Language of document : ECLI:EU:C:2012:282

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

10. Mai 2012(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Einkommensteuer – Freibetrag – Altersrenten – Auswirkung auf niedrige Renten – Diskriminierung zwischen gebietsansässigen Steuerpflichtigen und gebietsfremden Steuerpflichtigen“

In der Rechtssache C‑39/10

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 22. Januar 2010,

Europäische Kommission, vertreten durch W. Mölls, K. Saaremäel-Stoilov und R. Lyal als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Republik Estland, vertreten durch M. Linntam als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Königreich Spanien, vertreten durch M. Muñoz Pérez und A. Rubio Gonzáles als Bevollmächtigte,

Portugiesische Republik, vertreten durch L. Inez Fernandes als Bevollmächtigten,

Königreich Schweden, vertreten durch A. Falk als Bevollmächtigte,

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch S. Ossowski als Bevollmächtigten,

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch J. Möller, C. Blaschke und B. Klein als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richterin A. Prechal, des Richters K. Schiemann, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. September 2011,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. November 2011

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Republik Estland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV und Art. 28 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen) verstoßen hat, dass sie im Einkommensteuergesetz (tulumaksuseadus) vom 15. Dezember 1999 (RT I 1999, 101, 903) in der durch das Gesetz vom 26. November 2009 (RT I 2009, 62, 405) geänderten Fassung (im Folgenden: Einkommensteuergesetz) die Anwendung eines individuellen Steuerfreibetrags für Gebietsfremde, deren Gesamteinkünfte so niedrig sind, dass ihnen dieser Freibetrag gewährt würde, wenn sie gebietsansässig wären, nicht vorsieht.

 Rechtlicher Rahmen

 Empfehlung 94/79/EG

2        In den Erwägungsgründen 3, 4 und 6 der Empfehlung 94/79/EG der Kommission vom 21. Dezember 1993 betreffend die Besteuerung bestimmter Einkünfte, die von Nichtansässigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Wohnsitzes erzielt werden (ABl. 1994, L 39, S. 22), heißt es:

„Es ist daher erforderlich, Maßnahmen zu treffen, um die Freizügigkeit im Hinblick auf das Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten. Den Mitgliedstaaten müssen die Vorschriften zur Kenntnis gebracht werden, die sie nach Auffassung der Kommission erlassen sollten, um sicherzustellen, dass Nichtansässige steuerlich ebenso günstig behandelt werden wie Ansässige.

Diese Maßnahme steht einer aktiven Politik der Kommission im Bereich der Vertragsverletzungsverfahren, die die Beachtung der grundlegenden Prinzipien des [EG-]Vertrages sicherstellen soll, nicht entgegen.

Der Grundsatz der Gleichbehandlung gemäß den Artikeln [45 AEUV] und [49 AEUV] erlaubt es nicht, die Personen, die … Einkünfte erzielen, von den steuerlichen Vorteilen und sonstigen Abzügen auszunehmen, die den Ansässigen gewährt werden, sofern der Großteil ihrer Einkünfte im Tätigkeitsstaat erzielt wird.“

3        Aus Art. 1 Abs. 1 dieser Empfehlung geht hervor, dass sie verschiedene Kategorien von Einkünften, u. a. Altersruhegelder, betrifft.

4        Art. 2 Abs. 1 und 2 Unterabs. 1 der Empfehlung sieht vor:

„(1)      Die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Einkünfte werden in dem sie besteuernden Mitgliedstaat keiner höheren Steuerbelastung unterworfen als derjenigen, die dieser Staat festsetzen würde, wenn der Steuerpflichtige, sein Ehegatte und seine Kinder in ihm ansässig wären.

(2)      Die Mitgliedstaaten machen die Anwendung von Absatz 1 von der Bedingung abhängig, dass die in Artikel 1 genannten Einkünfte, die in dem Mitgliedstaat zu versteuern sind, in dem die natürliche Person nicht ansässig ist, mindestens 75 % des in einem Veranlagungszeitraumes steuerpflichtigen Gesamteinkommens ausmachen.“

 Das zwischen der Republik Finnland und der Republik Estland abgeschlossene Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

5        Art. 18 Abs. 2 Buchst. a des am 23. März 1993 in Helsinki zwischen der Republik Finnland und der Republik Estland abgeschlossenen Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerflucht hinsichtlich der Einkommen- und der Vermögensteuer (im Folgenden: Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung) bestimmt:

„Die Ruhegehälter und anderen Leistungen in Form von wiederkehrenden Zahlungen oder von Pauschalentschädigungen, die nach dem Recht der sozialen Sicherheit eines Vertragsstaats oder aufgrund eines anderen öffentlichen Programms eines Vertragsstaats zum sozialen Schutz gewährt werden, sind nur in diesem Staat steuerpflichtig.“

 Das Einkommensteuergesetz

6        § 1 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes lautet:

„Die Einkommensteuer wird auf die Einkünfte des Steuerpflichtigen nach Abzug der gesetzlich erlaubten Freibeträge erhoben.“

7        Nach § 2 Abs. 1 dieses Gesetzes wird diese Steuer

„… von nichtansässigen natürlichen und juristischen Personen abgeführt, die steuerpflichtige Einkünfte erzielen“.

