Language of document : ECLI:EU:C:2013:485

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 18. Juli 2013(1)

Rechtssache C‑60/12

Marián Baláž

(Vorabentscheidungsersuchen des Vrchní soud v Praze [Tschechische Republik])

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2005/214/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen – ‚Möglichkeit …, die Sache vor ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen‘“





1.        Der Rahmenbeschluss 2005/214/JI(2) (im Folgenden: Rahmenbeschluss) erweitert die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Geldstrafen und Geldbußen. Durch den Rahmenbeschluss wird jeder Mitgliedstaat verpflichtet, der Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats über eine Geldstrafe oder Geldbuße Wirkung zu verleihen, wenn diese Entscheidung u. a. von einer nicht gerichtlichen Behörde erlassen wurde, vorausgesetzt, dass die betreffende Person „die Möglichkeit hatte, die Sache vor ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen“. Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen wird der Gerichtshof um Hinweise zur Auslegung dieses Begriffs ersucht. Bei der Behandlung dieser Problematik wird der Gerichtshof die Belange der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung solcher Sanktionen einerseits und den wirksamen Grundrechtsschutz andererseits in ein angemessenes Gleichgewicht zu bringen haben.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsvorschriften

 Rahmenbeschluss

2.        Die Erwägungsgründe 1, 2, 4 und 5 des Rahmenbeschlusses lauten:

„(1) Der Europäische Rat unterstützte auf seiner Tagung am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen innerhalb der Union werden sollte.

(2) Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung sollte für Geldstrafen oder Geldbußen von Gerichts- oder Verwaltungsbehörden gelten, um die Vollstreckung solcher Geldstrafen oder Geldbußen in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie verhängt worden sind, zu erleichtern.

(4) Dieser Rahmenbeschluss soll auch die wegen Zuwiderhandlungen gegen die Verkehrsvorschriften verhängten Geldstrafen und Geldbußen erfassen.

(5) Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 des Vertrags anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. …“

3.        Die nach dem Rahmenbeschluss anzuerkennenden Entscheidungen sind in Art. 1 Buchst. a Ziff. i bis iv definiert. Art. 1 Buchst. a Ziff. iii bestimmt:

„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck

a) ‚Entscheidung‘ eine rechtskräftige Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße durch eine natürliche oder juristische Person, die

iii)      von einer nicht gerichtlichen Behörde des Entscheidungsstaats in Bezug auf Handlungen erlassen wurde, die nach dessen innerstaatlichem Recht als Zuwiderhandlung gegen Rechtsvorschriften geahndet wurden, vorausgesetzt, dass die betreffende Person die Möglichkeit hatte, die Sache vor ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen;

…“

4.        In Art. 1 Buchst. b heißt es:

„[Der Ausdruck] ‚Geldstrafe oder Geldbuße‘ [bezeichnet] die Verpflichtung zur Zahlung

i)      eines in einer Entscheidung festgesetzten Geldbetrags aufgrund einer Verurteilung wegen einer Zuwiderhandlung;

…“

5.        Der Ausdruck „Entscheidungsstaat“ ist in Art. 1 Buchst. c definiert als der „Mitgliedstaat, in dem eine Entscheidung im Sinne dieses Rahmenbeschlusses ergangen ist“.

6.        Der Ausdruck „Vollstreckungsstaat“ ist in Art. 1 Buchst. d definiert als der „Mitgliedstaat, dem eine Entscheidung zum Zwecke der Vollstreckung übermittelt wurde“.

7.        Art. 3 („Grundrechte“) lautet:

„Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 des Vertrags.“

8.        Art. 4 regelt die Übermittlung einer Entscheidung zusammen mit einer Bescheinigung, für die ein Formblatt zu verwenden ist(3), an „[einen Mitgliedstaat], in dem die natürliche oder juristische Person, gegen die eine Entscheidung ergangen ist, über Vermögen verfügt oder Einkommen bezieht, sich in der Regel aufhält bzw., im Falle einer juristischen Person, ihren eingetragenen Sitz hat“.

