Language of document : ECLI:EU:C:2014:2450

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

18. Dezember 2014(*)

„Unionsbürgerschaft – Richtlinie 2004/38/EG – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten – Recht auf Einreise – Familienangehörige eines Unionsbürgers, die die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzen und im Besitz einer von einem Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltskarte sind – Nationale Rechtsvorschriften, nach denen die Einreise in das nationale Hoheitsgebiet von der vorherigen Beschaffung einer Einreiseerlaubnis abhängt – Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG – Art. 1 des Protokolls (Nr. 20) über die Anwendung bestimmter Aspekte des Artikels 26 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf das Vereinigte Königreich und auf Irland“

In der Rechtssache C‑202/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 25. Januar 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 17. April 2013, in dem Verfahren

The Queen, auf Antrag von

Sean Ambrose McCarthy,

Helena Patricia McCarthy Rodriguez,

Natasha Caley McCarthy Rodriguez

gegen

Secretary of State for the Home Department

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, T. von Danwitz (Berichterstatter) und S. Rodin, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Richter A. Rosas, E. Juhász und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby, der Richterin M. Berger und des Richters F. Biltgen,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. März 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn McCarthy und Frau McCarthy Rodriguez sowie ihres Kindes Natasha Caley McCarthy Rodriguez, vertreten durch M. Henderson und D. Lemer, Barristers, beauftragt durch K. O’Rourke, Solicitor,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brighouse und J. Beeko als Bevollmächtigte im Beistand von T. Ward, QC, D. Grieve, QC, und G. Facenna, Barrister,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und C. Tufvesson als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Mai 2014

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt im ABl. L 229, S. 35), sowie von Art. 1 des Protokolls (Nr. 20) über die Anwendung bestimmter Aspekte des Artikels 26 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf das Vereinigte Königreich und auf Irland (im Folgenden: Protokoll Nr. 20).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den Herr McCarthy, Frau McCarthy Rodriguez und ihr Kind Natasha Caley McCarthy Rodriguez gegen den Secretary of State for the Home Department (im Folgenden: Secretary of State) wegen dessen Weigerung führen, Frau McCarthy Rodriguez das Recht zu erteilen, ohne Visum in das Vereinigte Königreich einzureisen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Protokoll Nr. 20

3        Art. 1 des Protokolls Nr. 20 lautet:

„Das Vereinigte Königreich darf ungeachtet der Artikel 26 und 77 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, anderer Bestimmungen jenes Vertrags oder des Vertrags über die Europäische Union, im Rahmen dieser Verträge beschlossener Maßnahmen oder von der Union oder der Union und ihren Mitgliedstaaten mit einem oder mehreren Drittstaaten geschlossener internationaler Übereinkünfte an seinen Grenzen mit anderen Mitgliedstaaten bei Personen, die in das Vereinigte Königreich einreisen wollen, Kontrollen durchführen, die nach seiner Auffassung erforderlich sind

a)      zur Überprüfung des Rechts auf Einreise in das Vereinigte Königreich bei Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten und ihren unterhaltsberechtigten Angehörigen, welche die ihnen nach dem Unionsrecht zustehenden Rechte wahrnehmen, sowie bei Staatsangehörigen anderer Staaten, denen solche Rechte aufgrund einer Übereinkunft zustehen, an die das Vereinigte Königreich gebunden ist, und

b)      zur Entscheidung darüber, ob anderen Personen die Genehmigung zur Einreise in das Vereinigte Königreich erteilt wird.

Die Artikel 26 und 77 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder die anderen Bestimmungen jenes Vertrags oder des Vertrags über die Europäische Union oder die im Rahmen dieser Verträge beschlossenen Maßnahmen berühren in keiner Weise das Recht des Vereinigten Königreichs, solche Kontrollen ein- oder durchzuführen. Wird im vorliegenden Artikel auf das Vereinigte Königreich Bezug genommen, so gilt diese Bezugnahme auch für die Gebiete, für deren Außenbeziehungen das Vereinigte Königreich verantwortlich ist.“

 Richtlinie 2004/38

4        Im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 heißt es: „Das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sollte, wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden.“

5        Der achte Erwägungsgrund der Richtlinie lautet:

„Um die Ausübung der Freizügigkeit für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, zu erleichtern, sollten Familienangehörige, die bereits im Besitz einer Aufenthaltskarte sind, von der Pflicht befreit werden, sich ein Einreisevisum gemäß der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumspflicht befreit sind [(ABl. L 81, S. 1)], oder gegebenenfalls gemäß den geltenden einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zu beschaffen.“

6        Die Erwägungsgründe 25 und 26 der Richtlinie sehen vor:

„(25) Ferner sollten Verfahrensgarantien festgelegt werden, damit einerseits im Falle eines Verbots, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, ein hoher Schutz der Rechte des Unionsbürgers und seiner Familienangehörigen gewährleistet ist und andererseits der Grundsatz eingehalten wird, dass behördliche Handlungen ausreichend begründet sein müssen.

(26)      Der Unionsbürger und seine Familienangehörigen, denen untersagt wird, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, müssen stets die Möglichkeit haben, den Rechtsweg zu beschreiten.“

7        Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„Diese Richtlinie regelt

a)      die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen;

…“

8        Die Berechtigten der Richtlinie 2004/38 sind in deren Art. 3 wie folgt definiert:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.

…“

9        Art. 5 („Recht auf Einreise“) der Richtlinie 2004/38 lautet:

„(1)      Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise.

Für die Einreise von Unionsbürgern darf weder ein Visum noch eine gleichartige Formalität verlangt werden.