8        § 12 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor:

„Die Einkommensteuer wird auf die Einkünfte ansässiger natürlicher Personen aus allen Einkunftsquellen in Estland und außerhalb Estlands innerhalb eines Veranlagungszeitraums erhoben. …“

9        Außerdem wir nach § 19 Abs. 2 und § 29 Abs. 9 des Einkommensteuergesetzes die Einkommensteuer auch auf Altersrenten erhoben. Nach § 41 Abs. 6 dieses Gesetzes wird die Einkommensteuer an der Quelle einbehalten.

10      § 23 des Einkommensteuergesetzes bestimmt:

„Während des Veranlagungszeitraums darf eine ansässige natürliche Person von ihren Einkünften abziehen: 27 000 EEK.“

11      § 232 dieses Gesetzes sieht außerdem einen zusätzlichen Freibetrag bei Altersrenten vor:

„Erhält eine ansässige natürliche Person eine gesetzliche Altersrente von einem Vertragsstaat, eine in diesem Staat gesetzlich vorgesehene, zwingend kapitalfundierte Altersrente oder eine Altersrente auf der Grundlage einer Vereinbarung der sozialen Sicherheit, wird ein zusätzlicher Freibetrag in Höhe dieser Altersrenten bis maximal 36 000 EEK pro Veranlagungszeitraum von den Einkünften dieser Person abgezogen.“

12      Im Übrigen bestimmt § 42 Abs. 11 dieses Gesetzes für Altersrenten, die von Gebietsansässigen von Seiten der Republik Estland bezogen werden:

„Im Fall einer vom estnischen Staat an eine ansässige natürliche Person gezahlten gesetzlichen Altersrente und einer verpflichtenden kapitalfundierten Altersrente nach dem Gesetz über kapitalfundierte Altersrenten wird ein zusätzlicher Freibetrag (§ 232) in Höhe des Betrages dieser Rente vor der Berechnung des Einkommensteuerrückbehalts abgezogen, soweit dieser Freibetrag pro Kalendermonat nicht ein Zwölftel des in § 232 vorgesehenen Betrages übersteigt.“

13      In Bezug auf Einkünfte von Gebietsfremden sieht § 283 des Einkommensteuergesetzes vor:

„Eine in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässige natürliche Person kann die in diesem Kapitel vorgesehenen Freibeträge ebenfalls auf ihre in Estland steuerpflichtigen Einkünfte anwenden, wenn sie mindestens 75 % ihrer steuerpflichtigen Einkünfte während eines Veranlagungszeitraums in Estland erzielt und eine Einkommensteuererklärung für ansässige natürliche Personen abgibt. Unter steuerpflichtigen Einkünften werden die Einkünfte vor Abzug von Freibeträgen gemäß den Bestimmungen des betreffenden Staates verstanden.“

 Vorverfahren

14      Eine in Finnland ansässige estnische Staatsangehörige (im Folgenden: Beschwerdeführerin) reichte wegen der in Estland vorgenommenen Berechnung der Einkommensteuer auf die ihr in diesem Mitgliedstaat gezahlte Altersrente bei der Kommission eine Beschwerde ein. Die Beschwerdeführerin wandte sich insbesondere dagegen, dass die estnischen Behörden es ablehnten, ihr den Steuerfreibetrag sowie den zusätzlichen Freibetrag zu gewähren, den das Gesetz für gebietsansässige Steuerpflichtige vorsieht.

15      Aus der Klageschrift der Kommission geht hervor, dass sich die Beschwerdeführerin, nachdem sie in Estland das Rentenalter erreicht hatte, in Finnland niedergelassen hat, wo sie arbeitete und Rentenansprüche erwarb. Dadurch erhält sie zwei Renten, eine in Estland und eine weitere in Finnland, mit einem annähernd gleichen Betrag. Die in Estland bezogene Rente unterliegt der Einkommensteuer, während die Beschwerdeführerin in Finnland angesichts ihres sehr niedrigen Gesamteinkommens nicht steuerpflichtig ist. Der Gesamtbetrag der beiden Renten überschritt im Übrigen nur leicht die in § 232 Einkommensteuergesetz vorgesehene Grundfreibetragsgrenze.

16      Aufgrund dessen meinte die Kommission, dass die Steuerlast, die von Gebietsfremden in vergleichbaren Situationen wie die Beschwerdeführerin nach estnischem Recht zu tragen sei, viel höher sei, als wenn sie ihre gesamten Einkünfte nur in Estland erzielten.

17      Die Kommission richtete daher am 4. Februar 2008 ein Mahnschreiben an die Republik Estland, in dem sie diesen Mitgliedstaat auf die mögliche Unvereinbarkeit der nationalen Bestimmungen über die Besteuerung der Altersrenten, die an Gebietsfremde gezahlt werden, mit Art. 45 AEUV und Art. 28 des EWR-Abkommens aufmerksam machte.

