Language of document : ECLI:EU:C:2018:317

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 16. Mai 2018(1)

Rechtssache C268/17

Ured za suzbijanje korupcije i organiziranog kriminaliteta

gegen

AY

(Vorabentscheidungsersuchen des Županijski Sud u Zagrebu [Gespanschaftsgericht Zagreb, Kroatien])

„Vorabentscheidungsersuchen – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 3 Nr. 2 und Art. 4 Nr. 3 – Europäischer Haftbefehl – Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung – Begriff der rechtskräftigen Entscheidung in Bezug auf dieselbe Handlung – Gesuchte Person – Stellung als Zeuge im Vollstreckungsmitgliedstaat“






1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Županijski Sud u Zagrebu (Gespanschaftsgericht Zagreb, Kroatien) gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, klarzustellen, dass er grundsätzlich unzuständig ist für die Auslegung von Rechtsvorschriften über die Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, wenn die Fragen von einem Gericht desjenigen Mitgliedstaats vorgelegt werden, das den betreffenden Haftbefehl gemäß dem Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI)(2) (im Folgenden: Rahmenbeschluss) ausgestellt hat.

 Rechtlicher Rahmen

2.        Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses lautet:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

3.        Art. 2 („Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls“) Abs. 1 und 2 bestimmt:

„(1)      Ein Europäischer Haftbefehl kann bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt.

(2)      Bei den nachstehenden Straftaten erfolgt, wenn sie im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind, eine Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit:

–        Korruption,

…“

4.        „Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist“, sind in Art. 3 des Rahmenbeschlusses wie folgt aufgeführt:

„Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats (nachstehend ‚vollstreckende Justizbehörde‘ genannt) lehnt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab,

2.      wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

…“

5.        Art. 4 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann“) bestimmt:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

3.      wenn die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats beschlossen haben, wegen der Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen, oder wenn gegen die gesuchte Person in einem Mitgliedstaat aufgrund derselben Handlung eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, die einer weiteren Strafverfolgung entgegensteht;

…“

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

6.        Gegen AY, einen ungarischen Staatsangehörigen und Vorstandsvorsitzenden eines ungarischen Unternehmens, wurde ein Strafverfahren vor dem vorlegenden Gericht eingeleitet. Gemäß der Anklageschrift des Ured za suzbijanje korupcije i organiziranog kriminaliteta (Amt zur Bekämpfung der Korruption und der organisierten Kriminalität, im Folgenden: USKOK) vom 31. März 2014 soll AY sich bereit erklärt haben, einem hohen Amtsträger in Kroatien einen beträchtlichen Geldbetrag als Gegenleistung für den Abschluss eines Vertrags zwischen dem ungarischen Unternehmen und der kroatischen Regierung zu zahlen.

7.        Am 10. Juni 2011 leitete das USKOK ein Ermittlungsverfahren gegen den Tatverdächtigen AY wegen aktiver Bestechung ein, wobei es die ungarische Staatsanwaltschaft und den ungarischen Generalstaatsanwalt vor der Einleitung des Ermittlungsverfahrens umfassend unterrichtet hatte. Mit dem Beschlusses zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wurde die zuständige ungarische Behörde um Rechtshilfe ersucht und gebeten, AY als Beschuldigten zu vernehmen und ihm eine Ladung zuzustellen. Die Rechtshilfeersuchen wurden zwischen dem 10. Juni 2011 und September 2013 versandt.

8.        Die ungarischen Behörden führten das Rechtshilfeersuchen nicht aus. Den zuständigen kroatischen Behörden war es daher nicht möglich, den Beschuldigten AY ausfindig zu machen, worauf das kroatische Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten AY im Dezember 2012 ausgesetzt wurde.

9.        Aufgrund der Dokumentation, die dem Rechtshilfeersuchen beigefügt war, leitete der ungarische Generalstaatsanwalt jedoch ein Ermittlungsverfahren ein wegen des hinreichenden Verdachts einer nach dem ungarischen Strafgesetzbuch strafbewehrten Beeinträchtigung der Integrität des öffentlichen Lebens in Form der aktiven Bestechung im internationalen Maßstab. Dieses Ermittlungsverfahren wurde am 20. Januar 2012 durch Beschluss der ungarischen Staatsanwaltschaft gemäß dem ungarischen Strafverfahrensgesetz mit der Begründung eingestellt, dass die begangenen Handlungen keine Straftat darstellten. Dieses Verfahren war jedoch nicht gegen AY als Beschuldigten eingeleitet worden, sondern nur im Hinblick auf die vermeintliche Straftat. In diesem Zusammenhang wurde AY als Zeuge vernommen. Der hohe kroatische Amtsträger wurde in diesem Ermittlungsverfahren nicht als Zeuge vernommen.

10.      Wie das vorlegende Gericht mitteilt, wurden andere in Ungarn eingeleitete Verfahren eingestellt, da im Anschluss an die im Beschluss vom 20. Januar 2012 genannten Umstände keine neuen Tatsachen vorgelegen hätten.

11.      Am 1. Oktober 2013, nach dem Beitritt der Republik Kroatien zur Europäischen Union und vor Einleitung eines Strafverfahrens, erließ das USKOK einen Europäischen Haftbefehl gegen AY.