(2)      Von Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, ist gemäß der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 oder gegebenenfalls den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften lediglich ein Einreisevisum zu fordern. Für die Zwecke dieser Richtlinie entbindet der Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte gemäß Artikel 10 diese Familienangehörigen von der Visumspflicht.

Die Mitgliedstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um diesen Personen die Beschaffung der erforderlichen Visa zu erleichtern. Die Visa werden so bald wie möglich nach einem beschleunigten Verfahren unentgeltlich erteilt.

(3)      Der Aufnahmemitgliedstaat bringt im Reisepass eines Familienangehörigen, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, keinen Einreise- oder Ausreisestempel an, wenn der Betroffene die Aufenthaltskarte gemäß Artikel 10 mit sich führt.

(4)      Verfügt ein Unionsbürger oder ein Familienangehöriger, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, nicht über die erforderlichen Reisedokumente oder gegebenenfalls die erforderlichen Visa, so gewährt der betreffende Mitgliedstaat dieser Person jede angemessene Möglichkeit, sich die erforderlichen Dokumente in einer angemessenen Frist zu beschaffen oder übermitteln zu lassen oder sich mit anderen Mitteln bestätigen zu lassen oder nachzuweisen, dass sie das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt genießt, bevor er eine Zurückweisung verfügt.

(5)      Der Mitgliedstaat kann von dem Betroffenen verlangen, dass er seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats innerhalb eines angemessenen und nicht diskriminierenden Zeitraums meldet. Die Nichterfüllung dieser Meldepflicht kann mit verhältnismäßigen und nicht diskriminierenden Sanktionen geahndet werden.“

10      Hinsichtlich des Aufenthaltsrechts bestimmen Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38:

„Artikel 6

Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten

(1)      Ein Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht.

(2)      Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige im Besitz eines gültigen Reisepasses, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.

Artikel 7

Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate

(1)      Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

a)      Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder

b)      für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder

c)      –       bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und

–        über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder

d)      ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstaben a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.

(2)      Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a), b) oder c) erfüllt.“

11      Hinsichtlich der Ausstellung einer Aufenthaltskarte bestimmt Art. 10 der Richtlinie:

„(1)      Zum Nachweis des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, wird spätestens sechs Monate nach Einreichung des betreffenden Antrags eine ‚Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers‘ ausgestellt. Eine Bescheinigung über die Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte wird unverzüglich ausgestellt.

(2)      Für die Ausstellung der Aufenthaltskarte verlangen die Mitgliedstaaten die Vorlage folgender Dokumente:

a)      gültiger Reisepass;

b)      Bescheinigung über das Bestehen einer familiären Beziehung oder einer eingetragenen Partnerschaft;

c)      Anmeldebescheinigung des Unionsbürgers, den sie begleiten oder dem sie nachziehen, oder, wenn kein Anmeldesystem besteht, ein anderer Nachweis über den Aufenthalt des betreffenden Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat;

d)      in den Fällen des Artikels 2 Nummer 2 Buchstaben c) und d) der urkundliche Nachweis, dass die dort genannten Voraussetzungen vorliegen;

e)      in den Fällen des Artikels 3 Absatz 2 Buchstabe a) ein durch die zuständige Behörde des Ursprungs- oder Herkunftslands ausgestelltes Dokument, aus dem hervorgeht, dass die Betroffenen vom Unionsbürger Unterhalt beziehen oder mit ihm in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben, oder der Nachweis schwerwiegender gesundheitlicher Gründe, die die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen;

f)      in den Fällen des Artikels 3 Absatz 2 Buchstabe b) der Nachweis über das Bestehen einer dauerhaften Beziehung mit dem Unionsbürger.“

12      Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt in seinen Art. 27, 30 und 31:

„Artikel 27

Allgemeine Grundsätze

(1)      Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.

(2)      Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

Artikel 30

Mitteilung der Entscheidungen

(1)      Entscheidungen nach Artikel 27 Absatz 1 müssen dem Betroffenen schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden, dass er deren Inhalt und Wirkung nachvollziehen kann.

(2)      Dem Betroffenen sind die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die der ihn betreffenden Entscheidung zugrunde liegen, genau und umfassend mitzuteilen, es sei denn, dass Gründe der Sicherheit des Staates dieser Mitteilung entgegenstehen.

(3)      In der Mitteilung ist anzugeben, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann, innerhalb welcher Frist der Rechtsbehelf einzulegen ist und gegebenenfalls binnen welcher Frist er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen.

Artikel 31

Verfahrensgarantien

(1)      Gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit müssen die Betroffenen einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können.

(2)      Wird neben dem Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wurde, auch ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, um die Vollstreckung dieser Entscheidung auszusetzen, so darf die Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet nicht erfolgen, solange nicht über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden wurde, es sei denn,

–        die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, stützt sich auf eine frühere gerichtliche Entscheidung oder

–        die Betroffenen hatten bereits früher die Möglichkeit, eine gerichtliche Überprüfung zu beantragen, oder

–        die Entscheidung, mit der die Ausweisung verfügt wird, beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit nach Artikel 28 Absatz 3.

(3)      Im Rechtsbehelfsverfahren sind die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Es gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Artikel 28 nicht unverhältnismäßig ist.

