Language of document : ECLI:EU:C:2013:565

Rechtssache C‑140/12

Pensionsversicherungsanstalt

gegen

Peter Brey

(Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs)

„Freizügigkeit – Unionsbürgerschaft – Richtlinie 2004/38/EG – Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate – Art. 7 Abs. 1 Buchst. b – Person, die die Arbeitnehmereigenschaft nicht mehr besitzt – Bezieher einer Altersrente – Voraussetzung der ausreichenden Existenzmittel, damit die ‚Sozialhilfeleistungen‘ des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch genommen werden – Antrag auf eine besondere beitragsunabhängige Geldleistung – Ausgleichszulage zur Ergänzung der Altersrente – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 3 Abs. 3 und 70 – Zuständigkeit des Wohnsitzmitgliedstaats – Voraussetzungen für die Gewährung – Rechtmäßiger Aufenthalt im nationalen Hoheitsgebiet – Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 19. September 2013

1.        Vorabentscheidungsverfahren – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Bestimmung der relevanten Elemente des Unionsrechts – Umformulierung der Fragen

(Art. 267 AEUV)

2.        Soziale Sicherheit – Wandererwerbstätige – Beitragsunabhängige Sonderleistungen – In Artikel 10a der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Koordinierungsregelung – Geltungsbereich – Ausgleichszulage zur Alters‑ oder Invaliditätsrente, die nach objektiven Kriterien gewährt und nicht durch Beiträge der Versicherten finanziert wird – In Anhang IIa dieser Verordnung aufgeführte Leistung – Einbeziehung

(Verordnung Nr. 1408/71 des Rates, Art. 4 Abs. 2a, Art. 10a und Anhang IIa)

3.        Soziale Sicherheit – Wandererwerbstätige – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Gleichzeitige Anwendung der Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten – Ausschluss – System von Kollisionsnormen – Vollständiger Charakter

(Verordnung Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 70 Abs. 4)

4.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Voraussetzungen für das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht – Voraussetzung der ausreichenden Existenzmittel – Sozialhilfesystem – Begriff – Ausgleichszulage zur Ergänzung der Altersrente – Einbeziehung

(Verordnung Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 3 Abs. 5 Buchst. a; Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Abs. 1 Buchst. b)

5.        Recht der Europäischen Union – Auslegung – Vorschriften in mehreren Sprachen – Abweichungen zwischen den verschiedenen Sprachfassungen – Berücksichtigung der allgemeinen Systematik und des Zwecks der betroffenen Regelung

6.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Voraussetzungen des aus dem Unionsrecht herrührenden Aufenthaltsrechts – Voraussetzung der ausreichenden Existenzmittel – Wirtschaftlich nicht aktiver Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats, der die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt von über drei Monaten im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats nicht erfüllt – Nationale Regelung, die unter allen Umständen und automatisch die Gewährung einer Ausgleichszulage zur Ergänzung der Altersrente ausschließt – Unzulässigkeit

(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Abs. 1 Buchst. b, Art. 8 Abs. 4 sowie Art. 24 Abs. 1 und 2)

1.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 31, 32)

2.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 33-35)

3.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 39-42, 44)

4.        Der Begriff der „Sozialhilfeleistungen“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, kann nicht auf die sozialen Fürsorgeleistungen reduziert werden, die nach Art. 3 Abs. 5 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit nicht in deren Anwendungsbereich fallen.

Dieser Begriff ist nämlich nicht anhand von formalen Kriterien, sondern anhand des mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 verfolgten Ziels zu bestimmen, das darin besteht, es dem Aufnahmemitgliedstaat zu erlauben, Unionsbürgern, wenn sie die Arbeitnehmereigenschaft nicht oder nicht mehr besitzen, rechtmäßige Beschränkungen in Bezug auf die Gewährung von Sozialleistungen aufzuerlegen, damit diese die Sozialhilfeleistungen dieses Staates nicht unangemessen in Anspruch nehmen.