18      Mit Schreiben vom 9. April 2008 widersprach die Republik Estland der Ansicht der Kommission und machte geltend, dass nach dem Einkommensteuergesetz die danach vorgesehenen Abzüge auf Gebietsfremde angewandt werden könnten, die in Estland den größten Teil ihrer Einkünfte, d. h. wenigstens 75 % der Gesamteinkünfte, bezögen. Dieses Gesetz wende somit auf Gebietsfremde die gleiche Behandlung an wie auf Gebietsansässige. Wenn hingegen die in Estland bezogenen Einkünfte niedriger als dieser Prozentsatz seien, habe der Staat, in dem die betreffende Person ansässig sei, dem nicht in Estland ansässigen Steuerpflichtigen eine angemessene Besteuerung zu garantieren.

19      Am 17. Oktober 2008 richtete die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Republik Estland, in der sie die im Mahnschreiben dargelegten Argumente wiederholte und diesen Mitgliedstaat aufforderte, binnen zwei Monaten nach deren Erhalt die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

20      In ihrer Antwort vom 18. Dezember 2008 auf die mit Gründen versehene Stellungnahme trat die Republik Estland den Rügen der Kommission bezüglich der Unvereinbarkeit des Einkommensteuergesetzes mit Art. 45 AEUV entgegen. Sie räumte jedoch ein, dass dieses Gesetz Lücken in Bezug auf ihre Verpflichtungen nach Art. 28 des EWR-Abkommens enthalte, und erklärte sich bereit, den Anwendungsbereich von § 283 dieses Gesetzes auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums auszudehnen.

21      Da die Kommission von den Argumenten der Republik Estland nicht überzeugt war, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

22      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. Juni 2010 sind das Königreich Spanien, die Portugiesische Republik und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Republik Estland zugelassen worden. Mit Beschlüssen vom 7. Juli 2010 und vom 14. Januar 2011 hat der Präsident des Gerichtshofs die Bundesrepublik Deutschland und das Königreich Schweden als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Republik Estland zugelassen. Die Bundesrepublik Deutschland hat indessen keine schriftlichen Erklärungen eingereicht.

 Zur Klage

 Zur Zulässigkeit der Klage

23      Erstens macht die Republik Estland, unterstützt vom Königreich Spanien, in ihrer Gegenerwiderung geltend, dass die Klage für unzulässig zu erklären sei, da der Streitgegenstand nicht klar und genau definiert sei und die Anträge mehrdeutig formuliert seien. Die Kommission habe nicht klar angegeben, in welchen Fällen die Republik Estland den Freibetrag auf die Einkommensteuer von Gebietsfremden anwenden müsse, um die vorgeworfene Vertragsverletzung zu beenden, denn sie habe in ihrer Klageschrift erklärt, der Freibetrag müsse gewährt werden, wenn das weltweite Einkommen des Gebietsfremden, der in Estland eine Pension beziehe, unter den Freibetragsgrenzen liege, die im estnischen Recht für in Estland ansässige Steuerpflichtige vorgesehen seien, während sie in ihrer Erwiderung ausgeführt habe, dass die Republik Estland bei der Gewährung dieses Freibetrags die gegebenenfalls im Wohnsitzstaat der betreffenden Person geltenden Freibetragsgrenzen heranziehen müsse.

24      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sich aus Art. 38 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs und der einschlägigen Rechtsprechung ergibt, dass die Klageschrift den Streitgegenstand angeben und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten muss und dass diese Angaben so klar und deutlich sein müssen, dass sie dem Beklagten die Vorbereitung seines Verteidigungsvorbringens und dem Gerichtshof die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe ermöglichen. Folglich müssen sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die eine Klage gestützt wird, zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben, und die Anträge der Klageschrift müssen eindeutig formuliert sein, damit der Gerichtshof nicht ultra petita entscheidet oder eine Rüge übergeht (vgl. u. a. Urteile vom 12. Februar 2009, Kommission/Polen, C‑475/07, Randnr. 43, und vom 24. März 2011, Kommission/Spanien, C‑375/10, Randnr. 10).

25      Solche Voraussetzungen darf der Gerichtshof von Amts wegen prüfen (vgl. u. a. Urteil vom 26. April 2007, Kommission/Finnland, C‑195/04, Slg. 2007, I‑3351, Randnrn. 21 und 22).

26      Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass eine nach Art. 258 AEUV erhobene Klage eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Rügen enthalten muss, damit der Mitgliedstaat und der Gerichtshof die Tragweite des gerügten Verstoßes gegen das Unionsrecht richtig erfassen können, was notwendig ist, damit der betreffende Staat sich sachgerecht verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt (vgl. u. a. Urteile Kommission/Polen, Randnr. 44, und Kommission/Spanien, Randnr. 11).

27      Die Kommission hat im vorliegenden Vertragsverletzungsverfahren zum einen in Randnr. 25 ihrer Klageschrift ausgeführt, dass es, „wenn die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats einen Grenzbetrag vorsehen, unterhalb dessen ein Steuerpflichtiger als nicht über die erforderlichen Mittel verfügend angesehen wird, um die öffentlichen Ausgaben zu finanzieren, keinen Grund gibt, nach dem Wohnsitz der Steuerpflichtigen, deren Einkünfte unter der festgelegten Grenze liegen, zu differenzieren“. Die Kommission hat also klar angegeben, dass die Republik Estland die im Einkommensteuergesetz festgelegte Freibetragsgrenze bei der Feststellung berücksichtigen müsse, ob ein Gebietsfremder, der in diesem Mitgliedstaat eine Altersrente beziehe, Anspruch auf den für die Einkommensteuer vorgesehenen Freibetrag habe.