12.      Die Vollstreckung dieses Haftbefehls wurde mit Beschluss des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Gericht Budapest, Ungarn) vom 7. Oktober 2013 mit der Begründung abgelehnt, den verfügbaren Informationen sei zu entnehmen, dass in Ungarn wegen derselben Handlungen, auf die der Haftbefehl gestützt sei, bereits ein Strafverfahren eingeleitet und von der ungarischen Justizbehörde eingestellt worden sei.

13.      Auf den Antrag, die Hauptverhandlung zu eröffnen, und den Beschluss, die Sache des Beschuldigten AY an das vorlegende Gericht zu verweisen, wurde die Sache gemäß den einschlägigen Vorschriften des kroatischen Strafverfahrensgesetzes der Anklagekammer, Abteilung Europäische Haftbefehle, dieses Gerichts zugewiesen. Ein zweiter Europäischer Haftbefehl erging am 15. Dezember 2015 gegen AY, die gesuchte Person. Dieser Haftbefehl wurde von der Republik Ungarn nie vollstreckt.

14.      Der zweite Europäische Haftbefehl wurde am 27. Januar 2017 durch das vorlegende Gericht wiederum den zuständigen ungarischen Behörden übermittelt.

15.      Nach Ablauf von 60 Tagen nach dieser letzten Übermittlung des zweiten Europäischen Haftbefehls wandte sich das vorlegende Gericht an das kroatische Eurojust-Mitglied. Dieses Mitglied intervenierte und übermittelte dem vorlegenden Gericht sodann die Stellungnahme der zuständigen ungarischen Behörde, dass sie sich nicht für verpflichtet halte, dem ausgestellten Europäischen Haftbefehl nachzukommen, und dass es in Ungarn keine rechtliche Möglichkeit gebe, den Beschuldigten AY festzunehmen oder ein neues Verfahren zur Vollstreckung des am 15. Dezember 2015 in Kroatien ausgestellten Europäischen Haftbefehls einzuleiten. Eine gleichlautende Stellungnahme der zuständigen ungarischen Justizbehörde wurde dem vorlegenden Gericht am 4. April 2017 übermittelt.

16.      Da das vorlegende Gericht Zweifel hat, wie die in Art. 3 Nr. 2 und Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses genannten Gründe für eine Verweigerung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auszulegen sind, hat es mit Beschluss vom 16. Mai 2017, eingegangen beim Gerichtshof am 18. Mai 2017, die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass sich der Beschluss, wegen der Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen, ausschließlich auf die Straftat bezieht, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, oder ist diese Bestimmung dahin zu verstehen, dass sich der Verzicht auf das Verfahren oder die Einstellung des Verfahrens auch auf die gesuchte Person in ihrer Eigenschaft als Verdächtiger/Beschuldigter im Rahmen dieses Verfahrens beziehen muss?

2.      Kann ein Mitgliedstaat die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nach Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses verweigern, wenn die Justizbehörde des anderen Mitgliedstaats beschlossen hat, wegen der Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, kein Verfahren einzuleiten oder das Verfahren einzustellen, und die gesuchte Person in diesem Verfahren die Stellung eines Zeugen und nicht eines Verdächtigen/Beschuldigten hatte?

3.      Stellt der Beschluss, ein Verfahren einzustellen, in dem die gesuchte Person nicht die Stellung eines Verdächtigen hatte, sondern als Zeuge gehört wurde, für die anderen Mitgliedstaaten einen Grund zur Ablehnung der Vollstreckung des ausgestellten Europäischen Haftbefehls gemäß Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses dar?

4.      In welchem Verhältnis zueinander stehen der in Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses vorgesehene obligatorische Grund, eine Übergabe abzulehnen, wenn „sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist“, und der in Art. 4 Nr. 3 vorgesehene fakultative Grund, eine Übergabe zu verweigern, wenn „gegen die gesuchte Person in einem Mitgliedstaat aufgrund derselben Handlung eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, die einer weiteren Strafverfolgung entgegensteht“?

5.      Ist Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass der Vollstreckungsstaat verpflichtet ist, eine Entscheidung über jeden Europäischen Haftbefehl, der ihm übermittelt wird, zu treffen, auch wenn er bereits über einen früheren, von der anderen Justizbehörde gegen dieselbe gesuchte Person im Rahmen desselben Strafverfahrens ausgestellten Europäischen Haftbefehl entschieden hat und der neue Europäische Haftbefehl aufgrund einer Änderung der Umstände im Staat der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls ausgestellt worden ist (Verweisungsbeschluss – Einleitung des Strafverfahrens, strengere Beweisanforderung hinsichtlich der Begehung der Straftat, Zuständigkeit einer neuen Justizbehörde/eines neuen Gerichts)?

17.      In Anbetracht der konkreten Umstände ist gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entschieden worden, dass diese Rechtssache mit Vorrang zu entscheiden ist.

18.      Schriftliche Stellungnahmen sind von den Parteien des Ausgangsverfahrens, der kroatischen, der tschechischen, der ungarischen, der österreichischen und der rumänischen Regierung sowie von Irland und der Kommission eingereicht worden. Die Parteien des Ausgangsverfahrens, die kroatische und die ungarische Regierung sowie die Kommission haben an der mündlichen Verhandlung am 28. Februar 2018 teilgenommen.

