Language of document : ECLI:EU:C:2013:113

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

28. Februar 2013(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft – Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn – Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur – Richtlinien 91/440/EWG und 2001/14/EG – Unvollständige Umsetzung“

In der Rechtssache C‑473/10

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 29. September 2010,

Europäische Kommission, vertreten durch H. Støvlbæk, B. Simon und A. Sipos als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Ungarn, vertreten durch M. Fehér, G. Koós und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,

Beklagter,

unterstützt durch

Tschechische Republik, vertreten durch M. Smolek, T. Müller und J. Očková als Bevollmächtigte,

Republik Polen, vertreten durch M. Szpunar, B. Majczyna und M. Laszuk als Bevollmächtigte,

Streithelferinnen,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter A. Borg Barthet (Berichterstatter), E. Levits und J.‑J. Kasel sowie der Richterin M. Berger,

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Mai 2012,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. September 2012

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klageschrift beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen

–        aus Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft (ABl. L 237, S. 25) in der durch die Richtlinie 2006/103/EG des Rates vom 20. November 2006 (ABl. L 363, S. 344) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 91/440) und

–        aus den Art. 4 Abs. 2 und 14 Abs. 2, 6 Abs. 1 und 2, 7 Abs. 3, 8 Abs. 1 und 11 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur (ABl. L 75, S. 29) in der durch die Richtlinie 2007/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 (ABl. L 315, S. 44) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/14)

verstoßen hat, dass es nicht alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, die erforderlich sind, um diesen Bestimmungen nachzukommen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

2        Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Funktionen nach Anhang II, die für einen gerechten und nichtdiskriminierenden Zugang zur Infrastruktur ausschlaggebend sind, an Stellen oder Unternehmen übertragen werden, die selbst keine Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen. Ungeachtet der Organisationsstrukturen ist der Nachweis zu erbringen, dass dieses Ziel erreicht worden ist.

Die Mitgliedstaaten können jedoch Eisenbahnunternehmen oder jeder anderen Stelle die Erhebung von Entgelten und die Verantwortung für die Verwaltung der Eisenbahninfrastruktur übertragen, wozu Investitionen, Wartung und Finanzierung gehören.“

3        Das in Anhang II der Richtlinie 91/440 enthaltene Verzeichnis der wesentlichen Funktionen im Sinne ihres Art. 6 Abs. 3 lautet:

„–      Vorarbeiten und Entscheidungen über die Zulassung von Eisenbahnunternehmen, einschließlich der Gewährung einzelner Genehmigungen;

–        Entscheidungen über die Trassenzuweisung, einschließlich sowohl der Bestimmung als auch der Beurteilung der Verfügbarkeit und der Zuweisung von einzelnen Zugtrassen;

–        Entscheidungen über die Wegeentgelte;

–        Überwachung der Einhaltung von Verpflichtungen zur Bereitstellung bestimmter Dienstleistungen für die Allgemeinheit.“

4        Die Erwägungsgründe 11, 15 und 20 der Richtlinie 2001/14 lauten:

„(11)  Bei den Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen sollte allen Unternehmen ein gleicher und nichtdiskriminierender Zugang geboten werden und soweit wie möglich angestrebt werden, den Bedürfnissen aller Nutzer und Verkehrsarten gerecht und in nichtdiskriminierender Weise zu entsprechen.

(15)      Den Eisenbahnunternehmen und den Betreibern der Infrastruktur sollten Anreize zur Minimierung von Störungen und zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit des Schienennetzes geboten werden.

(20)      Den Betreibern der Infrastruktur sollte eine gewisse Flexibilität eingeräumt werden, um eine effizientere Nutzung des Schienennetzes zu ermöglichen.“

5        Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2001/14 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten schaffen eine Entgeltrahmenregelung, wobei die Unabhängigkeit der Geschäftsführung gemäß Artikel 4 der Richtlinie 91/440/EWG zu wahren ist.

Vorbehaltlich der genannten Bedingung der Unabhängigkeit der Geschäftsführung legen die Mitgliedstaaten auch einzelne Entgeltregeln fest oder delegieren diese Befugnisse an den Betreiber der Infrastruktur. Die Berechnung des Wegeentgeltes und die Erhebung dieses Entgelts nimmt der Betreiber der Infrastruktur vor.

(2)      Ist der Betreiber der Infrastruktur rechtlich, organisatorisch oder in seinen Entscheidungen nicht von Eisenbahnunternehmen unabhängig, so werden die in diesem Kapitel dargelegten Aufgaben – außer der Erhebung von Entgelten – von einer entgelterhebenden Stelle wahrgenommen, die rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Eisenbahnunternehmen unabhängig ist.“

6        Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 und Abs. 2 der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten legen die Bedingungen fest, gegebenenfalls einschließlich der Leistung von Vorauszahlungen, um sicherzustellen, dass sich die Einnahmen eines Betreibers der Infrastruktur aus Wegeentgelten, dem Gewinn aus anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten und der staatlichen Finanzierung einerseits und die Fahrwegausgaben andererseits unter normalen geschäftlichen Umständen und über einen angemessenen Zeitraum zumindest ausgleichen.

(2)      Den Betreibern der Infrastruktur sind unter gebührender Berücksichtigung der Sicherheit und der Aufrechterhaltung und Verbesserung der Qualität der Fahrwegbereitstellung Anreize zur Senkung der mit der Fahrwegbereitstellung verbundenen Kosten und der Zugangsentgelte zu geben.“

7        Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie sieht vor:

„Unbeschadet der Absätze 4 und 5 und des Artikels 8 ist das Entgelt für das Mindestzugangspaket und den Schienenzugang zu Serviceeinrichtungen in Höhe der Kosten festzulegen, die unmittelbar aufgrund des Zugbetriebs anfallen.“

8        Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 lautet:

„Um eine volle Deckung der dem Betreiber der Infrastruktur entstehenden Kosten zu erhalten, kann ein Mitgliedstaat, sofern der Markt dies tragen kann, Aufschläge auf der Grundlage effizienter, transparenter und nichtdiskriminierender Grundsätze erheben, wobei die bestmögliche Wettbewerbsfähigkeit insbesondere des grenzüberschreitenden Schienengüterverkehrs zu gewährleisten ist. Die Entgeltregelung muss dem von den Eisenbahnunternehmen erzielten Produktivitätszuwachs Rechnung tragen.

Die Höhe der Entgelte darf jedoch nicht die Nutzung der Fahrwege durch Marktsegmente ausschließen, die mindestens die Kosten, die unmittelbar aufgrund des Zugbetriebs anfallen, sowie eine Rendite, die der Markt tragen kann, erbringen können.“

9        Art. 14 Abs. 2 der genannten Richtlinie bestimmt:

„Ist der Betreiber der Infrastruktur rechtlich, organisatorisch oder in seinen Entscheidungen nicht von Eisenbahnunternehmen unabhängig, so werden die in Absatz 1 genannten und in diesem Kapitel im weiteren dargelegten Aufgaben von einer Zuweisungsstelle wahrgenommen, die rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Eisenbahnunternehmen unabhängig ist.“

 Ungarisches Recht

10      Mit dem Gesetz XCV. von 1993 über die Eisenbahn wurde im Jahr 2004 eine von den Eisenbahnunternehmen unabhängige Stelle, das Vasúti Pályakapacitás-elosztó Szervezet Kft. (im Folgenden: VPE), eingerichtet.

11      Gemäß Art. 62 des Gesetzes CLXXXIII. von 2005 über den Eisenbahnverkehr (2005 évi CLXXXIII. törvény a vasúti közlekedésről, Magyar Közlöny 2005/172, im Folgenden: Eisenbahnverkehrsgesetz) gehören die Trassenzuweisung und die Entgeltfestlegung zu den Aufgaben des VPE.