28      Zum anderen hat die Kommission, als sie auf die vom Wohnsitzmitgliedstaat festgelegten Freibetragsgrenzen hingewiesen hat, dies im Zusammenhang mit der Prüfung des Urteils vom 14. Februar 1995, Schumacker (C‑279/93, Slg. 1995, I‑225), getan, aus der sie gerade abgeleitet hat, dass sich ein Steuerpflichtiger, dessen Gesamteinkommen so niedrig sei, dass er im Wohnsitzmitgliedstaat keiner Steuer unterliege, in einer Situation befinde, die der eines Steuerpflichtigen vergleichbar sei, der im Mitgliedstaat, in dem die fraglichen Einkünfte erzielt würden, ansässig sei. Dieser Staat müsse demnach „seine eigenen Vorschriften über Steuerfreibeträge anwenden, die bestimmen, in welchem Umfang die Steuerpflichtigen in der Lage sind, Steuer zu zahlen, die die Bedürfnisse des Landes decken sollen“.

29      Jedenfalls geht aus den Akten nichts hervor, was die Schlussfolgerung erlaubt, dass die Klageschrift es der Republik Estland nicht ermöglicht hätte, ihre Verteidigungsgründe geltend zu machen, und dass der Gerichtshof nicht in der Lage gewesen wäre, zu prüfen, ob eine Vertragsverletzung vorliegt.

30      Die von der Republik Estland erhobene Einrede der Unzulässigkeit ist daher nicht begründet und somit zurückzuweisen.

31      Zweitens ist es, da die vom Königreich Spanien und von der Portugiesischen Republik erhobene Einrede der Unzulässigkeit sich weitgehend mit dem auf die Empfehlung 94/79 gestützten Verteidigungsvorbringen der Republik Estland deckt, zweckdienlich, die eventuelle Prüfung dieser Einrede mit der Prüfung in der Sache zu verbinden.

32      Drittens ist festzustellen, dass die Kommission nach dem Wortlaut des Klageantrags die Feststellung durch den Gerichtshof begehrt, dass die Republik Estland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV und Art. 28 des EWR-Abkommens verstoßen hat, dass sie im Einkommensteuergesetz die Anwendung eines Steuerfreibetrags für Gebietsfremde, deren Gesamteinkünfte so niedrig sind, dass ihnen dieser Freibetrag gewährt würde, wenn sie gebietsansässig wären, nicht vorsieht. Demnach scheint der Antrag die nationalen Rechtsvorschriften in Bezug auf alle diesem Gesetz unterworfenen Einkünfte zu betreffen.

33      Aus den Schriftsätzen der Kommission geht jedoch hervor, dass sich ihre Begründung für ihre Vorwürfe gegen die Republik Estland bloß auf die steuerliche Behandlung der Rentner bezieht, die sich in der gleichen Situation befinden wie die Beschwerdeführerin. Im Übrigen hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass ihr Antrag auf Feststellung der Vertragsverletzung nur die Renten von Gebietsfremden betreffe.

34      Folglich ist davon auszugehen, dass die vorliegende Klage ausschließlich die Anwendung der Vorschriften des Einkommensteuergesetzes auf Altersrenten betrifft, die an Gebietsfremde gezahlt werden, die sich in einer Situation wie die der Beschwerdeführerin befinden.

 Zur Begründetheit

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

35      In ihrer Klageschrift trägt die Kommission im Wesentlichen vor, das Einkommensteuergesetz bringe gebietsfremde Rentner durch den Ausschluss von dem in diesem Gesetz vorgesehenen Steuerfreibetrag, sofern sie weniger als 75 % ihrer Einkünfte in Estland bezögen, wegen der Ausübung ihres Rechts auf Arbeitnehmerfreizügigkeit – wie dies die Beschwerdeführerin getan habe – in eine Situation, die weniger günstig sei als diejenige, in der sie sich befunden hätten, wenn sie dieses Recht nicht ausgeübt hätten, obwohl sie sich angesichts ihrer niedrigen Renten in einer Situation befänden, die derjenigen der Gebietsansässigen vergleichbar sei, die Einkünfte in entsprechender Höhe hätten. Demnach stelle dieses Gesetz eine Behinderung der Freizügigkeit nach Art. 45 AEUV und Art. 28 des EWR-Abkommens dar.

36      Wie nämlich aus dem Urteil Schumacker hervorgehe, das durch das Urteil vom 1. Juli 2004, Wallentin (C‑169/03, Slg. 2004, I‑6443), bestätigt worden sei, befänden sich die Personen, die nur einen kleinen Teil ihrer Einkünfte in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat bezögen, vom Gesichtspunkt der steuerlichen Behandlung aus in einer Situation, die mit der Situation derjenigen vergleichbar sei, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihre Einkünfte bezögen, ansässig seien. Wenn die Einkünfte einer Person in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat nur sehr gering oder überhaupt nicht besteuert würden, könne dieser Staat den Abzug der Steuern, die auf die in einem anderen Mitgliedstaat bezogenen Einkünfte erhoben würden, von der Besteuerungsgrundlage nicht garantieren. Unter diesen Umständen sei es Sache des Mitgliedstaats, in dem die Einkünfte ihren Ursprung hätten, auf diese die eigenen Steuervorschriften anzuwenden, insbesondere den Steuerfreibetrag.

