Language of document : ECLI:EU:C:2017:248

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 30. März 2017(1)

Rechtssache C111/16

Giorgio Fidenato u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Udine [Bezirksgericht Udine, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Landwirtschaft – Genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel – Verbot des Anbaus von genetisch verändertem MON‑810-Mais – Sofortmaßnahmen der Mitgliedstaaten – Formerfordernisse – Vorsorgeprinzip“






I.      Einführung

1.        Gegen Herrn Fidenato u. a. (im Folgenden: die Antragsteller) wurden Strafverfahren wegen des Vorwurfs geführt, sie hätten unter Verstoß gegen ein Dekret, das den Anbau von genetisch verändertem MON‑810-Mais in Italien verbietet, derartigen Mais angebaut. Das Dekret war als Sofortmaßnahme nach Art. 34 der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 vom 22. September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel(2) erlassen worden.

2.        Im Zusammenhang mit dem Strafverfahren gegen die Antragsteller hat das Tribunale di Udine (Bezirksgericht Udine, Italien) dem Gerichtshof eine Reihe von Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Eine der Fragen des vorlegenden Gerichts betrifft das Verhältnis von Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 zum Vorsorgeprinzip. Bilden die in Art. 34 aufgeführten Voraussetzungen für den Erlass von Sofortmaßnahmen eine abschließende Regelung? Oder kann dieser Artikel durch eine parallele oder gar unabhängige Anwendung des Vorsorgeprinzips ergänzt oder erweitert werden?

3.        Der Gerichtshof hat im Urteil Monsanto(3) bereits einige Hinweise zur Auslegung von Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 erteilt. Hauptgegenstand der vorliegenden Schlussanträge ist das Verhältnis des Vorsorgeprinzips zu Art. 34, mit dem sich der Gerichtshof im Urteil Monsanto nicht befasst hat.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Verordnung Nr. 1829/2003

4.        Im dritten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1829/2003 heißt es, dass „Lebensmittel und Futtermittel, die aus genetisch veränderten Organismen bestehen, diese enthalten oder daraus hergestellt werden[, zum Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier] einer Sicherheitsprüfung nach einem Gemeinschaftsverfahren unterzogen werden [sollten], bevor sie in der Gemeinschaft in Verkehr gebracht werden“.

5.        Nach Art. 1 lautet das Ziel der Verordnung:

„Entsprechend den allgemeinen Grundsätzen der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 ist es Ziel dieser Verordnung,

a)      die Grundlage für ein hohes Schutzniveau für Leben und Gesundheit des Menschen, Gesundheit und Wohlergehen der Tiere, die Belange der Umwelt und die Verbraucherinteressen im Zusammenhang mit genetisch veränderten Lebensmitteln und Futtermitteln sicherzustellen und ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten;

b)      gemeinschaftliche Verfahren für die Zulassung und Überwachung genetisch veränderter Lebensmittel und Futtermittel festzulegen;

…“

6.        Art. 34 („Sofortmaßnahmen“) bestimmt:

„Ist davon auszugehen, dass ein nach dieser Verordnung zugelassenes oder mit ihr in Einklang stehendes Erzeugnis wahrscheinlich ein ernstes Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt darstellt, oder sollte es sich im Lichte einer von der Behörde gemäß Artikel 10 oder Artikel 22 abgegebenen Stellungnahme als notwendig erweisen, eine Zulassung dringend zu ändern oder auszusetzen, so werden Maßnahmen nach den Verfahren der Artikel 53 und 54 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 getroffen.“

2.      Verordnung Nr. 178/2002

7.        Der 20. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit(4) lautet: „Zur Gewährleistung des Gesundheitsschutzniveaus in der Gemeinschaft wurde das Vorsorgeprinzip herangezogen, wodurch Hemmnisse für den freien Verkehr mit Lebensmitteln und Futtermitteln geschaffen wurden. Deshalb muss gemeinschaftsweit eine einheitliche Grundlage für die Anwendung dieses Prinzips geschaffen werden.“

8.        Im 21. Erwägungsgrund heißt es: „In besonderen Fällen, in denen ein Risiko für Leben oder Gesundheit gegeben ist, wissenschaftlich aber noch Unsicherheit besteht, ergibt sich aus dem Vorsorgeprinzip ein Mechanismus zur Ermittlung von Risikomanagementmaßnahmen oder anderen Aktionen, um das in der Gemeinschaft gewählte hohe Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen.“

9.        Nach Art. 4 Abs. 2 „[bilden d]ie in den Artikeln 5 bis 10 festgelegten allgemeinen Grundsätze einen horizontalen Gesamtrahmen, der einzuhalten ist, wenn Maßnahmen getroffen werden“. Hieran schließt sich unmittelbar Abschnitt 1 („Allgemeine Grundsätze des Lebensmittelrechts“) des Kapitels II der Verordnung mit den Art. 6 und 7 an.

10.      In Art. 6 heißt es zur Risikoanalyse:

„(1)      Um das allgemeine Ziel eines hohen Maßes an Schutz für Leben und Gesundheit der Menschen zu erreichen, stützt sich das Lebensmittelrecht auf Risikoanalysen, außer wenn dies nach den Umständen oder der Art der Maßnahme unangebracht wäre.

(2)      Die Risikobewertung beruht auf den verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen und ist in einer unabhängigen, objektiven und transparenten Art und Weise vorzunehmen.

(3)      Beim Risikomanagement ist den Ergebnissen der Risikobewertung, insbesondere den Gutachten der Behörde gemäß Artikel 22, anderen angesichts des betreffenden Sachverhalts berücksichtigenswerten Faktoren sowie – falls die in Artikel 7 Absatz 1 dargelegten Umstände vorliegen – dem Vorsorgeprinzip Rechnung zu tragen, um die allgemeinen Ziele des Lebensmittelrechts gemäß Artikel 5 zu erreichen.“

11.      Art. 7 („Vorsorgeprinzip“) lautet:

„(1)      In bestimmten Fällen, in denen nach einer Auswertung der verfügbaren Informationen die Möglichkeit gesundheits-schädlicher Auswirkungen festgestellt wird, wissenschaftlich aber noch Unsicherheit besteht, können vorläufige Risikomanagementmaßnahmen zur Sicherstellung des in der Gemeinschaft gewählten hohen Gesundheitsschutzniveaus getroffen werden, bis weitere wissenschaftliche Informationen für eine umfassendere Risikobewertung vorliegen.

(2)      Maßnahmen, die nach Absatz 1 getroffen werden, müssen verhältnismäßig sein und dürfen den Handel nicht stärker beeinträchtigen, als dies zur Erreichung des in der Gemeinschaft gewählten hohen Gesundheitsschutzniveaus unter Berücksichtigung der technischen und wirtschaftlichen Durchführbarkeit und anderer angesichts des betreffenden Sachverhalts für berücksichtigenswert gehaltener Faktoren notwendig ist. Diese Maßnahmen müssen innerhalb einer angemessenen Frist überprüft werden, die von der Art des festgestellten Risikos für Leben oder Gesundheit und der Art der wissenschaftlichen Informationen abhängig ist, die zur Klärung der wissenschaftlichen Unsicherheit und für eine umfassendere Risikobewertung notwendig sind.“

12.      Die Art. 53 und 54 der Verordnung Nr. 178/2002 regeln Sofortmaßnahmen in Bezug auf Lebensmittel und Futtermittel mit Ursprung in der Gemeinschaft oder auf aus Drittländern eingeführte Lebensmittel und Futtermittel.

