SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MICHAL BOBEK
vom 25. April 2017(1)
Verbundene Rechtssachen C‑596/15 P und C‑597/15 P
Bionorica SE (C‑596/15 P),
Diapharm GmbH & Co. KG (C‑597/15 P)
gegen
Europäische Kommission
„Rechtsmittel – Gesundheit der Bevölkerung – Gesundheitsbezogene Angaben zu pflanzlichen Stoffen – Unterlassung der Kommission, die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit anzuweisen, gesundheitsbezogene Angaben zu pflanzlichen Stoffen zu bewerten“
I. Einführung
1. Gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006(2) (im Folgenden: Verordnung) hatte die Europäische Kommission die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) anzuhören und bis zum 31. Januar 2010 eine Liste gesundheitsbezogener Angaben zu verabschieden, die zur Verwendung für Lebensmittel zugelassen sind. Im September 2010 setzte die Kommission jedoch die Bewertung der EFSA betreffend Angaben zu Lebensmitteln mit pflanzlicher Basis (im Folgenden: pflanzliche Stoffe) aus. Diese Aussetzung gilt noch heute.
2. Die Bionorica SE (im Folgenden: Bionorica) und die Diapharm GmbH (im Folgenden: Diapharm) (im Folgenden zusammen: Rechtsmittelführerinnen) wenden sich im Rechtsmittelverfahren gegen die Beschlüsse des Gerichts in den Rechtssachen T‑619/14 und T‑620/14 (im Folgenden: angefochtene Beschlüsse)(3). Mit den angefochtenen Beschlüssen sind die von den Rechtsmittelführerinnen gegen die Kommission erhobenen Untätigkeitsklagen als unzulässig abgewiesen worden. Die Untätigkeit der Kommission soll darin bestanden haben, dass sie die EFSA nicht angewiesen habe, gesundheitsbezogene Angaben zu pflanzlichen Stoffen zum Zweck der Verabschiedung einer Liste gesundheitsbezogener Angaben, die für solche Lebensmittel verwendet werden dürfen (im Folgenden: Liste der Angaben zu pflanzlichen Stoffen), zu bewerten.
3. Das Gericht hat die Klagen für unzulässig erklärt und zur Begründung ausgeführt, die Kommission habe eine etwaige Untätigkeit dadurch beendet, dass sie auf die Aufforderung der Rechtsmittelführerinnen zum Tätigwerden reagiert und damit eine „Stellungnahme“ abgegeben habe. Außerdem hätten weder Bionorica noch Diapharm ein Rechtsschutzinteresse. Diapharm fehle es auch an der unmittelbaren Betroffenheit für eine solche Klage.
4. Die vorliegenden Rechtsmittel werfen eine Reihe wichtiger und komplexer Fragen hinsichtlich der Zulässigkeit auf. Zunächst hat der Gerichtshof eingehend die Bedeutung des Begriffs „Rechtsschutzinteresse“ zu prüfen und insbesondere klarzustellen, wie sich dieser von den Begriffen „anfechtbare Maßnahme“ und „unmittelbare Betroffenheit“ unterscheidet. Im Rahmen der Rechtsmittel ist der Begriff „unmittelbare Betroffenheit“ auch im Zusammenhang mit einer Untätigkeit und daher auf die zukünftige Situation anzuwenden, in der sich die Rechtsmittelführerinnen befänden, wenn die begehrte Maßnahme erlassen würde. Schließlich stellt sich im Zuge der Rechtsmittel die Frage nach der in der Zeit nach dem Vertrag von Lissabon weiterhin bestehenden Parallele zwischen den Zulässigkeitsvoraussetzungen für Nichtigkeits- und für Untätigkeitsklagen.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
1. Verordnung Nr. 1924/2006
5. Der Ausdruck „gesundheitsbezogene Angabe“ ist in Art. 2 Abs. 2 Nr. 5 der Verordnung Nr. 1924/2006 definiert als „jede Angabe, mit der erklärt, suggeriert oder auch nur mittelbar zum Ausdruck gebracht wird, dass ein Zusammenhang zwischen einer Lebensmittelkategorie, einem Lebensmittel oder einem seiner Bestandteile einerseits und der Gesundheit andererseits besteht“.
6. Nach Art. 13 übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission Listen von Angaben zusammen mit den notwendigen Bedingungen. Nach Anhörung der EFSA hatte die Kommission nach dem anwendbaren Regelungsverfahren bis zum 31. Januar 2010 eine Liste zulässiger Angaben sowie alle notwendigen Bedingungen zu verabschieden. Nach diesem Termin sind Änderungen der Liste gemäß den in weiteren Vorschriften der Verordnung geregelten Verfahren möglich.
7. Die Verwendung gesundheitsbezogener Angaben, die nicht nach Maßgabe der Verordnung zugelassen sind, ist gemäß Art. 10 verboten.
8. Art. 17 Abs. 5 bestimmt, dass gesundheitsbezogene Angaben, „die in den Listen nach den Artikeln 13 und 14 enthalten sind, … von jedem Lebensmittelunternehmer unter den für sie geltenden Bedingungen verwendet werden [können]“.
9. Art. 28 Abs. 5 und 6 sieht eine Übergangsregelung bis zur Verabschiedung der endgültigen Liste der Angaben vor:
„(5) Gesundheitsbezogene Angaben im Sinne des Artikels 13 Absatz 1 Buchstabe a dürfen ab Inkrafttreten dieser Verordnung bis zur Annahme der in Artikel 13 Absatz 3 genannten Liste unter der Verantwortung von Lebensmittelunternehmern verwendet werden, sofern die Angaben dieser Verordnung und den einschlägigen einzelstaatlichen Vorschriften entsprechen; dies gilt unbeschadet der Annahme von Schutzmaßnahmen gemäß Artikel 24.
(6) Für gesundheitsbezogene Angaben, die nicht unter Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe a und Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a fallen und unter Beachtung der nationalen Rechtsvorschriften vor dem Inkrafttreten dieser Verordnung verwendet wurden, gilt Folgendes:
a) Gesundheitsbezogene Angaben, die in einem Mitgliedstaat einer Bewertung unterzogen und zugelassen wurden, werden nach folgendem Verfahren zugelassen:
i) Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission spätestens bis zum 31. Januar 2008 die betreffenden Angaben sowie den Bericht mit der Bewertung der zur Absicherung der Angaben vorgelegten wissenschaftlichen Daten;
ii) nach Anhörung der Behörde fasst die Kommission nach dem in Artikel 25 Absatz 3 genannten Regelungsverfahren mit Kontrolle einen Beschluss über die gesundheitsbezogenen Angaben, die auf diese Weise zugelassen wurden, zur Änderung nicht wesentlicher Bestimmungen dieser Verordnung durch Ergänzung.
Gesundheitsbezogene Angaben, die nicht nach diesem Verfahren zugelassen wurden, dürfen bis zu sechs Monate nach Erlass des Beschlusses weiter verwendet werden.
b) Gesundheitsbezogene Angaben, die keiner Bewertung in einem Mitgliedstaat unterzogen und nicht zugelassen wurden, dürfen weiterhin verwendet werden, sofern vor dem 19. Januar 2008 ein Antrag nach dieser Verordnung gestellt wird; gesundheitsbezogene Angaben, die nicht nach diesem Verfahren zugelassen wurden, dürfen bis zu sechs Monate nach einer Entscheidung im Sinne des Artikels 17 Absatz 3 weiter verwendet werden.“
III. Sachverhalt und Verfahren
10. Laut der Sachverhaltsdarstellung in den angefochtenen Beschlüssen ist Bionorica ein Unternehmen, das pharmazeutische Erzeugnisse und Nahrungsergänzungsmittel herstellt und auf dem europäischen Markt vertreibt. Sie verwendet für die Kennzeichnung und die Bewerbung ihrer Produkte bestimmte gesundheitsbezogene Angaben. Diapharm bietet international eine Reihe von Dienstleistungen an, u. a. Beratung zur Verwendung gesundheitsbezogener Angaben über Lebensmittel, insbesondere Nahrungsergänzungsmittel(4).
11. Nach Art. 13 Abs. 3 der Verordnung verabschiedet die Kommission bis zum 31. Januar 2010 eine Liste zulässiger Angaben, die für Lebensmittel verwendet werden dürfen. Zu diesem Zweck hatte die Kommission zunächst die vorgeschlagenen Angaben bei den Mitgliedstaaten zu erfassen und die EFSA anzuweisen, diese Angaben zu bewerten. Die Kommission erteilte der EFSA eine entsprechende Weisung. Später stellte die Kommission jedoch im September 2010 die Arbeit an den pflanzliche Stoffe betreffenden Angaben zurück, verabschiedete in der Folgezeit jedoch eine Liste zugelassener Angaben zu anderen Lebensmitteln nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 432/2012(5).
12. Am 22. April 2014 wandten sich Bionorica und Diapharm schriftlich an die Kommission und forderten diese auf, die EFSA anzuweisen, die zurückgestellte Bewertung der gesundheitsbezogenen Angaben unverzüglich mit dem Ziel wiederaufzunehmen, die in Art. 13 Abs. 3 der Verordnung vorgesehene Liste zu verabschieden. Am 19. Juni 2014 antwortete die Kommission den Rechtsmittelführerinnen wie folgt (im Folgenden: Schreiben):
„Wie Sie wissen, hat die Kommission einen Reflexionsprozess über gesundheitsbezogene Angaben zu sogenannten ‚botanicals‘ (pflanzlichen Stoffen) eingeleitet, nachdem eine Reihe von Mitgliedstaaten und Interessengruppen Bedenken geäußert hatten im Hinblick auf die unterschiedliche Behandlung von Erzeugnissen, die solche Stoffe enthalten, in den Vorschriften über gesundheitsbezogene Angaben und denen über traditionelle pflanzliche Arzneimittel.
Die Kommission hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) ersucht, ihre wissenschaftliche Bewertung der gesundheitsbezogenen Angaben zu botanicals auszusetzen, bis die Ergebnisse des Reflexionsprozesses vorliegen. Der Kommission ist bewusst, wie wichtig diese komplizierte Angelegenheit sowohl für die Verbraucher als auch für die Wirtschaftsteilnehmer ist. Um die benötigte beste Vorgehensweise finden zu können, sollten der Kommission jedoch die Zeit und der Kontext zugestanden werden, die hierfür erforderlich sind.“
IV. Verfahren vor dem Gericht und die angefochtenen Beschlüsse
13. Am 19. August 2014 erhoben Bionorica und Diapharm beim Gericht jeweils Untätigkeitsklage (Rechtssachen T‑619/14 bzw. T‑620/14) gegen die Kommission.