(4)      Die Mitgliedstaaten können dem Betroffenen verbieten, sich während des anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens in ihrem Hoheitsgebiet aufzuhalten, dürfen ihn jedoch nicht daran hindern, sein Verfahren selbst zu führen, es sei denn, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit können durch sein persönliches Erscheinen ernsthaft gestört werden oder der Rechtsbehelf richtet sich gegen die Verweigerung der Einreise in das Hoheitsgebiet.“

13      Der in Kapitel VII („Schlussbestimmungen“) der Richtlinie 2004/38 enthaltene Art. 35 dieser Richtlinie bestimmt hinsichtlich der Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten bei Rechtsmissbrauch oder Betrug erlassen werden können:

„Die Mitgliedstaaten können die Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug – wie z. B. durch Eingehung von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen. Solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein und unterliegen den Verfahrensgarantien nach den Artikeln 30 und 31.“

 Verordnung Nr. 539/2001

14      Der vierte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 539/2001 lautet:

„In Anwendung von Artikel 1 des Protokolls über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands zum Vertrag über die Europäische Union und zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beteiligen sich Irland und das Vereinigte Königreich nicht an der Annahme dieser Verordnung. Unbeschadet des Artikels 4 des genannten Protokolls gilt diese Verordnung daher nicht für Irland und das Vereinigte Königreich.“

 Verordnung (EG) Nr. 562/2006

15      Die Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 105, S. 1) sieht vor, dass bei Personen, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Union überschreiten, keine Grenzkontrollen stattfinden, und legt Regeln für die Grenzkontrollen in Bezug auf Personen fest, die die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Union überschreiten.

16      Nach ihrem 27. Erwägungsgrund stellt diese Verordnung „eine Weiterentwicklung von Bestimmungen des Schengen-Besitzstands dar, an denen sich das Vereinigte Königreich gemäß dem Beschluss 2000/365/EG des Rates vom 29. Mai 2000 zum Antrag des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, einzelne Bestimmungen des Schengen-Besitzstands auf sie anzuwenden [(ABl. L 131, S. 43)], nicht beteiligt. Das Vereinigte Königreich beteiligt sich daher nicht an der Annahme dieser Verordnung, die für das Vereinigte Königreich nicht bindend oder anwendbar ist.“

 Recht des Vereinigten Königreichs

17      Hinsichtlich des Rechts auf Einreise von Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die Drittstaatsangehörige sind, bestimmt Regulation 11 (2) bis (4) der Immigration (European Economic Area) Regulations 2006 (Verordnung von 2006 über die Zuwanderung [Europäischer Wirtschaftsraum], im Folgenden: Regulations von 2006):

„(2)      Einer Person, die kein [Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR)] ist, ist die Einreise in das Vereinigte Königreich zu gestatten, wenn sie ein Familienangehöriger eines EWR-Staatsangehörigen, ein Familienangehöriger mit Aufenthaltsrecht oder eine Person mit einem Recht auf Daueraufenthalt gemäß Regulation 15 ist und bei der Ankunft

a)      einen gültigen Reisepass und

b)      ein EEA family permit [Einreiseerlaubnis für Familienangehörige von EWR-Staatsangehörigen], eine Aufenthaltskarte oder eine Daueraufenthaltskarte vorweist.

(3)      Ein Beamter der Einwanderungsbehörde darf im Reisepass einer Person, der nach dieser Regulation die Einreise in das Vereinigte Königreich gestattet wird und die kein EWR-Staatsangehöriger ist, keinen Stempel anbringen, wenn die Person eine Aufenthaltskarte oder eine Daueraufenthaltskarte vorweist.

(4)      Bevor ein Beamter der Einwanderungsbehörde einer Person die Einreise in das Vereinigte Königreich nach dieser Regulation verweigert, weil sie bei der Ankunft eines der unter Paragraph 1 oder 2 angeführten Dokumente nicht vorweist, hat er ihr jede angemessene Möglichkeit zu gewähren, sich das Dokument in einer angemessenen Frist zu beschaffen oder übermitteln zu lassen oder mit anderen Mitteln nachzuweisen, dass sie

a)      ein EWR-Staatsangehöriger ist,

b)      ein Familienangehöriger eines EWR-Staatsangehörigen ist, der berechtigt ist, diesen Staatsangehörigen in das Vereinigte Königreich zu begleiten oder ihm dorthin nachzuziehen, oder

c)      ein Familienangehöriger mit Aufenthaltsrecht oder eine Person mit einem Recht auf Daueraufenthalt ist …“

18      Hinsichtlich der Ausstellung eines „EEA family permit“ im Sinne von Regulation 11 der Regulations von 2006 sieht deren Regulation 12 (1), (4) und (5) vor:

„(1)      Ein für die Einreiseerlaubnis zuständiger Beamter hat einem Antragsteller ein EEA family permit auszustellen, wenn die betreffende Person ein Familienangehöriger eines EWR-Staatsangehörigen ist und

a)      der EWR-Staatsangehörige

i)      sich im Einklang mit diesen Regulations im Vereinigten Königreich aufhält oder

ii)      innerhalb von sechs Monaten ab dem Datum der Antragstellung in das Vereinigte Königreich reisen wird und bei seiner Ankunft im Vereinigten Königreich ein EWR-Staatsangehöriger sein wird, der sich im Einklang mit diesen Regulations im Vereinigten Königreich aufhält, und

b)      der Familienangehörige den EWR-Staatsangehörigen in das Vereinigte Königreich begleiten wird oder ihm dorthin nachziehen wird und

i)      sich rechtmäßig in einem EWR-Staat aufhält oder

ii)      die Erfordernisse der Einwanderungsvorschriften (abgesehen von jenen, die sich auf die Einreiseerlaubnis beziehen) für die Einreise in das Vereinigte Königreich als Familienangehöriger des EWR-Staatsangehörigen oder, im Fall von Verwandten in direkter absteigender Linie oder unterhaltsberechtigten Verwandten in direkter aufsteigender Linie seines Ehe- oder Lebenspartners, als Familienangehöriger seines Ehe- oder Lebenspartners erfüllen würde, wenn der EWR-Staatsangehörige oder der Ehe- oder Lebenspartner im Vereinigten Königreich anwesend und ansässig wäre.

