbesondere dem Ziel, den Steuerpflichtigen keinem finanziellen Risiko auszusetzen, könnten sich allerdings negative finanzielle Folgen aufgrund der fehlenden Verfügbarkeit der Mittel nach deren Erstattung ergeben. Im Hinblick auf eine Herabsetzung des geschuldeten Zinsbetrags schließe folglich eine Verknüpfung des Betrags der Zinsen mit den tatsächlichen Verlusten des Steuerpflichtigen das Risiko finanzieller Verluste und Belastungen für den Steuerpflichtigen nicht völlig aus, da er die entsprechenden Verluste beweisen müsste.

18      Unter diesen Umständen hat der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass er einer Herabsetzung der nach nationalem Recht auf nicht fristgerecht erstattete (verrechnete) zu viel gezahlte Mehrwertsteuer (Überschuss) regelmäßig geschuldeten Zinsen entgegensteht, wenn bei dieser Herabsetzung andere als die sich aus dem Handeln des Steuerpflichtigen selbst ergebenden Umstände berücksichtigt werden, wie etwa das Verhältnis zwischen den Zinsen und dem Betrag der nicht fristgerecht erstatteten Überzahlung, der Zeitraum, während dessen die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags ausblieb, und die hierfür bestehenden Gründe sowie die dem Steuerpflichtigen tatsächlich entstandenen Verluste?

 Zur Vorlagefrage

19      Vorab ist festzuhalten, dass das vorlegende Gericht ausweislich der Gründe des Vorabentscheidungsersuchens nach Verkündung des Urteils vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3 (C‑107/10, EU:C:2011:298), entschieden hat, dass für die Zwecke des bei ihm anhängigen Rechtsstreits die Nidera geschuldeten Verzugszinsen auf den erstatteten Mehrwertsteuerüberschuss vom Ablauf der Frist des Art. 87 Abs. 7 Nr. 1 des Gesetzes über die Steuerverwaltung an zu berechnen seien, was Nidera und die litauische Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt haben. Das Gericht befragt also den Gerichtshof nicht über den Zeitpunkt, ab dem die Verzugszinsen geschuldet werden, sondern allein darüber, ob es möglich ist, den Betrag dieser Zinsen herabzusetzen.

20      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er der Herabsetzung der nach nationalem Recht regelmäßig auf einen nicht fristgerecht erstatteten Mehrwertsteuerüberschuss geschuldeten Zinsen entgegensteht, die aus Gründen in Zusammenhang mit vom Steuerpflichtigen unabhängigen Umständen vorgenommen wird, wie etwa der Höhe des Zinsbetrags im Verhältnis zum Betrag des Mehrwertsteuerüberschusses, der Dauer der unterbliebenen Erstattung und den Gründen hierfür sowie den dem Steuerpflichtigen tatsächlich entstandenen Verlusten.

21      Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie zwar weder eine Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen auf den zu erstattenden Mehrwertsteuerüberschuss noch den Zeitpunkt vorsieht, ab dem solche Zinsen geschuldet werden, dieser Umstand allein jedoch nicht den Schluss erlaubt, dass dieser Artikel dahin auszulegen ist, dass die von den Mitgliedstaaten festgelegten Einzelheiten für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses von jeglicher unionsrechtlichen Kontrolle freigestellt sind (Urteile vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3, C‑107/10, EU:C:2011:298, Rn. 27 und 28, und vom 6. Juli 2017, Glencore Agriculture Hungary, C‑254/16, EU:C:2017:522, Rn. 18).

22      Zum einen fällt nämlich die Durchführung des in Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Anspruchs auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses zwar grundsätzlich in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten; dies ändert jedoch nichts daran, dass diese Autonomie durch die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität begrenzt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3, C‑107/10, EU:C:2011:298, Rn. 29, vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 27, und vom 24. Oktober 2013, Rafinăria Steaua Română, C‑431/12, EU:C:2013:686, Rn. 20).

23      Zum anderen ergeben sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aus Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie in seiner Auslegung unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und der im Bereich der Mehrwertsteuer geltenden allgemeinen Grundsätze bestimmte spezifische Regeln, die die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Anspruchs auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses beachten müssen (Urteile vom 24. Oktober 2013, Rafinăria Steaua Română, C‑431/12, EU:C:2013:686, Rn. 21, und vom 6. Juli 2017, Glencore Agriculture Hungary, C‑254/16, EU:C:2017:522, Rn. 19).