14. Am 20. November 2014 erhob die Kommission die Einrede der Unzulässigkeit der Klagen, auf die die Rechtsmittelführerinnen am 19. Dezember 2014 eine Erwiderung einreichten.
15. Mit Beschlüssen vom 16. September 2015 wies das Gericht die Klagen als unzulässig ab.
16. Das Gericht entschied, dass das Schreiben eine die Untätigkeit beendende Stellungnahme darstelle.
17. Des Weiteren stellte das Gericht als zweiten Punkt fest, dass keine der beiden Rechtsmittelführerinnen ein Rechtsschutzinteresse habe. Im Rahmen dieser Feststellung wies es auf vier Aspekte hin.
18. Erstens finde bis zur Verabschiedung einer Liste über Angaben nach Art. 13 Abs. 3 der Verordnung die in Art. 28 Abs. 5 und 6 vorgesehene Übergangsregelung Anwendung. Dieser zufolge dürften Angaben verwendet werden, sofern die Verordnung und die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften beachtet würden(6). Infolgedessen könnten die Rechtsmittelführerinnen im Fall der Verabschiedung der Liste bestenfalls darauf hoffen, dass das Recht zur Verwendung der betreffenden Angaben fortbestehe. Die Lage könne sich bei Verabschiedung der Liste sogar verschlechtern, da die Angaben möglicherweise nicht zugelassen würden(7).
19. Zweitens schaffe die Nichtverabschiedung der Liste keineswegs ungleiche Wettbewerbsbedingungen. Die Übergangsregelung erlaube die fortgesetzte Verwendung der Angaben. Eine etwaige Ungleichheit aufgrund der Nichtverabschiedung der Liste könne sich nur auf die Interessen derjenigen Unternehmen negativ auswirken, deren Angaben bereits bewertet und zurückgewiesen worden seien. Die Rechtsmittelführerinnen könnten daher kein Rechtsschutzinteresse bezüglich der Verabschiedung der Liste geltend machen. Im Übrigen sei Diapharm gar kein Lebensmittelhersteller, der von den einschlägigen Angaben betroffen sei(8).
20. Drittens habe die Nichtverabschiedung nicht zu Rechtsunsicherheit geführt (die nach Ansicht der Rechtsmittelführerinnen ihr Rechtsschutzinteresse begründet), da klar sei, welche Vorschriften während der Übergangsregelung gelten würden. Außerdem habe die Kommission – ebenso wie bei der Verordnung Nr. 432/2012 – die Möglichkeit, sogar in der von ihr verabschiedeten endgültigen Liste weitere Übergangsbestimmungen festzulegen(9).
21. Viertens hätten weder Bionorica noch Diapharm nachgewiesen, dass sie durch die Untätigkeit der Kommission einen finanziellen Schaden erlitten hätten und inwiefern diesem Schaden durch die Verabschiedung der Liste der Angaben zu pflanzlichen Stoffen abgeholfen würde(10).
22. Außerdem entschied das Gericht, dass es Diapharm nicht nur an einem Rechtsschutzinteresse fehle, sondern auch an der unmittelbaren Betroffenheit, da sie Lebensmittel weder herstelle noch auf dem europäischen Markt vertreibe(11).
V. Verfahren vor dem Gerichtshof
23. Mit ihren Rechtsmitteln beantragen die Rechtsmittelführerinnen, die Beschlüsse des Gerichts in den Rechtssachen T‑619/14 und T‑620/14 aufzuheben und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
24. Bionorica stützt ihr Rechtsmittel auf zwei Gründe. Erstens sei dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen, indem es entschieden habe, dass die Kommission eine Stellungnahme abgegeben habe. Zweitens habe das Gericht rechtsfehlerhaft entschieden, dass Bionorica kein Rechtsschutzinteresse habe. Diapharm macht ebenfalls diese beiden Rechtsmittelgründe geltend und darüber hinaus einen dritten, nämlich dass das Gericht dadurch einen Fehler begangen habe, dass es festgestellt habe, Diapharm erfülle nicht das Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit(12).
25. Die Kommission weist dieses Vorbringen zurück. Sie habe Stellung genommen, und jedenfalls habe keine der Rechtsmittelführerinnen ein Rechtsschutzinteresse. Die Kommission macht außerdem geltend, dass Diapharm nicht unmittelbar betroffen sei. Schließlich bestreitet die Kommission jede Parallele zwischen Nichtigkeitsklagen und Untätigkeitsklagen im Hinblick auf „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“, die „keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV.
26. Die Rechtsmittelführerinnen und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht und in der mündlichen Verhandlung vom 19. Januar 2017 Ausführungen gemacht.
VI. Würdigung
A. Einführung
27. In beiden Rechtsmittelsachen hat das Gericht die Klagen für unzulässig erklärt, da a) die Kommission Stellung genommen habe und b) weder Bionorica noch Diapharm ein Rechtsschutzinteresse hätten. In Bezug auf Diapharm hat das Gericht außerdem entschieden, dass die Klage wegen fehlender unmittelbarer Betroffenheit unzulässig sei.
28. Aus den nachstehend dargelegten Gründen bin ich der Meinung, dass dem Gericht bei der Entscheidung über die ersten beiden Punkte – Vorliegen einer Stellungnahme und Fehlen eines Rechtsschutzinteresses – ein Rechtsfehler unterlaufen ist.
29. Dies muss meines Erachtens zur Aufhebung des Bionorica betreffenden Beschlusses des Gerichts führen. Ferner schlage ich dem Gerichtshof vor, über die Frage der Zulässigkeit der von Bionorica erhobenen Klage allgemein zu entscheiden und in dem Fall, dass er zu der Auffassung gelangt, die Klage sei zulässig, die Rechtssache zur Entscheidung in der Sache an das Gericht zurückzuverweisen.
30. Obwohl der Beschluss des Gerichts in Bezug auf Diapharm ebenfalls mit Rechtsfehlern behaftet ist, die in den ersten beiden von Diapharm angeführten Rechtsmittelgründen aufgezeigt sind, ist die von Diapharm erhobene Klage – wenn auch aus anderen Gründen – letztlich wegen des fehlenden Rechtsschutzinteresses als unzulässig zurückzuweisen, ohne dass es einer Prüfung des dritten Rechtsmittelgrundes betreffend die mangelnde unmittelbare Betroffenheit bedarf.
B. Erster Rechtsmittelgrund: Verletzung von Art. 265 AEUV
31. Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe zu Unrecht entschieden, dass das Schreiben eine Stellungnahme der Kommission darstelle.
32. Ich stimme dem zu.
33. Wie aus Nr. 12 oben ersichtlich, beschreibt der erste Absatz des Schreibens der Kommission einfach nur den Status quo. Dem ersten Satz des zweiten Absatzes lässt sich entnehmen, dass die Kommission die EFSA um Aussetzung ihrer Arbeit ersucht hat, bis die Ergebnisse des Reflexionsprozesses der Kommission vorliegen. Im zweiten Satz des zweiten Absatzes erkennt die Kommission die Kompliziertheit der Situation an. Im dritten Satz erklärt die Kommission einfach, dass sie mehr Zeit und Kontext benötige, um über die Vorgehensweise zu entscheiden.
34. In seiner Gesamtheit besagt der zweite Absatz, dass die Prüfung dieser komplizierten Frage andauere und dass die Kommission nicht in der Lage sei, sofort tätig zu werden. Mit anderen Worten, sie bittet die Rechtsmittelführerinnen zu warten. Die Kommission sagt sicherlich nicht: „Ich weigere mich, tätig zu werden.“
35. Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass die an ein Unternehmen gerichtete Bitte, sich zu gedulden oder zu warten, während die betreffende Einrichtung die Angelegenheit bearbeitet, keine Stellungnahme darstellt(13). Das Schreiben fällt genau in diese Kategorie von Antwort, mit der die Bitte geäußert wird zu warten. Es stellt daher keine Stellungnahme der Kommission dar.
36. Die Kommission trägt vor, angesichts des Kontexts sei offensichtlich gewesen, dass sie mit ihrer Stellungnahme das Ersuchen der Rechtsmittelführerinnen um Tätigwerden der Kommission abgelehnt habe.
37. Ich bin anderer Meinung. Das Schreiben ist bestenfalls zweideutig. Mehrdeutigkeiten bezüglich des Vorliegens einer Stellungnahme, die aufgrund der von der Kommission gewählten Formulierung bestehen, sollten zugunsten des Klägers ausgelegt werden. Vom Kläger kann nicht verlangt werden, den Inhalt einer Kommissionsmitteilung im Kontext zu erraten und sie de facto zu eigenen Ungunsten zu interpretieren. Gewiss wird die Klarheit einer Kommissionsmitteilung aufgrund der Art ihrer Aufgabe wahrscheinlich nie an das biblische Ideal „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein“(14) heranreichen. Sicherlich sollte sie sich aber in ihrem Schriftverkehr direkter und unmissverständlicher äußern, wenn sie denn eine „klare“ institutionelle Stellungnahme abgeben wollte.
38. Nach alledem bin ich der Meinung, dass der erste Rechtsmittelgrund der Rechtsmittelführerinnen durchgreift.
C. Zweiter Rechtsmittelgrund: Rechtsschutzinteresse
39. Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund machen die Rechtsmittelführerinnen geltend, das Gericht habe zu Unrecht entschieden, dass sie kein hinreichendes Klageinteresse hätten (Rechtsschutzinteresse). Insoweit wenden sie sich gegen die Schlussfolgerungen des Gerichts in Bezug auf a) die Vergleichbarkeit der Lage bei zugelassenen Angaben gegenüber der Lage bei Angaben, für die die Übergangsregelung gelte, b) das Fehlen eines Wettbewerbsnachteils und c) die Feststellung, dass keine Rechtsunsicherheit herrsche(15).
40. Darüber hinaus trägt Bionorica vor, das Gericht habe dadurch einen Fehler in tatsächlicher Hinsicht begangen, dass es behauptet habe, Bionorica sei eine Herstellerin von Nahrungsergänzungsmitteln. Dieser Fehler habe dazu beigetragen, dass das Gericht das Rechtsschutzinteresse von Bionorica verkannt habe(16).
