Language of document : ECLI:EU:C:2010:570

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

30. September 2010(*)

„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Richtlinie 2006/112/EG – Beitritt eines neuen Mitgliedstaats – Recht auf Vorsteuerabzug – Nationale Regelung, die das Recht auf Abzug der Steuer auf bestimmte Dienstleistungen ausschließt – Geschäftspartner mit Sitz in einem als ‚Steuerparadies‘ eingestuften Gebiet – Befugnis der Mitgliedstaaten, zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Sechsten Richtlinie bestehende Ausschlüsse vom Vorsteuerabzugsrecht beizubehalten“

In der Rechtssache C‑395/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Polen) mit Entscheidung vom 6. August 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Oktober 2009, in dem Verfahren

Oasis East sp. z o.o.

gegen

Minister Finansów

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J. Malenovský und T. von Danwitz,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juli 2010,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Oasis East sp. z o.o., vertreten durch M. Wojda und J. Martini,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar und M. Jarosz als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Owsiany‑Hornung, K. Herrmann und D. Triantafyllou als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 2 und 6 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 (ABl. L 102, S. 18) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie), dessen Bestimmungen in Art. 176 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) im Wesentlichen übernommen worden sind.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Oasis East sp. z o.o. (im Folgenden: Oasis East) und dem Minister Finansów (polnisches Finanzministerium).

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 17 Abs. 2 und 6 der Sechsten Richtlinie in seiner Fassung aufgrund von Art. 28 f dieser Richtlinie sieht vor:

„(2)  Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)      die im Inland geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden;

(6)      Der Rat legt auf Vorschlag der Kommission vor Ablauf eines Zeitraums von vier Jahren nach dem Inkrafttreten dieser Richtlinie einstimmig fest, bei welchen Ausgaben die Mehrwertsteuer nicht abziehbar ist. Auf jeden Fall werden diejenigen Ausgaben vom Vorsteuerabzugsrecht ausgeschlossen, die keinen streng geschäftlichen Charakter haben, wie Luxusausgaben, Ausgaben für Vergnügungen und Repräsentationsaufwendungen.

Bis zum Inkrafttreten der vorstehend bezeichneten Bestimmungen können die Mitgliedstaaten alle Ausschlüsse beibehalten, die … in ihren zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie bestehenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehen sind.“

4        Die Sechste Richtlinie wurde durch die Richtlinie 2006/112 aufgehoben und ersetzt.

5        Art. 176 der Richtlinie 2006/112 lautet:

„Der Rat legt auf Vorschlag der Kommission einstimmig fest, welche Ausgaben kein Recht auf Vorsteuerabzug eröffnen. In jedem Fall werden diejenigen Ausgaben vom Recht auf Vorsteuerabzug ausgeschlossen, die keinen streng geschäftlichen Charakter haben, wie Luxusausgaben, Ausgaben für Vergnügungen und Repräsentationsaufwendungen.

Bis zum Inkrafttreten der Bestimmungen im Sinne des Absatzes 1 können die Mitgliedstaaten alle Ausschlüsse beibehalten, die am 1. Januar 1979 beziehungsweise im Falle der nach diesem Datum der Gemeinschaft beigetretenen Mitgliedstaaten am Tag ihres Beitritts in ihren nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen waren.“

 Nationales Recht

6        Art. 25 Abs. 1 Nr. 1a des Gesetzes über die Mehrwertsteuer (ustawa o podatku VAT z roku 1993) vom 8. Januar 1993 (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz von 1993) bestimmt:

„Eine Minderung des Betrags der geschuldeten Steuer oder eine Erstattung der Differenz der geschuldeten Steuer ist nicht vorzunehmen in Bezug auf eine vom Steuerpflichtigen erworbene Einfuhr von Dienstleistungen, im Zusammenhang mit denen die Zahlung des Entgelts unmittelbar oder mittelbar an eine Person erfolgt, die ihren Wohnsitz, ihren Sitz oder ihre Hauptverwaltung in einem in Anhang Nr. 9 des Gesetzes genannten Gebiet oder Land hat.“

7        Anhang Nr. 9 („Liste der Länder [Gebiete], bei denen die Steuer auf eine Einfuhr von Dienstleistungen weder zu einer Minderung des Betrags der geschuldeten Steuer noch zu einem Recht auf Erstattung der Differenz der geschuldeten Steuer führt“) des Mehrwertsteuergesetzes von 1993 enthält folgende Aufzählung:

„1)       Fürstentum Andorra,

2)      Anguilla – vom Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland abhängiges autonomes Gebiet,

3)       Antigua und Barbuda,

4)       Aruba – autonomes Gebiet des Königreichs der Niederlande,

5)       Bahamas,

6)       Königreich Bahrain,

7)      Barbados,

8)       Belize,

9)       Bermuda – vom Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland abhängiges Gebiet,

10)       Britische Jungferninseln – vom Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland abhängiges Gebiet,

11)       Cookinseln – mit Neuseeland assoziiertes autonomes Gebiet,

12)      das Commonwealth Dominica,

13)       Gibraltar – der Britischen Krone unterstelltes Gebiet,

14)       Grenada,

15)       Guernsey/Sark/Alderney – der Britischen Krone unterstelltes Gebiet,

16)       Hongkong – Sonderverwaltungsregion der Volksrepublik China,

17)       Jersey – der Britischen Krone unterstelltes Gebiet,

18)       Kaimaninseln – vom Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland abhängiges Gebiet,

19)       Republik Liberia,

20)       Fürstentum Liechtenstein,

21)       Macau – Sonderverwaltungsregion der Volksrepublik China,

22)       Republik Malediven,

23)       Insel Man – der Britischen Krone unterstelltes Gebiet,

24)      Republik Marshallinseln,

25)       Republik Mauritius,

26)       Fürstentum Monaco,

27)       Montserrat – vom Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland abhängiges Gebiet,

28)       Republik Nauru,

29)       Niederländische Antillen – autonomes Gebiet des Königreichs der Niederlande,

30)       Niue – mit Neuseeland assoziiertes autonomes Gebiet,

31)       Republik Panama,

32)       Unabhängiger Staat Samoa,

33)       Republik Seychellen,

34)       Föderation St. Christoph und Nevis,

35)      Saint Lucia,

36)       St. Vincent und die Grenadinen,

37)       Königreich Tonga,

38)       Turks- und Caicos-Inseln – vom Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland abhängiges Gebiet,

39)       Amerikanische Jungferninseln – nichtinkorporiertes Gebiet der Vereinigten Staaten,

40)       Republik Vanuatu,

41)       Vereinigte Arabische Emirate.“

8        Diese Regelung ist im Mehrwertsteuergesetz (ustawa o podatku VAT z roku 2004) vom 11. März 2004 (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz von 2004) im Wesentlichen beibehalten worden, und zwar in Art. 88 Abs. 1 Nr. 1 des Mehrwertsteuergesetzes von 2004 in Verbindung mit seinem Anhang Nr. 5, wobei die Liste in diesem Anhang 39 Staaten und Gebiete anstelle von 41 enthält. Diese Bestimmungen sind am 1. Mai 2004 in Kraft getreten.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

9        Oasis East produziert und verkauft Wasserkühlanlagen. Im Rahmen ihrer Tätigkeiten, zu denen auch der Kundendienst gehört, greift sie auf Dienstleistungen eines Unternehmens mit Sitz in einem Gebiet zurück, das in Anhang Nr. 9 des Mehrwertsteuergesetzes von 1993 – der durch Anhang Nr. 5 des Mehrwertsteuergesetzes von 2004 ersetzt wurde – genannt ist. Dieses Unternehmen erbringt Managementleistungen für Oasis East und gewährt ihr technische Unterstützung. Die Leistungen umfassen insbesondere Marketing, Organisation von und Teilnahme an internationalen Messen, operative Maßnahmen auf dem Gebiet der Produktionsplanung, Ingenieurleistungen, Beratung im Bereich Finanzen und Buchführung, Durchführung von Transporten, Dienstleistungen in Verbindung mit der Nutzung von Informationssystemen sowie Koordination im Bereich Einkauf und Verkauf.

10      Am 28. Dezember 2007 richtete Oasis East an den Direktor der Finanzkammer Katowice die Frage, ob sie seit dem 1. Mai 2004 berechtigt sei, die Vorsteuer abzuziehen, die sie im Fall der Einfuhr von Verwaltungsdienstleistungen entrichte, im Zusammenhang mit denen die Zahlung des Entgelts an ein Unternehmen mit Sitz in einem in Anhang Nr. 5 des Mehrwertsteuergesetzes von 2004 aufgeführten Gebiet erfolge.