13.      Art. 53 Abs. 1 bestimmt:

„Ist davon auszugehen, dass ein Lebensmittel oder Futtermittel mit Ursprung in der Gemeinschaft oder ein aus einem Drittland eingeführtes Lebensmittel oder Futtermittel wahrscheinlich ein ernstes Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder für die Umwelt darstellt und dass diesem Risiko durch Maßnahmen des betreffenden Mitgliedstaats oder der betreffenden Mitgliedstaaten nicht auf zufrieden stellende Weise begegnet werden kann, so trifft die Kommission nach dem in Artikel 58 Absatz 2 genannten Verfahren von sich aus oder auf Verlangen eines Mitgliedstaats unverzüglich eine oder mehrere der folgenden Maßnahmen …“

14.      Art. 54 bestimmt:

„(1)      Setzt ein Mitgliedstaat die Kommission offiziell von der Notwendigkeit in Kenntnis, Sofortmaßnahmen zu ergreifen, und hat die Kommission nicht gemäß Artikel 53 gehandelt, so kann der Mitgliedstaat vorläufige Schutzmaßnahmen ergreifen. In diesem Fall unterrichtet er die anderen Mitgliedstaaten und die Kommission unverzüglich.

(2)      Innerhalb von 10 Arbeitstagen befasst die Kommission den mit Artikel 58 Absatz 1 eingesetzten Ausschuss nach dem in Artikel 58 Absatz 2 genannten Verfahren mit der Frage der Verlängerung, der Änderung oder der Aufhebung der vorläufigen nationalen Schutzmaßnahmen.

(3)      Der Mitgliedstaat darf seine vorläufigen nationalen Schutzmaßnahmen so lange beibehalten, bis die Gemeinschaftsmaßnahmen erlassen sind.“

15.      Art. 58 Abs. 1 lautet:

„Die Kommission wird von einem Ständigen Ausschuss für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit (im Folgenden ‚der Ausschuss‘ genannt) unterstützt, der sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt und in dem der Vertreter der Kommission den Vorsitz führt. Der Ausschuss wird nach Fachgruppen organisiert, die alle einschlägigen Themen behandeln.“

B.      Italienisches Recht

16.      Durch Dekret vom 12. Juli 2013(5) wurde der Anbau von Maissorten MON 810, die von genetisch verändertem Saatgut herrühren, in Italien verboten, bis Gemeinschaftsmaßnahmen gemäß Art. 54 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2002/178 erlassen werden, keinesfalls jedoch für länger als 18 Monate ab dem Tag des Erlasses der betreffenden Maßnahme. Durch Dekret vom 22. Januar 2015(6) wurde die Geltung des Verbots weiter verlängert.

17.      Art. 4 Abs. 8 des Decreto-legge vom 24. Juni 2014(7) sieht vor:

„Sofern die Handlung nicht den Tatbestand einer schwereren Straftat erfüllt, wird mit Geldstrafe von 25 000 Euro bis 50 000 Euro bestraft, wer gegen ein durch Maßnahmen nach den Art. 53 und 54 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002, darunter auch durch vorläufige Maßnahmen, erlassenes Anbauverbot verstößt. Der für die Straftat nach diesem Absatz Verantwortliche ist außerdem verpflichtet, auf eigene Kosten und nach Maßgabe der Auflagen, die von der zuständigen Aufsichtsbehörde in Wahrnehmung ihrer kriminalpolizeilichen Aufgaben erteilt worden sind, den Anbau der verbotenen Saaten zu beseitigen sowie innerhalb der Fristen und gemäß den Verfahren, die von der zuständigen Region für das betreffende Gebiet festgelegt worden sind, Maßnahmen der primären und der Ausgleichssanierung zu treffen.“

III. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18.      Durch Entscheidung vom 22. April 1998(8) ließ die Europäische Kommission das Inverkehrbringen von genetisch verändertem MON‑810-Mais zu. In ihrer Entscheidung nahm die Kommission auf die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses „Pflanzen“ vom 10. Februar 1998 Bezug, wonach es keinen Grund zu der Annahme gebe, dass das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses eine Gefahr für Mensch oder Umwelt darstelle.

19.      Mit Schreiben vom 11. April 2013 ersuchte die italienische Regierung die Kommission, Sofortmaßnahmen nach Art. 53 der Verordnung Nr. 178/2002 zu erlassen, um den Anbau von genetisch verändertem MON‑810-Mais zu verbieten. Zur Begründung ihres Ersuchens reichte die italienische Regierung wissenschaftliche Studien ein, die der Consiglio per la ricerca e la sperimentazione in agricoltura (CRA) (Rat für Agrarforschung und landwirtschaftliche Versuche) und das Istituto Superiore per la Protezione e la Ricerca Ambientale) (ISPRA) (Institut für Umweltschutz und Umweltforschung) erstellt hatten.

20.      Am 17. Mai 2013 antwortete die Kommission der italienischen Regierung, dass ihre Vorprüfung keine dringende Notwendigkeit ergeben habe, Maßnahmen nach den Art. 53 und 54 der Verordnung Nr. 178/2002 zu erlassen.

21.      Die Kommission erklärte allerdings auch, dass sie zur Durchführung einer eingehenderen Analyse der von Italien vorgelegten wissenschaftlichen Daten die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority, im Folgenden: EFSA) um eine Bewertung dieser Daten gebeten habe. Am 29. Mai 2013 ersuchte die Kommission die EFSA, diese Beweise zu bewerten.

22.      Die EFSA erstellte daraufhin das wissenschaftliche Gutachten 3371 vom 24. September 2013, in dem sie zu folgendem Ergebnis kam: „In den Unterlagen, die Italien zur Stützung der laufenden Sofortmaßnahme in Bezug auf MON‑810-Mais vorgelegt hat, hat das [für genetisch veränderte Organismen (GVO) zuständige] Gremium der EFSA keine neuen wissenschaftlichen Beweise gefunden, die die mitgeteilten Sofortmaßnahmen stützen und seine früheren Ergebnisse hinsichtlich der Sicherheit von MON‑810-Mais in Frage stellen würden (EFSA, 2009, 2011 a, b, 2012 a, b, c, d). Das GVO-Gremium der EFSA ist daher der Ansicht, dass seine früheren Ergebnisse hinsichtlich der Risikobewertung von MON‑810-Mais sowie seine früheren Empfehlungen in Bezug auf Risikoreduzierungsmaßnahmen und Überwachung gültig und anwendbar bleiben …“.

23.      Zwischenzeitlich hatte die italienische Regierung ungeachtet der Erklärung der Kommission, die dringende Notwendigkeit von Sofortmaßnahmen sei nicht nachgewiesen worden, auf der Grundlage von Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 in Verbindung mit Art. 54 der Verordnung Nr. 178/2002 das Dekret vom 12. Juli 2013 über das Verbot des Anbaus von Sorten von genetisch verändertem MON‑810-Mais erlassen.

24.      Nach dem Erlass dieser Maßnahme Italiens sah die Kommission davon ab, den Ständigen Ausschuss für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit gemäß Art. 54 Abs. 2 und Art. 58 Abs. 1 der Verordnung Nr. 178/2002 anzurufen. Die Kommission erhielt die Zulassung von MON‑810-Mais aufrecht.

25.      Herr Fidenato u. a. mussten sich vor dem Tribunale di Udine (Bezirksgericht Udine) wegen des Vorwurfs des gegen das Dekret verstoßenden Anbaus von genetisch verändertem MON‑810-Mais verantworten. Gegen sie erging ein Strafbefehl, mit dem die Antragsteller wegen eines Verstoßes gegen Art. 4 Abs. 8 des Decreto-legge vom 24. Juni 2014 zu Strafen verurteilt wurden.