 Würdigung

 Rechtsprechung des Gerichtshofs

19.      Im vorliegenden Fall begehrt der den Europäischen Haftbefehl ausstellende Mitgliedstaat Klarheit über die Vollstreckung dieses Haftbefehls. In diesem Zusammenhang stellt das vorlegende Gericht eine Reihe von Fragen zu den in Art. 3 Nr. 2 und Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses normierten Gründen für die Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls.

20.      Dies erscheint sonderbar, da die Antwort des Gerichtshofs nur die Vollstreckungsbehörden betreffen würde.

21.      Rechtssachen zum Europäischen Haftbefehl beruhen typischerweise auf einer Streitigkeit zwischen Justizbehörden zweier Mitgliedstaaten. Die Behörden eines Mitgliedstaats stellen einen Europäischen Haftbefehl aus, während die Justizbehörden des anderen Mitgliedstaats diesen Haftbefehl vollstrecken.

22.      Infolgedessen gehen Rechtssachen zu Fragen der Vollstreckung und insbesondere zu möglichen Gründen für deren Verweigerung typischerweise von den vollstreckenden Justizbehörden aus, da diese Behörden Klarheit bezüglich der Parameter dieser Verweigerungsgründe zu erlangen suchen(3). Diese Behörden möchten wissen, ob sie einen Europäischen Haftbefehl vollstrecken können bzw. nicht vollstrecken dürfen.

23.      Das vorlegende Gericht geht offenbar davon aus, dass es sich aufgrund der Antwort des Gerichtshofs in einer Lage befinden könnte, in der es den Europäischen Haftbefehl aufheben würde. Würde der Gerichtshof daher feststellen, dass es auf Seiten der ungarischen Behörden Gründe für die Verweigerung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gebe, würde dann das vorlegende Gericht dafür sorgen, dass der Europäische Haftbefehl aufgehoben wird.

24.      Ich glaube nicht, dass der Gerichtshof in der Lage ist, die Fragen 1 bis 4 des Vorabentscheidungsersuchens zu beantworten. Meines Erachtens verfügt er nicht über die dafür erforderliche Zuständigkeit(4).

25.      Nach Art. 267 Abs. 2 AEUV ist der Gerichtshof zur Vorabentscheidung zuständig, wenn es sich um eine Frage handelt, deren Entscheidung das vorlegende Gericht für den Erlass seines Urteils für „erforderlich“ hält.

26.      In einem Fall wie dem vorliegenden vermag ich die Erforderlichkeit der Antwort des Gerichtshofs für das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht nicht zu erkennen. Es stimmt, dass Vorlagen zur Vorabentscheidung in der Regel als zulässig anzusehen sind und der Gerichtshof eine Beantwortung nur in seltenen, außergewöhnlichen Fällen verweigert. Für diese Vorlagen gilt die Vermutung der Erheblichkeit(5). Ob eine Vorlagefrage erheblich ist, ist eine objektive Frage.

27.      Der Gerichtshof hat daher in von ihm selbst als „Ausnahmefälle“(6) bezeichneten hypothetischen Fällen eine Beantwortung abgelehnt, wenn die vorgelegten Fragen für die Entscheidung der Streitigkeit irrelevant waren, wenn die Fragen nicht klar genug formuliert waren oder wenn der Sachverhalt nicht klar genug war.

28.      Auf den ersten Blick fallen die Vorlagefragen 1 bis 4 nicht in eine dieser Gruppen von Fällen, in denen der Gerichtshof eine Beantwortung abgelehnt hat. Meines Wissens hat der Gerichtshof es aber auch noch nicht mit einer Situation wie der vorliegenden zu tun gehabt, in der die Behörden eines einen Europäischen Haftbefehl ausstellenden Mitgliedstaats in Erfahrung bringen wollen, welche Rechte und Pflichten für die Behörden des den Europäischen Haftbefehl vollstreckenden Mitgliedstaats bestehen.

29.      Die Frage, ob eine Behörde, die einen Europäischen Haftbefehl ausstellt, entscheidet, einen solchen Haftbefehl aufrechtzuerhalten oder nicht, ist unabhängig von der Frage, ob möglicherweise Gründe für eine Ablehnung der Vollstreckung vorliegen, und sollte dies auch sein. Würde der Gerichtshof z. B. entscheiden, dass sich die ungarischen Behörden für die Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls auf Art. 3 Nr. 2 oder Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses berufen können, hätte dies rechtlich keine Auswirkung auf die Frage, ob die ausstellende Behörde den Europäischen Haftbefehl aufrechterhält oder nicht. Das vorlegende Gericht könnte den Europäischen Haftbefehl aufrechterhalten oder aufheben.

30.      In dem Fall, der dem Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegt, geht es um die Auslegung ungarischer Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung von Bestimmungen des Rahmenbeschlusses in einem konkreten Fall. Die abschließende Entscheidung darüber, ob die Voraussetzungen des Art. 3 Nr. 2 oder des Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses erfüllt sind, ist Sache der ungarischen Behörden. Das vorlegende Gericht kann diese Aufgabe nicht wahrnehmen und sich selbst wirksam an die Stelle der ungarischen Behörden setzen.