11      Mit Bescheid vom 4. April 2004 verneinte der Direktor der Finanzkammer Katowice die Frage von Oasis East. Er vertrat die Auffassung, dass diese nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sei, weil das Entgelt für die betreffenden Dienstleistungen an ein Unternehmen gezahlt werde, das in einem in Anhang Nr. 5 des Mehrwertsteuergesetzes von 2004 erwähnten Gebiet ansässig sei.

12      Der Direktor der Finanzkammer Katowice stellte fest, dass die nationalen Rechtsvorschriften nicht im Widerspruch zum Unionsrecht stünden, da Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie den Mitgliedstaaten erlaube, alle Ausschlüsse beizubehalten, die in ihrem zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie bestehenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehen seien. Die Republik Polen sei daher befugt gewesen, die am Tag ihres Beitritts zur Europäischen Union geltenden Beschränkungen des Vorsteuerabzugs beizubehalten.

13      Am 18. Juni 2008 erhob Oasis East beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Gliwicach (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Gliwice) Klage gegen den Bescheid vom 4. April 2008.

14      Mit Entscheidung vom 22. Dezember 2008 wies das Gericht die Klage von Oasis East ab. Seiner Ansicht nach verstieß die Beibehaltung des in Art. 88 Abs. 1 Nr. 1 des Mehrwertsteuergesetzes von 2004 vorgesehenen Ausschlusses in der nationalen Rechtsordnung nicht gegen Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie.

15      In ihrer Kassationsbeschwerde vom 9. März 2009 wiederholte Oasis East ihre früheren Ausführungen. Der Naczelny Sad Administracyjny hat unter diesen Umständen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Berechtigt das Gemeinschaftsrecht (insbesondere Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie, jetzt Art. 176 der Richtlinie 2006/112/EG) einen Mitgliedstaat zur Anwendung nationaler Vorschriften, die das Recht des Steuerpflichtigen auf Minderung des Betrags der geschuldeten Steuer oder auf Erstattung der Differenz der geschuldeten Steuer im Fall des Erwerbs eingeführter Dienstleistungen ausschließen, im Zusammenhang mit denen die Zahlung des Entgelts unmittelbar oder mittelbar an eine Person erfolgt, die ihren Wohnsitz, ihren Sitz oder ihre Hauptverwaltung in einem der im nationalen Recht als sogenannte Steuerparadiese angeführten Gebiete oder Länder hat, wobei ein solcher Ausschluss in dem Mitgliedstaat bereits in der Zeit vor der Mitgliedschaft in der Gemeinschaft angewandt wurde?

 Zur Vorlagefrage

16      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie, dessen Bestimmungen in Art. 176 der Richtlinie 2006/112 im Wesentlichen übernommen worden sind, die Beibehaltung innerstaatlicher Rechtsvorschriften zulässt, die bei Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie in dem betreffenden Mitgliedstaat galten und generell das Recht auf Abzug der Vorsteuer ausschließen, die im Fall des Erwerbs eingeführter Dienstleistungen entrichtet wird, im Zusammenhang mit denen die Zahlung des Entgelts unmittelbar oder mittelbar an eine Person erfolgt, die in einem in diesen Vorschriften als sogenanntes Steuerparadies angeführten Gebiet oder Staat ansässig ist.

17      Da die Vorlagefrage sowohl Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie als auch Art. 176 der Richtlinie 2006/112 wörtlich erwähnt, ist zunächst festzustellen, dass diese beiden Bestimmungen im Wesentlichen inhaltsgleich sind.

18      Zur Beantwortung der Frage ist darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug nach Art. 6 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie als integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ein grundlegendes Prinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann (vgl. Urteile vom 8. Januar 2002, Metropol und Stadler, C‑409/99, Slg. 2002, I‑81, Randnr. 42, vom 26. Mai 2005, Kretztechnik, C‑465/03, Slg. 2005, I‑4357, Randnr. 33, und vom 15. April 2010, X Holding und Oracle Nederland, C‑538/08 und C‑33/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 37).