(4)      Ein nach dieser Regulation ausgestelltes EEA family permit wird unentgeltlich und so bald wie möglich ausgestellt.

(5)      Ein EEA family permit wird jedoch nicht nach dieser Regulation ausgestellt, wenn der Antragsteller oder der betroffene EWR-Staatsangehörige aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gemäß Regulation 21 aus dem Vereinigten Königreich auszuweisen ist.“

19      Section 40 des Immigration and Asylum Act 1999 (Einwanderungs- und Asylgesetz 1999) bestimmt:

„Gebühr in Bezug auf Passagiere ohne ordnungsgemäße Papiere

(1)      Diese Section ist anwendbar, wenn eine Person, die in das Vereinigte Königreich einreisen will, dort mit dem Schiff oder Flugzeug ankommt und auf Aufforderung eines Beamten der Einwanderungsbehörde Folgendes nicht vorweisen kann:

(a)      ein gültiges Einreisedokument, das ihre Identität, Staatsangehörigkeit oder Staatsbürgerschaft hinreichend nachweist, und,

(b)      sofern die Person ein Visum benötigt, das erforderliche Visum.

(2)      Der Secretary of State kann dem Eigentümer des Schiffs oder des Flugzeugs im Zusammenhang mit dieser Person eine Gebühr in Höhe von 2 000 [GBP] auferlegen.

(3)      Die Gebühr ist auf Verlangen an den Secretary of State zu zahlen.

(4)      Im Zusammenhang mit einer Person, von der der Eigentümer [des Schiffs oder des Flugzeugs] nachweisen kann, dass sie ihm oder seinem Angestellten oder Bevollmächtigten, als sie das Schiff oder das Flugzeug für die Reise oder den Flug in das Vereinigte Königreich betrat, das erforderliche Dokument oder die erforderlichen Dokumente vorgewiesen hat, ist keine Gebühr zu zahlen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

20      Herr McCarthy ist mit Frau McCarthy Rodriguez verheiratet. Natasha Caley McCarthy Rodriguez ist ihr gemeinsames Kind. Diese drei Personen wohnen seit 2010 in Marbella (Spanien) und reisen regelmäßig in das Vereinigte Königreich, wo sie ein Haus besitzen.

21      Herr McCarthy hat die britische und die irische Staatsangehörigkeit. Frau McCarthy Rodriguez, eine kolumbianische Staatsangehörige, ist Inhaberin einer im Jahr 2010 von den spanischen Behörden nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte, die im Jahr 2015 abläuft.

22      Um in das Vereinigte Königreich einreisen zu können, muss Frau McCarthy Rodriguez nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs, und zwar nach Regulation 11 der Regulations von 2006, vorab die Ausstellung eines EEA family permit beantragen. Dieses ist für eine Dauer von sechs Monaten gültig und kann unter der Voraussetzung verlängert werden, dass sich der Antragsteller persönlich in eine diplomatische Vertretung des Vereinigten Königreichs im Ausland begibt und ein Formular ausfüllt, das Fragen zu seinen Existenzmitteln und seiner beruflichen Situation enthält. Daher muss sich Frau McCarthy Rodriguez jedes Mal, wenn sie das EEA family permit verlängern will, von Marbella in die diplomatische Vertretung des Vereinigten Königreichs in Madrid (Spanien) begeben.

23      Es ist vorgekommen, dass bestimmte Fluggesellschaften sich weigerten, Frau McCarthy Rodriguez an Bord von Flügen in das Vereinigte Königreich gehen zu lassen, wenn sie nur ihre Aufenthaltskarte und nicht das nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs erforderliche EEA family permit vorlegte. Diese Praxis resultiert aus den vom Secretary of State erlassenen Leitlinien zur Anwendung von Section 40 des Immigration and Asylum Act 1999 für Beförderungsunternehmen, die Beförderungen von Personen in das Vereinigte Königreich durchführen. Diese Leitlinien sollen Beförderungsunternehmen dazu anhalten, keine Passagiere zu befördern, die Drittstaatsangehörige sind und weder eine von den Behörden des Vereinigten Königreichs ausgestellte Aufenthaltskarte noch ein gültiges Reisedokument wie etwa das EEA family permit besitzen.

24      Im Laufe des Jahres 2012 erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens vor dem vorlegenden Gericht gegen das Vereinigte Königreich Klage auf Feststellung, dass das Vereinigte Königreich gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ordnungsgemäß in seine Rechtsordnung umzusetzen. Im Rahmen dieses Rechtsstreits erhielt Frau McCarthy Rodriguez vorläufigen Rechtsschutz des Inhalts, dass sie die Verlängerung ihres EEA family permit schriftlich bei der diplomatischen Vertretung des Vereinigten Königreichs in Madrid beantragen kann, ohne sich persönlich dorthin begeben zu müssen.

25      Der Secretary of State hat vor dem vorlegenden Gericht geltend gemacht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung des Vereinigten Königreichs nicht zur Umsetzung von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 diene. Diese Regelung sei vielmehr, wie auch die fehlende Umsetzung von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 als notwendige Maßnahme gemäß Art. 35 der Richtlinie 2004/38 sowie als Kontrollmaßnahme im Sinne von Art. 1 des Protokolls Nr. 20 gerechtfertigt.