41. Ich werde mich zunächst mit der von Bionorica gerügten tatsächlichen Ungenauigkeit befassen (1), dann allgemein die Rechtsprechung zum Rechtsschutzinteresse und den materiell-rechtlichen Voraussetzungen untersuchen (2) und diese Erwägungen schließlich auf die vorliegenden Rechtsmittel anwenden (3).
1) Gerügter Tatsachenfehler
42. Das Gericht allein ist zuständig für die Tatsachenfeststellung. Der Gerichtshof übt seine Kontrollbefugnis nur aus, soweit sich aus den Akten ergibt, dass die Feststellung des Gerichts eine erhebliche Ungenauigkeit aufweist oder dass das Gericht die Beweismittel verfälscht hat(17).
43. In seinem Beschluss in der Rechtssache T‑619/14 erklärt das Gericht, dass Bionorica ein Unternehmen sei, das pharmazeutische Erzeugnisse und Nahrungsergänzungsmittel herstelle und auf dem europäischen Markt vertreibe, und eine „Lebensmittelherstellerin“ sei(18). Aus den Akten des Gerichts geht jedoch klar hervor, dass es sich bei Bionorica um ein Unternehmen handelt, das pharmazeutische Erzeugnisse herstellt und vertreibt, nicht aber Nahrungsergänzungsmittel oder Lebensmittel im Allgemeinen. Dies hat Bionorica auch in ihren schriftlichen und mündlichen Ausführungen vor dem Gerichtshof bestätigt.
44. Insoweit liegt also eine eindeutige inhaltliche Ungenauigkeit im Beschluss des Gerichts in der Rechtssache T‑619/14 vor.
45. Ob dadurch jedoch das Ergebnis des Gerichts hinsichtlich des Rechtsschutzinteresses zweifelhaft wird, ist eine andere Frage. Wie die Kommission nämlich zutreffend ausführt, hätte Bionorica ihre Klagebefugnis in dieser Rechtssache wahrscheinlich leichter dartun können, wenn sie tatsächlich auf dem Markt der Nahrungsergänzungsmittel tätig gewesen wäre.
46. Bevor ich der Frage des Rechtsschutzinteresses in diesem konkreten Fall nachgehe, werde ich kurz die Grundzüge der Rechtsprechung zu diesem Thema ins Gedächtnis rufen.
2) Rechtsschutzinteresse
47. Ein Rechtsschutzinteresse ist eine Grundvoraussetzung jeder unmittelbaren Klage vor dem Gerichtshof(19). Durch diese Voraussetzung soll allgemein sichergestellt werden, dass der Gerichtshof nicht mit Klagen befasst wird, mit denen ein Rechtsgutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen begehrt wird(20). Der Erlass (oder die Nichtigerklärung) der Maßnahme muss dem Kläger einen Vorteil verschaffen(21). Außerdem muss es sich bei diesem „Vorteil“ um den eigenen Vorteil des Klägers handeln. Mit anderen Worten, der Kläger kann keinen Anspruch im Interesse Dritter oder im Allgemeininteresse (d. h. im Wege einer actio popularis) geltend machen(22).
48. Für das Vorliegen eines „Interesses“ ist somit Voraussetzung, dass der Kläger im Fall des Erfolgs seiner Klage irgendeinen Vorteil erlangt. Hat der Ausgang des Rechtsstreits tatsächlich keine oder negative Auswirkungen auf den Kläger, besteht kein Rechtsschutzinteresse(23).
49. Genügt für den Nachweis eines Rechtsschutzinteresses auch, dass der eigene Vorteil tatsächlicher Natur ist, oder muss es sich um einen rechtlichen Vorteil handeln (im Sinne positiver Folgen für die Rechte und Pflichten des Klägers)? Meines Erachtens sind beide Varianten einzeln oder auch zusammen hinreichend. Auf alle Fälle ist klar, dass eine der beiden Arten von Vorteil genügt. So kann etwa eine Verbesserung der Wettbewerbsstellung des Klägers, die sich aus einer Nichtigerklärung ergeben würde, ein Rechtsschutzinteresse begründen.
50. Angesichts der bisherigen Rechtsprechung wäre es dennoch sachdienlich, wenn der Gerichtshof diesen Grundsatz ausdrücklich bestätigen würde. Es sind nämlich einige Urteile ergangen, die auf den ersten Blick für den Nachweis eines Rechtsschutzinteresses Auswirkungen auf die Rechtsstellung des Klägers zu verlangen scheinen(24). In einigen Beschlüssen scheinen die Begriffe „Vorteil“ und „Rechtswirkungen“ sogar als alternative Formulierungen verwendet zu werden, um dieselbe Voraussetzung zum Ausdruck zu bringen(25).
51. Bei näherer Betrachtung dieser Urteile im Allgemeinen zeigt sich jedoch, dass der Gerichtshof die Erfordernisse des Vorliegens einer „anfechtbaren Maßnahme“ und eines „Rechtsschutzinteresses“ schlicht im selben Satz oder in derselben Randnummer anspricht(26). Selbstverständlich muss eine Maßnahme bindende Rechtswirkungen nach sich ziehen, wenn sie Gegenstand einer Nichtigkeits- oder Untätigkeitsklage sein soll(27). Infolgedessen muss das Ergebnis des Rechtsstreits geeignet sein, Rechtsfolgen in dem Sinne nach sich zu ziehen, dass die Maßnahme aus der Unionsrechtsordnung gestrichen oder in sie aufgenommen wird. Dies ist jedoch nicht mit Rechtsschutzinteresse gleichzusetzen(28).
52. Bestätigt wird diese Schlussfolgerung auch durch die Rechtsprechung, der zufolge Klagen dann zulässig sind, wenn feststeht, dass die Rechtsstellung des Klägers im Fall einer Entscheidung zu seinen Gunsten unberührt bleibt. Offenkundiges Beispiel ist etwa die Zulässigkeit von Nichtigkeitsklagen, die Wettbewerber gegen Kommissionsentscheidungen erheben, mit denen ein Unternehmenszusammenschluss genehmigt wird(29).
53. Aus der Rechtsprechung ergibt sich außerdem, dass das Interesse bestehend und gegenwärtig sein muss(30). Ein hypothetisches Interesse genügt nicht(31). Das Interesse muss bei Klageerhebung gegeben sein und bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung weiter vorliegen(32). Der Kläger muss, wenn ein von ihm geltend gemachtes Interesse eine zukünftige Rechtssituation betrifft, nachweisen, dass die Beeinträchtigung dieser Rechtssituation bereits feststeht(33).
54. Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass diese Präzedenzfälle nicht nahelegen, dass der Nachweis eines Interesses nur dann möglich ist, wenn alle relevanten zukünftigen Ereignisse feststehen. Insbesondere ist denkbar, dass eine erfolgreiche Klage dem Kläger in erster Linie durch Schaffung einer Chance oder Gelegenheit einen Vorteil verschafft. Das Bestehen der Chance ist gewiss, nicht jedoch das Endergebnis. Wie beim Roulette besteht eine geringe Chance auf einen hohen Gewinn, aber eine Gewinngarantie gibt es nicht.
55. Offensichtliche Beispiele hierfür finden sich im öffentlichen Beschaffungswesen. Ein Bewerber, der die Vergabe eines Auftrags an einen Wettbewerber anficht, hat keine Gewissheit, dass er im Fall einer erfolgreichen Anfechtung den Auftrag erhält. Häufig wird er aber die Chance zur Auftragsgewinnung und somit ein Interesse an der Nichtigerklärung der erfolgten Auftragsvergabe haben. In Fällen in denen aus irgendeinem Grund keine entsprechende Chance besteht, mag in der Tat kein Interesse gegeben sein(34).
56. Die Urteile des Gerichtshofs in den Rechtssachen Flaherty u. a./Kommission(35) und Gordon/Kommission(36) liefern weitere Beispiele für ein Interesse nach dem Motto „Vorteil in Form einer Chance“ oder „Möglichkeit eines Vorteils offenhalten“. In der Rechtssache Flaherty u. a./Kommission hatten die Rechtsmittelführer die Einräumung der Möglichkeit zur Erhöhung der Kapazität ihrer Fischereiflotte beantragt. Die Kommission hatte dem entgegengehalten, dass die erste Rechtsmittelführergruppe kein Rechtsschutzinteresse habe, weil sie – im Gegensatz zu der zweiten Gruppe – noch nicht mit dem Bau der Schiffe begonnen habe. Der Gerichtshof hat entschieden, dass beide Gruppen über ein Rechtsschutzinteresse verfügten, wenngleich das Interesse der zweiten Gruppe dringender sei(37). In der Rechtssache Gordon u. a./Kommission hatte der Rechtsmittelführer seine Beurteilung der beruflichen Entwicklung angefochten. Obwohl er sich wegen dauerhafter voller Dienstunfähigkeit im Ruhestand befand, bestand noch die Möglichkeit der Wiedereinstellung, so dass er ein Interesse an der Anfechtung der Beurteilung hatte(38).
57. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass ein Rechtsschutzinteresse besteht, wenn der Erlass der streitigen Maßnahme dem Kläger einen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil verschafft und es sich dabei um den eigenen Vorteil des Klägers handelt. In der Regel muss dieser Vorteil bestehen und gegenwärtig sein oder es muss zumindest die klare Chance oder Gelegenheit der Vorteilserlangung gegeben sein. Demgegenüber würde ein unabhängig vom künftigen Verlauf der Ereignisse postulierter Ausschluss des Rechtsschutzinteresses mit der Begründung, der Vorteil sei nur „tatsächlicher Natur“ oder es bestehe lediglich die „Chance eines Vorteils“, der genannten Rechtsprechung des Gerichtshofs schlicht nicht Rechnung tragen.
3) Anwendung auf den vorliegenden Fall
58. Unter Anwendung des oben skizzierten Begriffs „Rechtsschutzinteresse“ im Sinne der Rechtsprechung werde ich nachstehend darlegen, weshalb Bionorica meines Erachtens tatsächlich über ein Rechtsschutzinteresse verfügt. Insofern ist der Beschluss des Gerichts in der Rechtssache T‑619/14 mit einem Rechtsfehler behaftet. Bei der in einem vorgelagerten Bereich tätigen Diapharm hingegen liegt kein Rechtsschutzinteresse vor, so dass der Beschluss des Gerichts in der Rechtssache T‑620/14 Bestand haben sollte.