12      Art. 28 Abs. 1 des Eisenbahnverkehrsgesetzes lautet:

„Der Minister, handelnd im Namen des Staates, verpflichtet sich – im Einvernehmen mit dem Finanzminister – vertraglich zur Finanzierung der im Rahmen des Netzbetriebs als gerechtfertigt anerkannten Ausgaben des mit dem Betrieb des nationalen Eisenbahnnetzes und seiner Teilnetze sowie des Regionalbahnnetzes und seiner Teilnetze betrauten Eisenbahnunternehmens, die weder durch die Netzzugangsentgelte noch durch die übrigen Umsätze dieses Unternehmens gedeckt sind. Die Bedingungen der genannten vertraglichen Vereinbarung müssen dem Netzbetreiber Anreize zur Senkung seiner Verwaltungskosten und der Netzzugangsentgelte geben, ohne der Sicherheit des Verkehrs oder der Qualität der Leistungen zu schaden.“

13      Gemäß Art. 31 Abs. 2 Buchst. b dieses Gesetzes ist „der Betreiber der Infrastruktur … im Interesse der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs – bis zum Ende der Gefahrensituation – berechtigt, die von dieser Gefahr bedrohten Gleise oder Streckenabschnitte zu schließen sowie die auf den betreffenden Abschnitten bewilligten Zugtrassen zu sperren; er informiert, sofern diese Schließung einen Bahnübergang betrifft, die für die betreffende Straße zuständige Verwaltung …“.

14      Art. 55 Abs. 8 des Eisenbahnverkehrsgesetzes sieht vor:

„Ist abzusehen, dass die Netzzugangsentgelte nicht die gesamten gerechtfertigten Kosten und Ausgaben des Betreibers der frei zugänglichen Infrastruktur decken, kann für die in Art. 54 Abs. 1 und 3 bis 5 aufgeführten Dienste ein genereller Entgeltzuschlag erhoben werden, der nicht über das hinausgehen darf, was erforderlich ist, um die gesamten gerechtfertigten Kosten und Ausgaben zu decken, und der dem von den Eisenbahnunternehmen erzielten Produktivitätszuwachs, dem Erfordernis einer effizienten Nutzung der Infrastruktur, der Wettbewerbsfähigkeit des grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehrs sowie dem Grundsatz der Transparenz und der Gleichbehandlung Rechnung trägt.“

15      Die Verordnung Nr. 83/2007 (X.6) GKM-PM betrifft den Rahmen der Entgeltregelung für den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur und die Grundregeln für die Festlegung des Zugangsentgelts zur Infrastruktur (Magyar Közlöny 2007/134).

16      Die Verordnung Nr. 101/2007 (XII.22) GKM über die Einzelheiten des offenen Zugangs zur Eisenbahninfrastruktur (Magyar Közlöny 2007/181) bestimmt in ihrem Art. 23 Abs. 1:

„Hat ein Infrastrukturbetreiber gemäß Art. 31 Abs. 2 Buchst. b des [Eisenbahnverkehrsgesetzes] eine Zugtrasse gesperrt, bietet die für die Zuweisung von Fahrwegkapazität zuständige Stelle dem Betroffenen auf dessen Antrag eine andere Zugtrasse aus der verfügbaren Fahrwegkapazität an.“

17      Das VPE veröffentlicht jährlich eine Verordnung über den Netzbetrieb (Hálózati Üzletszabályzat). Die Netzbetriebsverordnung 2009-2010 sieht in Nr. 4.3 Abs. 9 vor:

„Das [VPE] unterrichtet die jeweiligen Zuweisungsempfänger, die Betreiber der Infrastruktur und die Eisenbahnaufsichtsbehörde über seine Entscheidungen über die Zuweisung von Fahrwegkapazität.“

18      In Nr. 4.8.1 („Leitlinien für die Wiederherstellung des Normalbetriebs“) dieser Netzbetriebsverordnung heißt es:

„a)      Bei außerplanmäßigen Abweichungen vom regulären Fahrplan trifft die Leitung der operationellen Dienste des Betreibers der Infrastruktur geeignete Maßnahmen zur Beendigung dieser Störungen und zur Wiederherstellung des fahrplanmäßigen Verkehrs. …

b)      Netzzugangsberechtigte benennen eine ständige Kontaktperson mit Entscheidungsbefugnis oder ein eigenes Leitungsorgan, die bzw. das vom Leitungsorgan des Betreibers der Infrastruktur im Störungs- oder Gefahrenfall zu unterrichten ist und deren bzw. dessen Bedürfnissen bei der Wiederherstellung normaler Betriebsbedingungen Rechnung getragen wird.

c)      Höhere Gewalt und andere unvorhersehbare außergewöhnliche Umstände:

–        Der Betreiber der Infrastruktur bemüht sich bei technisch bedingten oder unfallbedingten Störungen nach Kräften um die Wiederherstellung normaler Betriebsbedingungen. Zu diesem Zweck erstellt er einen Notfallplan, in dem die Stellen aufgeführt sind, die bei schwerwiegenden Vorfällen oder schwerwiegenden Störungen der Zugbewegungen zu unterrichten sind.

–        Auf Antrag des Betreibers der Infrastruktur ist der Netzzugangsberechtigte verpflichtet, gegen Erstattung die Mittel zur Verfügung zu stellen, die zum Zweck der raschen Wiederherstellung normaler Betriebsbedingungen für am besten geeignet erachtet werden.

–        In einem Gefahrenfall, der das Schienennetz vorübergehend unbenutzbar macht, kann der Betreiber der Infrastruktur zugewiesene Zugtrassen nach Unterrichtung der Betroffenen so lange sperren, wie es zur Wiederherstellung der Situation erforderlich ist. Das [VPE] bietet dem Betroffenen auf dessen Antrag für diesen Zeitraum eine andere Zugtrasse aus der verfügbaren Fahrwegkapazität an.“

 Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

19      Mit Schreiben vom 26. Januar 2008 forderte die Kommission Ungarn auf, sich zur Nichteinhaltung seiner Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440 sowie aus den Art. 4 Abs. 2, 14 Abs. 2, 3, 6 Abs. 1 und 2 bis 5, 7 Abs. 3, 8, 11 und 30 Abs. 3 der Richtlinie 2001/14 zu äußern.

20      Ungarn beantwortete diese Aufforderung mit Schreiben vom 22. August 2008. Dieses Schreiben wurde durch weitere Schreiben – u. a. vom 10. Juni 2009 – ergänzt.

21      Mit Schreiben vom 8. Oktober 2009 übersandte die Kommission Ungarn eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie feststellte, dass Ungarn seine Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 3 und Anhang II der Richtlinie 91/440 sowie aus den Art. 4 Abs. 2, 14 Abs. 2, 6 Abs. 1 und 2, 7 Abs. 3, 8 Abs. 1 und 11 der Richtlinie 2001/14 nicht erfüllt habe. Die Kommission forderte Ungarn auf, innerhalb von zwei Monaten nach Eingang der mit Gründen versehenen Stellungnahme die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um ihr nachzukommen.

22      Mit Schreiben vom 16. Dezember 2009 antwortete Ungarn auf die mit Gründen versehene Stellungnahme und bestritt die von der Kommission gerügte Vertragsverletzung.

23      Da die Antwort Ungarns die Kommission nicht zufriedenstellte, beschloss sie, die vorliegende Klage zu erheben, die auf fünf Rügen beruht.