26      In diesem Zusammenhang hat sich der Secretary of State darauf berufen, dass es ein „systemisches Problem“ des Rechtsmissbrauchs und Betrugs durch Angehörige von Drittstaaten gebe. Die in Art. 10 der Richtlinie 2004/38 genannten Aufenthaltskarten könnten gefälscht werden. Insbesondere gebe es kein einheitliches Muster für diese Karten. Allerdings erfüllten die von der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Estland ausgestellten Aufenthaltskarten geeignete Sicherheitsstandards, insbesondere die der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation, so dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung hinsichtlich der Personen, die über eine von einem dieser beiden Mitgliedstaaten ausgestellte Aufenthaltskarte verfügten, geändert werden müsse.

27      Nach Prüfung der vom Secretary of State vorgelegten Beweise ist das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gekommen, dass ihm die Bedenken dieser Partei hinsichtlich eines „systemischen“ Rechtsmissbrauchs gerechtfertigt erschienen. Die Aufenthaltskarten könnten im Rahmen der illegalen Einwanderung in das Vereinigte Königreich leicht ausgenutzt werden. Es gebe ein konkretes Risiko, dass ein erheblicher Teil der in den „Scheinehenmarkt“ involvierten Personen gefälschte Aufenthaltskarten benutze, um auf illegale Weise in das Vereinigte Königreich zu gelangen. Daher sei die Weigerung dieses Mitgliedstaats, Inhaber von Aufenthaltskarten von der Pflicht zu entbinden, im Besitz eines Einreisevisums zu sein, vernünftig, notwendig und objektiv gerechtfertigt.

28      Unter diesen Umständen hat der High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court), beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Gestattet Art. 35 der Richtlinie 2004/38 es einem Mitgliedstaat, eine Maßnahme mit allgemeiner Geltung zu erlassen, um die durch Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die im Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte gemäß Art. 10 der Richtlinie sind, gewährte Entbindung von der Visumspflicht zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen?

2.      Gestattet Art. 1 des Protokolls Nr. 20 es dem Vereinigten Königreich, von Inhabern einer Aufenthaltskarte den Besitz eines Einreisevisums zu verlangen, das vor der Ankunft an der Grenze beschafft werden muss?

3.      Bei Bejahung der ersten oder der zweiten Frage: Ist der Umgang des Vereinigten Königreichs mit Inhabern von Aufenthaltskarten im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung der im Urteil des vorlegenden Gerichts zusammengefassten Beweise gerechtfertigt?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten und zur zweiten Frage

29      Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 35 der Richtlinie 2004/38 und Art. 1 des Protokolls Nr. 20 dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat gestatten, in Verfolgung eines generalpräventiven Zwecks die Verpflichtung aufzustellen, dass Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und im Besitz einer gültigen, von den Behörden eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind, im Besitz einer Einreiseerlaubnis nach nationalem Recht wie des EEA family permit sein müssen, um in sein Hoheitsgebiet einreisen zu können.

 Zur Auslegung der Richtlinie 2004/38

30      Da das vorlegende Gericht eine Frage nach der Auslegung von Art. 35 der Richtlinie 2004/38 gestellt hat und dabei von der Prämisse ausgegangen ist, dass diese Richtlinie im Ausgangsrechtsstreit zur Anwendung kommt, ist vorab zu prüfen, ob sie Frau McCarthy Rodriguez das Recht verleiht, aus einem anderen Mitgliedstaat in das Vereinigte Königreich einzureisen.

–       Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2004/38

31      Nach ständiger Rechtsprechung soll die Richtlinie 2004/38 die Ausübung des elementaren und individuellen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwächst, erleichtern und dieses Recht verstärken (Urteil O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      In Anbetracht des Kontexts und der Ziele der Richtlinie 2004/38 dürfen deren Bestimmungen nicht eng ausgelegt und keinesfalls ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt werden (Urteil Metock u. a., C‑127/08, EU:C:2008:449, Rn. 84).

33      Was erstens etwaige Rechte von Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, anbelangt, hebt der fünfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 hervor, dass das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden sollte (Urteil Metock u. a., EU:C:2008:449, Rn. 83).

34      Zwar verleihen die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 den Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, keine eigenständigen Rechte. Die etwaigen Rechte, die ihnen die Bestimmungen des Unionsrechts über die Unionsbürgerschaft verleihen, sind vielmehr Rechte, die sich daraus ableiten, dass ein Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil O. und B., EU:C:2014:135, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 definiert nämlich als „Berechtigte“ der durch sie verliehenen Rechte „jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie … seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen“.

36      So hat der Gerichtshof entschieden, dass nicht alle Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nach der Richtlinie 2004/38 berechtigt sind, in einen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, sondern nur diejenigen, die im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, niedergelassen hat (Urteile Metock u. a., EU:C:2008:449, Rn. 73, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 56, Iida, C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 51, sowie O. und B., EU:C:2014:135, Rn. 39).

37      Im vorliegenden Fall steht fest, dass Herr McCarthy von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem er sich in Spanien niederließ. Ferner steht fest, dass sich seine Ehefrau, Frau McCarthy Rodriguez, mit ihm und ihrem gemeinsamen Kind in diesem Mitgliedstaat aufhält und dass sie im Besitz einer gültigen, von den spanischen Behörden nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte ist, aufgrund deren sie sich rechtmäßig im spanischen Hoheitsgebiet aufhält.

38      Daher sind Herr McCarthy und Frau McCarthy Rodriguez „Berechtigte“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38.