59. Diese Frage umfasst verschiedene Aspekte, die es eingehend zu erörtern gilt. Ein allgemeiner Vergleich der in Art. 28 der Verordnung vorgesehenen Übergangsregelung mit der dauerhaften Lösung (nämlich Verabschiedung der Liste der Angaben zu pflanzlichen Stoffen) ist das Schlüsselelement der Begründung des Gerichts. Ich werde daher zunächst prüfen, welcher „Vorteil“ darin liegt, dass nicht mehr die Übergangsregelung, sondern die „dauerhafte“ Regelung – nämlich Verabschiedung der Liste der Angaben zu pflanzlichen Stoffen – Anwendung findet (i). Sodann befasse ich mich mit der Frage der Rechtssicherheit zur Begründung eines Rechtsschutzinteresses (ii). Schließlich werde ich die jeweilige konkrete Lage von Bionorica (iii) und von Diapharm (iv) untersuchen.
i) Vorteil der dauerhaften Regelung im Vergleich zur Übergangsregelung
60. Das Gericht stellt in Rn. 39 der streitigen Beschlüsse fest, dass die Rechtsmittelführerinnen aus der Annahme der Liste der Angaben zu pflanzlichen Stoffen keinerlei Vorteil ziehen könnten. Das Gericht begründet dies im Wesentlichen damit, dass bis zur Verabschiedung einer Liste die Übergangsregelung gelte. Die Lage in Bezug auf bestimmte Angaben sei nach der Übergangsregelung de facto genauso günstig wie im Fall der Zulassung der Angaben. Im Fall der Nichtzulassung der Angaben sei die Lage gemäß der Übergangsregelung sogar vorteilhafter.
61. Ich bin anderer Meinung.
62. Rechtlich gesehen sind die Übergangsregelung und die Zulassung nicht gleichwertig. Wie die Rechtsmittelführerinnen hervorheben, ist die Lage bei Anwendung der Übergangsregelung objektiv ungünstiger als im Fall einer Zulassung, vor allem weil die fortgesetzte Verwendung der Angaben im Rahmen der Übergangsregelung nur unter den im nationalen Recht festgelegten Bedingungen zulässig ist(39) und somit 28 gegebenenfalls unterschiedlichen Regelungen unterliegt. Für Angaben, die nach den Unionsvorschriften ausdrücklich zugelassen sind, gilt dies nicht(40). In diesem Sinne ergibt sich grundsätzlich ein deutlicher Vorteil bei einer Zulassung im Vergleich zu der Übergangsregelung(41).
63. Nach Ansicht des Gerichts lässt sich vertreten, dass die Übergangsregelung günstiger als die Zurückweisung der Angaben wirke. Meiner Meinung nach genügt die Möglichkeit einer Zurückweisung für sich genommen jedoch nicht, um den Rechtsmittelführerinnen das Rechtsschutzinteresse abzusprechen.
64. Erstens verweise ich insoweit auf das oben genannte Beispiel aus dem Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens. In solchen Fällen begehrt der Kläger nicht die Garantie einer Vorteilserlangung, sondern lediglich die Chance darauf, einen Vorteil zu erlangen. Ein solcher potenzieller Vorteil besteht auch im vorliegenden Fall(42).
65. Zweitens ist vielleicht noch entscheidender, dass der vorliegende Fall geringfügig anders gelagert ist. Bei einem öffentlichen Ausschreibungsverfahren kommt vorderhand nur entweder ein positives Ergebnis (Entscheidung wird für nichtig erklärt, der Bewerber erhält anschließend den Zuschlag) oder ein neutrales Ergebnis (Entscheidung wird für nichtig erklärt, der Bewerber erhält wieder nicht den Zuschlag) in Frage. Im vorliegenden Fall kommt prima facie nur entweder ein positives Ergebnis (Verabschiedung der Liste, Zulassung der Angaben) oder ein negatives (Verabschiedung der Liste, Zurückweisung der Angaben) in Frage. Bei beiden Varianten begründet jedoch die eindeutige Chance der Vorteilserlangung das Interesse.
66. Drittens stellt meines Erachtens die Sichtweise, dass die „Zurückweisung etwas Negatives ist“, auch eine zu starke Vereinfachung dar. Auch die Zurückweisung von Angaben kann deutliche Vorteile mit sich bringen. Zum Beispiel kann sie, wie Bionorica geltend macht, zu erhöhter Rechtssicherheit für den Wirtschaftsteilnehmer führen – bestimmte gesundheitsbezogene Angaben werden gegebenenfalls nicht zugelassen, was aber zur Folge hat, dass dieser Wirtschaftsteilnehmer seine Geschäftsstrategie an die künftigen Verhältnisse anpassen kann. Oder – vielleicht eher zynisch gesprochen – eine Zurückweisung kann Wettbewerbern, die diese Angaben verwenden wollen, das Leben erschweren. In allen diesen Fällen gibt es einen tatsächlichen, eigenen Vorteil des Wirtschaftsteilnehmers.
67. Ganz grundsätzlich führt der Ansatz des Gerichts meines Erachtens zu einigen ernsten Problemen, wenn man ihn logisch vollständig zu Ende denkt. Bei Verfolgung dieses Ansatzes genügt die Möglichkeit, dass Angaben zurückgewiesen werden und der Kläger dadurch in eine potenziell schlechtere Lage gerät als bei der Übergangsregelung, um dem Kläger das Rechtsschutzinteresse abzusprechen. Meiner Meinung nach hätte bei der Verfolgung eines solchen Ansatzes der Kläger nur dann ein Rechtsschutzinteresse an der Erhebung einer Untätigkeitsklage, wenn das ungünstigste mögliche Ergebnis der Klage besser als der Status quo wäre.
68. Ich halte diese Konsequenz auf mehreren Ebenen für fragwürdig. Zwei praktische Auswirkungen sind besonders bedenklich.
69. Erstens wäre in der Praxis nicht nur Bionorica, sondern überhaupt kein Wirtschaftsteilnehmer in der Lage, zu beweisen, dass er nach Verabschiedung der endgültigen Liste stets in einer vorteilhafteren Lage wäre. Führt man diesen Gedankengang logisch zu Ende, ergibt sich, dass kein Wirtschaftsteilnehmer jemals eine Untätigkeitsklage erheben könnte.
70. Zweitens würde ein solcher Ansatz der Kommission vielfach erlauben, den Erlass endgültiger Maßnahmen auf unbestimmte Zeit aufzuschieben, wenn ein gewisser Ermessensspielraum bezüglich des Ergebnisses besteht(43). Wie die Rechtsmittelführerinnen in ihrer ursprünglichen Klage vor dem Gericht hervorgehoben haben, würde dadurch der Kläger im Fall einer Untätigkeit beeinträchtigt, da er nicht in der Lage wäre, in irgendeiner Form Klage zu erheben(44).
71. Ich erachte dies außerdem als eine übermäßig enge Auslegung des Begriffs „Rechtsschutzinteresse“, bei dem es sich vor allem um ein Instrument handelt, um mutwillige oder missbräuchliche oder im Allgemeininteresse erhobene Klagen zu verhindern. Auf unterster Ebene bedeutet Rechtsschutzinteresse, dass man Beteiligter ist. Man schickt sein Pferd ins Rennen, und je nach Ausgang der Sache hat man etwas zu gewinnen oder zu verlieren. Es liegt auf der Hand, weshalb die Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt, dass die Klage geeignet sein muss, dem Kläger einen Vorteil zu verschaffen. Wenn das Ergebnis nur negativ ausfallen kann, besteht kein Rechtsschutzinteresse.
72. Allerdings darf das Erfordernis eines Vorteils auch nicht auf den Kopf gestellt werden, indem zur Bedingung gemacht wird, dass bei jedem denkbaren Ergebnis ein Vorteil entsteht. Ein solcher Ansatz kann nur zu einer Schwächung des Instituts der Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV führen.
73. Schließlich ist festzustellen, dass es kaum Rechtsprechung zur Untätigkeit und noch viel weniger zur Unterlassung von Vorbereitungshandlungen gibt(45). Meines Wissens liegt kein Urteil des Gerichtshofs vor, das sich eingehend mit dem Rechtsschutzinteresse im Kontext von Untätigkeitsklagen befasst. Es darf zu Recht die Frage gestellt werden, ob sich das „Rechtsschutzinteresse“ auf die endgültige regulative Maßnahme (hier die Liste der Angaben zu pflanzlichen Stoffen) oder auf die Vorbereitungsstadien (hier Anweisung an die EFSA, die Angaben zu bewerten) bezieht(46).
74. Die im vorliegenden Abschnitt dargestellte Begründung befasst sich mit dem Interesse am Erlass der endgültigen Maßnahme. Anerkanntermaßen könnte sich die endgültige Liste im vorliegenden Fall vorteilhaft (Zulassung) oder auch nachteilig (Zurückweisung) auswirken(47).
75. Im Fall von Untätigkeitsklagen, mit denen die Vornahme von Vorbereitungshandlungen beantragt wird und bei denen sich die endgültige Maßnahme positiv oder negativ auswirken kann, ist offenkundig eine Vorbereitungshandlung erforderlich, damit überhaupt eine Chance für den Erlass einer endgültigen vorteilhaften Maßnahme gegeben ist. So gesehen besteht das unmittelbare „Rechtsschutzinteresse“ in solchen Fällen darin, den Rechtsetzungsprozess voranzutreiben. Eine alternative und meiner Meinung nach ebenso berechtigte Sichtweise wäre daher, die Frage des Rechtsschutzinteresses im Kontext von Klagen wegen Unterlassung einer Vorbereitungshandlung zu prüfen. Diese Vorgehensweise stünde auch ohne Weiteres im Einklang mit der Begründung, die der Gerichtshof in den wenigen vorliegenden Entscheidungen in Untätigkeit betreffenden Rechtssachen wie der Rechtssache Pioneer Hi-Bred International/Kommission angeführt hat, in denen das Ergebnis des Entscheidungsprozesses ungewiss war, das Gericht aber dennoch entschieden hatte, dass eine Klagebefugnis für eine Klage auf Vornahme einer Vorbereitungshandlung und damit das Vorantreiben der Sache bestehe(48).
ii) Rechtssicherheit
76. Die Rechtsmittelführerinnen haben vor dem Gericht und dem Gerichtshof wiederholt vorgetragen, die Verabschiedung der Liste der Angaben zu pflanzlichen Stoffen führe zu erhöhter Rechtssicherheit. In diesem Zusammenhang verweisen sie z. B. auf die Vielfalt der verschiedenen nationalen Ansätze und auf kursorische Prozesse bei den nationalen Gerichten mit ungewissem Ausgang, was im Wesentlichen darauf hinauslaufe, den Wirtschaftsteilnehmern die Verwendung von Angaben zu erschweren.