26.      Gegen diesen Strafbefehl legten Herr Fidenato u. a. Einspruch ein. Sie machten geltend, das Dekret sei rechtswidrig, weil es unter Verstoß gegen Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 und die Art. 53 und 54 der Verordnung Nr. 178/2002 zustande gekommen worden sei.

27.      Mit Beschluss vom 10. Dezember 2015 hat das Tribunale di Udine (Bezirksgericht Udine) dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

a)      Ist die Kommission, wenn sie von einem Mitgliedstaat angerufen wird, auch dann, wenn sie der Ansicht ist, dass für bestimmte Lebensmittel oder Futtermittel kein ernstes und offensichtliches Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier bzw. für die Umwelt besteht, nach Art. 54 Abs. 1 der Verordnung Nr. 178/2002 verpflichtet, Sofortmaßnahmen im Sinne von Art. 53 der Verordnung Nr. 178/2002 zu ergreifen?

b)      Darf der Mitgliedstaat, der die Kommission angerufen hat, wenn die Kommission ihm mitteilt, dass das Ergebnis ihrer Prüfung nicht seinem Begehren entspricht – was logischerweise die Notwendigkeit, Sofortmaßnahmen zu erlassen, ausschließt –, und aus diesem Grund nicht die von diesem Mitgliedstaat begehrten Sofortmaßnahmen im Sinne von Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 trifft, nach Art. 53 der Verordnung Nr. 178/2002 vorläufige Sofortmaßnahmen treffen?

c)      Können Erwägungen im Zusammenhang mit dem Vorsorgeprinzip, die über die Parameter des ernsten und offensichtlichen Risikos für die Gesundheit von Mensch und Tier bzw. für die Umwelt bei der Verwendung eines Lebensmittels oder Futtermittels hinausgehen, das Treffen von vorläufigen Sofortmaßnahmen seitens eines Mitgliedstaats nach Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 rechtfertigen?

d)      Kann ein Mitgliedstaat, der die Europäische Kommission angerufen hat, wenn es klar und offensichtlich ist, dass diese zu der Auffassung gelangt ist, dass die materiellen Voraussetzungen für das Treffen von Sofortmaßnahmen für ein Lebensmittel oder Futtermittel nicht vorliegen, dies in der Folge durch das wissenschaftliche Gutachten der EFSA bestätigt wurde und diese Ergebnisse dem betreffenden Mitgliedstaat schriftlich übermittelt wurden, seine vorläufigen Sofortmaßnahmen weiter in Kraft lassen und/oder die Gültigkeitsdauer dieser vorläufigen Sofortmaßnahmen verlängern, wenn der vorläufige Zeitraum, für den sie erlassen wurden, abgelaufen ist?

28.      Die griechische und die italienische Regierung sowie die Kommission haben Erklärungen eingereicht. Herr Fidenato, die italienische Regierung und die Kommission haben in der Verhandlung vom 9. Februar 2017 mündliche Ausführungen gemacht.

IV.    Würdigung

29.      Entsprechend der Bitte des Gerichtshofs befassen sich die vorliegenden Schlussanträge schwerpunktmäßig mit der dritten Vorlagefrage des nationalen Gerichts. Mit dieser Frage möchte das nationale Gericht wissen, ob Sofortmaßnahmen auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips wegen Risiken getroffen werden dürfen, die nicht ausdrücklich in Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 genannt sind. Anders ausgedrückt fragt das nationale Gericht nach dem Verhältnis des Vorsorgeprinzips zu Sofortmaßnahmen nach Art. 34, und zwar danach, ob das Vorsorgeprinzip die Voraussetzungen in Bezug auf ein ernstes und offensichtliches Risiko im Sinne des Art. 34 ändern oder erweitern kann.

30.      Meine Antwort auf diese Frage lautet kurzgefasst: nein. Ausführlicher begründe ich meine Antwort in den vorliegenden Schlussanträgen in folgender inhaltlicher Reihenfolge. Zuerst erläutere ich in allgemeiner Form das Vorsorgeprinzip, wie es in Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 niedergelegt ist (Abschnitt 1). Als Zweites analysiere ich Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 (Abschnitt 2). Drittens untersuche ich das Verhältnis zwischen Art. 34 und dem Vorsorgeprinzip und erläutere, warum dieses Prinzip meines Erachtens lediglich als Leitlinie für die Auslegung von Art. 34 herangezogen werden darf, ohne dessen Anwendungsbereich zu erweitern (Abschnitt 3). Abschließend untersuche ich die möglichen Auswirkungen der Richtlinie 2015/412(9) (Abschnitt 4).

1.      Das Vorsorgeprinzip

31.      Das Vorsorgeprinzip ist in einer Gesellschaft, die zunehmend als „Risikogesellschaft“ beschrieben wird, Ausfluss der Tugend der Besonnenheit(10). Eine solche Gesellschaft ist durch ungewisse Risiken gekennzeichnet, die mit neuen Technologien und allgemeiner mit raschem wissenschaftlichem Fortschritt verbunden sind. In einer solchen Gesellschaft werden staatliche Behörden sich gegebenenfalls auf eine „Handlungsmaxime für unsichere Gefahrenlagen“(11) stützen wollen, aus der sich für verantwortliche Unternehmen eine Unterlassungspflicht ergeben kann. Das Vorsorgeprinzip scheint die Aufgabe einer solchen Maxime zu übernehmen.

32.      Das Vorsorgeprinzip rechtfertigt Vorsorgemaßnahmen zur Vermeidung von Risiken, die aufgrund wissenschaftlicher Unsicherheit noch nicht vollständig festgestellt oder nachvollzogen worden sind. Definiert man das Prinzip in einem solchen umfassenden Sinne, könnte es so ausgelegt werden, dass es eine große Bandbreite von Risiken umfasst, die eine Vielzahl verschiedener Belange gefährden, ob es sich nun um die Umwelt, Gesundheit, öffentliche Sicherheit, soziale Gerechtigkeit oder gar um die Sittlichkeit handelt. Wenn man einem solchen weiten Verständnis den Vorzug gibt, besteht die Schwierigkeit allerdings darin, zu bestimmen, wo die Grenze zu ziehen ist, um zu verhindern, dass sich das Vorsorgeprinzip zu einer universellen Formel zur Verhinderung von Innovation verwandelt. Denn per definitionem impliziert Innovation gemessen am vorhandenen Wissen Neuheit.

33.      Im Unionsrecht wird das Vorsorgeprinzip allerdings offenbar enger verstanden(12).

34.      Im Primärrecht findet sich das Vorsorgeprinzip in Art. 191 Abs. 2 AEUV. Diese Bestimmung ist jedoch nur im Zusammenhang mit der Umweltpolitik der Union anwendbar. Im Sekundärrecht finden auch andere Politikfelder Berücksichtigung, etwa die Gesundheit. Konkret in Bezug auf genetisch veränderte Organismen schaffen die Richtlinie 2001/18(13) und die Verordnung Nr. 1829/2003 einen umfassenden Rechtsrahmen für die Zulassung solcher Organismen. In der Verordnung Nr. 1829/2003 findet das Vorsorgeprinzip keine Erwähnung. In der Richtlinie 2001/18 dagegen wird das Vorsorgeprinzip mehrfach erwähnt, ohne allerdings ausdrücklich definiert zu werden(14).

