Language of document : ECLI:EU:C:2014:18

Rechtssache C‑270/12

Vereinigtes Königreich Großbritannien

und

Nordirland

gegen

Europäisches Parlament

und

Rat der Europäischen Union

„Verordnung (EU) Nr. 236/2012 − Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps – Art. 28 – Gültigkeit – Rechtsgrundlage – Eingriffsbefugnisse der Europäischen Wertpapier‑ und Marktaufsichtsbehörde in Ausnahmesituationen“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. Januar 2014

1.        Organe der Europäischen Union – Ausübung der Zuständigkeiten – Übertragung von Befugnissen – Voraussetzungen – Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde – Präzise Abgrenzung der Befugnisse anhand objektiver Kriterien, die einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen – Zulässigkeit

(Art. 263 Abs. 1 AEUV und 277 AEUV; Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates Nr. 1095/2010, Art. 9 Abs. 5, und Nr. 236/2012, Art. 28)

2.        Organe der Europäischen Union – Ausübung der Zuständigkeiten – Übertragung von Befugnissen – Übertragung finanzieller Befugnisse auf die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde – Übertragungsverfügung außerhalb des Rahmens der in den Art. 290 AEUV und 291 AEUV vorgesehenen Regelung für die Übertragung von Befugnissen – Zulässigkeit

(Art. 263 AEUV, 265 AEUV, 267 AEUV, 277 AEUV, 290 AEUV und 291 AEUV; (Verordnungen des Europäischen Parlaments und des Rates Nrn. 1092/2010, 1095/2010 und 236/2012, Art. 28)

3.        Rechtsangleichung – Maßnahmen zur Verbesserung der Funktionsweise des Binnenmarkts im Finanzsektor – Regelung für Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps – Art. 28 der Verordnung Nr. 236/2012 – Befugnis eines Unionsorgans zum Erlass individueller Maßnahmen und Entscheidungen – Rechtsgrundlage – Art. 114 AEUV

(Art. 114 AEUV; Verordnung Nr. 236/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates, zweiter Erwägungsgrund sowie Art. 28)

1.        Eine Übertragung von Befugnissen kann sich sehr verschieden auswirken. Handelt es sich dabei um genau umgrenzte Ausführungsbefugnisse, so unterliegt deren Ausübung einer strengen Kontrolle im Hinblick auf die Beachtung objektiver Tatbestandsmerkmale, die von der übertragenden Behörde festgesetzt werden; handelt es sich dagegen um Befugnisse, die nach freiem Ermessen auszuüben sind und die einen weiten Ermessensspielraum voraussetzen, so ermöglichen sie, je nach der Art ihrer Ausübung, die Verwirklichung einer ausgesprochenen Wirtschaftspolitik. Die erste Art der Übertragung ist nicht geeignet, die Ausübung der übertragenen Befugnisse wesentlich zu beeinflussen, während eine Übertragung der zweiten Art eine tatsächliche Verlagerung der Verantwortung mit sich bringt; an die Stelle des Ermessens der übertragenden Behörde tritt dann nämlich das Ermessen derjenigen Stelle, der die Befugnisse übertragen worden sind.

Angesichts dieser Kriterien ist die Übertragung von Befugnissen auf die Europäische Wertpapier‑ und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) nach Art. 28 der Verordnung Nr. 236/2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps mit dem AEU-Vertrag vereinbar, soweit diese Befugnisse genau eingegrenzt sind und gerichtlich im Hinblick auf die von der übertragenden Behörde festgelegten Ziele überprüft werden können. Art. 28 verleiht der ESMA nämlich keine eigenständigen Zuständigkeiten, die über den rechtlichen Rahmen hinausgehen, der in der Verordnung Nr. 1095/2010, mit der die genannte Behörde geschaffen wurde, festgelegt wurde. Außerdem ist die Ausübung der Befugnisse nach Art. 28 der Verordnung Nr. 236/2012 an verschiedene Kriterien und Bedingungen geknüpft, die den Handlungsspielraum der ESMA begrenzen. Diese muss, bevor sie irgendeinen Beschluss fasst, eine ganze Reihe von Faktoren prüfen, die in Art. 28 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 236/2012 genannt sind, wobei diese Voraussetzungen kumulativ zu erfüllen sind. Im Übrigen sind die beiden Arten von Maßnahmen, die die ESMA gemäß Art. 28 Abs. 1 der Verordnung Nr. 236/2012 ergreifen kann, streng auf die in Art. 9 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1095/2010 genannten Maßnahmen beschränkt. Darüber hinaus ist nach Art. 28 Abs. 4 und 5 der Verordnung Nr. 236/2012 der Ermessensspielraum der ESMA sowohl durch die Pflicht beschränkt, die Europäische Wertpapier‑ und Marktaufsichtsbehörde zu konsultieren und gegebenenfalls andere zuständige Behörden über die von ihr vorgeschlagene Maßnahme zu unterrichten, als auch durch die Vorläufigkeit der zulässigen Maßnahmen, deren Festlegung auf der Grundlage der bewährten Überwachungspraktiken und unter Berücksichtigung ausreichender Gesichtspunkte erfolgt und die gegen eine Bedrohung ergriffen werden, die ein Eingreifen auf Unionsebene gebietet.