77. Meiner Ansicht nach kann eine allgemeine Berufung auf die vorteilhaften Auswirkungen auf die Rechtssicherheit allein noch keine tragfähige Grundlage für ein Rechtsschutzinteresse bilden. Wie oben in Nr. 47 dargelegt, muss es sich um ein eigenes Rechtsschutzinteresse handeln. Damit ist grundsätzlich ein Rechtsschutzinteresse ausgeschlossen, das auf allgemeine Bedenken hinsichtlich des Vorrangs des Rechts, auf hypothetische Rechtsstreitigkeiten, akademischen Eifer oder schlichte Neugier gestützt wird.
78. Allerdings bestehen offenkundige Unterschiede zwischen solchen allgemeinen Bedenken und Sachverhalten, bei denen die langfristige, zeitlich unbegrenzte Anwendung einer Übergangsregelung Rechtsunsicherheit schafft, die sich auf die eigene Wettbewerbsstellung und die eigenen Geschäfts- und Investitionsstrategien einer Partei auswirken. Solche Fälle lassen sich nicht einfach als eine Form der Popularklage abtun. Bei ihnen können eigene Interessen berührt sein. Ob solche Interessen im vorliegenden Fall einem Rechtsschutzinteresse gleichkommen, wird in den unmittelbar anschließenden Abschnitten behandelt, die sich nacheinander mit jeder Rechtsmittelführerin einzeln befassen.
iii) Rechtssache Bionorica (C‑596/15 P)
79. Bionorica stellt pharmazeutische Erzeugnisse her und vertreibt diese in der Union. Wie oben in Nr. 43 ausgeführt, ist Bionorica – entgegen der Darstellung im angefochtenen Beschluss – derzeit nicht auf dem Nahrungsergänzungsmittelmarkt in der Union tätig. Im Rahmen dieser Fallkonstellation beträfe das Interesse von Bionorica somit ihren potenziellen Eintritt in den Markt der pflanzlichen Nahrungsergänzungsmittel, die mit gesundheitsbezogenen Angaben versehen sind.
80. Bionorica ist jedoch auch auf dem benachbarten Markt der pflanzlichen Arzneimittel tätig, die ihren Angaben zufolge im Wettbewerb zu Nahrungsergänzungsmitteln stehen. Insbesondere führt Bionorica in ihrer Klage vor dem Gericht eine Reihe von pharmazeutischen Erzeugnissen auf, die von ihr vertrieben werden und Wirkstoffe enthalten, a) die auch in Nahrungsergänzungsmitteln verwendet werden und b) bei denen es sich um dieselben Wirkstoffe handelt, für die die Zulassung gesundheitsbezogener Angaben nach Maßgabe der Verordnung beantragt wurde.
81. Im Wesentlichen macht Bionorica geltend, dass sie ungeachtet des Ergebnisses des Regelungsverfahrens – Zulassung oder Zurückweisung der Angaben – einen Vorteil erlangen werde.
82. Bionorica bringt vor, dass sie im Fall der Zulassung in der Lage wäre, in den Markt der Nahrungsergänzungsmittel einzutreten, die die betreffenden Wirkstoffe enthielten und mit zugehörigen zugelassenen Angaben versehen seien. Dabei würde sie Erzeugnisse vertreiben, die in unmittelbarem Wettbewerb zu pharmazeutischen Erzeugnissen stünden, die sie derzeit verkaufe, aber unter Ersparnis eines Großteils der damit verbundenen Kosten z. B. der klinischen Versuche und der Pharmakovigilanz. Würden hingegen die Angaben zurückgewiesen, herrsche für sie insoweit wenigstens Rechtssicherheit. Sie könne sich dann darauf einstellen. Außerdem lässt sich den Ausführungen von Bionorica vollkommen eindeutig entnehmen, dass sie bei Zurückweisung der Angaben auch daraus einen Vorteil ziehen würde, dass ihre derzeitigen Wettbewerber, die Nahrungsergänzungsmittel vertrieben, ihre Erzeugnisse nicht mehr unter Verwendung dieser Angaben bewerben dürften.
83. Das Gericht konzentriert sich bei seiner Feststellung, dass Bionorica kein Rechtsschutzinteresse habe, auf die allgemeine These, dass die Übergangsregelung grundsätzlich mindestens genauso permissiv wie eine Liste zugelassener Angaben sei. Infolgedessen könne aus der Verabschiedung einer Liste der Angaben zu pflanzlichen Stoffen weder Bionorica noch jemand anders(49) einen Vorteil ziehen.
84. Meiner Meinung nach ist dieser Aspekt der vom Gericht angeführten Begründung fehlerhaft. In Bezug auf die Auswirkungen auf den Wettbewerb weist das Gericht darauf hin, dass Wirtschaftsteilnehmer, deren Antrag auf Zulassung von Angaben zurückgewiesen werde und die die Angaben nicht verwenden dürften, einen Nachteil erlitten. Wirtschaftsteilnehmer, deren Antrag zurückgestellt werde und die die Angaben weiterhin im Rahmen der Übergangsregelung verwenden dürften, würden hingegen keinen Nachteil erleiden. Aber auch insoweit stützt sich die Begründung wieder auf einen verfehlten Vergleich der jeweiligen Vor- und Nachteile der Übergangsregelung und der dauerhaften Regelung.
85. Aus den vorgenannten Gründen bin ich der Auffassung, dass der Begriff des Rechtsschutzinteresses dahin zu verstehen ist, dass er Sachverhalte umfasst, bei denen der Kläger selbst aus der Nichtigerklärung oder dem Erlass der betreffenden Maßnahme einen tatsächlichen oder rechtlichen Vorteil ziehen wird.
86. Meines Erachtens hat Bionorica – anders als das Gericht dies entschieden hat – genügend Faktoren angeführt, um einen eigenen Vorteil und ein Rechtsschutzinteresse nachzuweisen.
87. Erstens macht Bionorica geltend, dass ihre pharmazeutischen Erzeugnisse zu Nahrungsergänzungsmitteln im Wettbewerb stünden, die zum Teil dieselben Wirkstoffe enthielten wie ihre eigenen Erzeugnisse, und dass die Bewertung der Angaben zu diesen Stoffen zurückgestellt worden sei. Dieses Wettbewerbsverhältnis wird nicht bestritten(50).
88. Zweitens trägt Bionorica vor, dass sie angesichts ihrer Präsenz auf dem Markt der solche Stoffe enthaltenden Pharmazeutika bereitstehe, in den Nahrungsergänzungsmittelmarkt einzutreten, falls die betreffenden Angaben zugelassen würden. Dieser potenzielle Markteintritt ist unstreitig(51).
89. Drittens hat Bionorica nachgewiesen, dass die Übergangsregelung geringere Gewissheit schafft als die dauerhafte Regelung – die relative Ungewissheit behindere ihren eigenen Markteintritt. Mit anderen Worten: Die mangelnde Rechtssicherheit wirke sich auf ihre eigenen Geschäfts- und Investitionsentscheidungen aus.
90. Meines Erachtens sind diese Faktoren in ihrer Gesamtheit – insbesondere die Präsenz von Bionorica auf den benachbarten Märkten von Erzeugnissen mit identischen Stoffen – Nachweis dafür, dass Bionorica einen eigenen Vorteil ziehen wird und daher ein Rechtsschutzinteresse hat. Dieses Ergebnis wird auch nicht durch die Tatsachenfeststellung des Gerichts in Zweifel gezogen, wonach Bionorica keinen finanziellen Schaden nachgewiesen habe. Die Feststellung des Vorliegens eines solchen Schadens würde zwar die Feststellung eines Interesses stützen, gehört jedoch eindeutig nicht zu den Voraussetzungen(52).
91. Dem Gericht ist somit mit der Schlussfolgerung, dass Bionorica kein Rechtsschutzinteresse habe, ein Rechtsfehler unterlaufen. Der von Bionorica angeführte zweite Rechtsmittelgrund greift durch.
iv) Rechtssache Diapharm (C‑597/15 P)
92. Die Tätigkeit von Diapharm umfasst u. a. die Beratung von Unternehmen zu gesundheitsbezogenen Angaben über Lebensmittel, insbesondere Nahrungsergänzungsmittel. Sie ist selbst nicht auf dem Lebensmittelmarkt oder benachbarten Märkten tätig. Sie ist vielmehr im vorgelagerten Bereich präsent.
93. Diapharm macht im Wesentlichen geltend, dass sich die Unterlassung der Kommission, die Liste der Angaben zu pflanzlichen Stoffen zu verabschieden, dadurch negativ auf sie ausgewirkt habe, dass die Nachfrage nach ihren Dienstleistungen zurückgegangen sei, was zu Einnahmeneinbußen geführt habe. In dieser Hinsicht verliere der Markt der pflanzlichen Arzneimittel aufgrund der erhöhten Rechtsunsicherheit bei der Verwendung gesundheitsbezogener Angaben an Attraktivität. Der Eintritt in diesen Markt sei nämlich kostenaufwendig, und Unternehmen hätten die Möglichkeit, in den Nahrungsergänzungsmittelmarkt einzutreten und die Vorteile der Übergangsregelung in Anspruch zu nehmen, um Angaben kostengünstiger zu verwenden und auf diese Weise die mit dem Inverkehrbringen von Arzneimitteln verbundenen Kosten zu vermeiden.
94. Des Weiteren trug Diapharm beim Gericht vor, sie habe intensiv an einem Verfahren unter Federführung eines Wirtschaftsverbands mitgewirkt, das zur Vorlage einer Liste der zur Zulassung vorgeschlagenen gesundheitsbezogenen Angaben bei den deutschen Behörden geführt habe, die anschließend der Kommission zur Zulassung nach Maßgabe der Verordnung übermittelt worden sei. In diesem Zusammenhang fügte Diapharm ihrer beim Gericht erhobenen Klage eine Liste von Stoffen bei, für die sie ihrer Behauptung nach dem Wirtschaftsverband gesundheitsbezogene Angaben vorgeschlagen habe, die dann über die deutschen Behörden an die Kommission weitergeleitet worden seien.