35.      Im Bereich des Lebensmittelrechts ist das Vorsorgeprinzip (vom Unionsgesetzgeber) in Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 definiert worden. Diese Definition umfasst gewissermaßen vier Tatbestandsmerkmale: i) die Art des geschützten Belangs, ii) das vorhandene Maß an (Un‑)Sicherheit, iii) die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme und iv) die Vorläufigkeit der auf der Grundlage der Risikobewertung getroffenen Maßnahme.

36.      Erstens nennt Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 nur einen Belang, für den das Vorsorgeprinzip gelten soll: die Gesundheit. Daher kann kein anderer Belang den Erlass von Maßnahmen nach Art. 7 rechtfertigen. Dieses enge Verständnis knüpft logisch an das übergeordnete Ziel der Verordnung Nr. 178/2002 an, ein hohes Maß an Schutz für Leben und Gesundheit des Menschen zu gewährleisten(15).

37.      Zweitens kann mit Blick auf das Maß an Unsicherheit, das für die Ergreifung von Maßnahmen auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips erforderlich ist, das Risiko nicht wirksam mit einer rein hypothetischen Betrachtung begründet werden, die auf bloße, wissenschaftlich noch nicht verifizierte Vermutungen gestützt wird(16). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „erfordert eine korrekte Anwendung des Vorsorgeprinzips erstens die Bestimmung der möglicherweise negativen Auswirkungen der betreffenden Stoffe oder Lebensmittel auf die Gesundheit und zweitens eine umfassende Bewertung des Gesundheitsrisikos auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden zuverlässigsten wissenschaftlichen Daten und der neuesten Ergebnisse der internationalen Forschung“(17).

38.      Weiter hat der Gerichtshof festgestellt: „Wenn es sich als unmöglich erweist, das Bestehen oder den Umfang des behaupteten Risikos mit Sicherheit festzustellen, weil die Ergebnisse der durchgeführten Studien unzureichend, nicht schlüssig oder ungenau sind, die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Schadens für die Gesundheit der Bevölkerung jedoch fortbesteht, falls das Risiko eintritt, rechtfertigt daher das Vorsorgeprinzip den Erlass beschränkender Maßnahmen, sofern sie objektiv und nicht diskriminierend sind“(18).

39.      Demnach setzt der Erlass von Maßnahmen nach Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 voraus, dass die in Art. 6 der Verordnung vorgeschriebene Bewertung sämtlicher zum gegebenen Zeitpunkt verfügbarer Informationen durchgeführt wird(19). Diese Bewertung muss eine wissenschaftliche Unsicherheit hinsichtlich der möglichen schädlichen Auswirkungen eines Lebensmittels auf die Gesundheit zu Tage gefördert haben(20).

40.      Drittens muss nach Art. 7 eine auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips getroffene Maßnahme verhältnismäßig sein(21). Nach Auffassung des Gerichtshofs darf eine solche Maßnahme „den Handel nicht stärker beeinträchtigen, als dies zur Erreichung des in der Gemeinschaft gewählten hohen Gesundheitsschutzniveaus unter Berücksichtigung der technischen und wirtschaftlichen Durchführbarkeit sowie anderer angesichts des betreffenden Sachverhalts für berücksichtigenswert gehaltener Faktoren notwendig ist“(22). Zwischen dem hohen Gesundheitsschutzniveau und dem wirksamen Funktionieren des Binnenmarkts muss ein Gleichgewicht hergestellt werden.

41.      Schließlich muss die Risikomanagementmaßnahme vorläufig sein. Die Vorläufigkeit ist dem Vorsorgeprinzip inhärent, da Unsicherheit vom Begriff der Vorsorge nicht zu trennen ist(23). Wenn die wissenschaftliche Unsicherheit nicht mehr besteht, kann das Vorsorgeprinzip die Vorsorgemaßnahmen nicht länger rechtfertigen, es sei denn, es ergeben sich neue Informationen über das Bestehen eines Risikos.

42.      Auf der Grundlage dieser vier verschiedenen Tatbestandsmerkmale darf, wenn eine möglichst umfassende Risikobewertung ergeben hat, dass ein Gesundheitsrisiko nicht ausgeschlossen werden kann, eine verhältnismäßige und vorläufige Risikomanagementmaßnahme erlassen werden, obwohl der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis noch keine verlässliche Schlussfolgerung über die Wahrscheinlichkeit schädlicher Auswirkungen zulässt.

2.      Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003

43.      Nach Art. 34 werden, wenn „davon auszugehen [ist], dass ein nach dieser Verordnung zugelassenes oder mit ihr in Einklang stehendes Erzeugnis wahrscheinlich ein ernstes Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt darstellt, … Maßnahmen nach den Verfahren der Artikel 53 und 54 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 getroffen“.

44.      Der Erlass von Sofortmaßnahmen nach Art. 34 setzt voraus, dass mehrere materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Voraussetzungen erfüllt sind.

45.      Erstens sind die Belange, die den Erlass von Maßnahmen nach Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 rechtfertigen, nicht auf die (menschliche) Gesundheit beschränkt. Umfasst sind auch die Tiergesundheit und die Umwelt. Die Einbeziehung des Schutzes der Tiergesundheit und der Umwelt entspricht logisch dem übergeordneten Ziel der Verordnung(24).

46.      Zweitens ist der erforderliche Grad an Gewissheit, dass das behauptete Risiko eintritt, relativ hoch: Es muss „davon auszugehen“ sein, dass das betreffende Erzeugnis „wahrscheinlich ein ernstes Risiko darstellt“. Der Gerichtshof hat im Urteil Monsanto entschieden, dass die Ausdrücke „wahrscheinlich“ und „ernstes Risiko“ so zu verstehen sind, dass sie sich auf ein erhebliches Risiko beziehen, das offensichtlich die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt gefährdet. Dieses Risiko muss auf der Grundlage neuer Anhaltspunkte festgestellt werden, die auf zuverlässigen wissenschaftlichen Daten beruhen(25). Der Gerichtshof gelangte ferner zu dem Ergebnis, dass „die Mitgliedstaaten nach Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 für den Erlass von Sofortmaßnahmen außer der Dringlichkeit das Vorliegen einer Situation begründen müssen, in der ein erhebliches Risiko bestehen kann, das offensichtlich die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt gefährdet“(26).

47.      Drittens stellt Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 durch seinen Querverweis auf die Art. 53 und 54 der Verordnung Nr. 178/2002 auch eine Reihe von verfahrensrechtlichen Anwendungsvoraussetzungen auf. Diese sind für die Beantwortung der dritten Frage des vorlegenden Gerichts jedoch nicht wichtig, weil es darin um den erforderlichen Grad der (Un‑)Sicherheit und die geschützten Belange geht. Es bedarf allerdings keiner näheren Erläuterung, dass die Maßnahmen, die sowohl von den Mitgliedstaaten als auch von der Kommission erlassen werden dürfen, ihrem Wesen nach vorläufig und zeitlich begrenzt sind.

48.      Demnach folgt aus Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 in Verbindung mit den Art. 53 und 54 der Verordnung Nr. 178/2002, dass die Mitgliedstaaten vorläufige Schutzmaßnahmen treffen können, wenn aufgrund neuer wissenschaftlicher Informationen davon auszugehen ist, dass ein bereits zugelassenes Erzeugnis ein erhebliches Risiko darstellt, das offensichtlich die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt gefährdet.

3.      Verhältnis von Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 und Vorsorgeprinzip

49.      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof erfahren, ob Sofortmaßnahmen auch aufgrund von Risiken getroffen werden können, die in Art. 34 nicht ausdrücklich erwähnt sind. Diese Frage zielt im Prinzip auf die ersten beiden in den vorhergehenden Abschnitten festgestellten Voraussetzungen ab, nämlich auf die Art der geschützten Belange und das für den Erlass solcher Maßnahmen erforderliche Maß an (Un‑)Sicherheit. Wie aus den vorherigen beiden Abschnitten hervorgeht, unterscheiden sich Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 und das Vorsorgeprinzip, wie es in Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 seinen Niederschlag gefunden hat, in dieser Hinsicht.