24      So verfügen die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Einzelheiten der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses zwar über einen gewissen Spielraum, diese Einzelheiten dürfen aber den Grundsatz der Neutralität des Mehrwertsteuersystems nicht dadurch beeinträchtigen, dass der Steuerpflichtige ganz oder teilweise mit dieser Steuer belastet wird. Insbesondere müssen diese Einzelheiten es dem Steuerpflichtigen erlauben, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus dem Mehrwertsteuerüberschuss resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen, was impliziert, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt und dass dem Steuerpflichtigen durch die gewählte Methode der Erstattung auf keinen Fall ein finanzielles Risiko entstehen darf (Urteile vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3, C‑107/10, EU:C:2011:298, Rn. 33, und vom 6. Juli 2017, Glencore Agriculture Hungary, C‑254/16, EU:C:2017:522, Rn. 20).

25      Insoweit verlangt der Grundsatz der Neutralität des Mehrwertsteuersystems, dass die finanziellen Verluste, die dem Steuerpflichtigen, wenn ihm der Mehrwertsteuerüberschuss nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet wird, durch die fehlende Verfügbarkeit der fraglichen Geldbeträge entstehen, durch die Zahlung von Verzugszinsen ausgeglichen werden. In Ermangelung einer Regelung der Union im Bereich der Mehrwertsteuer kommt es der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zu, die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen, insbesondere den Zinssatz und die Berechnungsmethode für die Zinsen, festzulegen, wobei jedoch der Grundsatz der steuerlichen Neutralität zu beachten ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3, C‑107/10, EU:C:2011:298, Rn. 33, 53 und 54, vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 27, und vom 24. Oktober 2013, Rafinăria Steaua Română, C‑431/12, EU:C:2013:686, Rn. 22 und 23).

26      Zum Ausgangsrechtsstreit führt das vorlegende Gericht aus, dass gemäß Art. 87 Abs. 9 des Gesetzes über die Steuerverwaltung der Satz der Zinsen, die im Fall einer verspäteten Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses an den Steuerpflichtigen geschuldet sind, demjenigen der Verzugszinsen entspricht, die bei verspäteter Entrichtung von Steuern für die Steuerpflichtigen gelten. Nach Art. 99 dieses Gesetzes ergibt sich die Höhe dieses Zinssatzes daraus, dass der gewogene mittlere jährliche Zinssatz der in den letzten drei Monaten von der Republik Litauen emittierten Schatzwechsel um zehn Prozentpunkte angehoben wird.

27      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnte diese Berechnung dann, wenn eine besonders späte Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses dazu führt, dass Mittel über einen langen Zeitraum nicht verfügbar sind, einen Betrag von Ausgleichszinsen nach sich ziehen, der im Hinblick auf die dem Steuerpflichtigen tatsächlich entstandenen Verluste unverhältnismäßig ist. Unter diesen Umständen gestatteten es die Kriterien der Angemessenheit und der Billigkeit nach Art. 8 Abs. 3 des Gesetzes über die Steuerverwaltung sowohl den Steuerbehörden als auch den nationalen Gerichten, diesen Betrag schließlich aus den in der Vorlagefrage genannten Gründen, die vom Verhalten des Steuerpflichtigen unabhängig seien, herabzusetzen. Aus der Antwort der litauischen Regierung auf eine vom Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung gestellte Frage geht gleichwohl hervor, dass eine solche Herabsetzung von den nationalen Gerichten bislang nicht vorgenommen worden ist.

28      Was erstens eine Herabsetzung wegen der Höhe des Betrags der nach nationalem Recht regelmäßig geschuldeten Zinsen im Hinblick auf den Betrag des Mehrwertsteuerüberschusses betrifft, stellt dieser Betrag, wie der Generalanwalt in Nr. 35 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, lediglich einen Ausgleich für die fehlende Möglichkeit zur Generierung von Einkünften infolge andauernder Nichterstattung des Hauptbetrags dar. Diesen Betrag allein wegen seiner Höhe im Verhältnis zu dem zu erstattenden Hauptbetrag herabzusetzen, wäre für den Steuerpflichtigen mit der Gefahr verbunden, dass die Zahlung von Verzugszinsen nicht den ganzen Zeitraum abdeckt, während dessen nach der in den Rn. 24 und 25 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung wegen des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität die Nichtverfügbarkeit der betreffenden Geldbeträge durch die Zahlung von Verzugszinsen ausgeglichen werden muss.