9.        In Art. 5 („Anwendungsbereich“) sind die Straftaten und Verwaltungsübertretungen aufgezählt, bei deren Vorliegen Entscheidungen nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses anzuerkennen und zu vollstrecken sind. Art. 5 Abs. 1 sieht vor:

„(1) Die folgenden Straftaten und Verwaltungsübertretungen (Ordnungswidrigkeiten) führen – wenn sie im Entscheidungsstaat strafbar sind und so wie sie in dessen Recht definiert sind – gemäß diesem Rahmenbeschluss auch ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zur Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen:

–        gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßende Verhaltensweise …

…“

10.      Art. 6 („Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen“) lautet:

„Die zuständigen Behörden im Vollstreckungsstaat erkennen eine gemäß Artikel 4 übermittelte Entscheidung ohne jede weitere Formalität an und treffen unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen zu deren Vollstreckung, es sei denn, die zuständige Behörde beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung nach Artikel 7 geltend zu machen.“

11.      In Art. 7 sind die Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung aufgeführt. Art. 7 Abs. 3 sieht für bestimmte Gründe vor:

„Bevor die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats … beschließt, die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung ganz oder teilweise zu verweigern, konsultiert sie auf geeignete Art und Weise die zuständige Behörde des Entscheidungsstaats und bittet sie gegebenenfalls um die unverzügliche Übermittlung aller erforderlichen zusätzlichen Informationen.“

12.      Art. 20 Abs. 3 bestimmt:

„(3) Gibt die in Artikel 4 genannte Bescheinigung Anlass zu der Vermutung, dass Grundrechte oder allgemeine Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 des Vertrags verletzt wurden, kann jeder Mitgliedstaat die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen verweigern. In diesem Fall findet das in Artikel 7 Absatz 3 genannte Verfahren Anwendung.“

 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)

13.      Art. 47 der Charta garantiert das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf.

14.      Art. 48 der Charta gewährleistet die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte. Diese Rechte haben die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die in Art. 6 Abs. 2 und 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) garantierten Rechte(4).

15.      Nach Art. 49 Abs. 3 „[darf d]as Strafmaß … zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein“.

16.      Art. 52 Abs. 3 bestimmt, dass, soweit die Charta Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, „sie die gleiche Bedeutung und Tragweite [haben], wie sie ihnen in der [EMRK] verliehen wird“.

 EMRK

17.      Art. 6 EMRK begründet das Recht auf ein faires Verfahren bei einem unabhängigen und unparteiischen Gericht. „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt“ nach Art. 6 Abs. 2 „bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig“, während in Art. 6 Abs. 3 die Rechte aufgeführt sind, die dieser Person mindestens garantiert sein müssen, nämlich

„a)      innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;

b)      ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;

c)      sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;

d)      Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;

e)      unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht“.

 Tschechisches Recht

18.      Im tschechischen Recht ist die Anerkennung und Vollstreckung von Geldstrafen oder Geldbußen, die von den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats verhängt worden sind, in der Strafprozessordnung (trestní řád) geregelt. § 460o der Strafprozessordnung in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung lautete:

„(1) Die Bestimmungen dieses Teils finden Anwendung auf das Verfahren zur Anerkennung und Vollstreckung einer rechtskräftig verhängten Strafe wegen einer strafrechtlichen oder sonstigen Zuwiderhandlung oder einer darauf beruhenden Entscheidung, wenn diese nach Maßgabe von Unionsvorschriften erlassen wird, mit der

a) eine Geldstrafe oder Geldbuße festgesetzt wird,

wenn sie von einem Gericht der Tschechischen Republik in einem Strafverfahren … oder von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats der Union in einem Strafverfahren oder von einer Verwaltungsbehörde eines solchen Staats erlassen wird, sofern die Entscheidung der Verwaltungsbehörde über die strafrechtliche oder sonstige Zuwiderhandlung mit einem Rechtsbehelf angegriffen werden kann, über den ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht befindet …“

19.      § 460r Abs. 1 lautete:

„(1) Nach schriftlicher Stellungnahme des Staatsanwalts entscheidet der Krajský soud durch in einer öffentlichen Sitzung verkündetes Urteil, ob die Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union über eine Geldstrafe oder Geldbuße, die ihm von den zuständigen Behörden dieses Staats übermittelt worden ist, anerkannt und vollstreckt wird oder ob die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung verweigert wird. Das Urteil wird der betreffenden Person und dem Staatsanwalt bekannt gegeben.“