39      Zweitens ist in Bezug auf die Frage, ob Frau McCarthy Rodriguez aus der Richtlinie 2004/38 ein Recht herleiten kann, aus einem anderen Mitgliedstaat in das Vereinigte Königreich einzureisen, darauf hinzuweisen, dass Art. 5 dieser Richtlinie sowohl das Recht auf Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten regelt als auch die Voraussetzungen für die Einreise. Nach dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 „gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern … und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise“.

40      Außerdem heißt es in Art. 5 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/38: „Für die Zwecke dieser Richtlinie entbindet der Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte gemäß Artikel 10 diese Familienangehörigen von der Visumspflicht.“ Wie sich aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, soll diese Befreiung die Ausübung der Freizügigkeit für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die Drittstaatsangehörige sind, erleichtern.

41      In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass sich Art. 5 der Richtlinie 2004/38 an „die Mitgliedstaaten“ richtet und keine Unterscheidung anhand des Einreisemitgliedstaats trifft, insbesondere wenn er vorsieht, dass der Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte nach Art. 10 der Richtlinie die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, vom Erfordernis eines Einreisevisums entbindet. Daher folgt aus Art. 5 keineswegs, dass das Recht auf Einreise für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, auf andere Mitgliedstaaten als den Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgers beschränkt wäre.

42      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass nach Art. 5 der Richtlinie 2004/38 ein Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der sich in der Situation von Frau McCarthy Rodriguez befindet, bei der Einreise in das Hoheitsgebiet des Herkunftsmitgliedstaats dieses Unionsbürgers nicht der Visumspflicht oder einer entsprechenden Verpflichtung unterliegt.

–       Zur Auslegung von Art. 35 der Richtlinie 2004/38

43      Nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung muss sich jeder Familienangehörige eines Unionsbürgers, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, vorab eine Einreiseerlaubnis beschaffen. Diese Regelung beruht darauf, dass es ein allgemeines, vom Secretary of State als „systemisch“ eingestuftes Risiko des Rechtsmissbrauchs oder Betrugs gebe, was somit jede spezifische Beurteilung des eigenen Verhaltens des Betroffenen hinsichtlich eines etwaigen Rechtsmissbrauchs oder eines Betrugs durch die zuständigen nationalen Behörden ausschließt.

44      Nach dieser Regelung setzt die Einreise in das Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs selbst in Fällen, in denen die nationalen Behörden, wie hier, nicht der Auffassung sind, dass der Familienangehörige des Unionsbürgers in einen Rechtsmissbrauch oder Betrug involviert sein könnte, die vorherige Beschaffung einer Einreiseerlaubnis voraus. Somit stellt die Regelung diese Voraussetzung auch für den Fall auf, dass die Echtheit der nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte und die Richtigkeit der darin enthaltenen Angaben von den Behörden des Vereinigten Königreichs nicht in Frage gestellt werden. Daher werden Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, durch diese Regelung absolut und automatisch von dem ihnen durch Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 verliehenen Recht auf visumsfreie Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausgeschlossen, obwohl sie im Besitz einer gültigen, vom Wohnsitzmitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind.

45      Zwar nimmt die Richtlinie 2004/38 nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs den Mitgliedstaaten nicht jede Möglichkeit, die Einreise der Familienangehörigen von Unionsbürgern in ihr Hoheitsgebiet zu kontrollieren. Hat jedoch der Familienangehörige eines Unionsbürgers, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, aufgrund der Richtlinie 2004/38 das Recht, in den Aufnahmemitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, darf der Aufnahmemitgliedstaat dieses Recht nur unter Beachtung der Art. 27 und 35 der Richtlinie beschränken (vgl. Urteil Metock u. a., EU:C:2008:449, Rn. 74 und 95).

46      Nach Art. 27 der Richtlinie 2004/38 dürfen die Mitgliedstaaten nämlich, wenn dies gerechtfertigt ist, die Einreise und den Aufenthalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit verweigern. Eine solche Weigerung muss aber auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt werden (Urteil Metock u. a., EU:C:2008:449, Rn. 74). Vom Einzelfall losgelöste oder auf generalpräventive Gründe verweisende Rechtfertigungen sind daher nicht zulässig (Urteile Jipa, C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 24, und Aladzhov, C‑434/10, EU:C:2011:750, Rn. 42).

47      Zudem können die Mitgliedstaaten nach Art. 35 der Richtlinie 2004/38 Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch die Richtlinie verliehenen Rechte im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug – wie z. B. durch Eingehung von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen, wobei solche Maßnahmen verhältnismäßig sein und den Verfahrensgarantien der Richtlinie unterliegen müssen (Urteil Metock u. a., EU:C:2008:449, Rn. 75).

48      Hinsichtlich der Frage, ob Art. 35 der Richtlinie 2004/38 es den Mitgliedstaaten erlaubt, Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu erlassen, ist darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Einreise und auf Aufenthalt den Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen im Hinblick auf ihre individuelle Situation verliehen wird.

49      Die von den zuständigen nationalen Behörden hinsichtlich eines etwaigen Rechts auf Einreise oder Aufenthalt auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38 getroffenen Entscheidungen oder Maßnahmen dienen nämlich dazu, die individuelle Situation eines Angehörigen eines Mitgliedstaats oder seiner Familienangehörigen im Hinblick auf die Richtlinie festzustellen (vgl. in diesem Sinne, zur Ausstellung eines Aufenthaltstitels auf der Grundlage des Sekundärrechts, Urteile Collins, C‑138/02, EU:C:2004:172, Rn. 40, Kommission/Belgien, C‑408/03, EU:C:2006:192, Rn. 62 und 63, sowie Dias, C‑325/09, EU:C:2011:498, Rn. 48).