24      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 15. Februar 2011 sind die Tschechische Republik, die Republik Lettland und die Republik Polen als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge Ungarns zugelassen worden. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. April 2011 ist die Italienische Republik gemäß Art. 93 § 7 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs in der zum Zeitpunkt dieses Beschlusses anwendbaren Fassung als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge Ungarns zugelassen worden. Die Italienische Republik und die Republik Lettland haben keine schriftlichen Erklärungen eingereicht und auch nicht an der mündlichen Verhandlung teilgenommen.

25      Mit einem am 6. Juni 2012 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangenen Schriftsatz hat die Kommission erklärt, dass sie die fünfte Rüge ihrer Klage zurücknehme, mit der ein Verstoß gegen Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 geltend gemacht wurde, der sich auf den Erlass einer leistungsabhängigen Entgeltregelung für das Schienennetz bezieht.

 Zur Klage

 Zur ersten, die Unabhängigkeit der Trassenzuweisung betreffenden Rüge

 Vorbringen der Parteien

26      Die Kommission macht geltend, ein Eisenbahnunternehmen dürfe nach Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 keine Entscheidungen auf dem Gebiet der Zuweisung von Zugtrassen treffen, da die Trassenzuweisung eine für einen gerechten und nichtdiskriminierenden Zugang zur Infrastruktur grundlegende Funktion sei, die in Anhang II dieser Richtlinie genannt werde und für deren Wahrnehmung das Erfordernis der Unabhängigkeit gelte. Die Zuweisung von Fahrwegkapazität müsse daher einer unabhängigen Zuweisungsstelle übertragen werden.

27      Die Verwaltung des Verkehrs sei jedoch der Trassenzuweisung zuzuordnen und müsse in Ungarn vom VPE, einer von den Eisenbahnunternehmen unabhängigen Stelle, durchgeführt werden, und nicht von der MÁV Zrt. (im Folgenden: MÁV) und der GySEV Zrt. (im Folgenden: GySEV), die sowohl Eisenbahnunternehmen als auch Infrastrukturbetreiber seien.

28      Einerseits müsse der Verwalter des Verkehrs über die Entscheidungen zur Zuweisung von Fahrwegkapazität auf dem Laufenden sein, um seine Verwaltungstätigkeit ausüben zu können. Würden in Ungarn die Infrastrukturbetreiber MÁV und GySEV entsprechend der Netzbetriebsverordnung über jede ihre Wettbewerber betreffende Entscheidung zur Zuweisung von Fahrwegkapazität informiert, wären sie damit im Wesentlichen Beteiligte an diesem Prozess der Zuweisung von Fahrwegkapazität.

29      Ein Eisenbahnunternehmen, das die Verwaltung des Verkehrs durchführe, habe einen Wettbewerbsvorteil, da es, um die damit verbundenen Aufgaben erfüllen zu können, notwendigerweise über detaillierte Kenntnisse der von den Eisenbahnunternehmen erbrachten Dienstleistungen, des Umfangs dieser Dienste und des Fahrplans verfügen müsse. Es verstoße jedoch gegen Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14, wenn irgendein Eisenbahnunternehmen mittels der Tätigkeit der Verkehrsverwaltung von der Nutzung der Infrastruktur durch seine Wettbewerber Kenntnis haben oder unter bestimmten Bedingungen Entscheidungen über die Zuweisung von Zugtrassen oder Fahrwegkapazität treffen könne.

30      Andererseits bedeute die Verwaltung des Verkehrs im Fall von Verkehrsstörungen oder Gefahren, dass der Verwalter des Verkehrs die zur Wiederherstellung normaler Verkehrsbedingungen erforderlichen Maßnahmen treffe. In einem solchen Fall müsse der Verwalter zwecks Neuzuweisung der verfügbaren Trassen und Netzkapazität zwingend vom zuvor festgelegten Fahrplan abweichen. In Ungarn sei es Sache der beiden Betreiber der Infrastruktur, die Maßnahmen zur Behebung der Störung zu ergreifen und dabei den Bedürfnissen der Eisenbahnunternehmen Rechnung zu tragen.

31      Im Normalfall beschränke sich der Verwalter des Verkehrs unstreitig auf die Durchführung der Entscheidungen des VPE, sorge dafür, dass die Züge nach Fahrplan verkehrten, und habe keinen Einfluss auf die Entscheidungen über die Zuweisung von Fahrwegkapazität. Die Tatsache, dass er im Gefahren- oder Störungsfall lokal zur Wiederherstellung des Verkehrs tätig werde, bedeute dagegen, dass er Entscheidungen über die Zuweisung von Zugtrassen treffe und insoweit über einen Entscheidungsspielraum verfüge. Die Sperrung einer Trasse sei auch eine Maßnahme, bei der es sich um eine mit der Trassenzuweisung zusammenhängende grundlegende Funktion im Sinne von Anhang II der Richtlinie 91/440 handele.

32      Zum Verhältnis zwischen der Verwaltung des Verkehrs und dem Betrieb der Infrastruktur weist die Kommission darauf hin, dass das für die Trassenzuweisung geltende Erfordernis der Unabhängigkeit auch Anwendung finde, wenn die Zuweisung im Rahmen der Verwaltung des Verkehrs erfolge. Letztere umfasse zahlreiche offensichtlich nicht mit der Zuweisung von Trassen zusammenhängende Aufgaben wie den Bau und die Wartung von Strecken und andere Investitionen, mit denen Eisenbahnunternehmen betraut werden könnten.

33      Ungarn macht geltend, nach Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 seien die in ihrem Anhang II ausdrücklich aufgeführten Tätigkeiten als wesentliche Funktionen anzusehen. In Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 2 werde in nicht abschließender Weise definiert, welche Funktionen, selbst wenn sie Tätigkeiten im Sinne von Anhang II darstellen könnten oder zu Letzteren gehörten, von Eisenbahnunternehmen wahrgenommen werden könnten.

34      Die ungarische Regelung gestatte dem Verwalter des Verkehrs auch im Gefahren- oder Störungsfall keine Neuzuweisung von Trassen. Die Zuweisung von Trassen und Fahrwegkapazität sei ausschließlich Sache des VPE als unabhängiger Stelle.

35      Zum einen bestehe die wesentliche Aufgabe des Verwalters des Verkehrs nämlich in der Durchführung der Entscheidungen des VPE über die Zuweisung von Fahrwegkapazität und Trassen. Der Verwalter des Verkehrs verfüge auf diesem Gebiet über keine Entscheidungsbefugnis und könne weder die zugewiesenen Trassen noch die Fahrwegkapazität nachprüfen. Im Rahmen seines ständigen Bereitschaftsdienstes sei das VPE in der Lage, Anträge auf Trassenzuweisung jederzeit entgegenzunehmen und zu bearbeiten.

36      Zum anderen verfüge der Verwalter des Verkehrs auch im Fall der Gefahr oder von Verkehrsstörungen nicht über die Befugnis zur Zuweisung von Fahrwegkapazität. In diesem Fall könne der Verwalter zur Wiederherstellung eines normalen Verkehrs unmittelbar tätig werden und ergreife Maßnahmen, die gewährleisteten, dass eine möglichst hohe Zahl von Zugtrassen und möglichst viel der vom VPE zugewiesenen Fahrwegkapazität genutzt werden könnten. Könnten Zugtrassen jedoch trotz der ergriffenen Maßnahmen nicht wieder in Betrieb genommen werden, könne der Betreiber der Infrastruktur eine Trasse stornieren. Die Sperrung von Zugtrassen sei nur möglich, wenn ein Streckenabschnitt vorübergehend nicht nutzbar und der Verkehr wegen des Bestehens einer Gefahrenlage ohnehin nicht möglich sei. Es handele sich somit nicht um eine Ermessensentscheidung über ein Verbot der Nutzung einer Strecke, sondern um eine vorübergehende Schließung eines Bahnstreckenabschnitts aus Sicherheitsgründen, während der sich das VPE bemühe, dem betroffenen Eisenbahnunternehmen eine andere Zugtrasse zur Verfügung zu stellen.