50.      Die Kommission verneint in ihrem Vorbringen gegenüber dem Gerichtshof, dass das Vorsorgeprinzip den Anwendungsbereich von Art. 34 erweitern könne. Sie vertritt den Standpunkt, dass Sofortmaßnahmen, wie sich aus Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 ergebe, durch ein ernstes und offensichtliches Risiko für die Gesundheit und die Umwelt gerechtfertigt sein müssten. Eine solche Sofortmaßnahme sei rechtmäßig, wenn sie durch einen Notfall sowie durch eine möglichst umfassende Risikobewertung gerechtfertigt sei, die das Bestehen eines ernsten Risikos bestätige, das offensichtlich die Gesundheit und die Umwelt gefährden könne. Dieses Risiko müsse auf der Grundlage zuverlässiger wissenschaftlicher Daten festgestellt werden, aus denen hervorgehe, dass die betreffende Maßnahme mangels unionsrechtlicher Bestimmungen im Sinne des Art. 53 der Verordnung Nr. 178/2002 erforderlich sei.

51.      Die italienische Regierung stimmt zu, dass Sofortmaßnahmen nach Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 darauf gestützt werden müssten, dass Risiken für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder für die Umwelt bestünden. Dies hindere die Mitgliedstaaten jedoch selbst in den Fällen, in denen die Kommission keine derartigen Risiken festgestellt habe, nicht daran, gemäß Art. 54 der Verordnung Nr. 178/2002 Sofortmaßnahmen auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips zu erlassen.

52.      Die griechische Regierung macht geltend, Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 gestatte es den Mitgliedstaaten, Sofortmaßnahmen aus Gründen zu erlassen, die einen Zusammenhang zum Vorsorgeprinzip aufwiesen, jedoch nicht notwendig die Kriterien eines ernsten und offensichtlichen Risikos für die Gesundheit oder die Umwelt erfüllten. Bei der Risikoanalyse dürften auch die Eigenart der Erzeugnisse, die wissenschaftliche Unsicherheit hinsichtlich der Auswirkungen dieser Erzeugnisse auf die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt, die besonderen Erzeugungs- und Anbaumethoden der Mitgliedstaaten, die geografischen, natürlichen und klimatischen Bedingungen sowie alle sonstigen Parameter, die einen Einfluss auf die Gefährlichkeit des Erzeugnisses haben könnten, berücksichtigt werden.

53.      Meines Erachtens dürfen Sofortmaßnahmen von den Mitgliedstaaten nur dann erlassen werden, wenn die in Art. 34 niedergelegten Voraussetzungen erfüllt sind. Obwohl auf das in Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 verankerte Vorsorgeprinzip im Zusammenhang mit einem von der Verordnung Nr. 1829/2003 erfassten Erzeugnis als Auslegungshilfe zurückgegriffen werden darf, darf dieses Prinzip, wie ich meine, nicht dazu verwendet werden, den Wortlaut des Art. 34 auszudehnen (oder vielmehr umzuformulieren).

54.      In den folgenden Abschnitten erläutere ich, a) warum das in Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 niedergelegte Vorsorgeprinzip für die Auslegung des Art. 34 von Belang ist, bevor ich b) aufzeige, dass seine Aufgabe im vorliegenden Fall tatsächlich rein interpretatorisch ist.

a)      Das Vorsorgeprinzip als allgemeiner Grundsatz des Lebensmittelrechts

55.      Das Vorsorgeprinzip des Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 kann ganz allgemein als Leitlinie für die Auslegung des Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 dienen. Außerdem kann dieses Prinzip möglicherweise herangezogen werden, wenn Unsicherheit bezüglich der Auslegung sonstiger Bestimmungen der Verordnung Nr. 1829/2003 besteht. Dies folgt aus dem systematischen Zusammenhang der beiden Verordnungen, der in Art. 1 der Verordnung Nr. 1829/2003 ausdrücklich bestätigt wird.

56.      In systematischer Hinsicht legt die Verordnung Nr. 178/2002, wie aus ihren Abschnittstiteln ersichtlich ist, die allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts fest. Die Verordnung Nr. 1829/2003 regelt demgegenüber den konkreten Bereich der genetisch veränderten Lebens- und Futtermittel. Demnach ist die erstere Verordnung, soweit dies nicht ausdrücklich ausgeschlossen worden ist, potenziell auf alle Lebensmittelbereiche anwendbar, d. h. auf „alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden“(27). Diese Definition umfasst denklogisch auch Lebensmittel, die GVO enthalten, aus GVO bestehen oder aus GVO hergestellt wurden, und die somit genetisch veränderte Lebensmittel darstellen, bei denen es sich um eine konkrete Unterkategorie innerhalb der allgemeineren Kategorie der „Lebensmittel“ handelt(28).

57.      Innerhalb dieser für den gesamten Bereich des Lebensmittelrechts geltenden Struktur einer allgemeinen Verordnung mit ihren „allgemeinen Grundsätzen des Lebensmittelrechts“ (vgl. Abschnitt 1 des Kapitels 2 der Verordnung Nr. 178/2002) kommt die allgemeine Geltung des Vorsorgeprinzips einer „allgemeinen Geltung in zwei Dimensionen“ gleich. Außerdem wird dem Vorsorgeprinzip ausdrücklich eine horizontale Wirkung zuerkannt, die über den gesamten Bereich hinwegreicht.

58.      Abgesehen von dem übergreifenden systematischen Argument wird die Geltung der „allgemeinen Grundsätze des Lebensmittelrechts“ ausdrücklich in Art. 1 der Verordnung Nr. 1829/2003 bestätigt. Diese Bestimmung bringt klar zum Ausdruck, dass das Ziel der Verordnung Nr. 1829/2003 im Einklang mit den in der Verordnung Nr. 178/2002 niedergelegten allgemeinen Grundsätzen verstanden werden muss. Es darf davon ausgegangen werden, dass die „allgemeinen Grundsätze des Lebensmittelrechts“ unter die allgemeinen Grundsätze der Verordnung Nr. 178/2002 eingeordnet werden dürfen.

59.      Daher gelten die in Abschnitt 1 des Kapitels 2 der Verordnung Nr. 178/2002 aufgeführten allgemeinen Grundsätze des Lebensmittelrechts einschließlich des Vorsorgeprinzips auch für genetisch veränderte Lebensmittel.

b)      Die Bedeutung des Vorsorgeprinzips für die Auslegung

60.      Der Umstand, dass das in Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 niedergelegte Vorsorgeprinzip horizontale oder übergreifende Geltung in allen Bereichen des Lebensmittelrechts hat, bedeutet jedoch sicherlich nicht, dass die Mitgliedstaaten berechtigt sind, unmittelbar auf seiner Grundlage und unabhängig von den eindeutig und ausdrücklich im einschlägigen Sekundärrecht festgelegten Voraussetzungen oder Verfahren tätig zu werden.

61.      Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 kann als besondere Ausprägung des Vorsorgeprinzips im konkreten Kontext genetisch veränderter Lebens- und Futtermittel in dringlichen Fällen angesehen werden.

62.      Der Gerichtshof hat mit Blick auf die in Art. 12 der Verordnung Nr. 258/97 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten(29) enthaltene Schutzklausel bereits ausgeführt, dass „die Schutzklausel … als besondere Ausprägung des Vorsorgeprinzips anzusehen ist. [Daher] sind Voraussetzungen für die Anwendung dieser Klausel unter gebührender Berücksichtigung dieses Prinzips auszulegen“(30).