37      Wie der Gerichtshof im Urteil vom 14. September 1999, Gschwind (C‑391/97, Slg. 1999, I‑5451), und im Urteil Wallentin anerkannt habe, müsse ein Mitgliedstaat, der einen Steuerfreibetrag auf Einkünfte unterhalb eines bestimmten Betrags gewähre, um den Steuerpflichtigen das Existenzminimum zu sichern, einen solchen Vorteil folglich auch Gebietsfremden einräumen, da er entsprechend der persönlichen Situation des Steuerpflichtigen gewährt wird.

38      Die Republik Estland entgegnet mit der Unterstützung aller Streithelfer, dass die im Einkommensteuergesetz vorgesehene Ungleichbehandlung zwischen Gebietsansässigen und Gebietsfremden keine Beschränkung der Freizügigkeit sei, da sie nicht zu Diskriminierung zwischen Personen führe, die sich in vergleichbaren Situationen befänden.

39      Aus dem Urteil Schumacker ergebe sich, dass die Lage von Gebietsansässigen und Gebietsfremden nur dann als vergleichbar anzusehen sei, wenn Letztere den bedeutendsten Teil ihrer Einkünfte nicht im Wohnsitzmitgliedstaat, sondern in einem anderen Mitgliedstaat bezögen. Nur in diesem Fall dürfe der andere Mitgliedstaat Gebietsfremde steuerlich nicht anders behandeln als Gebietsansässige.

40      Somit würden die fraglichen Freibeträge nach dem Einkommensteuergesetz zur Gewährleistung der Gleichbehandlung zwischen Gebietsansässigen und Gebietsfremden, die sich in einer vergleichbaren Situation befänden, auf Gebietsfremde angewandt, wenn sie 75 % ihrer Einkünfte in Estland bezögen. Die Berechnung der steuerpflichtigen Einkünfte stütze sich auf das Recht des Wohnsitzmitgliedstaats der betreffenden Person, und zur Bestimmung des in Estland bezogenen Teils müsse der Gebietsfremde einen Nachweis der Steuerverwaltung seines Wohnsitzmitgliedstaats vorlegen.

41      Im Übrigen hat die Kommission nach Ansicht der Republik Estland durch die Erhebung dieser Vertragsverletzungsklage die Empfehlung 94/79 nicht beachtet, in der sie festgelegt habe, dass die steuerliche Gleichbehandlung ansässiger und nichtansässiger Personen nur erforderlich sei, wenn die nichtansässigen Personen während des betreffenden Steuerjahrs wenigstens 75 % ihrer Einkünfte in dem Mitgliedstaat erhalten hätten, der sie besteuere.

42      Was im Besonderen die Situation der Beschwerdeführerin betrifft, tragen das Königreich Spanien und die Portugiesische Republik im Übrigen vor, dass der Wohnsitzmitgliedstaat, im vorliegenden Fall die Republik Finnland, alle Einkünfte, die der in Rede stehende Steuerpflichtige sowohl in diesem Mitgliedstaat als auch in einem anderen Mitgliedstaat bezogen habe, berücksichtigt habe und sie nicht besteuert habe, weil der Gesamtbetrag der Einkünfte das von der Einkommensteuer befreite Mindesteinkommen nicht überschritten habe. Im Umkehrschluss zeige sich, dass die Einkünfte dieses Steuerpflichtigen hätten besteuert werden können, wenn der Wohnsitzmitgliedstaat das von der Steuer befreite Mindesteinkommen niedriger festgesetzt hätte; in diesem Fall wäre der in Estland gezahlte Steuerbetrag abgezogen worden. Somit verstoße das Einkommensteuergesetz nicht gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit.

43      Das Vereinigte Königreich trägt vor, dass die von der Kommission vorgeschlagene Lösung, mit der verhindert werden solle, dass der Gebietsfremde in Estland eine höhere soziale Vergünstigung erhalte als der Ansässige, und die darin bestehe, dass die Behörden dieses Mitgliedstaats für die Anwendung des Steuerfreibetrags das weltweite Einkommen des betreffenden Steuerpflichtigen berücksichtigten, nicht richtig sei. Denn nach dem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung sei es nicht möglich, in Finnland bezogene Einkünfte in Estland zu besteuern. Die Republik Estland sei demnach nicht in der Lage, die weltweiten Einkünfte des betreffenden Steuerpflichtigen zu berechnen, während die Republik Finnland dies tun könnte, weil dieser Steuerpflichtige in Finnland wohnhaft sei und die finnischen Behörden die Befugnis hätten, Informationen und Unterlagen über ihn anzufordern. Die Analyse der Kommission hätte das Ergebnis, dass die Republik Estland ihren Teil des Steuerfreibetrags bloß auf die in Estland bezogenen Einkünfte anwenden könnte und der Gebietsfremde davon profitiere, dass seine persönliche Situation und sein Familienstand sowohl in Estland als auch in Finnland berücksichtigt würden.