95. Das Gericht führt für seine Entscheidung, dass Diapharm kein Rechtsschutzinteresse habe, eine Begründung an, die mit der in Bezug auf Bionorica gegebenen nahezu identisch ist. Diese Begründung ist meiner Ansicht nach aus denselben Gründen wie den oben unter Punkt i) genannten fehlerhaft.
96. Dennoch stimme ich im Endergebnis – wenn auch aus einem anderen Grund – mit der Entscheidung des Gerichts überein, dass Diapharm nicht genügend Faktoren für den Nachweis eines Rechtsschutzinteresses im vorliegenden Fall aufgezeigt hat. Das Interesse von Diapharm ist einfach zu entfernt, so dass die Voraussetzung des Vorliegens eines eigenen Vorteils des Klägers nicht erfüllt ist.
97. „Rechtsschutzinteresse“ verlangt einen eigenen Vorteil. Es trifft zu, dass Diapharm intensiv an dem Verfahren mitwirkte, das zur Vorlage der Liste vorgeschlagener Angaben bei der Kommission führte. Hierbei handelt es sich meines Erachtens um einen bedeutsamen Faktor, der allerdings nicht für den Nachweis eines eigenen Interesses im Sinne eines Vorteils, den Diapharm selbst – im Fall der Verabschiedung der Liste der Angaben zu pflanzlichen Stoffen – ziehen würde, geeignet ist. Ungeachtet des Grades ihrer Mitwirkung war Diapharm lediglich indirekt an der Übermittlung der Liste der Angaben an die deutschen Behörden beteiligt. Weder wird Diapharm die betreffenden Angaben verwenden, noch tritt sie in Wettbewerb mit die Angaben nutzenden Wirtschaftsteilnehmern. Das Vorbringen von Diapharm bezüglich der erhöhten Rechtssicherheit, von der grundsätzlich in erster Linie Unternehmen profitierten, die auf den betreffenden oder im Wettbewerb stehenden Märkten tätig seien, ist ebenfalls nicht stichhaltig genug und zu indirekt, um an diesem Ergebnis etwas zu ändern.
98. Im Rahmen dieser Schlussfolgerung weise ich auf die Feststellung des Gerichts hin, Diapharm habe nicht genügend Beweismittel für das Vorliegen eines durch die Untätigkeit der Kommission verursachten Schadens beigebracht(53). Diese Tatsachenfeststellung, zu deren Kontrolle der Gerichtshof nicht befugt ist, ist meiner Ansicht nach deshalb bedeutsam, weil Diapharm in ihrem Vortrag so entscheidend auf einen finanziellen Schaden in Form von Einnahmeneinbußen abstellt. Ich betone, dass Diapharm nicht zwingend einen finanziellen Schaden nachweisen musste, um einen aus dem Erlass der Maßnahme erwachsenden tatsächlichen Vorteil und damit ein Rechtsschutzinteresse darzutun. Im vorliegenden Fall hätte ihr dies aber möglicherweise den Nachweis für ein Rechtsschutzinteresse erleichtern können.
99. Anstelle einer Schlussfolgerung sei an dieser Stelle auf einen eher praktischen Umstand hingewiesen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs muss der Kläger für sein Rechtsschutzinteresse den Nachweis erbringen(54). Insoweit sei daran erinnert, dass man den Umfang der einschlägigen Beweise, deren Beibringung aus eigener Initiative vom Kläger verlangt wird, unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität und Verhältnismäßigkeit beurteilen muss. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung erschöpfende Nachweise für die geschäftlichen Auswirkungen etwa anhand langatmiger Wirtschafts- und Finanzberichte zu verlangen, ist deshalb meines Erachtens aus Sicht des Klägers (insbesondere aufgrund des Kostenaufwands und der erlaubten Anzahl von Seiten) weder realistisch, noch liegt ein solches Erfordernis im Interesse der Verfahrensökonomie des Gerichtshofs. Erforderlichenfalls können ja weitere Beweise im Stadium der Klageerwiderung beigebracht oder, wenn die Beweise tatsächlich für die Begründung des Gerichts entscheidend sind, vom Gericht mittels Anweisungen erhoben werden.
100. Nach alledem bin ich der Meinung, dass dem Gericht trotz der Unzulänglichkeiten seiner Begründung kein Rechtsfehler bei seiner Entscheidung unterlaufen ist, dass Diapharm kein Rechtsschutzinteresse habe. Der zweite von Diapharm angeführte Rechtsmittelgrund ist daher als ins Leere gehend zu erklären und das Urteil des Gerichts wegen mangelnden Rechtsschutzinteresses aufrechtzuerhalten.
101. Infolgedessen erübrigt sich die Prüfung der vom Gericht getroffenen Feststellung, dass die Klage von Diapharm auch mangels unmittelbarer Betroffenheit unzulässig ist.
D. Weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen
102. Da beide in dem Beschluss des Gerichts in Bezug auf Bionorica angeführten Unzulässigkeitsgründe auf einem Rechtsfehler beruhen, könnte der Gerichtshof den Beschluss aufheben und die Sache zur endgültigen Entscheidung zurück an das Gericht verweisen. Bionorica müsste dann vor dem Gericht nachweisen, dass die anderen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sind und hätte nur dann, wenn ihr dies gelingt, die Möglichkeit, ihr Vorbringen in der Sache zu begründen(55).
103. Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Gerichtshof im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit auch selbst entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist.
104. Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof jedoch im gegenwärtigen Verfahrensstadium nicht in der Lage, über die Begründetheit der beim Gericht erhobenen Klage zu entscheiden. Die Kommission hat keine Ausführungen zur Begründetheit gemacht.
105. Meines Erachtens liegen dem Gerichtshof jedoch alle notwendigen Informationen vor, um über die Zurückweisung der von der Kommission im ersten Rechtszug erhobenen prozessualen Einrede der Unzulässigkeit entscheiden zu können. Aus Gründen der Verfahrenseffizienz und ‑ökonomie und um sicherzustellen, dass Bionorica rechtzeitig Bescheid weiß, ob über ihre Klage in der Sache verhandelt wird, schlage ich dem Gerichtshof diese Vorgehensweise vor.
1) Zulässigkeitsvoraussetzungen für Untätigkeitsklagen
106. Mit ihrem Rechtsmittel begehrt Bionorica letztlich den Erlass einer Verordnung mit einer Liste zugelassener Angaben.
107. Nach der vorliegenden Rechtsprechung kann ein Kläger eine Untätigkeitsklage erheben wegen Unterlassung des Erlasses eines Rechtsakts, der an ihn gerichtet wäre oder ihn unmittelbar und individuell betreffen würde(56).
108. Bionorica macht nicht geltend, dass die Liste der Angaben zu pflanzlichen Stoffen an sie gerichtet wäre. Sie hat daher nachzuweisen, dass sie von einer solchen Verordnung unmittelbar und individuell betroffen wäre.
109. Die letztgenannte alternative Zulässigkeitsgrundlage ist im Wortlaut von Art. 265 AEUV nicht ausdrücklich vorgesehen. Sie ist vielmehr aus der Rechtsprechung zur Parallele mit Art. 263 AEUV hergeleitet, der nicht privilegierten Klägern die Möglichkeit eröffnet, die sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen anzufechten. Der Gerichtshof hat diese Parallele der in den beiden Bestimmungen des Vertrags geregelten Voraussetzungen bestätigt und im Urteil T. Port ausgeführt, dass „die Möglichkeit für den Einzelnen, seine Rechte geltend zu machen, … nicht davon abhängen [darf], ob das betreffende Gemeinschaftsorgan tätig geworden oder untätig geblieben ist“(57).
110. Im vorliegenden Fall wurde die Frage aufgeworfen, ob sich die durch den Vertrag von Lissabon erfolgte Änderung des Wortlauts von Art. 263 Abs. 4 AEUV auf diese Parallelität ausgewirkt hat. Seit dem Vertrag von Lissabon sieht Art. 263 Abs. 4 AEUV vor, dass jede Person Nichtigkeitsklage gegen „Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen“, erheben kann.
111. Bedeutet diese Änderung in Verbindung mit der auf das Urteil T. Port zurückgehenden Rechtsprechung, dass Personen nunmehr auch Klage wegen Unterlassung des Erlasses von „Rechtsakte[n] mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen“, erheben können?
112. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission die Auffassung vertreten, dass diese Frage zu verneinen sei. Ziel des Vertrags von Lissabon sei die Schließung einer konkreten und spezifischen Lücke des im früheren Art. 230 Abs. 4 EGV geregelten Rechtsschutzes gewesen. In voller Kenntnis der Rechtsprechung zur Parallelität seien nur am damaligen Art. 230 Abs. 4 EGV (jetzt Art. 263 Abs. 4 AEUV) Änderungen vorgenommen worden, während der Wortlaut von Art. 232 EGV (jetzt Art. 265 AEUV) unverändert geblieben sei.
113. Ich bin anderer Ansicht. Meines Erachtens ist die Frage zu bejahen, insbesondere aus den nachstehenden drei Gründen.
114. Erstens ist die in der Zeit vor dem Vertrag von Lissabon entwickelte Parallelität zwischen den in den Art. 263 und 265 AEUV festgelegten Voraussetzungen auf das Anliegen, Kohärenz zu schaffen, und nicht auf den Wortlaut von Art. 265 AEUV zurückzuführen. Somit ist das Fundament für die These der Kommission betreffend den unveränderten Wortlaut von Art. 265 AEUV nicht allzu tragfähig, da selbst vor dem Vertrag von Lissabon ein anderslautendes Hauptargument für die Parallelität angeführt worden war. Andererseits bestehen dieses Hauptargument und die Bedenken, die den Gerichtshof zu einer Abweichung vom strikten Wortlaut des Art. 265 AEUV veranlasst haben, auch in der Zeit nach dem Vertrag von Lissabon in gleicher Weise weiter.