63.      Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 übernimmt in dieser Verordnung eine ähnliche Funktion wie Art. 12 in der Verordnung Nr. 258/97. Darüber hinaus kann Art. 34 auch mit einer anderen Schutzklausel im konkreten Bereich genetisch veränderter Organismen verglichen werden, nämlich mit der in der Richtlinie 2001/18 enthaltenen Schutzklausel(31). Trotz geringfügiger Unterschiede im Wortlaut sind Art. 23 der Richtlinie 2001/18 und Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 vergleichbar, da beide es den Mitgliedstaaten gestatten, beschränkende Maßnahmen zu erlassen, wenn neue oder zusätzliche Informationen bzw. wissenschaftliche Erkenntnisse Grund zu der Annahme geben, dass ein GVO eine Gefahr für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt darstellt(32).

64.      Die Tatsache, dass Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 eine besondere Ausprägung des Vorsorgeprinzips in dem von ihm geregelten Kontext ist, steht einer fortdauernden Bedeutung des Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 für die Auslegung nicht entgegen. Tatsächlich hat der Gerichtshof im Urteil Monsanto ausgeführt, dass die in Art. 34 festgelegten Voraussetzungen „unter Berücksichtigung des Wortlauts von Art. 54 der Verordnung Nr. 178/2002, aber auch der Zielsetzungen [der] Verordnung [Nr. 1829/2003] und des Vorsorgegrundsatzes mit Blickrichtung darauf auszulegen [sind], dass ein hohes Maß an Schutz für Leben und Gesundheit des Menschen und gleichzeitig der freie Verkehr mit sicheren und gesunden Lebensmitteln und Futtermitteln, der ein wichtiger Aspekt des Binnenmarkts ist, gewährleistet werden“(33).

65.      Demnach ist das Vorsorgeprinzip für die Auslegung des Art. 34 von Bedeutung. Meines Erachtens beschränkt sich diese Funktion jedoch auf die Bereinigung etwaiger bei der Auslegung hervortretender Unklarheiten oder Unbestimmtheiten. Die Auslegung kann nicht so weit gehen, dass eindeutig festgelegte Voraussetzungen praktisch umformuliert werden.

66.      Ich stimme nicht der Argumentation der italienischen Regierung zu, dass Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 als Ausdruck des Vorsorgeprinzips im Bereich des Lebensmittelrechts herangezogen werden könne, um die in Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 festgelegten Voraussetzungen zu lockern.

67.      Es ist zunächst zu betonen, dass der Eindruck einer recht selektiven Lockerung der Voraussetzungen entsteht. Hinsichtlich der geschützten Belange möchte ich festhalten, dass Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 als Werte, die Sofortmaßnahmen rechtfertigen, sowohl die Tiergesundheit als auch die Umwelt nennt. Dagegen ist in Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 nur die (öffentliche, d. h. menschliche) Gesundheit erwähnt. Daher ist der Anwendungsbereich des Art. 34 hinsichtlich der Art der geschützten Belange tatsächlich weiter gefasst. Demzufolge könnten, folgte man der Argumentation der italienischen Regierung, eine Reihe von Zielen, die mit den Sofortmaßnahmen im Hinblick auf die Tiergesundheit und den Umweltschutz wohl unstreitig verfolgt werden sollen, eventuell ihre Legitimität verlieren.

68.      Ich glaube nicht, dass die italienische Regierung diesen Weg tatsächlich weiter beschreiten möchte. Ich verstehe die Argumentation der italienischen Regierung so, dass diese primär auf den Grad der (Un‑)Sicherheit abstellt, der für den Erlass von Sofortmaßnahmen erforderlich ist. Tatsächlich ist die in Art. 7 festgelegte Schwelle (nämlich, dass eine Möglichkeit schädlicher Auswirkungen festgestellt wurde, zugleich aber eine wissenschaftliche Unsicherheit fortbesteht) eindeutig niedriger angesiedelt als die in Art. 34 (es ist davon auszugehen, dass das Erzeugnis wahrscheinlich ein ernstes Risiko darstellt) formulierte. Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 könnte daher letztlich herangezogen werden, um das für den Erlass von Sofortmaßnahmen erforderliche Maß an Unsicherheit herabzusetzen.

69.      Dies ist allerdings abgesehen von den bereits dargelegten systematischen Gründen meines Erachtens aus mindestens drei Gründen nicht möglich. Es bestehen Bedenken hinsichtlich der Gesetzmäßigkeit, der einheitlichen Auslegung und Anwendung sowie wegen des jeweils unterschiedlichen verfahrensrechtlichen Zusammenhangs, in dem die beiden Bestimmungen gelten und ihre Wirkung entfalten.

70.      Erstens sind die Voraussetzungen, die für den Erlass von Sofortmaßnahmen erfüllt sein müssen, in Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 festgelegt. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit schreibt vor, dass staatliche Stellen bei der Umsetzung von Unionsrecht sowohl auf Unionsebene als auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten ausschließlich innerhalb der festgelegten Grenzen tätig werden, ohne dass sie die Voraussetzungen ändern dürfen. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit erlangt noch mehr Bedeutung, wenn Mitgliedstaaten daran gehen, auf der Grundlage einer eher großzügigen Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften strafrechtliche Sanktionen zu verhängen.

71.      Zweitens handelt es sich bei Art. 34 um eine Verordnungsvorschrift. Der Artikel muss daher unabhängig vom Urheber der Sofortmaßnahme, den Umständen oder dem betreffenden Mitgliedstaat einheitlich ausgelegt werden. Das Erfordernis der einheitlichen Auslegung folgt nicht nur aus dem Wesen einer Verordnung als solcher, sondern auch aus der besonderen Zielsetzung der Verordnung Nr. 1829/2003.

72.      Allgemein gesagt räumt eine Verordnung keinen weiteren Ermessensspielraum ein, als sich aus der zulässigen Auslegung der Verordnungsvorschrift in den Grenzen ihres Wortlauts ergibt. In der vorliegenden Situation sind die Voraussetzungen eines offensichtlichen und ernsten Risikos eindeutig festgelegt. Sicherlich können sich wie bei jedem unbestimmten Rechtsbegriff Zweifel hinsichtlich ihrer Anwendung in einem konkreten Fall ergeben. Das unterscheidet sich jedoch erheblich von einer Änderung dieser Begriffe als solcher.

73.      Insbesondere mit Blick auf die Verordnung Nr. 1829/2003 ist es offensichtlich, dass ihre einheitliche Anwendung von großer Bedeutung dafür ist, das Ziel der Verordnung zu erreichen, nämlich die Grundlage für ein hohes Schutzniveau für Leben und Gesundheit des Menschen, Gesundheit und Wohlergehen der Tiere, die Belange der Umwelt und die Verbraucherinteressen im Zusammenhang mit genetisch veränderten Lebensmitteln und Futtermitteln sicherzustellen(34).

74.      Schließlich ist auch die unterschiedliche Formulierung des Maßes an (Un‑)Sicherheit, das für die Anwendung von Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 einerseits und Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 andererseits erforderlich ist, wegen der unterschiedlichen verfahrensmäßigen und systematischen Wirk- und Funktionsweise der beiden Bestimmungen uneingeschränkt gerechtfertigt.