44      Die Kommission führt dazu aus, dass der Gerichtshof entgegen dem Vorbringen der Beklagten und der Streithelfer im Urteil Schumacker festgestellt habe, dass dem Steuerpflichtigen, der kein nennenswertes Einkommen im Wohnsitzmitgliedstaat habe, vom Mitgliedstaat, in dem er seine Einkünfte beziehe, dieselben Vorteile gewährt werden müssten, wie sie den Gebietsansässigen gewährt würden, die ausschließlich in diesem Staat Einkünfte hätten. Der Gerichtshof habe damit anerkannt, dass der Mitgliedstaat, in dem Einkünfte bezogen würden, es zwar unter normalen Umständen dem Wohnsitzmitgliedstaat überlassen könne, dafür Sorge zu tragen, dass ein den Mitteln des Steuerpflichtigen angemessenes Steuerniveau sichergestellt werde, jedoch seinerseits gehalten sei, die persönliche Situation des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen, wenn der Wohnsitzmitgliedstaat dazu nicht in der Lage sei. Wenn die Einkünfte eines Steuerpflichtigen in seinem Wohnsitzmitgliedstaat sehr gering oder gar nicht besteuert würden, könne dieser Staat den Abzug der Steuern, die auf die in einem anderen Mitgliedstaat bezogenen Einkünfte erhoben würden, von der Besteuerungsgrundlage nicht garantieren.

45      Zur Berechnung der Einkünfte des Gebietsfremden erläutert die Kommission, dass die Republik Estland das Recht habe, bei der Berechnung der Steuer, der der Steuerpflichtige gegebenenfalls in Estland unterliege, seine weltweiten Einkünfte heranzuziehen. Falls das weltweite Einkommen des Steuerpflichtigen unter der geltenden Freibetragsgrenze in Estland liege, sei er in Estland keiner Steuer unterworfen. Wenn sein weltweites Einkommen die geltende Grenze in Estland hingegen übersteige, könne es der Einkommensteuer unterliegen. Dies habe nicht die Besteuerung von Einkünften zur Folge, die in anderen Mitgliedstaaten als der Republik Estland bezogen worden seien, sondern damit würde bloß die Steuerkraft des Steuerpflichtigen für die Zwecke der Besteuerung der nur in Estland bezogenen Einkünfte bestimmt.

46      Was das Vorbringen der Beklagten zur Empfehlung 94/79 angeht, macht die Kommission geltend, dass dieser Rechtsakt nicht verbindlich sei. Er könne nicht das Ziel haben, die Vorschriften des Primärrechts über die Freizügigkeit zu ergänzen, und könne den Ermessensspielraum der Kommission jedenfalls nicht einschränken. Diese Empfehlung schlage bloß den Erlass nationaler Maßnahmen zur Durchführung des Unionsrechts vor, ohne auf die richtige Durchführung der sich aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen überzugreifen. Da diese Empfehlung außerdem vor dem Erlass des Urteils Schumacker ergangen sei, habe sie ihre Daseinsberechtigung verloren.

 Würdigung durch den Gerichtshof

–       Zur Rüge eines Verstoßes gegen Art. 45 AEUV

47      Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die direkten Steuern zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, diese ihre Befugnisse jedoch unter Wahrung des Unionsrechts ausüben müssen (vgl. u. a. Urteile Schumacker, Randnr. 21, vom 13. Dezember 2005, Marks & Spencer, C‑446/03, Slg. 2005, I‑10837, Randnr. 29, sowie vom 19. November 2009, Kommission/Italien, C‑540/07, Slg. 2009, I‑10983, Randnr. 28). Überdies sind die nationalen Steuervorschriften unter Beachtung der durch die Verträge garantierten Freiheiten, insbesondere der nach Art. 45 AEUV gewährleisteten Arbeitnehmerfreizügigkeit, zu erlassen.

48      Dabei ist es mit den Vorschriften über die Freizügigkeit grundsätzlich unvereinbar, dass ein Arbeitnehmer, der von diesem Recht Gebrauch gemacht hat, in dem Mitgliedstaat, dem er angehört, ungünstiger behandelt wird, als er behandelt würde, wenn er nicht von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht hätte, die ihm diese Vorschriften eröffnen. Eine Diskriminierung kann aber nur darin bestehen, dass unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Situationen angewandt werden oder dass dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewandt wird (vgl. u. a. Urteile Schumacker, Randnr. 30, Gschwind, Randnr. 21, und vom 22. März 2007, Talotta, C‑383/05, Slg. 2007, I‑2555, Randnr. 18).

49      Gebietsansässige und Gebietsfremde befinden sich jedoch im Hinblick auf die direkten Steuern in der Regel nicht in einer vergleichbaren Situation, da das Einkommen, das ein Gebietsfremder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erzielt, meist nur einen Teil seiner Gesamteinkünfte darstellt, deren Schwerpunkt an seinem Wohnort liegt, und die persönliche Steuerkraft des Gebietsfremden, die sich aus der Berücksichtigung seiner Gesamteinkünfte sowie seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergibt, leichter an dem Ort beurteilt werden kann, an dem der Mittelpunkt seiner persönlichen Interessen und seiner Vermögensinteressen liegt und der in der Regel der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts der betroffenen Person ist (vgl. u. a. Urteile Schumacker, Randnrn. 31 und 32, und Gschwind, Randnr. 22).

