Language of document : ECLI:EU:C:2015:634

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

25. September 2015(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 2 Abs. 4 und 4 Nr. 1 – Vollstreckungsvoraussetzungen – Nationales Strafrecht, das die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls außer von der beiderseitigen Strafbarkeit davon abhängig macht, dass die strafbare Handlung nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht ist“

In der Rechtssache C‑463/15 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (Niederlande) mit Entscheidung vom 2. September 2015, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren

Openbaar Ministerie

gegen

A.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin K. Jürimäe, der Richter J. Malenovský und M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richterin A. Prechal,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2 Abs. 4 und 4 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

2        Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines vom Procureur des Konings bij de Rechtbank van eerste aanleg te Brussel (Staatsanwalt beim Gericht erster Instanz Brüssel, Belgien) gegen A. erlassenen Europäischen Haftbefehls in den Niederlanden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 5 bis 7 und 10 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lauten:

„(5)      Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

(6)      Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

(7)      Da das Ziel der Ersetzung des auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhenden multilateralen Auslieferungssystems von den Mitgliedstaaten durch einseitiges Vorgehen nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen besser auf Unionsebene zu erreichen ist, kann der Rat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nach Artikel 2 [EU] und Artikel 5 [EG] Maßnahmen erlassen. Entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nach dem letztgenannten Artikel geht der vorliegende Rahmenbeschluss nicht über das für die Erreichung des genannten Ziels erforderliche Maß hinaus.

(10)      Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 [EU] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 des genannten Vertrags mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.“

4        Art. 1 des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“

5        In Art. 2 („Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls“) des Rahmenbeschlusses heißt es:

„(1)      Ein Europäischer Haftbefehl kann bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt.

(2)      Bei den nachstehenden Straftaten erfolgt, wenn sie im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ausgestaltung in dessen Recht mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht sind, eine Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit:

(4)      Bei anderen Straftaten als denen des Absatzes 2 kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die Handlungen, derentwegen der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats darstellen, unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat.“

6        Art. 4 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann“) des Rahmenbeschlusses bestimmt in Nr. 1:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

1.      wenn in einem der in Artikel 2 Absatz 4 genannten Fälle die Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt; in Steuer-, Zoll- und Währungsangelegenheiten kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls jedoch nicht aus dem Grund abgelehnt werden, dass das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine gleichartigen Steuern vorschreibt oder keine gleichartigen Steuer-, Zoll- und Währungsbestimmungen enthält wie das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats;

…“

 Niederländisches Recht

7        Art. 7 Abs. 1 der Overleveringswet (Übergabegesetz) sieht vor:

„1.      Die Übergabe kann nur erfolgen für die Zwecke

a)      von strafrechtlichen Ermittlungen, die von Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats aufgrund der Vermutung eingeleitet wurden, dass die gesuchte Person nach Ansicht der ausstellenden Justizbehörde Folgendes begangen hat:

1.      eine nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats als solche eingestufte Straftat, die zugleich auf der Liste in Anhang I dieses Gesetzes aufgeführt ist und nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist, oder

2.      eine andere sowohl nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats als auch nach niederländischem Recht strafbare Handlung, die mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht ist;

b)      der Vollstreckung einer wegen einer Handlung im Sinne von Nr. 1 oder 2 verhängten Freiheitsstrafe von mindestens vier Monaten bei der gesuchten Person im Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

8        Die Staatsanwaltschaft bei der Rechtbank Amsterdam hat bei diesem Gericht die Vollstreckung eines am 6. November 2014 vom Procureur des Konings bij de Rechtbank van eerste aanleg te Brussel ausgestellten Europäischen Haftbefehls beantragt. Begehrt werden die Festnahme und Übergabe von A., der zur Zeit in den Niederlanden zur Vollstreckung einer von niederländischen Gerichten verhängten rechtskräftigen Freiheitsstrafe in Haft ist, zur Vollstreckung einer weiteren Freiheitsstrafe von fünf Jahren, zu der A. in Belgien verurteilt wurde.

9        In dem Europäischen Haftbefehl wird auf ein Urteil der 43. Strafkammer der Rechtbank van eerste aanleg te Brussel vom 7. Oktober 2014 Bezug genommen.