50      Außerdem unterliegen, wie aus Art. 35 der Richtlinie 2004/38 ausdrücklich hervorgeht, die auf der Grundlage dieses Artikels erlassenen Maßnahmen den Verfahrensgarantien nach den Art. 30 und 31 der Richtlinie. Wie sich aus dem 25. Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, sollen diese Verfahrensgarantien insbesondere im Fall eines Verbots, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, einen hohen Schutz der Rechte des Unionsbürgers und seiner Familienangehörigen gewährleisten.

51      Da die Richtlinie 2004/38 individuelle Rechte verleiht, sollen die Rechtsbehelfsverfahren es dem Betroffenen erlauben, Umstände und Erwägungen in Bezug auf seine individuelle Situation geltend zu machen, um vor den zuständigen nationalen Behörden und/oder Gerichten die Anerkennung des ihm zustehenden individuellen Rechts erreichen zu können.

52      Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die von den nationalen Behörden auf der Grundlage von Art. 35 der Richtlinie 2004/38 erlassenen Maßnahmen, mit denen ein durch diese Richtlinie verliehenes Recht verweigert, aufgehoben oder widerrufen werden soll, auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt werden müssen.

53      Daher dürfen die Mitgliedstaaten den Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und Inhaber einer gültigen, nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind, das in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehene Recht, ohne Visum in ihr Hoheitsgebiet einzureisen, nicht verweigern, ohne dass die zuständigen nationalen Behörden eine individuelle Prüfung des Einzelfalls vorgenommen haben. Sie sind daher verpflichtet, eine solche Aufenthaltskarte zum Zweck der visumsfreien Einreise in ihr Hoheitsgebiet anzuerkennen, es sei denn, aufgrund konkreter Anhaltspunkte, die den in Rede stehenden Einzelfall betreffen und den Schluss auf das Vorliegen eines Falles von Rechtsmissbrauch oder Betrug zulassen, bestehen Zweifel an der Echtheit dieser Karte und der Richtigkeit der darin enthaltenen Angaben (vgl. entsprechend Urteil Dafeki, C‑336/94, EU:C:1997:579, Rn. 19 und 21).

54      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Nachweis einer missbräuchlichen Praxis zum einen das Vorliegen einer Gesamtheit objektiver Umstände voraussetzt, aus denen sich ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der in der Unionsregelung vorgesehenen Bedingungen das Ziel dieser Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen aus der Unionsregelung resultierenden Vorteil zu verschaffen, indem die Voraussetzungen für seine Erlangung künstlich geschaffen werden (Urteile Ungarn/Slowakei, C‑364/10, EU:C:2012:630, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie O. und B., EU:C:2014:135, Rn. 58).

55      Mangels einer ausdrücklichen Bestimmung in der Richtlinie 2004/38 kann der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat – wie es beim Vereinigten Königreich nach dessen Ansicht der Fall ist – mit einer hohen Zahl von Rechtsmissbrauchs- oder Betrugsfällen konfrontiert sieht, die von Drittstaatsangehörigen durch das Eingehen von Scheinehen oder die Nutzung gefälschter Aufenthaltskarten begangen werden, den Erlass einer Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die unter Ausschluss jeder spezifischen Beurteilung des eigenen Verhaltens der Betroffenen auf generalpräventiven Erwägungen beruht, nicht rechtfertigen.

56      Der Erlass von Maßnahmen, mit denen bei verbreiteten Rechtsmissbrauchs- oder Betrugsfällen ein Ziel der Generalprävention verfolgt wird, würde nämlich, wie im vorliegenden Fall, implizieren, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Personen es den Mitgliedstaaten gestatten würde, die Anerkennung eines den Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, durch die Richtlinie 2004/38 ausdrücklich verliehenen Rechts zu verweigern, obwohl sie die in der Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen tatsächlich erfüllen. Gleiches würde für den Fall gelten, dass die Anerkennung dieses Rechts, wie vom Vereinigten Königreich in Erwägung gezogen, auf Personen beschränkt würde, die von bestimmten Mitgliedstaaten ausgestellte Aufenthaltskarten besitzen.

57      Solche Maßnahmen würden es den Mitgliedstaaten aufgrund ihres Automatismus erlauben, die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 unangewendet zu lassen, und würden in den Wesenskern des elementaren und individuellen Rechts der Unionsbürger eingreifen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie in die abgeleiteten Rechte der Familienangehörigen dieser Bürger, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen.

58      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist Art. 35 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, in Verfolgung eines generalpräventiven Zwecks die Verpflichtung aufzustellen, dass Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und im Besitz einer gültigen, von den Behörden eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind, im Besitz einer Einreiseerlaubnis nach nationalem Recht wie des EEA family permit sein müssen, um in sein Hoheitsgebiet einreisen zu können.

 Zur Auslegung des Protokolls Nr. 20

59      Nach Art. 77 Abs. 1 Buchst. a AEUV entwickelt die Union eine Politik, mit der sichergestellt werden soll, dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit beim Überschreiten der Binnengrenzen der Union nicht kontrolliert werden. Die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen ist ein wesentlicher Bestandteil des in Art. 26 AEUV angesprochenen Ziels der Union, einen Raum ohne Binnengrenzen zu errichten, in dem die Freizügigkeit gewährleistet ist. Der Unionsgesetzgeber hat diesen wesentlichen Bestandteil des Wegfalls der Kontrollen an den Binnengrenzen dadurch umgesetzt, dass er auf der Grundlage von Art. 62 EG, jetzt Art. 77 AEUV, die Verordnung Nr. 562/2006 zur Ergänzung des Schengen-Besitzstands erlassen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 48 bis 50).