19      Dieser Grundsatz des Rechts auf Vorsteuerabzug wird jedoch durch die abweichende Bestimmung des Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie gemildert. Die Mitgliedstaaten sind nämlich berechtigt, ihre zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Sechsten Richtlinie bestehenden Regelungen über den Ausschluss des Vorsteuerabzugsrechts beizubehalten, bis der Rat die in diesem Artikel vorgesehenen Bestimmungen erlässt (vgl. Urteile vom 11. Dezember 2008, Danfoss und AstraZeneca, C‑371/07, Slg. 2008, I‑9549, Randnr. 28, sowie X Holding und Oracle Nederland, Randnr. 38).

20      Da der Rat keine solche Bestimmungen erlassen hat, können die Mitgliedstaaten ihre Rechtsvorschriften über den Ausschluss des Vorsteuerabzugsrechts beibehalten. Bis heute enthält also das Unionsrecht keine Bestimmung, die die vom Vorsteuerabzugsrecht ausgeschlossenen Ausgaben aufzählt (vgl. Urteile vom 8. Dezember 2005, Jyske Finans, C‑280/04, Slg. 2005, I‑10683, Randnr. 23, sowie Danfoss und AstraZeneca, Randnr. 29).

21      Zum Umfang der in Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen abweichenden Regelung hat der Gerichtshof jedoch entschieden, dass diese Bestimmung voraussetzt, dass die Ausschlüsse, die die Mitgliedstaaten beibehalten dürfen, nach der Zweiten Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (ABl. 1967, Nr. 71, S. 1303, im Folgenden: Zweite Richtlinie), die der Sechsten Richtlinie vorausging, rechtmäßig waren (vgl. Urteile vom 5. Oktober 1999, Royscot u. a., C‑305/97, Slg. 1999, I‑6671, Randnr. 21, sowie X Holding und Oracle Nederland, Randnr. 40).

22      Art. 11 der Zweiten Richtlinie, mit dem in Abs. 1 das Recht auf Vorsteuerabzug eingeführt wurde, sah in Abs. 4 vor, dass die Mitgliedstaaten bestimmte Gegenstände und bestimmte Dienstleistungen, und zwar insbesondere die Gegenstände und Dienstleistungen, die ganz oder teilweise für den privaten Bedarf des Steuerpflichtigen oder seines Personals verwendet werden können, von der Regelung des Vorsteuerabzugs ausschließen können.

23      Mit der den Mitgliedstaaten in Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie eingeräumten Befugnis ist folglich kein uneingeschränktes Ermessen verbunden, alle oder praktisch alle Gegenstände und Dienstleistungen vom Vorsteuerabzug auszuschließen und auf diese Weise die Regelung in Art. 11 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie gegenstandslos zu machen. Diese Befugnis bezieht sich daher nicht auf allgemeine Ausschlüsse und enthebt die Mitgliedstaaten nicht der Verpflichtung, die Gegenstände und Dienstleistungen, für die der Vorsteuerabzug ausgeschlossen ist, hinreichend zu konkretisieren (vgl. in diesem Sinne Urteile Royscot u. a., Randnrn. 22 und 24, sowie vom 14. Juli 2005, Charles und Charles Tijmens, C‑434/03, Slg. 2005, I‑7037, Randnrn. 33 und 35).

24      Da es sich um eine Regelung handelt, die eine Abweichung vom Grundsatz des Rechts auf Vorsteuerabzug darstellt, ist sie außerdem eng auszulegen (vgl. Urteile Metropol und Stadler, Randnr. 59, und vom 22. Dezember 2008, Magoora, C‑414/07, Slg. 2008, I‑10921, Randnr. 28).

25      Was das Ausgangsverfahren und die mögliche Anwendbarkeit der in Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen abweichenden Regelung angeht, ist festzustellen, dass diese Richtlinie in Polen am Tag des Beitritts des betreffenden Mitgliedstaats zur Europäischen Union in Kraft getreten ist, d. h. am 1. Mai 2004. Dieser Zeitpunkt ist also in Bezug auf den erwähnten Mitgliedstaat für die Anwendung der oben genannten Bestimmung einschlägig (vgl. Urteil Magoora, Randnr. 27).

26      Soweit die polnische Regierung vorgetragen hat, der Wortlaut von Art. 176 der Richtlinie 2006/112 unterscheide zwischen Mitgliedstaaten, die vor dem 1. Januar 1979 beigetreten seien, und denen, die, wie die Republik Polen, danach beigetreten seien, genügt die Feststellung, dass mit dieser Unterscheidung nur der Zeitpunkt bestimmt werden soll, vor dem die Ausgaben, die kein Recht auf Vorsteuerabzug eröffnen, in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen sein mussten.