10      Die Handlungen, derentwegen A. verurteilt wurde, werden in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehl wie folgt zusammengefasst: A. zerbrach am 2. März 2013 in Brüssel ein Glas, setzte sich rittlings auf seine Ehefrau und begann mit der einen Hand, sie zu würgen, während er mit der anderen Hand in Höhe ihres Kopfes, Halses und linken Armes mit dem zerbrochenen Glas auf sie einschlug. Bei einer ärztlichen Untersuchung der Ehefrau wurden drei Verletzungen festgestellt, die durch einen spitzen und scharfen Gegenstand verursacht worden waren. Zuvor, in der Zeit vom 28. Februar 2013 bis zum 2. März 2013, hatte A. seine Ehefrau geschlagen.

11      Das vorlegende Gericht führt aus, dass die nach belgischem Strafrecht als „vorsätzliche Körperverletzungen der Ehefrau mit der Folge persönlicher Arbeitsunfähigkeit“ und „vorsätzliche Körperverletzungen der Ehefrau“ einzustufenden Handlungen nach niederländischem Recht jeweils mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht seien. Die dritte A. zur Last gelegte Handlung, das Führen einer verbotenen Waffe, werde nach niederländischem Recht dagegen nur mit einer Geldbuße der dritten Kategorie bestraft.

12      Das vorlegende Gericht hat angesichts von Art. 7 Abs. 1 der Overleveringswet, den es so versteht, dass die der gesuchten Person zur Last gelegten Handlungen in beiden betroffenen Mitgliedstaaten strafbar und – ebenfalls in beiden Mitgliedstaaten – im Höchstmaß mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwölf Monaten bedroht sein müssen, Zweifel hinsichtlich der Vollstreckbarkeit des in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls in Bezug auf die genannte dritte Handlung. Fraglich sei jedoch, ob eine auf einer solchen Auslegung beruhende Weigerung mit den Art. 2 Abs. 4 und 4 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Einklang stehe.

13      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Amsterdam beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Erlauben es die Art. 2 Abs. 4 und 4 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dem Vollstreckungsmitgliedstaat, diese Bestimmungen dergestalt in sein nationales Recht umzusetzen, dass er verlangt, dass die Handlung nach seinem Recht eine Straftat darstellt und dass sie nach seinem Recht mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht ist?

 Zum Eilverfahren

14      Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilverfahren zu unterwerfen.

15      Es hat seinen Antrag insbesondere damit begründet, dass die Haft, in der A. sich zur Vollstreckung der von den niederländischen Gerichten verhängten Strafe befinde, am 1. Januar 2016 ende. Ab dem 17. September 2015 könne die Vollstreckung dieser Strafe jedoch unter der Voraussetzung unterbrochen werden, dass A. gleichzeitig aus dem niederländischen Hoheitsgebiet ausgewiesen werde.

16      Nach der Sitzung des vorlegenden Gerichts vom 24. Juli 2015 hat es die Inhaftierung von A. mit Wirkung ab dem Zeitpunkt angeordnet, zu dem dessen Haft wegen anderer Straftaten endet. In der Sitzung vom 18. August 2015 hat die Staatsanwaltschaft mitgeteilt, dass sie diese Anordnung vollziehen werde, sofern zu dem Zeitpunkt, zu dem die Vollstreckung der von den niederländischen Gerichten verhängten Strafe ende, noch nicht endgültig über den Europäischen Haftbefehl entschieden worden sei.

17      Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts, das darauf hinweist, dass die in Art. 17 Abs. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 festgelegten Fristen für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls am 21. September 2015 endeten, hat eine umgehende Beantwortung der Vorlagefrage durch den Gerichtshof eine unmittelbare und entscheidende Auswirkung auf die Dauer der Strafhaft von A. in den Niederlanden. Schließlich habe A. selbst beantragt, möglichst bald den belgischen Behörden übergeben zu werden.

18      Dazu ist erstens darauf hinzuweisen, dass sich das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen auf die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 bezieht, der unter die Bestimmungen des den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betreffenden Titels V des Dritten Teils des AEU-Vertrags fällt. Es kommt daher für das Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.