31.      Würde der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache die Fragen 1 bis 4 beantworten, hätte seine Entscheidung selbstverständlich nicht „bloße Auskunftswirkung und keine Bindungswirkung“(7). Aber rein tatsächlich und in Bezug auf das vorlegende Gericht im konkret vorliegenden Fall hätte die Entscheidung genau diese Wirkung: zweifellos interessant auf dem Papier, aber von den kroatischen Behörden im konkreten Fall nicht anwendbar. Die Entscheidung wäre nur für die ungarischen Behörden von Bedeutung – die aber dieses Vorabentscheidungsersuchen nicht gestellt haben.

32.      Darüber hinaus sollte nicht vergessen werden, dass das gesamte System des Europäischen Haftbefehls auf gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Anerkennung zwischen den Ausstellungs- und Vollstreckungsmitgliedstaaten beruht. Es versteht sich von selbst, dass in allererster Linie der Vollstreckungsmitgliedstaat den Maßnahmen des Ausstellungsmitgliedstaats zu vertrauen hat. Jedoch muss auch der Ausstellungsmitgliedstaat den Maßnahmen des Vollstreckungsmitgliedstaats vertrauen, wenn sich dieser auf Gründe für eine Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls beruft. Würde der Ausstellungsmitgliedstaat beginnen, das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats anzuwenden und auszulegen und versuchen, festzustellen, ob dieser das Recht zutreffend angewendet hat, wäre er gefährlich nahe daran, gegen den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zu verstoßen. In diesem Zusammenhang ist es, anders als z. B. in zivilrechtlichen Angelegenheiten, nicht üblich, dass die Behörden eines Landes das Recht eines anderen Staates anwenden, auslegen und kritisch beurteilen. Im Rahmen des mit dem Vorabentscheidungsverfahren eingeführten Mechanismus liefert das nationale Gericht den Sachverhalt und die Beschreibung des einschlägigen nationalen Rechts, wodurch der Gerichtshof in die Lage versetzt wird, eine nützliche und zweckdienliche Auslegung des Unionsrechts zu geben. Das setzt allerdings voraus, dass das vorlegende Gericht tatsächlich in der Lage ist, die Auslegung des Gerichtshofs auf die ihm vorliegende Rechtssache dann auch anzuwenden. Da das kroatische Gericht kein ungarisches Strafrecht anwenden kann, wird die Antwort des Gerichtshofs in diesem Kontext zwecklos sein(8).

33.      Da die Vorlagefragen die Auslegung des Rahmenbeschlusses in Bezug auf Fragen betreffen, für die die Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats zuständig sind, bin ich zusammenfassend der Auffassung, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der vorgelegten Fragen nicht zuständig ist.

34.      Bezüglich der Frage 5 gibt es meines Erachtens kein Zuständigkeitsproblem. Nach dem Rahmenbeschluss, dem der Gedanke der Zusammenarbeit zwischen den Behörden verschiedener Mitgliedstaaten zugrunde liegt, ist die Antwort auf diese Frage in allererster Linie für die Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats von Bedeutung. Gleichwohl ist eine Entscheidung über die Frage, mit der das vorlegende Gericht im Wesentlichen geklärt haben möchte, ob die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses verpflichtet ist, eine Entscheidung zu dem ihr übermittelten Europäischen Haftbefehl zu erlassen, auch für das vorlegende Gericht erforderlich, wenn es wissen möchte, ob es rechtlich gesehen eine Antwort der vollstreckenden Justizbehörde erwarten kann. Das vorlegende Gericht wird dann beurteilen können, ob es den zweiten Europäischen Haftbefehl aufheben sollte oder nicht. Außerdem ist zu bedenken, dass die Frage 5 die einzige Frage ist, die keiner Auslegung des ungarischen Rechts durch das vorlegende kroatische Gericht bedarf.

 Materielle Fragen


 Frage 5

35.      Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses verpflichtet ist, über jeden ihr übermittelten Europäischen Haftbefehl eine Entscheidung zu treffen, und zwar auch dann, wenn in dem betreffenden Mitgliedstaat bereits über einen früheren Europäischen Haftbefehl, der dieselbe gesuchte Person in demselben Strafverfahren betraf, entschieden wurde, der zweite Europäische Haftbefehl aber aufgrund einer Änderung der Umstände im Ausstellungsmitgliedstaat von einer anderen Justizbehörde ausgestellt wird.

36.      Nach dem klaren Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses haben die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses zu vollstrecken. In diesem Kontext bestimmt Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses, dass die vollstreckende Justizbehörde über die Übergabe der betreffenden Person innerhalb der im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fristen entscheidet. Zudem bestimmt Art. 17 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses, dass ein Europäischer Haftbefehl als Eilsache erledigt und vollstreckt wird, und nach Art. 17 Abs. 6 ist eine Ablehnung seiner Vollstreckung zu begründen. Darüber hinaus hat die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 22 des Rahmenbeschlusses der ausstellenden Justizbehörde unverzüglich ihre Entscheidung über die zum Europäischen Haftbefehl getroffenen Folgemaßnahmen mitzuteilen.