115. Zweitens sollte durch die mit dem Vertrag von Lissabon erfolgten Änderungen des Art. 263 Abs. 4 AEUV der Zugang zu den Unionsgerichten bei bestimmten Rechtsakten erweitert werden(58), insbesondere als Reaktion auf die auf die Urteile Kommission/Jégo-Quéré(59) und Unión de Pequeños Agricultores/Rat(60) zurückgehende Rechtsprechung. Wollte man den Zugang gemäß Art. 265 AEUV heute mit der Begründung beschränken, dass keine Parallele zwischen den beiden Klagearten bestehe, würde dies meiner Ansicht nach eindeutig dem Hauptzweck und dem Geist dieser Vertragsänderungen zuwiderlaufen.
116. Drittens wird mit der Untätigkeitsklage eigentlich ein verhältnismäßig bescheidenes Ziel verfolgt, nämlich die Bekämpfung eines institutionellen Verharrens. Anders als bei der Nichtigkeitsklage wird nicht gerügt, dass die Aufgabe schlecht erledigt worden sei, sondern schlichtweg, dass die Aufgabe überhaupt nicht erledigt worden sei. Die Untätigkeitsklage bezweckt nicht das Abbremsen des Verfahrens, sondern vielmehr seine Beschleunigung im Einklang mit den Verpflichtungen, die die Unionsorgane übernommen haben. Infolgedessen würde die Auffassung der Kommission zu der recht paradoxen Konsequenz führen, dass die Voraussetzungen für die Klagebefugnis nach Art. 265 AEUV enger wären als die nach Art. 263 AEUV. Sollte die Parallelität zwischen diesen beiden Bestimmungen jemals aufgegeben werden, müsste dies meines Erachtens sogar in genau entgegengesetzter Richtung verlaufen, d. h. zu einer gelockerten Befugnis zur Erhebung von Untätigkeitsklagen im Vergleich zu Nichtigkeitsklagen führen.
117. Deshalb ist meiner Ansicht nach die vom Gerichtshof festgestellte Parallelität zwischen den Art. 263 und 265 AEUV beizubehalten. Dementsprechend sind Untätigkeitsklagen nicht privilegierter Kläger bei drei Fallvarianten zulässig, nämlich wenn die letztlich begehrte Maßnahme
– gegen den Kläger gerichtet ist oder
– den Kläger unmittelbar und individuell betrifft oder
– ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter ist, der den Kläger unmittelbar betrifft und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht.
2) Unmittelbare Betroffenheit und Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht
118. Recht eindeutig würde die Maßnahme, deren Erlass begehrt wird, Bionorica nicht individuell im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs betreffen. Bionorica unterscheidet sich insofern nicht von allen anderen Wirtschaftsteilnehmern, die potenziell von einer solchen Maßnahme berührt sein könnten(61). Insbesondere wird nicht vorgetragen, dass Bionorica konkret die Zulassung der Angaben beantragt hätte, deren Bewertung zurückgestellt wurde(62).
119. Angenommen, der Gerichtshof bestätigt seine Rechtsprechung zur Parallelität zu Art. 263 AEUV, ist dann der Erlass der beantragten Maßnahme dennoch als „Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der „keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieh[t]“, zu qualifizieren?
120. Meines Erachtens ist diese Frage zu bejahen. Bei der in Rede stehenden Maßnahme würde es sich zwar nicht um einen Gesetzgebungsakt handeln, wohl aber um eine nach dem Regelungsverfahren erlassene Maßnahme der Kommission(63). Als solche wäre sie eindeutig ein „Rechtsakt mit Verordnungscharakter“ im Sinne der bisherigen Rechtsprechung(64).
121. Was das Fehlen von Durchführungsmaßnahmen betrifft, weise ich nur darauf hin, dass die beantragte Maßnahme zur Begründung eines unmittelbaren Rechts auf Verwendung zugelassener Angaben zu Lebensmitteln vorbehaltlich festgelegter Auflagen, die mit ihrer Verwendung verbunden sind, oder im Fall der Ablehnung der Zulassung zu einem automatischen Verwendungsverbot führt. Es bedarf keinerlei Zutuns der Mitgliedstaaten oder der Organe, um diese Rechte zu bestätigen oder die Verbote wirksam werden zu lassen. Zu einem ähnlichen Ergebnis ist auch das Gericht bereits in seiner Entscheidung gelangt, der zufolge die Verordnung Nr. 432/2012 keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehe(65).
122. Somit ist die beantragte Maßnahme als Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht, zu qualifizieren. Es bleibt daher die Frage, ob ein solcher Rechtsakt mit Verordnungscharakter Bionorica unmittelbar beträfe.
3) Unmittelbare Betroffenheit
123. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Untätigkeitsklage ist ferner der Nachweis der unmittelbaren Betroffenheit des Klägers. Nach der in der Rechtsprechung häufig verwendeten Formel(66) bedeutet der Ausdruck „unmittelbare Betroffenheit“, dass sich die Maßnahme auf die Rechtsstellung der natürlichen Person unmittelbar auswirkt und ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, ihr Erlass vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ergibt, ohne dass weitere Durchführungsvorschriften angewandt werden(67).
124. Was den zweiten Teil des genannten Zulässigkeitskriteriums – automatischer Erlass und Fehlen eines Ermessensspielraums – angeht, bereitet der vorliegende Sachverhalt keine besonderen Schwierigkeiten. Ähnlich wie für das Gericht in seiner Entscheidung in Bezug auf die Verordnung Nr. 432/2012(68) liegt auch für mich auf der Hand, dass der Erlass hier tatsächlich automatisch erfolgen würde und den Mitgliedstaaten keinen Ermessensspielraum ließe.
125. Bezüglich des ersten Teils – unmittelbare Auswirkung auf die Rechtsstellung des Klägers – macht Bionorica im Wesentlichen geltend, dass es zu unmittelbaren Auswirkungen auf ihre Rechtsstellung käme, insbesondere weil die beantragte Maßnahme ihr entweder einen Rechtsanspruch auf Verwendung bestimmter Angaben zu Nahrungsergänzungsmitteln verleihen oder ihr – und ihren Wettbewerbern – die Verwendung untersagen würde.
126. Wird Wettbewerbern die Verwendung der Angaben untersagt, so mag sich das zwar unmittelbar auf die Rechtsstellung dieser Wettbewerber auswirken, nicht jedoch auf die Rechtsstellung von Bionorica.
127. Der restliche Teil des Vorbringens ist komplexer. Meiner Ansicht nach lässt sich schwerlich behaupten, dass Bionorica aufgrund der beantragten Maßnahme kein Recht auf Verwendung zugelassener Angaben(69) zustände oder zumindest an der Verwendung anderer Angaben gehindert wäre. Bionorica könnte einen solchen Rechtsanspruch unmittelbar geltend machen. Ein Verbot wäre insoweit sofort gegen sie wirksam. Es käme zu unmittelbaren Änderungen ihrer Rechtsstellung.
128. Hiergegen ließe sich einwenden, dass Bionorica derzeit oder zumindest bei Klageerhebung nicht auf dem Lebensmittelmarkt tätig ist bzw. war.
129. Das Erfordernis einer tatsächlichen Präsenz auf dem betreffenden Markt findet in den Präzedenzfällen Erwähnung, die sich mit unmittelbarer Betroffenheit befassen(70). Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ein systematisches Erfordernis. Eine unmittelbare Betroffenheit wurde z. B. im Fall eines potenziellen (wohl theoretischen) Eintritts(71) und einer entsprechenden Präsenz auf einem vorgelagerten Markt angenommen(72).
130. Grundsätzlicher noch bin ich jedoch der Meinung, dass ein solches Erfordernis sich nicht aus dem Begriff der unmittelbaren Betroffenheit selbst ergibt. Wollte man ein solches Erfordernis in den Begriff hineinlesen, wäre dies aus mindestens zwei Gründen – nämlich aus praktischen und aus systematischen Gründen – fragwürdig.
131. Zunächst ist unter praktischen Gesichtspunkten äußerst unklar, was Marktanwesenheit in einem Fall wie dem vorliegenden eigentlich impliziert. Würde damit die tatsächliche Verwendung von Angaben zu vermarkteten Lebensmitteln zum Zeitpunkt der Erhebung der Untätigkeitsklage (oder Nichtigkeitsklage) impliziert? Wie verhält es sich jedoch, wenn diese Angaben in der Praxis aufgrund der Anwendung nationalen Rechts nicht verwendet werden dürfen (wie dies etwa nach der Übergangsregelung der Fall sein könnte)? Oder wäre irgendeine Form der Präsenz auf dem Lebensmittelmarkt unter Verwendung der Zutaten oder Stoffe, auf die sich die Angaben beziehen, impliziert, ohne dass es einer tatsächlichen Verwendung der Angaben bedarf? Wie verhält es sich, wenn die Erzeugnisse (unter Verwendung der Angaben) vertrieben werden, diese Tätigkeit jedoch nur sporadisch oder eine Zeit lang überhaupt nicht ausgeübt wurde? Wie verhält es sich, wenn der Markteintritt unmittelbar bevorsteht, aber tatsächlich noch nicht erfolgt ist? Wie verhält es sich, wenn der Markteintritt und die Verwendung der Angaben nur dann sinnvoll ist, wenn die Rechtslage geklärt ist und die Angaben zugelassen sind, so dass die notwendigen Investitionen gerechtfertigt werden können (so lautet im Wesentlichen eines der von Bionorica angeführten Argumente)?
132. Ganz allgemein: Wie kann man bei Untätigkeitsklagen dem Umstand Rechnung tragen, dass die Diskussion tatsächlich vollkommen hypothetisch eine Rechtslage zum Gegenstand hat, die nur potenziell in vielen Jahren eintreten wird, aber auf den jetzigen Sachstand abstellt?
133. Die Komplexität des Begriffs Marktpräsenz (Dauernde Präsenz? Sporadische Präsenz? Minimale Präsenz? Unmittelbar bevorstehende Präsenz?) könnte z. B. für die Frage des Rechtsschutzinteresses eine Rolle spielen. Meines Erachtens ist sie sogar entscheidend im Fall des im vorgelagerten Bereich tätigen Akteurs Diapharm. Meiner Meinung nach kann sie aber keine formelle Voraussetzung für eine unmittelbare Betroffenheit darstellen.