37      Die Wiederherstellung des normalen Zugverkehrs, die Maßnahmen technischer Art und solche der Eisenbahnsicherheit umfasse, und die Neuzuweisung von Zugtrassen, deren Durchführung dem VPE obliege, seien zwei verschiedene Tätigkeiten.

38      Folglich habe der Verwalter des Verkehrs keinerlei Einfluss auf die Trassenzuweisung, da diese vor der Inbetriebnahme erfolge. Der Betreiber der Infrastruktur sei verpflichtet, mit dem Inhaber des Zugangsrechts einen der zugewiesenen Trasse entsprechenden Vertrag zu schließen und dessen Zug auf der zugewiesenen Trasse verkehren zu lassen, da er sich sonst den im Vertrag vorgesehenen Rechtsfolgen aussetzen würde. Daher komme die Kenntnisnahme von Entscheidungen über die Zuweisung von Fahrwegkapazität nach deren Erlass nicht dem Erlass einer Entscheidung über die Trassenzuweisung gleich und ermögliche es dem Betreiber der Infrastruktur auch nicht, hieraus einen Wettbewerbsvorteil zu ziehen.

39      Die Verwaltung des Verkehrs sei vielmehr dem Betrieb der Infrastruktur zuzuordnen, so dass eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Tätigkeiten unrealistisch sei und einer guten Verkehrsverwaltung entgegenstehe. Auf das enge Verhältnis zwischen der Verwaltung des Verkehrs und dem Betrieb der Infrastruktur werde im Übrigen in der Richtlinie 91/440 hingewiesen, deren Art. 3 in seinem zweiten Gedankenstrich bestimme, dass der Betrieb der Steuerungs- und Sicherheitssysteme zu den Aufgaben des Betreibers der Infrastruktur gehören könne.

40      Die Republik Polen schließt sich der Argumentation Ungarns an, wonach das mögliche Tätigwerden des Verwalters des Verkehrs im Fall von Verkehrsstörungen oder Gefahren keine Neuzuweisung der Trassen bedeute. Es gehe darum, ad hoc zu reagieren, wozu lediglich die mit der laufenden Verwaltung des Eisenbahnverkehrs betraute Stelle in der Lage sei.

41      Die Republik Polen weist darüber hinaus darauf hin, dass Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 lediglich verlange, dass das Ziel eines gerechten und nichtdiskriminierenden Zugangs zur Infrastruktur erreicht werde. Der elfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/14 nehme auf dieses Ziel Bezug. Die Kommission habe jedoch durch keinerlei tatsächliche oder rechtliche Ausführungen nachgewiesen, dass Ungarn dieses Ziel nicht erreicht habe.

 Würdigung durch den Gerichtshof

42      Mit ihrer ersten Rüge beanstandet die Kommission im Wesentlichen, dass durch die ungarischen Rechtsvorschriften die Verwaltung des Verkehrs den beiden Betreibergesellschaften der Infrastruktur – MÁV und GySEV – übertragen werde, die auch Eisenbahnunternehmen seien, und nicht dem VPE, bei dem es sich um eine unabhängige Stelle handele; die Verwaltung des Verkehrs ist nämlich nach Ansicht der Kommission zum Teil der Trassenzuweisung zuzuordnen.

43      Hierbei sind sich die Kommission und Ungarn in der Frage uneins, ob die Verwaltung des Verkehrs, insbesondere bei dessen Störung und bei Gefahren, Entscheidungen über die Trassenzuweisung impliziert und ob sie, wenn dies der Fall sein sollte, einer unabhängigen Stelle vorbehalten sein müsste.

44      Es ist daran zu erinnern, dass die Richtlinie 91/440 die Liberalisierung des Eisenbahnverkehrs initiiert hat, indem sie darauf abzielt, einen gerechten und nichtdiskriminierenden Zugang der Eisenbahnunternehmen zur Infrastruktur sicherzustellen. Um einen solchen Zugang zu garantieren, wird in Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 91/440 der Grundsatz der Unabhängigkeit derjenigen Stelle aufgestellt, die mit der Wahrnehmung der in Anhang II dieser Richtlinie aufgeführten wesentlichen Funktionen betraut ist.

45      Nach Anhang II sind Vorarbeiten und Entscheidungen über die Zulassung von Eisenbahnunternehmen, Entscheidungen über die Trassenzuweisung, einschließlich sowohl der Bestimmung als auch der Beurteilung der Verfügbarkeit und der Zuweisung von einzelnen Zugtrassen, Entscheidungen über die Wegeentgelte sowie die Überwachung der Einhaltung von Verpflichtungen zur Bereitstellung bestimmter Dienstleistungen für die Allgemeinheit als wesentliche Funktionen im Sinne von Art. 6 Abs. 3 anzusehen.

46      Es ist festzustellen, dass Anhang II zwar Entscheidungen über die Trassenzuweisung als wesentliche Funktion, die einer unabhängigen Stelle übertragen werden muss, aufführt, aber nicht die Verkehrsverwaltung erwähnt. Hätte der Unionsgesetzgeber sie als wesentliche Funktion einstufen wollen, hätte er dies ausdrücklich dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er sie in den genannten Anhang aufgenommen hätte.

47      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass das Ziel, für jedes Eisenbahnunternehmen gerechte und nichtdiskriminierende Zugangsvoraussetzungen sicherzustellen, im elften Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/14 genannt wird. Bei den Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen wird nach diesem Erwägungsgrund allen Unternehmen ein gleicher und nichtdiskriminierender Zugang geboten und so weit wie möglich angestrebt, den Bedürfnissen aller Nutzer und Verkehrsarten gerecht und in nichtdiskriminierender Weise zu entsprechen.

48      Die Verfolgung dieses Ziels findet im Grundsatz der Unabhängigkeit der Kapazitätszuweisungsfunktion ihren Niederschlag, der in Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 verankert ist. Diese Bestimmung sieht vor, dass die in Art. 14 Abs. 1 genannten und in Kapitel III („Zuweisung von Fahrwegkapazität“) der Richtlinie beschriebenen Funktionen, wenn der Betreiber der Infrastruktur nicht von den Eisenbahnunternehmen unabhängig ist, von einer Zuweisungsstelle wahrgenommen werden müssen, die von den Eisenbahnunternehmen unabhängig ist.

49      Unter den Aufgaben, die in Kapitel III beschrieben werden und einer unabhängigen Stelle übertragen werden müssen, ist insbesondere die Durchführung der Verfahren zur Zuweisung von Fahrwegkapazität zu erwähnen, wobei mehrere Netze, die einmal pro Kalenderjahr erfolgende Netzfahrplanerstellung, die Ad-hoc-Zuweisung einzelner Zugtrassen und die Koordinierung der beantragten Trassen zur bestmöglichen Erfüllung aller Erfordernisse bei der Zusammenarbeit zur effizienten Zuweisung von Fahrwegkapazität in Rede stehen. Folglich gehören zur wesentlichen Funktion der Kapazitätszuweisung im Sinne der Richtlinien 91/440 und 2001/14 die Tätigkeiten administrativer Art, die im Kern die Planerstellung, die Festlegung des Netzfahrplans und die Ad-hoc-Zuweisung einzelner Zugtrassen betreffen.