37.      Wie im Einzelnen nachstehend dargestellt, enthalten die Art. 3 ff. des Rahmenbeschlusses eine erschöpfende Aufzählung der Gründe für eine Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls. Die Existenz eines früheren Europäischen Haftbefehls wird nicht als Grund für eine Verweigerung genannt.

38.       Demzufolge verletzen die Behörden eines Vollstreckungsmitgliedstaats, wenn sie einen Europäischen Haftbefehl unbeantwortet lassen, ihre Verpflichtungen aus dem Rahmenbeschluss.

39.      Ich schlage daher vor, die Frage 5 dahin zu beantworten, dass die die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses verpflichtet ist, über jeden ihr übermittelten Europäischen Haftbefehl eine Entscheidung zu treffen, und zwar auch dann, wenn in dem betreffenden Mitgliedstaat bereits über einen früheren Europäischen Haftbefehl, der dieselbe gesuchte Person in demselben Strafverfahren betraf, entschieden wurde, der zweite Europäische Haftbefehl aber aufgrund einer Änderung der Umstände im Ausstellungsmitgliedstaat von einer anderen Justizbehörde ausgestellt wird.

 Fragen 1 bis 4

40.      Für den Fall, dass der Gerichtshof meine Auffassung zur Frage der Zuständigkeit für die Vorlagefragen 1 bis 4 nicht teilen sollte, werde ich nun auf hypothetischer Grundlage die verbliebenen Fragen behandeln.

41.      Mit den ersten vier Fragen, die zusammen behandelt werden sollten, möchte das vorlegende Gericht sinngemäß wissen, ob eine Entscheidung wie diejenige der zentralen ungarischen Ermittlungsbehörde vom 20. Januar 2012, die in Ungarn geführten Ermittlungen einzustellen, einen Grund für eine Verweigerung im Sinne von Art. 3 Nr. 2 und Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses darstellt, der der Vollstreckung des gegen AY ausgestellten Europäischen Haftbefehls entgegensteht. Außerdem ist für das vorlegende Gericht unklar, in welchem Verhältnis diese beiden Bestimmungen zueinander stehen.

 Verhältnis zwischen Art. 3 Nr. 2 und Art. 4 Nr. 3 im Kontext des Rahmenbeschlusses

42.      Über die grundlegenden Merkmale des Rahmenbeschlusses in Bezug auf die Gründe für eine Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls hat der Gerichtshof bereits erkannt: Der Rahmenbeschluss beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits als „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit auf dem gegenseitigen Vertrauen(9) zwischen Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Verwirklichung des Ziels der Union beruht, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln(10). Dementsprechend enthält Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses die Regel, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses zu vollstrecken. Die vollstreckenden Justizbehörden können die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls – abgesehen von Ausnahmefällen – nur in den im Rahmenbeschluss abschließend aufgezählten Fällen verweigern, und die Vollstreckung des Haftbefehls kann nur an eine der im Rahmenbeschluss erschöpfend aufgeführten Bedingungen geknüpft werden. Während die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls folglich die Regel darstellt, soll eine Verweigerung der Vollstreckung die Ausnahme sein, die eng auszulegen ist(11).

43.      Art. 3 des Rahmenbeschlusses enthält die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, während in Art. 4 des Rahmenbeschlusses die Gründe aufgezählt werden, aus denen der Europäische Haftbefehl verweigert werden kann.

44.      Um festzustellen, ob vorliegend die ungarischen Behörden die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern durften, werde ich zunächst die Gründe für eine obligatorische Ablehnung prüfen und mich danach mit den fakultativen Gründen befassen.

 Zu Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses

45.      Nach Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses hat die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen, wenn sich aus den ihr vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.

46.      Die Frage ist nun, ob die in Rede stehende Person im vorliegenden Fall im Sinne von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses „rechtskräftig verurteilt“ worden ist und ob der Beschluss der zentralen ungarischen Ermittlungsbehörde vom 20. Januar 2012, mit dem das Ermittlungsverfahren, in dem die Person, die später mit einem Europäischen Haftbefehl gesucht wurde, nur als Zeuge gehört wurde, eingestellt worden ist, eine solche rechtskräftige Verurteilung darstellt.

47.      Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses ist eine Ausprägung des Grundsatzes ne bis in idem, wonach eine Person wegen derselben Handlung nicht zweimal verurteilt oder strafrechtlich verfolgt werden darf(12). Dieser Rechtsgrundsatz, der in Systemen des Common law als „double jeopardy rule“ bezeichnet wird(13), ist in der Unionsrechtsordnung nunmehr in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin gehend festgelegt, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“(14).

48.      Während AY und die ungarische Regierung in diesem Beschluss ein „final judgment“ im Sinne der englischen Sprachfassung von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses sehen, sind alle anderen Verfahrensbeteiligten gegenteiliger Ansicht.