29      Zweitens kann die Dauer der Nichterstattung, wie sich aus der vorstehenden Randnummer ergibt, für sich genommen eine Herabsetzung der Verzugszinsen nicht rechtfertigen, da deren Betrag gerade die dem Steuerpflichtigen in diesem Zeitraum entstandenen Verluste ausgleichen soll. Zudem könnte die Möglichkeit zur Herabsetzung der geschuldeten Zinsen wegen der Dauer des Zeitraums der Nichterstattung bewirken, dass die Steuerbehörden keinen Anreiz hätten, die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses so schnell wie möglich vorzunehmen, was ebenfalls geeignet ist, entgegen dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität ein finanzielles Risiko für den Steuerpflichtigen hervorzurufen.

30      Darüber hinaus ist festzuhalten, dass auch die Weigerung der Steuerverwaltung, den von Nidera geltend gemachten Mehrwertsteuerüberschuss vor der Verkündung des Urteils vom 21. Oktober 2010, Nidera Handelscompagnie (C‑385/09, EU:C:2010:627), zu erstatten, keine Herabsetzung des Betrags der Verzugszinsen rechtfertigen kann. Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre (Urteile vom 27. März 1980, Denkavit italiana, 61/79, EU:C:1980:100, Rn. 16, und vom 14. April 2015, Manea, C‑76/14, EU:C:2015:216, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Im Übrigen gibt es aus der Sicht des Steuerpflichtigen keinen maßgeblichen Unterschied zwischen einer verspäteten Erstattung aufgrund einer nicht fristgemäßen Bearbeitung des Antrags durch die Verwaltung und einer verspäteten Erstattung aufgrund von Verwaltungsakten, mit denen die Erstattung rechtswidrig verweigert wird und die später nach einer Entscheidung des Gerichtshofs aufgehoben werden (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Oktober 2013, Rafinăria Steaua Română, C‑431/12, EU:C:2013:686, Rn. 25).

32      Drittens bedeutet die für ein nationales Gericht bestehende Möglichkeit, den Betrag der nach den nationalen Regelungen regelmäßig geschuldeten Zinsen herabzusetzen, um den Verlusten Rechnung zu tragen, die einem bestimmten Steuerpflichtigen aufgrund des während des Zeitraums der Nichterstattung vorenthaltenen Betrags des zu erstattenden Mehrwertsteuerüberschusses tatsächlich entstanden sind, dass der Steuerpflichtige die ihm wegen dieser Mittelvorenthaltung tatsächlich entstandenen finanziellen Verluste nachzuweisen hätte.

33      Gleichwohl macht die litauische Regierung zum einen geltend, dass der Zinssatz gemäß Art. 99 des Gesetzes über die Steuerverwaltung nicht nur die dem Steuerpflichtigen entstandenen Verluste ausgleichen solle, sondern wegen der Anhebung des jährlichen Zinssatzes für Schatzwechsel um zehn Prozentpunkte auch einen strafenden Bestandteil mit Sanktionseffekt umfasse. Nach Art. 87 Abs. 9 des genannten Gesetzes entspreche der Zinssatz der dem Steuerpflichtigen im Fall der nicht fristgerechten Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses zu zahlenden Zinsen dem Verzugszinssatz, der bei verspäteter Entrichtung von Steuern durch Steuerpflichtige Anwendung finde.

34      Zum anderen gelte der in diesem Art. 99 festgelegte Satz nur für den Zeitraum von der Entscheidung der Steuerverwaltung oder gegebenenfalls eines Gerichts, mit der die Begründetheit des Antrags auf Erstattung festgestellt werde, bis zur vollständigen Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses an den Steuerpflichtigen. Hieraus ergebe sich, dass die Anwendung dieses Satzes auf den Zeitraum vor einer solchen Entscheidung zu einer Überkompensation der Verluste führen würde, die dem Steuerpflichtigen aufgrund der fehlenden Verfügbarkeit der zu erstattenden Mittel entstanden seien, wodurch ihm ein ungerechtfertigter Vorteil zugutekäme.