50      In Art. 2 Buchst. l der Richtlinie 2001/14 wird „Zugtrasse“ als die Fahrwegkapazität definiert, die erforderlich ist, damit ein Zug zu einer bestimmten Zeit zwischen zwei Orten verkehren kann. Die Zuweisung einer Zugtrasse an ein Eisenbahnunternehmen durch seine Aufnahme in den Netzfahrplan oder durch Ad-hoc-Entscheidung gemäß Art. 23 dieser Richtlinie verkörpert für das Unternehmen das Recht, spezifische Fahrwegkapazitäten zu nutzen. Diese Auslegung wird durch Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie bestätigt, der auf das „Recht, spezifische Fahrwegkapazität in Form einer Zugtrasse in Anspruch zu nehmen“, Bezug nimmt.

51      Daraus folgt, dass die Verkehrsverwaltung auf den ersten Blick keine Entscheidungen über die Zuweisung von Zugtrassen impliziert, da sich diese Entscheidungen gegenüber einem Eisenbahnunternehmen in der Verleihung des Rechts zur Nutzung von Eisenbahninfrastrukturkapazitäten durch Aufnahme in den Netzfahrplan oder durch Ad-hoc-Entscheidungen manifestieren.

52      Dagegen ist festzustellen, dass nach Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2001/14 der Betrieb der Infrastruktur auch den Betrieb der Steuerungs- und Sicherheitssysteme der Fahrwege einschließen kann.

53      Hinzuzufügen ist, dass die Verkehrsverwaltung zwar nicht durch die Richtlinien 91/440 und 2001/14 definiert wird, doch gibt Anhang II der letztgenannten Richtlinie in seiner Nr. 1 insoweit Hinweise. Denn diese Bestimmung beschreibt das Mindestzugangspaket, auf das Eisenbahnunternehmen Anspruch haben können. Zu ihm gehören u. a. – so Nr. 1 Buchst. d – die Zugsteuerung einschließlich der Signalisierung, Regelung, Abfertigung und der Übermittlung und Bereitstellung von Informationen über Zugbewegungen sowie – so Nr. 1 Buchst. e – alle anderen Informationen, die zur Durchführung oder zum Betrieb des Verkehrsdienstes, für den Kapazität zugewiesen wurde, erforderlich sind.

54      Daraus folgt, dass die Verkehrsverwaltung Tätigkeiten umfasst, die zum Betrieb der Infrastruktur gehören, und nicht in Entscheidungen über die Zuweisung von Zugtrassen besteht, sondern in der Umsetzung oder Durchführung dieser Entscheidungen. Wie der Generalanwalt in Nr. 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist die Verwaltung des Verkehrs eine Tätigkeit, mit der die tatsächliche und sichere Ausübung der Rechte auf Inanspruchnahme von Fahrwegkapazität in Form von Zugtrassen sichergestellt werden soll.

55      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Verkehrsverwaltung nicht als eine wesentliche Funktion angesehen werden kann, die einer unabhängigen Stelle übertragen werden muss. Wie sich aus Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 91/440 ergibt, kann mit Ausnahme der wesentlichen Funktionen die Verantwortung für die Verwaltung der Eisenbahninfrastruktur Eisenbahnunternehmen übertragen werden. Mit der Verwaltung des Verkehrs kann somit ein Betreiber der Infrastruktur betraut werden, der, wie dies in Ungarn der Fall ist, auch ein Eisenbahnunternehmen ist.

56      Diese Feststellung kann nicht durch das Argument der Kommission in Frage gestellt werden, wonach im Fall von Verkehrsstörungen oder Gefahren die zur Wiederherstellung normaler Verkehrsbedingungen erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Sperrung von Zugtrassen, zur Trassenzuweisung gehörten.

57      Art. 29 der Richtlinie 2001/14 sieht nämlich die Möglichkeit vor, erforderliche Maßnahmen zu treffen, um technisch bedingten oder unfallbedingten Störungen der Zugbewegungen sowie Notfallsituationen oder Fällen zu begegnen, in denen dies unbedingt notwendig ist, weil der Fahrweg wegen einer Betriebsstörung vorübergehend nicht benutzt werden kann.

58      Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung zwar in Kapitel III der genannten Richtlinie zu finden ist, das die Zuweisung von Fahrwegkapazität betrifft, dass sie aber nicht im ursprünglichen Richtlinienvorschlag der Kommission enthalten war und in den Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 28/2000 vom 28. März 2000, vom Rat festgelegt gemäß dem Verfahren des Artikels 251 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung (ABl. C 178, S. 28), aufgenommen wurde.

59      Zum anderen ist festzustellen, dass diese Bestimmung Sondermaßnahmen betrifft, die im Fall der Störung des Zugverkehrs erlassen werden müssen, um aus Sicherheitsgründen normale Verkehrsbedingungen wiederherzustellen, während die übrigen Bestimmungen von Kapitel III die Fahrplanerstellung und die Ad-hoc-Zuweisung einzelner Zugtrassen betreffen. Bei den nach Art. 29 der Richtlinie 2001/14 erlassenen Maßnahmen kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass sie unmittelbar die wesentliche Funktion der Zuweisung von Fahrwegkapazität oder der Zuweisung von Zugtrassen im Sinne von Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie betreffen, eine Funktion, die einer unabhängigen Zuweisungsstelle übertragen werden muss. Es handelt sich vielmehr um punktuelle Maßnahmen, die im Notfall getroffen werden müssen, um einer besonderen Situation Rechnung zu tragen und sicherzustellen, dass die Rechte auf Fahrwegkapazität in Form von Zugtrassen vom Begünstigten im Einklang mit dem Netzfahrplan tatsächlich wahrgenommen werden können.

60      Der Erlass derartiger Maßnahmen gehört daher zur Verwaltung des Verkehrs und unterliegt nicht dem Unabhängigkeitserfordernis, so dass einem Betreiber der Infrastruktur, der auch ein Eisenbahnunternehmen ist, eine derartige Funktion übertragen werden kann.

61      Dieses Ergebnis wird zum einen durch den Wortlaut von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2001/14 bestätigt, wonach der Betrieb der Steuerungs- und Sicherheitssysteme der Fahrwege dem Betreiber der Infrastruktur übertragen werden kann. Zum anderen entspricht ein derartiges Ergebnis den mit der Richtlinie verfolgten Zielen. Aus ihren Erwägungsgründen 15 und 20 geht nämlich hervor, dass dem Betreiber der Infrastruktur Anreize zur Minimierung von Störungen und zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit des Schienennetzes geboten werden sollen und dass ihm eine gewisse Flexibilität eingeräumt werden soll, um eine effizientere Nutzung des Schienennetzes zu ermöglichen.

62      Im vorliegenden Fall ist in Ungarn die Zuweisung von Rechten auf eine spezifische Fahrwegkapazität in Form von Zugtrassen eine wesentliche Funktion, die ausschließlich dem VPE zugewiesen ist. Bei Störungen des Verkehrs oder bei Gefahr können nach den einschlägigen ungarischen Rechtsvorschriften die Betreiber der Infrastruktur, MÁV und GySEV, die Maßnahmen treffen, die erforderlich sind, um normale Verhältnisse wiederherzustellen, und sie können auch aus Sicherheitsgründen Zugtrassen sperren. In diesem Fall obliegt die Neuzuteilung einer Zugtrasse dem VPE.

63      Unter diesen Voraussetzungen ist entgegen dem Vorbringen der Kommission nicht davon auszugehen, dass die ungarischen Rechtsvorschriften nicht den Anforderungen von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 entsprechen, weil sie es den Betreibern der Infrastruktur ermöglichen, die Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um bei Störungen des Verkehrs oder bei Gefahr normale Verkehrsbedingungen wiederherzustellen.