49.      Der Wortlaut dieser Bestimmung bietet insoweit keine eindeutige Lösung. Zwar heißt es zumindest in einer Sprachfassung von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses, dass die gesuchte Person rechtskräftig verurteilt sein muss(15), doch ist in der übergroßen Mehrheit der Sprachfassungen die Situation nicht so eindeutig.

50.      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich zu dieser Frage keine eindeutige Antwort.

51.      Im Urteil Mantello(16) hat der Gerichtshof eine ziemlich weite Auslegung von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses gewählt. Er hat im Wesentlichen seine Rechtsprechung zu Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens übertragen und entschieden, dass eine gesuchte Person als wegen derselben Handlung im Sinne von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses rechtskräftig verurteilt anzusehen ist, wenn die Strafklage aufgrund eines Strafverfahrens endgültig verbraucht ist oder die Justizbehörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung erlassen haben, mit der der Beschuldigte von dem Tatvorwurf rechtskräftig freigesprochen wird.

52.      Gleichzeitig hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Frage, ob eine Person als im Sinne von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses „rechtskräftig verurteilt“ anzusehen ist, sich nach dem Recht des Mitgliedstaats beurteile, in dem das Urteil erlassen wurde(17).

53.      AY hatte in dem ungarischen Ermittlungsverfahren lediglich die Stellung als Zeuge und nicht als Beschuldigter. Um als „rechtskräftig verurteilt“ zu gelten, ist es meines Erachtens notwendig, dass der Betreffende in einem bestimmten Verfahrensabschnitt die Stellung eines Beschuldigten innegehabt haben muss. Mit anderen Worten, und das wird von der Kommission zu Recht hervorgehoben, setzt die Anwendung von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses voraus, dass das Verfahren gegen diese Person geführt worden war.

54.      Aus dem Urteil Turanský kann zudem hergeleitet werden, dass der Grundsatz ne bis in idem nicht auf eine Entscheidung anwendbar ist, mit der eine Behörde eines Mitgliedstaats nach Prüfung des Sachverhalts in einem Stadium, in dem gegen einen Tatverdächtigen noch keine Beschuldigung erhoben worden ist, die Strafverfolgung einstellt, wenn die Einstellungsentscheidung nach dem nationalen Recht dieses Staates die Strafklage nicht endgültig verbraucht und damit in diesem Staat kein Hindernis für eine erneute Strafverfolgung wegen derselben Tat bildet(18).

55.      Schließlich hat der Gerichtshof im Urteil Kossowski entschieden, dass ein Beschluss der Staatsanwaltschaft, mit dem das Strafverfahren beendet und das Ermittlungsverfahren gegen eine Person endgültig eingestellt wird, nicht als rechtskräftige Entscheidung eingestuft werden kann, wenn aus ihm hervorgeht, dass dieses Verfahren eingestellt wurde, ohne dass eingehende Ermittlungen durchgeführt worden wären(19).

56.      In der vorliegenden Rechtssache ist es schwierig, aufgrund der Angaben des vorlegenden Gerichts festzustellen, ob eingehende Ermittlungen durchgeführt wurden. Ausgehend vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens besteht meines Erachtens eine Vermutung dafür, dass gründliche Ermittlungen durchgeführt wurden. Auch wenn es für das (kroatische) vorlegende Gericht zugegebenermaßen schwierig ist, die Praxis der ungarischen Behörden zu ergründen, vermag ich insoweit nicht zu erkennen, dass diese Vermutung durch das vorlegende Gericht widerlegt worden wäre. Doch diese Überlegungen sind hypothetisch, da, wie oben festgestellt, das Verfahren nicht gegen AY geführt wurde, was bedeutet, dass Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses keine Anwendung findet.

57.      Ich bin daher der Auffassung, dass eine Person, die in einem Strafverfahren als Zeuge vernommen wurde, nicht im Sinne von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses als von einem Mitgliedstaat „rechtskräftig verurteilt“ angesehen werden kann.

 Zu Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses

58.      Die erste und die zweite Frage betreffen Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses. Nach dem ersten Teil dieser Bestimmung kann die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigert werden, wenn die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats beschlossen haben wegen der Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen.

59.      Offenbar berufen sich die zuständigen ungarischen Behörden für ihre Weigerung, den Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, auf die nationale Bestimmung, mit der Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses in innerstaatliches Recht umgesetzt wurde.

60.      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses, der bisher noch nicht Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof gewesen ist, einen fakultativen Grund für die Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls regelt. Nach dieser Bestimmung kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn sie beschlossen hat, wegen der Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen, oder wenn gegen die gesuchte Person in einem Mitgliedstaat aufgrund derselben Handlung eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, die einer weiteren Strafverfolgung entgegensteht. In diesem Zusammenhang muss die vollstreckende Justizbehörde über einen Ermessensspielraum hinsichtlich der Frage verfügen, ob die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern ist(20).

61.      Es wird häufig die Ansicht vertreten, dass der erste Teil von Art. 4 Nr. 3, der vorliegend einschlägig ist, ebenso wie Art. 3 Nr. 2 eine Ausprägung des Grundsatzes ne bis in idem ist(21). Ohne dem widersprechen zu wollen, halte ich es für wichtig, darauf hinzuweisen, dass, worauf die Kommission in ihrer Stellungnahme ebenfalls zu Recht hinweist, der Geltungsbereich von Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses weiter reicht als der Grundsatz ne bis in idem. Wegen der fakultativen Natur dieser Bestimmung kann überdies der Grundsatz ne bis in idem nicht herangezogen werden, um die Bestimmung zu begrenzen oder teleologisch zu reduzieren.