60      Da sich das Vereinigte Königreich nicht an den Bestimmungen des Schengen-Besitzstands über die Abschaffung von Grenzkontrollen und die Freizügigkeit einschließlich der gemeinsamen Visapolitik beteiligt, bestimmt Art. 1 des Protokolls Nr. 20, dass das Vereinigte Königreich an seinen Grenzen mit anderen Mitgliedstaaten bei Personen, die in das Vereinigte Königreich einreisen wollen, Kontrollen durchführen darf, die nach seiner Auffassung erforderlich sind, um insbesondere zu prüfen, ob die Unionsbürger und ihre unterhaltsberechtigten Angehörigen, welche die ihnen nach dem Unionsrecht zustehenden Rechte wahrnehmen, zur Einreise in das Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs berechtigt sind, und um darüber zu entscheiden, ob anderen Personen die Genehmigung zur Einreise in das Vereinigte Königreich erteilt wird.

61      Diese Kontrollen werden „an den Grenzen“ durchgeführt und dienen der Überprüfung, ob Personen, die in das Vereinigte Königreich einreisen wollen, nach den Bestimmungen des Unionsrechts ein Recht auf Einreise haben oder ob ihnen, wenn dies nicht der Fall ist, eine Genehmigung zur Einreise in dieses Hoheitsgebiet zu erteilen ist. Ihr Ziel besteht also insbesondere darin, die illegale Überschreitung der Grenzen des Vereinigten Königreichs mit anderen Mitgliedstaaten zu verhindern.

62      Hinsichtlich der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die unter Berufung auf ein in der Richtlinie 2004/38 vorgesehenes Recht auf Einreise in das Vereinigte Königreich einreisen wollen, geht die Überprüfung im Sinne von Art. 1 des Protokolls Nr. 20 somit insbesondere dahin, ob der Betroffene im Besitz der in Art. 5 der Richtlinie genannten Dokumente ist. Zwar hat der Gerichtshof insoweit entschieden, dass die auf der Grundlage des Unionsrechts ausgestellten Aufenthaltstitel deklaratorischen und keinen rechtsbegründenden Charakter haben (Urteile Dias, EU:C:2011:498, Rn. 49, sowie O. und B., EU:C:2014:135, Rn. 60), doch sind die Mitgliedstaaten, wie in Rn. 53 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, grundsätzlich verpflichtet, eine nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellte Aufenthaltskarte zum Zweck der visumsfreien Einreise in ihr Hoheitsgebiet anzuerkennen.

63      Im Einklang mit seiner Zielsetzung, die illegale Überschreitung der Grenzen zu verhindern, kann sich die Überprüfung im Sinne von Art. 1 des Protokolls Nr. 20 darauf erstrecken, ob die fraglichen Dokumente echt und die darin enthaltenen Angaben richtig sind, sowie auf konkrete Anhaltspunkte, die den Schluss auf das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs oder eines Betrugs zulassen.

64      Folglich ermächtigt Art. 1 des Protokolls Nr. 20 das Vereinigte Königreich, zu prüfen, ob eine Person, die in sein Hoheitsgebiet einreisen will, tatsächlich die Einreisevoraussetzungen, insbesondere unionsrechtlicher Art, erfüllt. Art. 1 gestattet es dem Mitgliedstaat hingegen nicht, die Voraussetzungen für die Einreise von Personen, die nach dem Unionsrecht über ein Recht auf Einreise verfügen, festzulegen; insbesondere darf er ihnen keine zusätzlichen oder anderen als die im Unionsrecht vorgesehenen Voraussetzungen für die Einreise auferlegen.

65      Genau dies ist hier aber der Fall. Durch das Erfordernis der vorherigen Beschaffung eines EEA family permit sieht die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung für die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die im Besitz einer gültigen, nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind, eine Voraussetzung für die Einreise vor, die zu den in Art. 5 der Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen hinzutritt, und keine bloße Überprüfung dieser Einreisevoraussetzungen „an den Grenzen“.

66      Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass sowohl Art. 35 der Richtlinie 2004/38 als auch Art. 1 des Protokolls Nr. 20 dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht gestatten, in Verfolgung eines generalpräventiven Zwecks die Verpflichtung aufzustellen, dass Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und im Besitz einer gültigen, von den Behörden eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind, im Besitz einer Einreiseerlaubnis nach nationalem Recht wie des EEA family permit sein müssen, um in sein Hoheitsgebiet einreisen zu können.

 Zur dritten Frage

67      In Anbetracht der Antwort auf die erste und die zweite Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

68      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Sowohl Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG als auch Art. 1 des Protokolls (Nr. 20) über die Anwendung bestimmter Aspekte des Artikels 26 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf das Vereinigte Königreich und auf Irland sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht gestatten, in Verfolgung eines generalpräventiven Zwecks die Verpflichtung aufzustellen, dass Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und im Besitz einer gültigen, von den Behörden eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 10 der Richtlinie 2004/38 ausgestellten Aufenthaltskarte sind, im Besitz einer Einreiseerlaubnis nach nationalem Recht wie des EEA family permit (Einreiseerlaubnis für Familienangehörige von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats des Europäischen Wirtschaftsraums) sein müssen, um in sein Hoheitsgebiet einreisen zu können.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Englisch.