64      Zu prüfen ist auch das Argument der Kommission, dass der Verwalter des Verkehrs, um seinen Verwaltungspflichten nachkommen zu können, über die Entscheidungen zur Zuweisung von Fahrwegkapazität auf dem Laufenden gehalten werden müsse, so dass MÁV und GySEV, weil sie über jede ihre Wettbewerber betreffende Entscheidung zur Zuweisung von Fahrwegkapazität informiert würden, im Wesentlichen zu Beteiligten am Prozess der Zuweisung von Fahrwegkapazität würden.

65      Diesem Argument kann nicht gefolgt werden, denn der Verwalter des Verkehrs hat nicht deswegen, weil er über Entscheidungen zur Zuweisung von Fahrwegkapazität informiert wird, Einfluss auf den Prozess zum Erlass dieser Entscheidungen. Die Verwaltung des Verkehrs besteht nämlich, wie in Randnr. 54 des vorliegenden Urteils dargelegt, in der Umsetzung der von der unabhängigen Zuweisungsstelle getroffenen Entscheidungen über die Zuweisung der Trassen, so dass die Verkehrsverwaltungstätigkeit notwendig nach Erlass der genannten Entscheidungen erfolgt. Außerdem muss der Betreiber der Infrastruktur nach den einschlägigen ungarischen Rechtsvorschriften einen Vertrag mit dem Inhaber des Zugangsrechts abschließen, der der zugewiesenen Zugtrasse entspricht, und er muss dessen Zug auf der genannten Trasse verkehren lassen; andernfalls drohen ihm Sanktionen. Daher ist nicht davon auszugehen, dass MÁV und GySEV Einfluss auf den Erlass der Entscheidungen über die Zuweisung von Fahrwegkapazität nehmen könnten.

66      Desgleichen können Informationen über die Entscheidungen, mit denen ihren Wettbewerbern Fahrwegkapazität zugewiesen wird, MÁV und GySEV keinen Wettbewerbsvorteil verschaffen, da sie zum einen von diesen Informationen erst Kenntnis erlangen, nachdem die unabhängige Stelle, im vorliegenden Fall das VPE, die Entscheidungen erlassen hat, und da diese zum anderen im Allgemeinen in den Netzfahrplänen enthalten sind, die von Natur aus Dritten zugänglich sind. Außerdem ist daran zu erinnern, dass nach Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 91/440 ein Eisenbahnunternehmen mit dem Infrastrukturbetrieb betraut werden darf, abgesehen von den wesentlichen Funktionen. Folglich hat der Unionsgesetzgeber es notwendigerweise zugelassen, dass für ein mit der Wartung des Netzes betrautes Eisenbahnunternehmen, auch wenn es nicht für die Verkehrsverwaltung verantwortlich ist, die Informationen über die Trassenzuweisung zugänglich sein müssen.

67      Aus allen vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die erste von der Kommission zur Stützung ihrer Klage geltend gemachte Rüge zurückzuweisen ist.

 Zur zweiten, die Unabhängigkeit der Entgelterhebungsfunktion betreffenden Rüge

 Vorbringen der Parteien

68      Die Kommission macht geltend, nach Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 dürfe ein Eisenbahnunternehmen keine mit der Berechnung von Entgelten zusammenhängenden Entscheidungen treffen, da ein solches Unternehmen lediglich zur Erhebung dieser Entgelte ermächtigt werden könne. Nach denselben Vorschriften müssten die Aufstellung und die Festsetzung der Entgelte von einer unabhängigen entgelterhebenden Stelle wahrgenommen werden.

69      Die ungarischen Rechtsvorschriften verstießen gegen diese beiden Vorschriften, da die Betreiber der Infrastruktur – MÁV und GySEV –, die auch Eisenbahnunternehmen seien, detaillierte Rechnungen über Wegeentgelte ausstellten.

70      Unter dem Begriff „Berechnung des Wegeentgeltes“ in Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2001/14 seien zum einen die allgemeine Entgeltfestsetzung, die aus der schriftlichen Fixierung der Höhe des für jeden Streckenabschnitt pro Kilometer zu entrichtenden Entgelts in der Netzbetriebsverordnung bestehe, und zum anderen die konkrete Berechnung der von den verschiedenen Nutzern aufgrund der Länge des genutzten Streckenabschnitts geschuldeten Beträge zu verstehen. Gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie sei die Möglichkeit, dass ein nicht unabhängiger Betreiber der Infrastruktur die Entgelterhebung übernehme, eng auszulegen, da es sich um eine Ausnahme von der Grundregel handele.

71      Ein mit der Ausstellung detaillierter Rechnungen über Wegeentgelte betrautes Eisenbahnunternehmen habe einen Wettbewerbsvorteil, da sich diese Rechnungen notwendigerweise u. a. auf die von konkurrierenden Eisenbahnunternehmen genutzten Dienste, auf den Umfang dieser Dienste sowie auf den Zeitpunkt ihrer Nutzung bezögen. In Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 sei aber ausdrücklich der Grundsatz eines gerechten und nichtdiskriminierenden Zugangs zur Infrastruktur festgeschrieben.

72      Ungarn bestreitet, dass die Betreiber der Infrastruktur – MÁV und GySEV – Entscheidungen über die Berechnung von Entgelten träfen, da sie nur für die Rechnungsstellung zuständig seien; diese gehöre zur Entgelterhebung, die keine von einer unabhängigen Stelle wahrzunehmende wesentliche Funktion im Sinne der Richtlinie 91/440 darstelle. Die Rechnungsstellung sei lediglich ein für die Einziehung der Entgelte erforderliches technisches Mittel.

73      Zu unterscheiden sei zwischen der Gestaltung von Entgelten, ihrer tatsächlichen Festsetzung und ihrer Erhebung. Der erste dieser Begriffe entspreche der Aufstellung der verschiedenen Regeln für die Entgelterhebung, die der betreffende Mitgliedstaat oder der Betreiber der Infrastruktur vornehme. Die tatsächliche Festsetzung dieser Entgelte bestehe aus der Festsetzung der verschiedenen Einzelentgelte, die ein bestimmtes Eisenbahnunternehmen in einer konkreten Situation nach Maßgabe der in Anspruch genommenen Dienste zu entrichten habe. Es sei Sache des VPE als der von der Kommission anerkannten unabhängigen Stelle, die mit der Gestaltung und der Festsetzung der Entgelte zusammenhängenden Aufgaben durchzuführen. Die Entgelterhebung bezeichne den Akt der konkreten Zahlung der auf diese Weise festgesetzten Entgelte an den Betreiber der Infrastruktur. Die Rechnungsstellung bringe lediglich in technischer Hinsicht die auf den Berechnungen des VPE beruhende Höhe der Entgelte zum Ausdruck und falle daher weder unter die Gestaltung der Entgelte noch unter deren konkrete Festsetzung, sondern unter die Entgelterhebung.

74      Ob der Zugang zu Informationen aus detaillierten Rechnungen dazu führe, dass der Wettbewerb verfälscht werde, sei zweifelhaft, da der Infrastrukturbetreiber keinen inhaltlichen Einfluss auf die Festsetzung der Netzzugangsentgelte habe. Zudem kenne er diese Informationen zwangsläufig aus anderen Quellen wie z. B. dem Vertrag mit dem Eisenbahnunternehmen.

75      Die Republik Polen trägt wie Ungarn vor, die Rechnungsstellung bestehe weder aus der Berechnung der Höhe der Entgelte noch aus dem Erlass einer irgendwie gearteten Entscheidung über die mit ihrer Einziehung verbundenen Fragen, sondern stelle ein Element der Entgelterhebung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 dar. Bei der Rechnungsstellung handele es sich nämlich um eine Nebentätigkeit, mit der anhand der zuvor zugewiesenen Zugtrassen und ihrer Nutzung aus einer im Voraus festgelegten Entgelthöhe mittels mathematischer Berechnungen ein Ergebnis ermittelt werde.