Folglich ist dieser Begriff so zu verstehen, dass er sich auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme bezieht, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben kann, die dieser Staat gewähren kann. Die Ausgleichszulage zur Ergänzung der Altersrente kann demnach als „Sozialhilfeleistung“ des betreffenden Mitgliedstaats angesehen werden. Diese Leistung, die dem Empfänger im Fall einer unzureichenden Rente ein Existenzminimum gewährleisten soll, wird nämlich ohne jeden Beitrag der Versicherten vollständig durch die öffentliche Hand finanziert.

(vgl. Randnrn. 57, 58, 60-62)

5.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 73, 74)

6.        Das Unionsrecht, wie es sich insbesondere aus den Art. 7 Abs. 1 Buchst. b, 8 Abs. 4 und 24 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ergibt, ist dahin auszulegen, dass es einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach selbst in der Zeit nach einem dreimonatigen Aufenthalt die Gewährung einer Leistung wie der Ausgleichszulage zur Ergänzung der Altersrente an einen wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats unter allen Umständen und automatisch aufgrund der Tatsache ausgeschlossen ist, dass dieser, obwohl ihm eine Anmeldebescheinigung ausgestellt wurde, die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt für mehr als drei Monate im Hoheitsgebiet des ersten Staates deshalb nicht erfüllt, weil dieses Aufenthaltsrecht davon abhängt, dass dieser Staatsangehörige über ausreichende Existenzmittel verfügt, um diese Leistung nicht beantragen zu müssen.

Zwar kann der Umstand, dass ein wirtschaftlich nicht aktiver Angehöriger eines anderen Mitgliedstaats zum Bezug einer solchen Leistung berechtigt sein kann, einen Anhaltspunkt dafür darstellen, dass er nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt, um die Sozialhilfeleistungen dieses Staates nicht unangemessen im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 in Anspruch zu nehmen. Die zuständigen nationalen Behörden können eine solche Schlussfolgerung jedoch nicht ziehen, ohne eine umfassende Beurteilung der Frage vorzunehmen, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde.

Die Bestimmung des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 impliziert nämlich, indem sie das Aufenthaltsrecht für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten davon abhängig macht, dass der Betroffene das System der „Sozialhilfeleistungen“ des Aufnahmemitgliedstaats nicht „unangemessen“ in Anspruch nimmt, dass die zuständigen nationalen Behörden befugt sind, unter Berücksichtigung aller Faktoren und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Frage ihrer Beurteilung zu unterziehen, ob die Gewährung einer Sozialleistung eine Belastung für das gesamte Sozialhilfesystem dieses Mitgliedstaats darstellt.

Ein automatischer Ausschluss der wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten von der Gewährung einer bestimmten Sozialhilfeleistung durch den Aufnahmemitgliedstaat selbst für die in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 genannte Zeit nach einem dreimonatigen Aufenthalt erlaubt es den zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats nicht, im Einklang mit den Anforderungen, die sich insbesondere aus den Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und 8 Abs. 4 dieser Richtlinie sowie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, eine umfassende Beurteilung dieser Belastung vorzunehmen. Insbesondere muss es den zuständigen Behörden möglich sein, u. a. die Höhe und die Regelmäßigkeit der Einkünfte des Betroffenen, den Umstand, dass diese Einkünfte die nationalen Behörden zur Ausstellung einer Anmeldebescheinigung bewogen haben, und den Zeitraum zu berücksichtigen, in dem ihm die beantragte Leistung voraussichtlich gezahlt werden wird. Im Übrigen kann es zur Beurteilung des Ausmaßes der Belastung, die eine solche Zahlung für das nationale Sozialhilfesystem darstellen würde, von Bedeutung sein, den Anteil derjenigen Empfänger dieser Leistung zu ermitteln, die Unionsbürger und Empfänger einer Altersrente in einem anderen Mitgliedstaat sind.

(vgl. Randnrn. 63, 64, 72, 77, 78, 80 und Tenor)