Da schließlich der durch den AEU-Vertrag, insbesondere Art. 263 Abs. 1 AEUV und Art. 277 AEUV, geschaffene institutionelle Rahmen es den Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union ausdrücklich erlaubt, Rechtsakte mit allgemeiner Geltung zu erlassen, können für eine Übertragung von Befugnissen auf eine Einrichtung wie die ESMA keine anderen als die vorstehend genannten Voraussetzungen gelten.

(vgl. Rn. 41, 42, 44, 45, 48-50, 53, 65, 66)

2.        Die Verträge enthalten zwar keine Vorschrift, die die Übertragung von Zuständigkeiten auf eine Einrichtung oder sonstige Stelle der Union vorsieht, aber mehrere Vorschriften des AEU-Vertrags gehen vom Bestehen einer solchen Möglichkeit aus. Nach Art. 263 AEUV unterliegen nämlich neben den Organen der Union auch die Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union der gerichtlichen Kontrolle durch den Gerichtshof. Nach Art. 265 AEUV finden die Bestimmungen über die Untätigkeitsklage auf sie Anwendung. Nach Art. 267 AEUV können die Gerichte eines Mitgliedstaats dem Gerichtshof Fragen nach der Gültigkeit und der Auslegung von Handlungen der Einrichtungen und sonstigen Stellen zur Vorabentscheidung vorlegen. Diese Handlungen können auch mit der Rechtswidrigkeitseinrede nach Art. 277 AEUV angegriffen werden. Diese Mechanismen einer gerichtlichen Kontrolle gelten für die vom Unionsgesetzgeber geschaffenen Einrichtungen und sonstigen Stellen, denen Befugnisse zum Erlass von für natürliche und für juristische Personen verbindlichen Rechtsakten auf spezifischen Gebieten eingeräumt wurden, z. B. für die Europäische Chemikalienagentur, die Europäische Arzneimittel-Agentur, das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle), das Gemeinschaftliche Sortenamt oder die Europäische Agentur für Flugsicherheit.

So hat Art. 28 der Verordnung Nr. 236/2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps der Europäischen Wertpapier‑ und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) bestimmte Entscheidungsbefugnisse auf einem Gebiet einräumt, das ein spezifisches technisches Fachwissen erfordert.

Diese Übertragung von Befugnissen entspricht zwar keinem der in den Art. 290 AEUV und 291 AEUV genannten Fälle, doch ist der rechtliche Rahmen von Art. 28 der Verordnung Nr. 236/2012 nicht nur durch diese Verordnung, sondern auch durch die Verordnung Nr. 1092/2010 über die Finanzaufsicht der Europäischen Union auf Makroebene und zur Errichtung eines Europäischen Ausschusses für Systemrisiken, die ESMA-Verordnung und durch die Verordnung Nr. 1095/2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde gekennzeichnet. Diese Verordnungen gehören zu einer Reihe von Regulierungsinstrumenten, die der Unionsgesetzgeber erlassen hat, damit die Union angesichts der Integration der internationalen Finanzmärkte und der Gefahr des Übergreifens von Finanzkrisen zur Förderung der Stabilität des internationalen Finanzsystems tätig werden kann.

Deshalb ist Art. 28 der Verordnung Nr. 236/2012 als Teil eines Regelwerks anzusehen, mit dem den zuständigen nationalen Behörden und der ESMA Eingriffsbefugnisse verliehen werden sollen, um schädlichen Entwicklungen, die die finanzielle Stabilität in der Union und das Marktvertrauen bedrohen, entgegenzutreten. Dazu müssen diese Stellen in der Lage sein, Leerverkäufe bestimmter Finanzwerte, Transaktionen mit Credit Default Swaps oder andere Transaktionen zeitweise zu beschränken und auf diese Weise einen ungeordneten Kursverfall dieser Instrumente zu verhindern. Diese Stellen besitzen ein umfangreiches Fachwissen und arbeiten zur Erreichung des Ziels der finanziellen Stabilität in der Union eng miteinander zusammen.