35      Hierzu ist festzustellen, dass das Vorbringen der litauischen Regierung auf einem anderen Verständnis der litauischen Rechtsvorschriften beruht als demjenigen des vorlegenden Gerichts. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich nämlich nicht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verzugszinsen Strafcharakter aufwiesen. Außerdem hat das vorlegende Gericht, wie in Rn. 19 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, entschieden, dass der Zeitpunkt, ab dem Zinsen anfallen, nach Art. 87 Abs. 7 Nr. 1 des Gesetzes über die Steuerverwaltung zu bestimmen ist, der eine Frist von 30 Tagen nach dem Zeitpunkt des Eingangs des Antrags auf Erstattung, und nicht nach dem Zeitpunkt der Entscheidung über diesen Antrag, festlegt. Es ist jedoch allein Sache des vorlegenden Gerichts, die nationale Regelung auszulegen; Aufgabe des Gerichtshofs ist es, die Vorlagefrage unter Zugrundelegung der vom vorlegenden Gericht vorgenommenen Auslegung der nationalen Regelung zu beantworten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3, C‑107/10, EU:C:2011:298, Rn. 38).

36      In jedem Fall sind die Mitgliedstaaten im Rahmen ihres Spielraums bei der Festlegung der Einzelheiten für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses, auf die in Rn. 23 des vorliegenden Urteils hingewiesen wird, berechtigt, zur Sicherstellung eines Ausgleichs durch Vorschriften, die von der Steuerverwaltung einfach gehandhabt und kontrolliert werden können, pauschalierte Verzugszinsen vorzusehen. Wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, übersteigen zwar die Ausgleichszinsen in bestimmten Einzelfällen den tatsächlichen Schaden, jedoch ist dies nur die Folge eines Systems des pauschalierten Schadensersatzes, der seinem Wesen nach nicht die tatsächlichen Verluste widerspiegelt, sondern die Verluste, die der Steuerpflichtige nach Einschätzung des nationalen Gesetzgebers erleiden kann. Schadensersatz in Form von Zinsen kann in konkreten Fällen höher oder niedriger ausfallen als der tatsächliche Schaden.

37      Wenn also eine nationale Regelung wie die des Ausgangsverfahrens die Zahlung solcher pauschalierten Verzugszinsen vorsieht, kann sie nicht gleichzeitig die Möglichkeit vorsehen, die Zahlung dieser Verzugszinsen auszuschließen, und sich darauf beschränken, auf der Grundlage der Kriterien der Angemessenheit und der Billigkeit nur tatsächliche Verluste auszugleichen, wie dies die litauische Regierung vorbringt. Eine solche nationale Regelung bedeutete nämlich, dass es für den Steuerpflichtigen unmöglich ist, die Umstände vorherzusehen, in denen er die Zahlung pauschalierter Verzugszinsen erwarten kann, und somit seine Tätigkeit entsprechend anzupassen. Eine solche Regelung erlaubt es dem Steuerpflichtigen nicht, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus dem Mehrwertsteuerüberschuss resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen, ohne dass ihm entgegen dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität ein finanzielles Risiko entsteht (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3, C‑107/10, EU:C:2011:298, Rn. 57 und 58).

38      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er der Herabsetzung der nach nationalem Recht regelmäßig auf einen nicht fristgerecht erstatteten Mehrwertsteuerüberschuss geschuldeten Zinsen entgegensteht, die wegen vom Steuerpflichtigen unabhängiger Umstände vorgenommen wird, wie etwa der Höhe des Zinsbetrags im Verhältnis zum Betrag des Mehrwertsteuerüberschusses, der Dauer der unterbliebenen Erstattung und den Gründen hierfür sowie den dem Steuerpflichtigen tatsächlich entstandenen Verlusten.

 Kosten

39      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass er der Herabsetzung der nach nationalem Recht regelmäßig auf einen nicht fristgerecht erstatteten Mehrwertsteuerüberschuss geschuldeten Zinsen entgegensteht, die wegen vom Steuerpflichtigen unabhängiger Umstände vorgenommen wird, wie etwa der Höhe des Zinsbetrags im Verhältnis zum Betrag des Mehrwertsteuerüberschusses, der Dauer der unterbliebenen Erstattung und den Gründen hierfür sowie den dem Steuerpflichtigen tatsächlich entstandenen Verlusten.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Litauisch.