 Österreichisches Recht

20.      Die österreichische Rechtsordnung trennt zwischen Delikten, die dem „Verwaltungsstrafrecht“ zugeordnet werden, und solchen, die dem „Justizstrafrecht“ zugehören. In beiden Bereichen haben die Personen, denen eine Zuwiderhandlung zur Last gelegt wird, Zugang zu einem Gericht. Für Verwaltungsübertretungen, wozu zahlreiche Straßenverkehrsdelikte gehören, ist in erster Instanz die Bezirkshauptmannschaft zuständig. Nach Erschöpfung des Rechtswegs vor dieser Verwaltungsbehörde kann eine Entscheidung der Bezirkshauptmannschaft beim Unabhängigen Verwaltungssenat angefochten werden.

21.      Das Verfahren im Fall von Verwaltungsübertretungen ist im Verwaltungsstrafgesetz von 1991 geregelt. Für schwere Straftaten sind hingegen ausschließlich die ordentlichen Gerichte zuständig. In Bezug auf solche Straftaten findet die Strafprozessordnung von 1975 Anwendung.

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

22.      Herr Marián Baláž, der seinen Wohnsitz in der Tschechischen Republik hat, wurde von der Polizei am 22. Oktober 2009 um 00:40 Uhr in der Nähe von Kufstein (Österreich) angehalten, als er einen Sattellastkraftwagen mit tschechischem Kennzeichen führte. Nachdem die österreichische Polizei das Fahrzeug auf einer Brückenwaage gewogen hatte, wurde ihm die Weiterfahrt gestattet.

23.      Am 25. März 2010 erließ die Bezirkshauptmannschaft Kufstein (Österreich) eine Entscheidung, in der es hieß, Herr Baláž habe am 22. Oktober 2009 ein Straßenverkehrsdelikt begangen, nämlich Führen eines Fahrzeugs mit einem Gewicht von mehr als 3,5 t auf einer Straße mit einem entsprechenden Verbotsschild. Mit der Entscheidung wurde gegen Herrn Baláž eine Geldstrafe von 220 Euro, ersatzweise 60 Stunden Freiheitsentzug, festgesetzt.

24.      Am 2. Juli 2010 teilte der Okresní soud (Bezirksgericht) Teplice (Tschechische Republik) Herrn Baláž die Entscheidung mit. Aus den nationalen Gerichtsakten geht hervor, dass Herrn Baláž (wahrscheinlich) eine Kopie der Entscheidung (in der angegeben war, dass er innerhalb von zwei Wochen Rechtsmittel einlegen könne) in tschechischer Übersetzung zusammen mit einem Dokument ausgehändigt wurde, in der er über die ihm nach tschechischem Recht zustehenden Rechte belehrt wurde. Es ist unklar, ob ihm weitere Angaben (und gegebenenfalls genau welche) über seine nach österreichischem Recht bestehenden Rechte zur Anfechtung der Entscheidung oder zum Vorbringen von Milderungsgründen oder zu dem Umstand mitgeteilt wurden, dass er die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen ab dem 2. Juli 2010 (und nicht ab dem 25. März 2010, dem Datum der Entscheidung der Bezirkshauptmannschaft) anfechten konnte(5).

25.      Mit Schreiben vom 19. Januar 2011 an den Krajský soud v Ústí nad Labem (Kreisgericht Usti nad Labem, im Folgenden: Krajský soud) (Tschechische Republik) ersuchte die Bezirkshauptmannschaft um Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung in der Tschechischen Republik. Dem Schreiben war eine dem Formblatt entsprechende Bescheinigung beigefügt, in der angegeben war, dass es um eine Entscheidung einer nicht gerichtlichen Behörde aufgrund von Handlungen gehe, die nach innerstaatlichem Recht als Zuwiderhandlung gegen Rechtsvorschriften, hier als Zuwiderhandlung gegen Straßenverkehrsvorschriften, geahndet würden. Es wurde bestätigt, dass Herr Baláž von seinem Recht, die Entscheidung bei einem auch in Strafsachen zuständigen Gericht anzufechten, und von den hierfür geltenden Fristen unterrichtet worden sei. In der Bescheinigung war außerdem vermerkt, dass Herr Baláž die Entscheidung nicht angefochten habe und diese daher nach Durchführung eines schriftlichen Verfahrens am 17. Juli 2010 rechtskräftig geworden sei.