19      Zweitens befindet sich A. derzeit in Haft, die jedoch ab dem 17. September 2015 unter der Voraussetzung unterbrochen werden kann, dass er aus dem niederländischen Hoheitsgebiet ausgewiesen wird. Konkret würde diese Ausweisung, dem Wunsch von A. entsprechend, durch seine Übergabe an die belgischen Behörden in Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erfolgen. Erginge bis zum 1. Januar 2016 keine Entscheidung über die Vollstreckung dieses Haftbefehls, bliebe A. grundsätzlich in Haft, bis diese Entscheidung getroffen wird.

20      Unter diesen Umständen hat die Vierte Kammer des Gerichtshofs am 10. September 2015 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

 Zur Vorlagefrage

21      Nach Art. 99 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage übereinstimmt, über die er bereits entschieden hat, wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

22      Diese Bestimmung ist im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens anzuwenden.

23      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 2 Abs. 4 und 4 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen sind, dass sie es nicht gestatten, die Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht nur davon abhängig zu machen, dass die Handlung, derentwegen dieser Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem Recht dieses Mitgliedstaats darstellt, sondern auch davon, dass sie nach dem Recht dieses Staates mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht ist.

24      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die vollstreckende Justizbehörde gemäß Art. 4 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern kann, wenn in einem der in Art. 2 Abs. 4 dieses Beschlusses genannten Fälle die Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt. In Art. 2 Abs. 4 wird klargestellt, dass sich diese Möglichkeit auf andere als die in Abs. 2 dieses Artikels genannten Straftaten bezieht, unabhängig von deren Tatbestandsmerkmalen oder deren Bezeichnung.

25      Diese Möglichkeit, die Vollstreckung zu verweigern, beschränkt sich somit auf Fälle, in denen ein Europäischer Haftbefehl eine Handlung betrifft, die nicht in der Liste in Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgeführt ist und nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt.

26      Da das Führen einer verbotenen Waffe, das eine der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Handlungen darstellt, nach den Angaben des vorlegenden Gerichts jedoch nach niederländischem Recht eine Straftat darstellt, ist die Weigerung, einen diese Handlung betreffenden Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, nicht durch den in den Art. 2 Abs. 4 und 4 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ausdrücklich genannten Fall gedeckt.

27      Überdies sehen weder die Art. 2 Abs. 4 und 4 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 noch eine andere Bestimmung dieses Beschlusses die Möglichkeit vor, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu verweigern, der eine Handlung betrifft, die im Vollstreckungsmitgliedstaat zwar eine Straftat darstellt, dort jedoch nicht mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht ist.

28      Diese Feststellung wird durch die Systematik des Rahmenbeschlusses 2002/584 und durch die mit ihm verfolgten Ziele untermauert.

29      Wie sich nämlich aus den ersten beiden Absätzen von Art. 2 des Rahmenbeschlusses ergibt, orientiert er sich, was die Straftaten betrifft, bei denen ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt werden kann, an dem im Ausstellungsmitgliedstaat geltenden Strafmaß (vgl. in diesem Sinne Urteil Advocaten voor de Wereld, C‑303/05, EU:C:2007:261, Rn. 52). Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Strafverfolgung oder die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, im Hinblick auf die ein solcher Haftbefehl ausgestellt wird, nach den Bestimmungen dieses Mitgliedstaats erfolgt.

30      Anders als bei der Auslieferungsregelung, die mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 abgeschafft und durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden ersetzt wurde, trägt dieser Beschluss nicht mehr dem im Vollstreckungsmitgliedstaat geltenden Strafmaß Rechnung. Dies entspricht dem mit dem Rahmenbeschluss verfolgten, in dessen fünftem Erwägungsgrund genannten vorrangigen Ziel, den freien Verkehr strafrechtlicher justizieller Entscheidungen innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu gewährleisten.

31      Aus alledem ergibt sich, dass die Art. 2 Abs. 4 und 4 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen sind, dass sie es nicht gestatten, die Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht nur davon abhängig zu machen, dass die Handlung, derentwegen dieser Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem Recht dieses Mitgliedstaats darstellt, sondern auch davon, dass sie nach dem Recht dieses Staates mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht ist.

 Kosten

32      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 2 Abs. 4 und 4 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie es nicht gestatten, die Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht nur davon abhängig zu machen, dass die Handlung, derentwegen dieser Haftbefehl ausgestellt wurde, eine Straftat nach dem Recht dieses Mitgliedstaats darstellt, sondern auch davon, dass sie nach dem Recht dieses Staates mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht ist.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.