 Würdigung durch den Gerichtshof

76      Aus den Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 in Verbindung mit ihrem Anhang II und 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 ergibt sich, dass die Entgeltberechnung eine wesentliche Funktion zur Gewährleistung eines gerechten und nichtdiskriminierenden Zugangs zur Infrastruktur ist, die durch eine entgelterhebende Stelle wahrgenommen werden muss, die rechtlich, organisatorisch und in ihren Entscheidungen von Eisenbahnunternehmen unabhängig ist. Ein Eisenbahnunternehmen, das als Betreiber der Infrastruktur fungiert, ist nach diesen Bestimmungen nur befugt, die Entgelte einzuziehen oder zu erheben.

77      Mit der vorliegenden Rüge beanstandet die Kommission im Wesentlichen, dass durch die ungarischen Rechtsvorschriften die Ausstellung der Rechnungen über die Entgelte MÁV und GySEV zugewiesen werde, also zwei Eisenbahnunternehmen, die auch Betreiber der Infrastruktur seien, obwohl die Rechnungsstellung zur Berechnung der Entgelte gehöre und diese Unternehmen hieraus einen Wettbewerbsvorteil erlangten.

78      Was die Frage betrifft, ob die Rechnungsstellung zur Berechnung der Entgelte gehört, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 die Mitgliedstaaten eine Entgeltrahmenregelung schaffen müssen und außerdem einzelne Entgeltregeln festlegen können, wobei die Unabhängigkeit der Verwaltung des Betreibers der Infrastruktur beachtet werden muss. Letzterer nimmt die Entgeltberechnung vor und kümmert sich um die Erhebung der Entgelte.

79      Wie der Generalanwalt in Nr. 82 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sieht die Richtlinie 2001/14 durch die Verwendung des Begriffs „Berechnung“ vor, dass die Entgeltregelung dem von den Eisenbahnunternehmen unabhängigen Betreiber der Infrastruktur vorbehalten sein muss. Die Berechnung der Entgelte bedeutet, dass dieser Betreiber über eine gewisse Flexibilität verfügen muss, die es ihm erlaubt, zumindest Entscheidungen über die Auswahl und die Beurteilung der Faktoren oder Parameter zu treffen, auf deren Grundlage die Berechnung durchgeführt wird.

80      Bestätigt wird diese Feststellung durch den Regelungszusammenhang, in den sich Art. 4 Abs. 1 der genannten Richtlinie einfügt.

81      Art. 30 der Richtlinie 2001/14 schafft nämlich eine Regulierungsstelle zur Kontrolle der Entscheidungen, die der Betreiber der Infrastruktur insbesondere in Bezug auf die Entgeltregelung und die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte getroffen hat. Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie bestimmt, dass der Betreiber der Infrastruktur auf der Grundlage der langfristigen Kosten bestimmter Investitionsvorhaben höhere Entgelte festlegen oder beibehalten darf. Art. 9 der Richtlinie erlaubt es ihm, Regelungen für Nachlässe auf die von den Wirtschaftsteilnehmern erhobenen Entgelte einzuführen, um tatsächlichen Einsparungen bei den Verwaltungskosten Rechnung zu tragen oder um die Benutzung von Strecken mit sehr niedrigem Auslastungsgrad zu fördern.

82      Der Betreiber der Infrastruktur darf jedoch nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14, wenn er von Eisenbahnunternehmen nicht juristisch, organisatorisch und in seinen Entscheidungen unabhängig ist, nur mit der Erhebung der Entgelte betraut werden. Diese Funktion wird somit nicht als wesentlich zur Gewährleistung eines gerechten und nichtdiskriminierenden Zugangs zur Infrastruktur angesehen. Als Ausnahme von der allgemeinen Regel der Unabhängigkeit des Infrastrukturbetreibers ist dieser Begriff der Erhebung somit, wie die Kommission hervorhebt, eng auszulegen.

83      Ungarn unterscheidet zwischen der dem VPE obliegenden Gestaltung und Festsetzung der Entgelte zum einen und der den Infrastrukturbetreibern übertragenen Entgelterhebung zum anderen. Die Rechnungsstellung bringe lediglich in technischer Hinsicht die auf den Berechnungen des VPE beruhenden Entgelte zum Ausdruck und falle daher unter die Entgelterhebung.

84      Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission nicht bestreitet, dass die Rechnungsstellung technischer oder mechanischer Natur ist. Außerdem ist festzustellen, dass die Berechnung der Entgelte nach Auffassung der Kommission neben der allgemeinen Entgeltfestsetzung in der Netzbetriebsverordnung die konkrete Berechnung der von den verschiedenen Nutzern geschuldeten Beträge anhand der Länge des genutzten Streckenabschnitts einschließt.

85      Aus den von Ungarn eingereichten Schriftsätzen ergibt sich, dass das VPE in der Netzbetriebsverordnung die allgemeine Entgeltregelung aufstellt und die von den einzelnen Nutzern zu zahlenden Beträge festsetzt, wobei es die Länge des Streckenabschnitts, den sie nutzen wollen, dessen Merkmale und die im Rahmen der Inbetriebnahme angebotenen Dienste berücksichtigt.

86      Da somit in Ungarn die konkrete Berechnung der Höhe der Entgelte vom VPE vorgenommen wird, kann dem ersten von der Kommission angeführten Argument, das daraus hergeleitet wird, dass die Rechnungsstellung zur Berechnung der Entgelte gehöre, nicht gefolgt werden.

87      Das zweite Argument der Kommission geht dahin, dass die Rechnungsstellung es den betreffenden Eisenbahnunternehmen – MÁV und GySEV – ermögliche, einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen, da ihnen Informationen über die von konkurrierenden Eisenbahnunternehmen genutzten Dienste, den Umfang dieser Dienste sowie den Zeitpunkt ihrer Nutzung zugänglich seien.

88      Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 91/440 und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2001/14 es erlauben, dass ein Eisenbahnunternehmen die Erhebung oder die Einziehung der Entgelte vornimmt. In diesem Rahmen lässt sich nicht ausschließen, dass ein solches Eisenbahnunternehmen Kenntnis von den Belegen hat, die den Rechnungen, für deren Erhebung es sorgt, zugrunde liegen. Insoweit besteht, wie der Generalanwalt in Nr. 85 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kein entscheidender Unterschied zwischen einer Rechnungsstellung durch mechanische Anwendung einer Rechenformel auf Daten, die der einziehenden Stelle übermittelt werden, und der Einziehung von Beträgen in Rechnungen, die von einem Dritten erstellt wurden.

89      Das zweite von der Kommission zur Stützung ihrer zweiten Rüge vorgebrachte Argument vermag daher nicht durchzudringen, und folglich ist diese Rüge zurückzuweisen.

 Zur dritten, das finanzielle Gleichgewicht des Betreibers der Infrastruktur und die Anreize zur Senkung der Kosten und Entgelte betreffenden Rüge

 Vorbringen der Parteien

90      Die Kommission legt Ungarn zur Last, entgegen Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2001/14 nicht die Bedingungen zur Sicherstellung des finanziellen Gleichgewichts der Betreiber der Infrastruktur festgelegt zu haben. Nach Art. 28 Abs. 1 des Eisenbahnverkehrsgesetzes verpflichte sich der zuständige Minister vertraglich zur Finanzierung der im Rahmen des Netzbetriebs als gerechtfertigt anerkannten Ausgaben des mit dem Betrieb der Infrastruktur betrauten Eisenbahnunternehmens. Ein solcher Vertrag sei jedoch bislang nicht geschlossen worden.