62.      Dieser weiter reichende Geltungsbereich spiegelt sich in einem entsprechend weiteren Wortlaut wider. So verweist Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses auf die „Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist“, und nicht auf die „gesuchte Person“.

63.      Nach Auffassung der kroatischen, der tschechischen, der österreichischen und der rumänischen Regierung und Irlands lässt sich die Entscheidung, nicht zu vollstrecken, nicht auf Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses stützen, wenn sie in einem Ermittlungsverfahren getroffen worden sei, in dem die gesuchte Person nur Zeuge gewesen sei. Dies wäre unvereinbar mit dem Grundsatz ne bis in idem, der den Einzelnen vor den negativen Folgen einer doppelten Strafverfolgung schütze.

64.      Nach Ansicht von AY und der ungarischen Regierung ist es für Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses irrelevant, dass AY im ungarischen Verfahren nur Zeuge gewesen sei. Die Kommission hat sich ähnlich eingelassen.

65.      Insbesondere die ungarische Regierung vertritt die Ansicht, dass die Frage, in welcher verfahrensrechtlichen Stellung die im Europäischen Haftbefehl genannte Person in dem eingestellten Verfahren involviert gewesen sei, als solche irrelevant sei. Vielmehr komme es darauf an, die Richtigkeit der nationalen Entscheidung, kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen, in der Sache zu prüfen. Für die Verweigerung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls reiche aus, dass die Entscheidung die Straftat zum Gegenstand habe, d. h. denselben Tatkomplex wie die Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden sei. Dies sei vorliegend der Fall gewesen.

66.      In der in Rede stehenden Bestimmung heißt es nicht ausdrücklich, dass das betreffende Strafverfahren gegen die gesuchte Person geführt sein muss. Die Bestimmung dahin auszulegen, dass die Vollstreckung selbst dann verweigert werden könnte, wenn der Sachverhalt zwar identisch ist, die betreffenden Personen aber nicht dieselben sind, hielte ich jedoch für zu weitgehend. Für die Anwendung von Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses muss die Entscheidung, kein Strafverfahren einzuleiten oder das Verfahren einzustellen, die gesuchte Person betreffen, allerdings ohne dass es erforderlich ist, dass diese Person förmlich als Beschuldigter oder Tatverdächtiger bezeichnet wird. Entscheidend ist, dass untersucht wird, ob die gesuchte Person die betreffende Straftat begangen hat.

67.      Diese Auslegung trägt zudem im vollen Umfang denjenigen nationalen Rechtsordnungen Rechnung, nach deren Strafprozessrecht ein Ermittlungsverfahren in rem(22) durchzuführen ist, bevor in personam(23) ermittelt wird. Führt die erste Ermittlungsphase zu dem Ergebnis, dass keine Straftat begangen wurde, besteht für die mitgliedstaatlichen Strafbehörden keine Notwendigkeit, in die zweite Phase einzutreten. Für Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses ist es irrelevant, ob die strafrechtlichen Ermittlungen in der Phase in rem oder in der Phase in personam eingestellt werden.

68.      Ich verstehe Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses daher so, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigert werden kann, wenn die Justizbehörden des Vollstreckungsstaats, die auch für die Verfolgung der Straftat, die Gegenstand des Europäischen Haftbefehls ist, zuständig sind, kein Verfahren eingeleitet oder das Verfahren eingestellt haben, selbst wenn die gesuchte Person in diesem Verfahren nicht die Stellung eines Beschuldigten oder Verdächtigen hatte, vorausgesetzt, dass diese Justizbehörden untersucht hatten, ob die Person die betreffende Straftat begangen hatte.

69.      Die Fragen 1 bis 4 wären daher meines Erachtens wie folgt zu beantworten: Eine Person, die in einem Strafverfahren als Zeuge vernommen wurde, kann nicht als von einem Mitgliedstaat „rechtskräftig verurteilt“ im Sinne von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses angesehen werden. Art. 4 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses ist dahin auszulegen, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigert werden kann, wenn die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats, die auch für die Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, zuständig sind, kein Verfahren eingeleitet oder das Verfahren eingestellt haben, und zwar selbst dann, wenn die gesuchte Person in diesem Verfahren nicht die Stellung eines Beschuldigten oder Verdächtigen hatte, vorausgesetzt, dass diese Justizbehörden geprüft hatten, ob die Person die betreffende Straftat begangen hatte.

 Ergebnis

70.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, das Vorabentscheidungsersuchen des Županijski Sud u Zagrebu (Gespanschaftsgericht Zagreb, Kroatien) wie folgt zu beantworten:

Der Gerichtshof ist für die Beantwortung der vom Županijski Sud u Zagrebu (Gespanschaftsgericht Zagreb, Kroatien) mit Entscheidung vom 18. Mai 2017 zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen 1 bis 4 nicht zuständig.