75.      Wie bereits oben in den Nrn. 55 bis 59 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt worden ist, gilt Art. 7 ganz allgemein für den gesamten Bereich des Lebensmittelrechts, auch für Erzeugnisse, bezüglich deren nie ein Zulassungsverfahren durchgeführt wurde. Dieser Umstand bedeutet, dass zur Rechtfertigung des Erlasses von Sofortmaßnahmen ein mittleres Maß an (Un‑)Sicherheit erforderlich ist, nämlich dass sämtliche aktuell verfügbaren wissenschaftlichen Daten bewertet wurden und trotzdem Unsicherheit fortbesteht.

76.      Im Gegensatz hierzu handelt es sich bei den Erzeugnissen, für die Art. 34 gilt, um „nach dieser Verordnung [bereits] zugelassene oder mit ihr im Einklang stehende Erzeugnisse“. Das Zulassungsverfahren bildet den Kern der Verordnung Nr. 1829/2003(35). Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, „[kommt d]er Vorsorgegrundsatz … gegebenenfalls in einem solchen Entscheidungsprozess zum Tragen“(36). Kein Lebens- oder Futtermittel, das GVO enthält oder aus solchen besteht oder das aus GVO hergestellt wird, darf zugelassen werden, wenn der Antragsteller nicht in geeigneter und ausreichender Weise nachgewiesen hat, dass der Organismus oder das Lebens- bzw. Futtermittel keine nachteiligen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt hat(37). Die Erzeugnisse, auf die Art. 34 Bezug nimmt, sind also vor ihrem Inverkehrbringen bereits einer umfassenden wissenschaftlichen Bewertung unter Beteiligung der EFSA unterzogen worden(38).

77.      Dementsprechend müssen Art. 34 und die darin enthaltene höhere Schwelle, was das Maß an (Un‑)Sicherheit angeht, im Zusammenhang mit und vor dem Hintergrund des zwingend vorgeschriebenen Zulassungsverfahrens für GVO gesehen werden. Da bereits eine umfassende wissenschaftliche Überprüfung stattgefunden hat, kann Art. 34 nur dann als Maßnahmengrundlage herangezogen werden, wenn vom Bestehen eines ernsten Risikos auszugehen ist. Damit Sofortmaßnahmen nach Art. 34 erlassen werden können, muss somit ein höheren Anforderungen genügender Nachweis erbracht werden, der typischerweise neue Risiken zum Gegenstand hat, die im Rahmen des Zulassungsverfahrens noch nicht geprüft oder bewertet wurden. Auch ist ziemlich klar, dass Art. 34 nicht dazu genutzt werden darf, die Zulassung auszuhebeln oder eine in dieser Phase durchgeführte wissenschaftliche Bewertung zu missachten.

78.      Zusammengefasst stellt Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 eine konkrete Ausprägung des Vorsorgeprinzips im besonderen Kontext genetisch veränderter Organismen dar, soweit es um Sofortmaßnahmen in diesem Zusammenhang geht. Diese doppelte Spezifität rechtfertigt die Unterschiede in der Formulierung dieses Prinzips, insbesondere hinsichtlich des erforderlichen Maßes an wissenschaftlicher (Un‑)Sicherheit. Obwohl das Vorsorgeprinzip so, wie es in Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 seinen Niederschlag gefunden hat, ein allgemeiner Grundsatz des Lebensmittelrechts bleibt, der auch im Untergebiet der genetisch veränderten Lebensmittel gilt, ändert dieses Prinzip doch nichts an den in Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 eindeutig festgelegten Voraussetzungen.

4.      Schlussbemerkung zur Richtlinie 2015/412

79.      Die italienische Regierung hat in ihren Erklärungen daran erinnert, dass die Mitgliedstaaten den Anbau von GVO gemäß der Richtlinie 2015/412 zur Änderung der Richtlinie 2001/18 aus anderen als mit der Gesundheit oder der Umwelt zusammenhängenden Gründen beschränken oder untersagen können. Sie hat ausgeführt, die Kommission habe auf der Grundlage dieser Richtlinie und auf Ersuchen der Mitgliedstaaten hin mit der Entscheidung vom 3. März 2016 den Anbau von genetisch verändertem MON‑810-Mais in 19 Mitgliedstaaten, darunter Italien, untersagt.

80.      Die italienische Regierung betont, dass zwar das von der Kommission erlassene Verbot und das nationale Dekret vom 12. Juli 2013 praktisch gesehen das gleiche Ergebnis hätten (Verbot des Anbaus von MON‑810-Mais), die Rechtsgrundlagen für diese beiden Verbote jedoch gänzlich unterschiedliche seien.

81.      Dem stimme ich zu.

82.      Selbstverständlich hat die Richtlinie 2015/412 den gesamten für GVO in der Union geltenden Rechtsrahmen erheblich verändert. Dies bedeutet jedoch insbesondere aus zwei Gründen nicht, dass hierdurch auch der Anwendungsbereich des Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 in Bezug auf den vorliegenden Fall verändert wird.

83.      Erstens ist die Richtlinie 2015/412 nach ihrer zeitlichen Geltung eindeutig nicht auf den vorliegenden Fall anwendbar. Sie trat erst im April 2015 in Kraft. Das von Italien erlassene Verbot datiert dagegen vom Juli 2013. Die Handlung, derentwegen Herr Fidenato u. a. verurteilt wurden, nämlich das Anpflanzen von MON‑810-Mais, fand offenbar im Jahr 2014 statt.

84.      Zweitens sind zwar in der Richtlinie 2015/412 eine Reihe von – beispielsweise die Stadt- und Raumordnung, Bodennutzung, agrarpolitische Ziele oder sozioökonomische Auswirkungen betreffenden – Gründen festgelegt, die den Erlass beschränkender Maßnahmen durch die Mitgliedstaaten rechtfertigen. Diese Gründe sind jedoch eindeutig auf den verfahrensrechtlichen Rahmen der Richtlinie beschränkt. Sie können weder nach der Richtlinie noch unter Berufung auf einen allumfassenden Begriff des Vorsorgeprinzips herangezogen werden, um zu rechtfertigen, dass der Wortlaut des Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 umgangen wird. Ein solches Vorgehen widerspricht dem eindeutigen Wortlaut der Bestimmung und dem oben erwähnten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit.

85.      Daher ist die Richtlinie 2015/412 für die Auslegung von Art. 34 der Verordnung Nr. 1829/2003 im vorliegenden Fall nicht von Belang.

V.      Ergebnis

86.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die dritte Vorlagefrage des Tribunale di Udine (Bezirksgericht Udine, Italien) wie folgt zu beantworten:

–      Art. 34 der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel gestattet, wenn er im Licht des Vorsorgeprinzips ausgelegt wird, den Mitgliedstaaten nur dann, Sofortmaßnahmen zu erlassen, wenn sie neben der Dringlichkeit das Vorliegen einer Situation begründen können, in der ein erhebliches Risiko bestehen kann, das offensichtlich die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt gefährdet. Das Vorsorgeprinzip verändert jedoch nicht die in Art. 34 dieser Verordnung aufgeführten Kriterien.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel (ABl. 2003, L 268, S. 1).


3      Urteil vom 8. September 2011, Monsanto u. a. (C‑58/10 bis C‑68/10, EU:C:2011:553).


4      Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. 2002, L 31, S. 1).


5      Decreto del 12 luglio 2013. Adozione delle misure d’urgenza ai sensi dell’art. 54 del regolamento (CE) n° 178/2002 concernente la coltivazione di varietà di mais geneticamente modificato MON 810 (Dekret vom 12. Juli 2013 zum Erlass von Sofortmaßnahmen im Sinne von Art. 54 der Verordnung über den Anbau von Sorten von genetisch verändertem Mais) (GURI Nr. 187 vom 10. August 2013).