91      Die Kommission macht darüber hinaus geltend, die ungarische Regelung enthalte entgegen den Anforderungen von Art. 6 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2001/14 keine Anreize zur Senkung der Kosten und Entgelte. Sie verweist dabei auf Art. 28 Abs. 1 des Eisenbahnverkehrsgesetzes, der vorsehe, dass die dort erwähnte vertragliche Vereinbarung den Betreibern der Infrastruktur einen Anreiz geben müsse, ihre Verwaltungskosten und die Netzzugangsentgelte zu senken.

92      Ungarn macht hierzu geltend, ein Vertragsentwurf im Sinne von Art. 28 Abs. 1 des Eisenbahnverkehrsgesetzes sei gegenwärtig in Vorbereitung.

93      In ihrer Erwiderung weist die Kommission darauf hin, dass sie diesen Vertragsentwurf noch nicht erhalten habe und daher nicht beurteilen könne, ob die darin enthaltenen Klauseln mit der Richtlinie 2001/14 im Einklang stünden.

 Würdigung durch den Gerichtshof

94      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2001/14 die Bedingungen festlegen müssen, um sicherzustellen, dass sich die Einnahmen des Betreibers der Infrastruktur aus Wegeentgelten, dem Gewinn aus anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten und der staatlichen Finanzierung einerseits und die Fahrwegausgaben andererseits unter normalen geschäftlichen Umständen und über einen angemessenen Zeitraum zumindest ausgleichen. Nach Art. 6 Abs. 2 sind den Betreibern der Infrastruktur Anreize zur Senkung der mit der Fahrwegbereitstellung verbundenen Kosten und der Zugangsentgelte zu geben.

95      Insoweit genügt die Feststellung, dass Ungarn diese Rüge nicht bestreitet, sondern lediglich geltend macht, dass der Entwurf des in Art. 28 Abs. 1 des Eisenbahnverkehrsgesetzes angesprochenen Vertrags, mit dem sich der zuständige Minister zur Finanzierung der im Rahmen der Infrastrukturverwaltung getätigten Ausgaben verpflichte und der den Betreibern der Infrastruktur Anreize zur Senkung ihrer Verwaltungskosten sowie der Zugangsentgelte geben solle, gegenwärtig in Vorbereitung sei.

96      Nach ständiger Rechtsprechung ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung aber anhand der Situation zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde, befand (vgl. u. a. Urteile vom 16. Dezember 2010, Kommission/Frankreich, C‑89/09, Slg. 2010, I‑12941, Randnr. 18, und vom 14. April 2011, Kommission/Luxemburg, C‑390/10, Randnr. 11).

97      Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Entwurf des Vertrags, mit dem die Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2001/14 umgesetzt werden sollten, bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist noch nicht angenommen worden war.

98      Somit ist die dritte von der Kommission zur Stützung ihrer Klage angeführte Rüge begründet.

 Zur vierten, die Entgeltfestsetzung anhand der unmittelbaren Kosten betreffenden Rüge

 Vorbringen der Parteien

99      Die Kommission macht geltend, die ungarische Regelung stehe nicht mit Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2001/14 im Einklang, da sie entgegen dieser Vorschrift zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Bestimmung enthalte, die die Anwendung des sogenannten Grundsatzes der „unmittelbaren Kosten“ sicherstelle.

100    In seiner Klagebeantwortung trägt Ungarn vor, das VPE habe die Verordnung Nr. 83/2007 (X.6) GKM-PM erlassen, mit der die am 12. Dezember 2010 für einen Zeitraum von fünf Jahren ab dem Wirtschaftsjahr 2010/11 in Kraft getretene Methode der Entgeltfestsetzung geregelt werde. Nach dieser Methode beruhe die Entgeltfestsetzung auf den tatsächlichen Kosten und Leistungen des letzten Wirtschaftsjahrs der Betreiber der Infrastruktur. Ungarn fügt hinzu, dass nach Art. 55 Abs. 8 des Eisenbahnverkehrsgesetzes ein genereller Entgeltzuschlag für die elementaren Dienste festgesetzt worden sei, damit die Zugangsentgelte zur Infrastruktur die gerechtfertigten Kosten der genannten Betreiber deckten. Es sei Sache der nationalen Verkehrsbehörde, diese Entgeltzuschläge zu kontrollieren.

101    In ihrer Erwiderung weist die Kommission darauf hin, dass ihr das Dokument über die Billigung der Methode der Entgeltfestsetzung bislang nicht übermittelt worden sei und dass ihr diese Methode nach den Ausführungen in der Klagebeantwortung den Anforderungen von Art. 7 der Richtlinie 2001/14 nicht zu genügen scheine.

102    Die Republik Polen führt aus, die Kommission habe in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme darauf hingewiesen, dass sich die in Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2001/14 erwähnten unmittelbaren Kosten auf 35 % der Gesamtkosten für den Unterhalt der Infrastruktur belaufen dürften. Diese Behauptung finde in der Richtlinie 2001/14 keine Stütze, da dort der Begriff der unmittelbar aufgrund des Zugbetriebs anfallenden Kosten nicht definiert werde und die Mitgliedstaaten über eine gewisse Freiheit bei der Festlegung der Entgelte für den Zugang zur Infrastruktur verfügten.

 Würdigung durch den Gerichtshof

103    Mit ihrer vierten Rüge beanstandet die Kommission im Wesentlichen, dass in den ungarischen Rechtsvorschriften nicht, wie in Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2001/14 gefordert, der Grundsatz der unmittelbaren Kosten angewandt werde.

104    Nach der genannten Vorschrift ist nämlich unbeschadet der Abs. 4 und 5 von Art. 7 der Richtlinie 2001/14 sowie ihres Art. 8 das Entgelt für das Mindestzugangspaket und den Schienenzugang zu Serviceeinrichtungen in Höhe der Kosten festzulegen, die unmittelbar aufgrund des Zugbetriebs anfallen.

105    Im vorliegenden Fall steht fest, dass die ungarischen Rechtsvorschriften bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist, nämlich am 8. Dezember 2009, keine Methode zur Entgeltberechnung auf der Grundlage der unmittelbaren Kosten enthielten, denn diese trat am 12. Dezember 2010 in Kraft.

106    Somit ist die vierte von der Kommission zur Stützung ihrer Klage erhobene Rüge begründet.

107    Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 1 und 2 und Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2001/14 verstoßen hat, dass es innerhalb der vorgeschriebenen Frist nicht sämtliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, die erforderlich sind, um den genannten Bestimmungen nachzukommen, und dass die Klage im Übrigen abzuweisen ist.

 Kosten

108    Nach Art. 138 Abs. 3 der Verfahrensordnung trägt jede Partei ihre eigenen Kosten, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt. Da die Kommission und Ungarn jeweils bei zwei der vier Klagegründe unterlegen sind, ist zu entscheiden, dass sie ihre eigenen Kosten tragen. Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten, so dass die Tschechische Republik und die Republik Polen ihre eigene Kosten tragen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Ungarn hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 6 Abs. 1 und 2 und Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur in der durch die Richtlinie 2007/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 geänderten Fassung verstoßen, dass es innerhalb der vorgeschriebenen Frist nicht sämtliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, die erforderlich sind, um den genannten Bestimmungen nachzukommen.

2.      Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3.      Die Europäische Kommission und Ungarn tragen ihre eigenen Kosten.

4.      Die Tschechische Republik und die Republik Polen tragen ihre eigenen Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Ungarisch.