50      In Randnr. 34 des Urteils Schumacker hat der Gerichtshof entschieden, dass es in der Regel in Anbetracht der objektiven Unterschiede zwischen der Situation der Gebietsansässigen und derjenigen der Gebietsfremden sowohl hinsichtlich der Einkunftsquelle als auch hinsichtlich der persönlichen Steuerkraft sowie der persönlichen Lage und des Familienstands nicht diskriminierend ist, wenn ein Mitgliedstaat Gebietsfremden bestimmte Steuervergünstigungen versagt, die er Gebietsansässigen gewährt (vgl. Urteil Gschwind, Randnr. 23).

51      Eine diskriminierende Unterscheidung zwischen Gebietsansässigen und Gebietsfremden im Sinne des Vertrags könnte nur vorliegen, wenn ungeachtet ihres Wohnsitzes in verschiedenen Mitgliedstaaten nachgewiesen wäre, dass sich beide Gruppen von Steuerpflichtigen in Bezug auf den Zweck und den Inhalt der fraglichen nationalen Vorschriften in einer vergleichbaren Lage befänden (vgl. Urteil Gschwind, Randnr. 26).

52      Dies ist der Fall, wenn sich der Gebietsfremde, der in seinem Wohnsitzstaat keine nennenswerten Einkünfte hat und sein zu versteuerndes Einkommen im Wesentlichen aus einer Tätigkeit bezieht, die er im Beschäftigungsstaat ausübt, in einer Situation befindet, die derjenigen der Gebietsansässigen in diesem Staat vergleichbar ist, so dass der Wohnsitzstaat in einem solchen Fall nicht in der Lage ist, ihm die Vergünstigungen zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergeben. Folglich ist er in steuerlicher Hinsicht wie ein Ansässiger des Beschäftigungsmitgliedstaats zu behandeln, und dieser Staat hat ihm die steuerlichen Vorteile zu gewähren, die er für Ansässige vorsieht (vgl. u. a. Urteile Schumacker, Randnrn. 36 und 37, sowie Gschwind, Randnr. 27).

53      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann in einer Situation, in der es nach dem Steuerrecht des Wohnsitzmitgliedstaats keine steuerpflichtigen Einkünfte gibt (vgl. in diesem Sinne Urteil Wallentin, Randnr. 18), eine Diskriminierung vorliegen, wenn die persönliche Situation und der Familienstand einer Person wie der Beschwerdeführerin weder im Wohnsitzmitgliedstaat noch im Beschäftigungsmitgliedstaat berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Wallentin, Randnr. 17).

54      Wenn somit fast 50 % der Gesamteinkünfte des Betreffenden in seinem Wohnsitzmitgliedstaat erzielt werden, sollte dieser grundsätzlich in der Lage sein, die Steuerkraft des Betreffenden sowie seine persönliche Situation und seinen Familienstand entsprechend den nach den Rechtsvorschriften dieses Staates vorgesehenen Modalitäten zu berücksichtigen (vgl. Urteil Gschwind, Randnr. 29).

55      Hingegen ist in einem Fall wie dem der Beschwerdeführerin, die aufgrund des niedrigen Betrags ihrer Gesamteinkünfte nach dem Steuerrecht ihres Wohnsitzmitgliedstaats in diesem nicht steuerpflichtig ist, dieser Staat nicht in der Lage, die Steuerkraft sowie die persönliche Situation und den Familienstand des Betreffenden, insbesondere die Folgen der Besteuerung der in einem anderen Mitgliedstaat bezogenen Einkünfte hierauf, zu berücksichtigen.

56      Unter solchen Umständen benachteiligt die Weigerung des Mitgliedstaats, in dem die fraglichen Einkünfte erzielt wurden, einen nach dem nationalen Steuerrecht vorgesehenen Freibetrag zu gewähren, gebietsfremde Steuerpflichtige wie die Beschwerdeführerin allein wegen der Ausübung ihrer im AEU-Vertrag gewährleisteten Freizügigkeitsrechte.

57      Die Ungleichbehandlung, die sich aus einer solchen Regelung ergibt, könnte nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruhte, die in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht verfolgten berechtigten Zweck stünden (Urteil vom 9. November 2006, Turpeinen, C‑520/04, Slg. 2006, I‑10685, Randnr. 32). Auch wenn die Republik Estland geltend gemacht hat, dass die fragliche Voraussetzung verhindern soll, dass der gebietsfremde Steuerpflichtige Steuerfreibeträge in jedem der betroffenen Mitgliedstaaten kumuliert, kann in einem Fall wie dem der Beschwerdeführerin keine ungerechtfertigte Kumulierung von Vorteilen stattfinden.

58      Folglich kann die in § 283 des Einkommensteuergesetzes vorgesehene Voraussetzung in ihrer Allgemeinheit, die die persönliche Situation und den Familienstand der betreffenden Steuerpflichtigen nicht berücksichtigt, in dem oben erläuterten Umfang Personen wie die Beschwerdeführerin benachteiligen, die von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht haben, die sich durch die Vorschriften über die Arbeitnehmerfreizügigkeit eröffnet haben, und erweist sich daher als mit den Anforderungen der Verträge, so wie sie sich nach Art. 45 AEUV darstellen, unvereinbar.