6      Decreto del 22 gennaio 2015 (Dekret vom 22. Januar 2015) (GURI Nr. 33 vom 10. Februar 2015).


7      Disposizioni urgenti per il settore agricolo, la tutela ambientale e l’efficientamento energetico dell’edilizia scolastica e universitaria, il rilancio e lo sviluppo delle imprese, il contenimento dei costi gravanti sulle tariffe elettriche, nonché per la definizione immediata di adempimenti derivanti dalla normativa europea. Decreto-Legge convertito con modificazioni dalla Legge 11 Agosto 2014, n° 116 (Eilbestimmungen für den Agrarsektor, den Umweltschutz und die Energieeffizienz in Schul- und Hochschulgebäuden, die Wiederbelebung und Entwicklung von Unternehmen, die Eindämmung der auf den Stromtarifen lastenden Kosten und die sofortige Festlegung von Verpflichtungen, die sich aus dem Unionsrecht ergeben (GURI Nr. 192 vom 20. August 2014, Supplemento Ordinario Nr. 72).


8      Entscheidung der Kommission vom 22. April 1998 über das Inverkehrbringen von genetisch verändertem Mais (Zea mays L., Linie MON 810) gemäß der Richtlinie 90/220/EWG des Rates (ABl. 1998, L 131, S. 32).


9      Richtlinie (EU) 2015/412 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2015 zur Änderung der Richtlinie 2001/18/EG zu der den Mitgliedstaaten eingeräumten Möglichkeit, den Anbau von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) in ihrem Hoheitsgebiet zu beschränken oder zu untersagen (ABl. 2015, L 68, S. 1).


10      Vgl. Beck, U., Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Suhrkamp, 1986.


11      Schlussanträge des Generalanwalts Alber in der Rechtssache Monsanto Agricoltura Italia u. a. (C‑236/01, EU:C:2003:155, Nr. 108).


12      Vgl. im Sinne eines groben Überblicks die Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips (KOM[2000] 1 endgültig). Wegen eines Überblicks, wie die Gerichte diesen Grundsatz verstehen, vgl. José Luís da Cruz Vilaça, „The Precautionary Principle in EC Law“, in EU Law and Integration: Twenty Years of Judicial Application of EU Law, Hart Publishing, 2014, S. 321 bis 354.


13      Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates (ABl. 2001, L 106, S. 1).


14      So heißt es im achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/18, dass „der Grundsatz der Vorsorge bei der Ausarbeitung dieser Richtlinie berücksichtigt wurde und bei ihrer Umsetzung berücksichtigt werden muss“. Art. 1 lautet: „Entsprechend dem Vorsorgeprinzip ist das Ziel dieser Richtlinie die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten und der Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt …“. Ferner heißt es in Art. 4 Abs. 1: „Die Mitgliedstaaten tragen im Einklang mit dem Vorsorgeprinzip dafür Sorge, dass alle geeigneten Maßnahmen getroffen werden, damit die absichtliche Freisetzung oder das Inverkehrbringen von GVO keine schädlichen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt hat …“.


15      Vgl. den zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 178/2002.


16      Urteil vom 8. September 2011, Monsanto u. a. (C‑58/10 bis C‑68/10, EU:C:2011:553, Rn. 77).


17      Vgl. Urteile vom 9. September 2003, Monsanto Agricoltura Italia u. a. (C‑236/01, EU:C:2003:431, Rn. 113), vom 28. Januar 2010, Kommission/Frankreich (C‑333/08, EU:C:2010:44, Rn. 92), und vom 19. Januar 2017, Queisser Pharma (C‑282/15, EU:C:2017:26, Rn. 56).


18      Vgl. Urteile vom 28. Januar 2010, Kommission/Frankreich (C‑333/08, EU:C:2010:44, Rn. 93), vom 17. Dezember 2015, Neptune Distribution (C‑157/14, EU:C:2015:823, Rn. 81 und 82), vom 9. Juni 2016, Pesce u. a. (C‑78/16 und C 79/16, EU:C:2016:428, Rn. 47), und vom 19. Januar 2017, Queisser Pharma (C‑282/15, EU:C:2017:26, Rn. 57).


19      Zur erforderlichen Verknüpfung zwischen Art. 7 und Art. 6 der Verordnung Nr. 178/2002 vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Queisser Pharma (C‑282/15, EU:C:2016:589, Nrn. 48 bis 51).


20      Vgl. Urteil vom 19. Januar 2017, Queisser Pharma (C‑282/15, EU:C:2017:26, Rn. 57). Vgl. auch meine Schlussanträge in dieser Rechtssache (C‑282/15, EU:C:2016:589, Nr. 50).


21      Vgl. Urteile vom 17. Oktober 2013, Schaible (C‑101/12, EU:C:2013:661, Rn. 29), und vom 9. Juni 2016, Pesce u. a. (C‑78/16 und C‑79/16, EU:C:2016:428, Rn. 48).


22      Urteil vom 9. Januar 2017, Queisser Pharma (C‑282/15, EU:C:2017:26, Rn. 59).


23      So die Ausführungen des Gerichtshofs in den Urteilen vom 28. Januar 2010, Kommission/Frankreich (C‑333/08, EU:C:2010:44, Rn. 91), und vom 19. Januar 2017, Queisser Pharma (C‑282/15, EU:C:2017:26, Rn. 60).


24      Vgl. Art. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1829/2003.


25      Urteil vom 8. September 2011, Monsanto u. a. (C‑58/10 bis C‑68/10, EU:C:2011:553, Rn. 76). Hervorhebung nur hier.


26      Ebd., Rn. 81. Hervorhebung nur hier.


27      Art. 2 der Verordnung Nr. 178/2002.


28      Der Vollständigkeit halber wird hier klargestellt, dass die obige Begründung nicht auch für den anderen von der Verordnung Nr. 1829/2003 geregelten Bereich gilt, nämlich für genetisch veränderte Futtermittel. Futtermittel sind jedoch auch vom sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 178/2002 ausdrücklich ausgeschlossen.


29      Verordnung (EG) Nr. 258/97 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten (ABl. 1997, L 43, S. 1).


30      Vgl. Urteil vom 9. September 2003, Monsanto Agricoltura Italia u. a. (C‑236/01, EU:C:2003:431, Rn. 110).


31      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in Monsanto u. a. (C‑58/10 bis C‑68/10, EU:C:2011:170, Nrn. 59 bis 66).


32      Diese Schlussfolgerung ergibt sich implizit aus der Antwort, die der Gerichtshof auf die dritte Vorlagefrage im Urteil vom 8. September 2011, Monsanto u. a. (C‑58/10 bis C‑68/10, EU:C:2011:553, Rn. 75 bis 81) gegeben hat.


33      Urteil vom 8. September 2011, Monsanto u. a. (C‑58/10 bis C‑68/10, EU:C:2011:553). Hervorhebung nur hier.


34      Vgl. Art. 1 der Verordnung Nr. 1829/2003.


35      Vgl. Art. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1829/2003.


36      Vgl. Urteil vom 26. Mai 2005, Codacons (C‑132/03, EU:C:2005:310, Rn. 63).


37      Art. 4 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1829/2003.


38      Vgl. neunten Erwägungsgrund sowie die Art. 6 und 18 der Verordnung Nr. 1829/2003. Vgl. auch die nach der Richtlinie 2001/18 im Rahmen des Zulassungsverfahrens durchzuführende Umweltverträglichkeitsprüfung (vgl. Art. 4 Abs. 2, Art. 6 und Anhang II dieser Richtlinie).