26.      In der mündlichen Verhandlung vom 17. Mai 2011 beim Krajský soud machte Herr Baláž geltend, die Vollstreckung der Entscheidung sei unzulässig, da nach österreichischem Recht ein Einspruch von einem Unabhängigen Verwaltungssenat zu verhandeln gewesen wäre, bei dem es sich aber nicht um ein „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ handele.

27.      Der Krajský soud wies dieses Vorbringen zurück und entschied, dass die Entscheidung in der Tschechischen Republik anzuerkennen und zu vollstrecken sei. Herr Baláž legte Rechtsmittel beim Vrchní soud v Praze (Obergericht Prag) ein. Nach Ansicht dieses Gerichts ist zu beurteilen, ob die Entscheidung unter Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses fällt und daher die Voraussetzungen für eine Anerkennung und Vollstreckung gegeben sind. Es hat jedoch Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Begriffe „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ und „Möglichkeit …, die Sache vor ein … Gericht zu bringen“. Dementsprechend hat es das Verfahren ausgesetzt und die folgenden Fragen vorgelegt:

1.      Ist der Begriff „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses als autonomer Begriff des Unionsrechts auszulegen?

2. a) Falls die erste Frage zu bejahen ist: Welche generellen Merkmale muss ein Gericht eines Staats, das auf Veranlassung der betreffenden Person in deren Sache über die Entscheidung einer nicht gerichtlichen Behörde (Verwaltungsbehörde) befinden kann, aufweisen, um als ein „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses zu gelten?

2. b) Kann ein österreichischer Unabhängiger Verwaltungssenat als ein „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses angesehen werden?

2. c) Falls die erste Frage zu verneinen ist: Ist der Begriff „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses von der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaats nach dem Recht des Staats auszulegen, dessen Behörde eine Entscheidung im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses erlassen hat, oder nach dem Recht des Staats, in dem über die Anerkennung und Vollstreckung einer solchen Entscheidung zu befinden ist?

3.      Ist die „Möglichkeit …, die Sache vor ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen“, im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii auch dann gewahrt, wenn die betreffende Person eine Sache nicht unmittelbar vor ein „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ bringen kann, sondern gegen eine Entscheidung einer nicht gerichtlichen Behörde (Verwaltungsbehörde) zunächst Einspruch einlegen muss, wodurch die Entscheidung der Behörde außer Kraft tritt und ein ordentliches Verfahren vor derselben Behörde eingeleitet wird, und erst gegen die in diesem ordentlichen Verfahren ergangene Entscheidung der Behörde ein Rechtsbehelf bei einem „auch in Strafsachen zuständigen Gericht“ eingelegt werden kann?

Ist es im Hinblick auf die „Möglichkeit …, die Sache vor ein … Gericht zu bringen“, entscheidungserheblich, ob es sich bei dem Rechtsbehelf, über den ein „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ befindet, dem Wesen nach um einen ordentlichen Rechtsbehelf (d. h. einen Rechtsbehelf gegen eine noch nicht rechtskräftige Entscheidung) oder einen außerordentlichen Rechtsbehelf (d. h. einen Rechtsbehelf gegen eine rechtskräftige Entscheidung) handelt und ob ein „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ aufgrund des Rechtsbehelfs befugt ist, die Sache umfassend sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht zu überprüfen?

28.      Die italienische, die niederländische, die österreichische, die tschechische und die schwedische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der Sitzung vom 12. März 2013 haben die österreichische und die tschechische Regierung sowie die Kommission mündliche Ausführungen gemacht und Fragen des Gerichtshofs beantwortet. Herr Baláž hat keine schriftlichen Erklärungen eingereicht und war in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten.