Demzufolge ist Art. 28 der Verordnung Nr. 236/2012 nicht dahin auszulegen, dass er die in den Art. 290 AEUV und 291 AEUV vorgesehene Regelung für die Übertragung von Befugnissen in Frage stellt.

(vgl. Rn. 79-86)

3.        Art. 28 der Verordnung Nr. 236/2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps, der der Europäischen Wertpapier‑ und Marktaufsichtsbehörde bestimmte Entscheidungsbefugnisse im Finanzsektor einräumt, erfüllt die beiden in Art. 114 AEUV genannten Voraussetzungen.

Erstens ist nämlich darauf hinzuweisen, dass die Verfasser des AEU-Vertrags dem Unionsgesetzgeber in Art. 114 AEUV mit dem Ausdruck „Maßnahmen zur Angleichung“ nach Maßgabe des allgemeinen Kontexts und der speziellen Umstände der zu harmonisierenden Materie einen Ermessensspielraum hinsichtlich der zur Erreichung des angestrebten Ergebnisses am besten geeigneten Angleichungstechnik, insbesondere in den Bereichen einräumen wollten, die durch komplexe technische Besonderheiten gekennzeichnet sind.

Außerdem kann der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Auswahl der Angleichungstechnik angesichts des ihm für Maßnahmen im Sinne von Art. 114 AEUV eingeräumten Ermessens Befugnisse auf eine Einrichtung oder sonstige Stelle der Union übertragen, die der Verwirklichung der angestrebten Harmonisierung dienen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die zu ergreifenden Maßnahmen ein spezifisches technisches Fachwissen und die Reaktionsfähigkeit einer solchen Stelle voraussetzen.

Im Übrigen ist es auf bestimmten Gebieten möglich, dass die Angleichung nur der allgemeinen Vorschriften nicht ausreicht, um die Einheit des Marktes zu gewährleisten. Daher ist der Begriff der „Maßnahmen zur Angleichung“ so auszulegen, dass er auch die Befugnis des Unionsgesetzgebers umfasst, Maßnahmen hinsichtlich eines bestimmten Produkts oder einer bestimmten Produktkategorie und gegebenenfalls auch Einzelmaßnahmen hinsichtlich dieser Produkte vorzuschreiben. Der Wortlaut des Art. 114 EG erlaubt insofern nicht den Schluss, dass die vom Unionsgesetzgeber auf der Grundlage dieser Vorschrift erlassenen Maßnahmen nur an die Mitgliedstaaten gerichtet sein dürften.

Der Unionsgesetzgeber wollte mit Art. 28 der Verordnung Nr. 236/2012 angesichts ernsthafter Bedrohungen für die ordnungsgemäße Funktionsweise und die Integrität der Finanzmärkte oder die Stabilität des Finanzsystems in der Union einen geeigneten Mechanismus schaffen, der die Möglichkeit bietet, als letztes Mittel und unter ganz bestimmten Voraussetzungen Maßnahmen zu erlassen, die in der gesamten Union anwendbar sind und die gegebenenfalls in Form von an bestimmte Teilnehmer der betreffenden Märkte gerichteten Beschlüssen ergehen können. Diese Vorschrift sieht tatsächlich eine Angleichung der Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Überwachung einer Reihe von Wertpapieren und, in bestimmten Fällen, die Kontrolle bestimmter Handelsgeschäfte mit diesen Wertpapieren vor, nämlich das Halten von Netto-Leerverkaufspositionen in einem Finanzinstrument oder einer bestimmten Art von Finanzinstrumenten.

Zweitens hat der Unionsgesetzgeber es hinsichtlich der in Art. 114 AEUV genannten Voraussetzung, wonach seine Harmonisierungsmaßnahmen die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben müssen, wie sich aus dem zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 236/2012 ergibt, es für zweckmäßig gehalten, einen gemeinsamen Regelungsrahmen für Vorschriften und Befugnisse im Zusammenhang mit Leerverkäufen und Credit Default Swaps zu schaffen und im Hinblick auf Ausnahmesituationen, in denen Maßnahmen ergriffen werden müssen, ein höheres Maß an Koordinierung und Kohärenz zwischen den Mitgliedstaaten sicherzustellen. Die Harmonisierung der Regeln für derartige Transaktionen soll also verhindern, dass für das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts Hindernisse entstehen und die Mitgliedstaaten weiterhin divergierende Maßnahmen ergreifen. Daraus folgt, dass die in Art. 28 der Verordnung Nr. 236/2012 vorgesehenen Befugnisse tatsächlich den Zweck haben, die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts im Finanzsektor zu verbessern.

(vgl. Rn. 102, 105-108, 112-114, 116, 117)