59      Die auf einen Verstoß gegen Art. 45 AEUV gestützte Rüge ist demnach als begründet anzusehen.

60      Nach Ansicht der Republik Estland steht die Empfehlung 94/79 ihrem Inhalt und ihrer Art nach der Feststellung der behaupteten Vertragsverletzung entgegen.

61      In Art. 2 Abs. 2 dieser Empfehlung hat die Kommission in der Tat darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten die Einkünfte natürlicher, nicht ansässiger Personen keiner höheren Steuerbelastung unterwerfen dürfen als die Ansässiger, wenn die Einkünfte, die in dem Mitgliedstaat, in dem die natürliche Person nicht ansässig ist, zu versteuern sind, mindestens 75 % des in einem Veranlagungszeitraum steuerpflichtigen Gesamteinkommens ausmachen.

62      Die Republik Estland trägt vor, dass sie anderenfalls berechtigt sei, Gebietsansässige und Gebietsfremde unterschiedlich zu behandeln.

63      Es ist jedoch daran zu erinnern, dass Empfehlungen nach Art. 288 letzter Absatz AEUV zu den nicht verbindlichen Rechtsakten der Organe der Union zählen. Wie im Übrigen der Generalanwalt in Nr. 60 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hängt das Vertragsverletzungsverfahren von der objektiven Feststellung eines Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht ab, so dass sich die Republik Estland im vorliegenden Fall nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen kann, um die objektive Feststellung eines Verstoßes gegen ihre Verpflichtungen aus dem Vertrag zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2009, Kommission/Spanien, C‑562/07, Slg. 2009, I‑9553, Randnr. 18).

64      Außerdem steht die Empfehlung 94/79 nach ihrem vierten Erwägungsgrund einer aktiven Politik der Kommission im Bereich der Vertragsverletzungsverfahren, die die Beachtung der grundlegenden Prinzipien des Vertrags sicherstellen soll, nicht entgegen.

65      Unter diesen Umständen steht die Empfehlung 94/79 der Feststellung eines Verstoßes gegen die Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV nicht entgegen. Der Gerichtshof braucht sich daher mit der Frage, ob das Königreich Spanien und die Portugiesische Republik im Rahmen der Streithilfe zu Recht eine auf den Erlass dieser Empfehlung gestützte Unzulässigkeitseinrede gegen die Klage der Kommission erhoben haben, nicht zu befassen.

–       Zur Rüge eines Verstoßes gegen Art. 28 des EWR-Abkommens

66      Auch wenn die Republik Estland bei ihrer Verteidigung gegen die auf Art. 28 des EWR‑Abkommens gestützte Rüge ebenfalls die Argumente vorgebracht hat, die sie gegen die auf Art. 45 AEUV gestützte Rüge angeführt hat, hat sie eingeräumt, dass § 283 des Einkommensteuergesetzes ergänzt werden müsse, „um den Anwendungsbereich dieser Vorschrift auch auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums auszudehnen“.

67      Das estnische Recht sieht keine Möglichkeit vor, den in Rede stehenden steuerlichen Vorteil Beziehern einer Rente in Estland zu gewähren, wenn diese in einem der Drittstaaten ansässig sind, die Mitglieder des EWR-Abkommens sind. Da die Bestimmungen des Art. 28 des EWR-Abkommens die gleiche rechtliche Tragweite haben wie die in ihrem wesentlichen Gehalt identische Bestimmung des Art. 45 AEUV, können die vorstehenden Erwägungen entsprechend auf Art. 28 des EWR-Abkommens übertragen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 2007, Kommission/Schweden, C‑104/06, Slg. 2007, I‑671, Randnr. 32).

68      Nach alledem hat die Republik Estland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV und Art. 28 des EWR-Abkommens verstoßen, dass sie gebietsfremden Rentnern, die angesichts ihrer niedrigen Renten nach dem Steuerrecht des Wohnsitzmitgliedstaats in diesem nicht steuerpflichtig sind, nicht den im Einkommensteuergesetz vorgesehenen Steuerfreibetrag gewährt.

 Kosten

69      Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Republik Estland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

70      Nach Art. 69 § 4 der Verfahrensordnung tragen das Königreich Spanien, die Portugiesische Republik, das Königreich Schweden, das Vereinigte Königreich sowie die Bundesrepublik Deutschland ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Republik Estland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV und Art. 28 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 verstoßen, dass sie gebietsfremden Rentnern, die angesichts ihrer niedrigen Renten nach dem Steuerrecht des Wohnsitzmitgliedstaats in diesem nicht steuerpflichtig sind, nicht den im Einkommensteuergesetz (tulumaksuseadus) vom 15. Dezember 1999 in der durch das Gesetz vom 26. November 2009 geänderten Fassung vorgesehenen Steuerfreibetrag gewährt.

2.      Die Republik Estland trägt die Kosten.

3.      Das Königreich Spanien, die Portugiesische Republik, das Königreich Schweden, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie die Bundesrepublik Deutschland tragen ihre eigenen Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Estnisch.