Gemäß Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet, über jeden ihr übermittelten Europäischen Haftbefehl eine Entscheidung zu treffen, und zwar auch dann, wenn in dem betreffenden Mitgliedstaat bereits über einen früheren Europäischen Haftbefehl, der dieselbe gesuchte Person in demselben Strafverfahren betraf, entschieden wurde, der zweite Europäische Haftbefehl aber aufgrund einer Änderung der Umstände im Ausstellungsmitgliedstaat von einer anderen Justizbehörde ausgestellt wird.


1      Originalsprache: Englisch.


2      ABl. 2002, L 190, S. 1.


3      Vgl. z. B. Urteile vom 16. November 2010, Mantello (C‑261/09, EU:C:2010:683), vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), vom 24. Mai 2016, Dworzecki (C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346), und vom 10. August 2017, Tupikas (C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628).


4      Ich bin mir des rechtlichen Unterschieds von Zuständigkeit und Zulässigkeit, auch wenn dessen praktische Bedeutung begrenzt sein mag, bewusst und stimme insoweit voll und ganz mit der Darstellung des Generalanwalts Wahl in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Gullotta und Farmacia di Gullotta Davide & C. (C‑497/12, EU:C:2015:168, Nrn. 16 bis 25) überein. Zu diesem Unterschied vgl. auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Rendón Marín und CS (C‑165/14 und C‑304/14, EU:C:2016:75, Nr. 48) sowie Naômé, C., Le renvoi préjudiciel en droit européen – Guide pratique (2. Aufl.), Larcier, Brüssel, 2010, S. 85 f.


5      Vgl. z. B. Urteil vom 17. April 2018, Krüsemann u. a. (C‑195/17, C‑197/17 bis C‑203/17, C‑226/17, C‑228/17, C‑254/17, C‑274/17, C‑275/17, C‑278/17 bis C‑286/17 und C‑290/17 bis C‑292/17, EU:C:2018:258, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


6      Vgl. z. B. Urteil vom 5. Juni 1997, Celestini (C‑105/94, EU:C:1997:277, Rn. 22).


7      Diese Begriffe hat der Gerichtshof im Gutachten 1/91 (Erstes Gutachten zum EWR-Abkommen) vom 14. Dezember 1991 (EU:C:1991:490, Rn. 61) zur Unterscheidung des Verfahrens nach Art. 267 AEUV verwendet.


8      Hierin besteht der grundlegende Unterschied zu Sachverhalten, in denen nationale Gerichte ausländisches Recht anwenden, wie dies im Zivilrecht aufgrund der Kollisionsnormen des Internationalen Privatrechts der Fall ist. In solchen Fällen wird das vorlegende Gericht stets eine Entscheidung erlassen, selbst wenn es ausländische Rechtsvorschriften anwendet. Dies ist hier nicht der Fall.


9      In englischen Sprachfassungen von Rechtssachen des Gerichtshofs wird gelegentlich der Ausdruck „mutual confidence“ statt „mutual trust“ verwendet. Nach meinem Verständnis habe beide Ausdrücke dieselbe Bedeutung und sind daher austauschbar.


10      Vgl. z. B. Urteil vom 10. August 2017, Tupikas (C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 49).


11      Vgl. Urteil vom 29. Juni 2017, Popławski (C‑579/15, EU:C:2017:503, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).


12      Vgl. Klimek, L., European Arrest Warrant, Springer, Heidelberg u. a., 2015, S. 152.


13      So z. B. im Kontext von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses von Peers, S., EU Justice and Home Affairs Law, Volume II: EU Criminal Law, Policing and Civil Law, 4. Aufl., OUP, Oxford, 2016, S. 89.


14      Dieser Grundsatz spiegelt sich außerdem in Europa in mehreren anderen Rechtsinstrumenten wider, so im Protokoll Nr. 7 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), im Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen sowie im Europäischen Auslieferungsübereinkommen des Europarats vom 13. Dezember 1957.


15      So. z. B. in der deutschen Sprachfassung.


16      Urteil vom 16. November 2010 (C‑261/09, EU:C:2010:683).


17      Vgl. Urteil vom 16. November 2010, Mantello (C‑261/09, EU:C:2010:683, Rn. 46).


18      Urteil vom 22. Dezember 2008, Turanský (C‑491/07, EU:C:2008:768, Rn. 45). Vgl. auch Urteile vom 5. Juni 2014, M (C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 31), und vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 34). Diese Frage wäre selbstverständlich vom vorlegenden Gericht zu klären.


19      Vgl. Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 54).


20      Vgl. Urteil vom 29. Juni 2017, Popławski (C‑579/15, EU:C:2017:503, Rn. 21), zu Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses.


21      Vgl. z. B. Klimek, L., European Arrest Warrant, Springer, Heidelberg u. a., 2015, S. 159, und Cimamonti, S., „European Arrest Warrant in practice and ne bis in idem“, in N. Keijzer, E. Van Sliedregt, The European Arrest Warrant in practice, T.M.C. Asser, Den Haag, 2009, S. 114.


22      In dem zunächst geklärt wird, ob eine Straftat begangen wurde.


23      Ermittlung von Beweismaterial gegen eine bestimmte Person.