27      Folglich kann Art. 176 der Richtlinie 2006/112 nicht je nachdem, ob der betreffende Mitgliedstaat vor oder nach dem 1. Januar 1979 der Union beigetreten ist, zu einer anderen Auslegung in Bezug auf den Umfang der betrachteten Ausschlüsse führen. Daher hatte der Erlass dieses Art. 176 keine Auswirkung auf die Rechtsprechung zur Auslegung von Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie.

28      Im Rahmen der Beurteilung der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Rechtsvorschriften im Hinblick auf die darin vorgesehene abweichende Regelung ist festzustellen, dass, wie auch das vorlegende Gericht ausgeführt hat, diese Vorschriften eine Maßnahme allgemeiner Art darstellen, mit der das Recht auf Vorsteuerabzug für jeden Erwerb eingeführter Dienstleistungen eingeschränkt wird, im Zusammenhang mit denen die Zahlung des Entgelts unmittelbar oder mittelbar an eine Person erfolgt, die in einem als sogenanntes Steuerparadies angeführten Staat oder Gebiet ansässig ist.

29      Derartige Rechtsvorschriften enthalten eine Beschränkung des Rechts auf Vorsteuerabzug, die über das durch Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie zugelassene Maß hinausgeht.

30      Der Gerichtshof hat nämlich klargestellt, dass die Mitgliedstaaten nicht ermächtigt sind, Ausschlüsse des Rechts auf Vorsteuerabzug beizubehalten, die allgemein auf jede Ausgabe für den Erwerb von Gegenständen oder Dienstleistungen Anwendung finden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. April 2009, PARAT Automotive Cabrio, C‑74/08, Slg. 2009, I‑3459, Randnrn. 28 und 29, sowie X Holding und Oracle Nederland, Randnr. 44).

31      Was schließlich die von der polnischen Regierung vorgebrachte Erwägung betrifft, dass die nationalen Rechtsvorschriften dem Erfordernis der Verhinderung von Steuerhinterziehung entsprächen, hat der Gerichtshof zwar in Randnr. 70 seines Urteils vom 21. Februar 2006, Halifax u. a. (C‑255/02, Slg. 2006, I‑1609), anerkannt, dass das grundsätzliche Verbot missbräuchlicher Praktiken auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer gilt, doch erlaubt dieses Verbot den Mitgliedstaaten nicht, den Anwendungsbereich der streitigen abweichenden Regelung zu erweitern. Sollten zudem, wie das vorlegende Gericht ausführt, die im polnischen Recht vorgesehenen Beschränkungen in dem Erfordernis begründet sein, Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen zu verhüten, so sieht Art. 27 der Sechsten Richtlinie zu diesem Zweck ein besonderes Verfahren vor, wonach der Rat jeden Mitgliedstaat ermächtigen kann, abweichende Sondermaßnahmen einzuführen.

32      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie, dessen Bestimmungen in Art. 176 der Richtlinie 2006/112 im Wesentlichen übernommen worden sind, dahin auszulegen ist, dass er nicht die Beibehaltung innerstaatlicher Rechtsvorschriften zulässt, die bei Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie in dem betreffenden Mitgliedstaat galten und generell das Recht auf Abzug der Vorsteuer ausschließen, die im Fall des Erwerbs eingeführter Dienstleistungen entrichtet wird, im Zusammenhang mit denen die Zahlung des Entgelts unmittelbar oder mittelbar an eine Person erfolgt, die in einem in diesen Vorschriften als sogenanntes Steuerparadies angeführten Gebiet oder Staat ansässig ist.

 Kosten

33      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 17 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 geänderten Fassung, dessen Bestimmungen in Art. 176 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Wesentlichen übernommen worden sind, ist dahin auszulegen, dass er nicht die Beibehaltung innerstaatlicher Rechtsvorschriften zulässt, die bei Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie in dem betreffenden Mitgliedstaat galten und generell das Recht auf Abzug der Vorsteuer ausschließen, die im Fall des Erwerbs eingeführter Dienstleistungen entrichtet wird, im Zusammenhang mit denen die Zahlung des Entgelts unmittelbar oder mittelbar an eine Person erfolgt, die in einem in diesen Vorschriften als sogenanntes Steuerparadies angeführten Gebiet oder Staat ansässig ist.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Polnisch.