134. Zweitens wäre ein solcher Ansatz meiner Ansicht nach aus systematischer Sicht in sich widersprüchlich. Entweder begründet eine Maßnahme Rechtsansprüche oder Verbote, die unmittelbar auf den Einzelnen anwendbar sind, oder sie begründet sie nicht. Die unmittelbare Betroffenheit im Sinne der in der Rechtsprechung verwendeten üblichen Formel erfordert eine Prüfung der Frage, welche Rechte oder Verbote auf eine Person Anwendung finden, nicht jedoch, ob die Person zu einem bestimmten Zeitpunkt diese Rechte aktiv in Anspruch nimmt oder durch die Verbote beeinträchtigt wird. Auch hier mag die konkrete Sachlage des Klägers bei Klageerhebung für die Feststellung seines Rechtsschutzinteresses von Bedeutung sein(73), sie ist aber im Kontext der unmittelbaren Betroffenheit nicht entscheidend.
135. Außerdem sei an dieser Stelle auf eine weitere systematische Problematik hingewiesen. Nach ständiger Rechtsprechung erachtet der Gerichtshof Marktpräsenz bei der Beurteilung der konkreten Lage des Klägers zur Feststellung der individuellen Betroffenheit als vollkommen irrelevant. In den einschlägigen Fällen wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass theoretisch jedermann jederzeit in jeden beliebigen Markt eintreten kann. Meiner Ansicht nach wäre es seltsam, wenn eben dieser Faktor – tatsächliche Marktpräsenz –, der im Rahmen einer Zulässigkeitsvoraussetzung als irrelevant verworfen wird, dann plötzlich bei der vorgeblich objektiveren Beurteilung der Rechte und Pflichten für die Feststellung der unmittelbaren Betroffenheit entscheidend sein soll.
136. Zusammengefasst meine ich, dass in den Begriff der unmittelbaren Betroffenheit kein Marktpräsenzerfordernis hineingelesen werden kann.
137. Könnte ein Marktpräsenzerfordernis gleichwohl aus der Verordnung selbst hergeleitet werden?
138. Generell kann eine Verordnung sehr wohl den Kreis der Personen, denen sie Rechte gewährt oder Pflichten auferlegt, einschränken. In der vorliegenden Rechtssache und in Bezug auf diese spezielle Verordnung gibt es jedoch kein einschränkendes Marktpräsenzerfordernis in diesem Sinne.
139. Die in Art. 10 der Verordnung enthaltenen Verbote der Verwendung von Angaben gelten allgemein. Dies bedeutet, dass sie nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt sind. Jedes Rechtssubjekt, das Lebensmittel, die relevante Stoffe enthalten, verkauft oder zu verkaufen beabsichtigt, ist dadurch berührt, dass es unmittelbar rechtlich von der Verwendung bestimmter gesundheitsbezogener Angaben abgehalten wird. Eine gegenwärtige Marktpräsenz ist unerheblich.
140. Was die Zulassung von Angaben in Art. 17 Abs. 5 der Verordnung anbelangt, heißt es darin, dass „[g]esundheitsbezogene Angaben, die in den Listen nach den Artikeln 13 und 14 enthalten sind, … von jedem Lebensmittelunternehmer … verwendet werden [können]“(74). Heißt das, dass die von den Rechtsmittelführerinnen beantragte Maßnahme nur einem begrenzten Personenkreis (Lebensmittelunternehmer), wie er zu einem bestimmten Zeitpunkt definiert wurde, Rechtsansprüche auf Verwendung von Angaben einräumen würde?
141. Dies mag tatsächlich eine der Auslegungsmöglichkeiten für diese Bestimmung sein. Ich halte sie jedoch nicht für die richtige. Der Begriff „Lebensmittelunternehmer“ ist definiert als „die natürlichen oder juristischen Personen, die dafür verantwortlich sind, dass die Anforderungen des Lebensmittelrechts in dem ihrer Kontrolle unterstehenden Lebensmittelunternehmen erfüllt werden“(75). Dies ist keine klare Definition, sondern eine Beschreibung einer weitläufigen und äußerst eklektischen Gruppe, die von Blumenkohlhändlern zu Produzenten von Energy Drinks und Herstellern von Aminosäuren zur Verwendung in Nahrungsergänzungsmitteln jeden erfasst. Außerdem ist die Gruppe offen und ändert sich ständig in ihrer Zusammensetzung. Wie oben in den Nrn. 134 und 135 dargelegt, wird die Liste zugelassener und verbotener gesundheitsbezogener Angaben so unmittelbar für jeden gelten, der eine solche Tätigkeit aufnimmt, einzig und allein aufgrund dessen(76).
142. Im Ergebnis ist es schlicht unlogisch, wenn versucht wird, eine strenge Unterscheidung zu treffen zwischen, einerseits, einer „abgeschlossenen“ Gruppe, die aus dieser Bestimmung unmittelbar rechtliche Ansprüche herleitet, und jeder sonstigen Person(77).
143. Dass mit der Bezugnahme in Art. 17 Abs. 5 auf „Lebensmittelunternehmer“ keine abgeschlossene Gruppe definiert werden soll, die unter Ausschluss aller anderen in den Genuss bestimmter rechtlicher Ansprüche kommen soll, wird weiter veranschaulicht im Vergleich mit Fällen, in denen dies beabsichtigt war. So hat der Gerichtshof z. B. in der Rechtssache T & L Sugars und Sidul Açúcares/Kommission(78) eine Klage auf Nichtigerklärung einer Verordnung im Zuckersektor, die Zuckerherstellern – einer sehr klar definierten, abgeschlossenen Gruppe, die durch Bezugnahme auf ein Zulassungsverfahren abgegrenzt war – Rechte verlieh(79), mit der Begründung abgewiesen, dass die Kläger dieser Gruppe nicht angehörten und daher durch die Verordnung nicht in ihrer Rechtsstellung berührt würden(80).
144. Abschließend bin ich der Meinung, dass Bionorica von der Maßnahme, deren Erlass letztlich begehrt wird – d. h. die Liste zugelassener Angaben zu pflanzlichen Stoffen –, in dem Sinne unmittelbar betroffen ist, dass sich diese Maßnahme unmittelbar auf die Rechtsstellung von Bionorica auswirkt.
4) Ergebnis
145. Nach alledem möchte ich dem Gerichtshof vorschlagen, zu entscheiden, dass die von Bionorica erhobene Untätigkeitsklage zulässig ist.
146. Eine solche Schlussfolgerung verlangt keine Änderung der Auslegung der aktuell geltenden Zulässigkeitsvoraussetzungen. Sie ist jedoch Anlass für eine bestätigende Klarstellung dieser Voraussetzungen und ihres Verhältnisses zueinander. Sie erfordert insbesondere eine erneute Herausarbeitung des Unterschieds zwischen den Begriffen Rechtsschutzinteresse und unmittelbare Betroffenheit, der in einigen Fällen wohl etwas verwischt worden ist(81).
147. Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung ist Voraussetzung für ein Rechtsschutzinteresse ein eigener Vorteil des Klägers aus dem Erlass (oder der Nichtigerklärung) der betreffenden Maßnahme oder zumindest eine deutliche Chance oder Gelegenheit zur Erlangung eines solchen Vorteils(82). Dabei kann es sich um einen tatsächlichen oder rechtlichen Vorteil handeln.
148. Eine unmittelbare Betroffenheit eines Einzelnen liegt vor, wenn eine Maßnahme „sich auf seine Rechtsstellung unmittelbar auswirkt und ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, ihr Erlass vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Gemeinschaftsregelung ergibt, ohne dass weitere Durchführungsvorschriften angewandt werden“(83).
149. Offenkundig gibt es einige Überschneidungen zwischen der Voraussetzung des Rechtsschutzinteresses und der Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrem Inhalt und ihren Zielen und müssen daher voneinander abgegrenzt werden. Dabei handelt es sich nicht um eine rein intellektuelle Übung. Die Abgrenzung ist von eindeutiger praktischer Bedeutung, insbesondere für Kläger, die entsprechend der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Erfüllung beider Voraussetzungen nachweisen müssen, wenn ihre Klage nicht abgewiesen werden soll.
150. So wird mit dem Rechtsschutzinteresse auf die tatsächliche oder rechtliche Lage des Klägers und auf die Auswirkungen abgestellt, die die Entscheidung der Klage auf diese Lage hätte. Mit dem Postulat des Rechtsschutzinteresses als Zulässigkeitsvoraussetzung sollen Klagen verhindert werden, die im Allgemeininteresse erhoben werden oder die dem Kläger nicht weiterhelfen können. Daher wird ein eigener Vorteil verlangt. In gewisser Hinsicht lässt sich das Rechtsschutzinteresse als „erster Filter“ für Klagen betrachten, wobei wohl geringere Anforderungen bezüglich der persönlichen Auswirkungen gestellt werden als bei den Hauptvoraussetzungen der „unmittelbaren Betroffenheit“ und der „individuellen Betroffenheit“.
151. Demgegenüber stehen bei der Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit vor allem das Wesen des angefochtenen Rechtsakts und die Art der aus ihm erwachsenden Rechte und Pflichten im Mittelpunkt. Zu berücksichtigende Kriterien sind der Ermessensspielraum des Urhebers der Maßnahme und die Existenz etwaiger weiterer Durchführungsmaßnahmen, die zwischen die Unionsmaßnahme und den Kläger treten könnten. Soweit unmittelbare Betroffenheit unmittelbare Auswirkungen auf die Rechtsstellung des Klägers erfordert(84), stellt sich die Frage, ob die Maßnahme Rechte oder Pflichten begründet, auf die sich der Kläger berufen kann bzw. die seine Tätigkeit einschränken können. Ob der Kläger nach dem Sachverhalt von diesen Rechten zum Zeitpunkt der Klageerhebung auch tatsächlich Gebrauch macht, ist insoweit nicht ausschlaggebend.
VII. Ergebnis
152. Ich schlage dem Gerichtshof vor,
1. in der Rechtssache C‑596/15 P
– den Beschluss des Gerichts der Europäischen Union in der Rechtssache T‑619/14 aufzuheben und die von der Rechtsmittelführerin in dieser Rechtssache erhobene Untätigkeitsklage für zulässig zu erklären;
– die Rechtssache zur Entscheidung in der Sache an das Gericht zurückzuverweisen;
– die Entscheidung über die Kosten vorzubehalten;
2. in der Rechtssache C‑597/15 P
– das Rechtsmittel als unbegründet zurückzuweisen;
– der Rechtsmittelführerin in dieser Rechtssache die eigenen Kosten und die Kosten der Kommission aufzuerlegen.