 Würdigung

 Vorbemerkungen

29.      Der Rahmenbeschluss 2005/214 gehört zu einer Serie von in den letzten Jahren eingeführten Maßnahmen zur Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung im strafrechtlichen Bereich. Ziel des Beschlusses ist die Erleichterung der Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat, in dem sie verhängt wurden. Der Schutz des einzelnen Betroffenen – das Gegenprinzip zur gegenseitigen Anerkennung der Geldstrafe oder Geldbuße – wird dadurch garantiert (Art. 1), dass Gegenstand der gegenseitigen Anerkennung und damit der Vollstreckung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses nur eine Entscheidung sein kann, i) die „von einem Gericht des Entscheidungsstaats in Bezug auf eine nach dessen Recht strafbare Handlung getroffen wurde“ (Art. 1 Buchst. a Ziff. i oder ii) oder ii) die „von einem auch in Strafsachen zuständigen Gericht getroffen wurde“ (Art. 1 Buchst. a Ziff. iv) oder iii) hinsichtlich deren die betreffende Person die „Möglichkeit hatte, die Sache vor ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen“ (Art. 1 Buchst. a Ziff. ii oder iii).

30.      Der Einfachheit halber werde ich im Folgenden eine rechtskräftige Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße für eine in Art. 5 aufgeführte Straftat oder Verwaltungsübertretung als „Geldsanktionsentscheidung“ bezeichnen. Ich werde die Terminologie des Rahmenbeschlusses übernehmen und dementsprechend den Mitgliedstaat, in dem die Geldstrafe oder Geldbuße verhängt worden ist, „Entscheidungsstaat“ und den Mitgliedstaat, in dem die Geldstrafe oder Geldbuße vollstreckt werden soll, „Vollstreckungsstaat“ nennen.

31.      Der Rahmenbeschluss beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung (erster Erwägungsgrund), achtet dabei aber die Grundrechte und wahrt die in Art. 6 des Vertrags anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta zum Ausdruck kommen (fünfter Erwägungsgrund). Des Weiteren heißt es in Art. 3 ausdrücklich: „Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 des Vertrags.“ Der Gesetzgeber wollte also eindeutig die grenzüberschreitende Vollstreckung von Geldstrafen oder Geldbußen erleichtern und gleichzeitig die angemessenen Garantien für den Einzelnen wahren, gegen den eine solche Sanktion zu vollstrecken ist.

32.      Hinter dieser anscheinend griffigen Formel stehen jedoch einige nicht so einfach in den Griff zu bekommende Fragen, die es zu beantworten gilt. Erstens: Liegt dem Katalog der vom Rahmenbeschluss erfassten Geldsanktionsentscheidungen ein bestimmtes Prinzip zugrunde? Zweitens: Wie genau ist der Schutz ausgestaltet, den der Gesetzgeber dem Einzelnen zukommen lassen will? Drittens stellt sich angesichts der ja recht offensichtlichen Tatsache, dass die tatsächlichen wirtschaftlichen Folgen einer Geldstrafe oder Geldbuße von den persönlichen Umständen des davon Betroffenen abhängen, die Frage, an welcher systematischen Stelle die Verhältnismäßigkeit der Sanktion zu prüfen ist.

33.      Bei der Liste der Zuwiderhandlungen in Art. 5, für die eine Geldsanktionsentscheidung vollstreckt werden kann, handelt es sich um eine heterogene Aufzählung, die sich offenbar vor allem an den Straftatenkatalog in Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl anlehnt(6). Allerdings sind in diesen Katalog einige weitere Zuwiderhandlungen aufgenommen worden: Schmuggel, Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums, Bedrohungen von Personen und Gewalttaten gegen sie, Sachbeschädigung, Diebstahl und – von besonderer Bedeutung für das vorliegende Verfahren – „gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßende Verhaltensweise“.

34.      Ich gestehe, dass mir nicht recht einleuchtet, weshalb der Gesetzgeber in einen Rahmenbeschluss, der ansonsten (im Wesentlichen) einen als „übliches Strafrecht“ zu bezeichnenden Bereich abdeckt, den oben zuletzt aufgeführten Tatbestand aufgenommen hat (abgesehen von dem offensichtlichen Grund, den Mitgliedstaaten ein zweckmäßiges Hilfsmittel an die Hand zu geben, um die Vollstreckung solcher Geldstrafen und Geldbußen gegen Kraftfahrer aus anderen Mitgliedstaaten sicherzustellen). Wie dem auch sei, das im Rahmenbeschluss vorgesehene Verfahren selbst beinhaltet zahlreiche Querverweise auf strafrechtliche Elemente(7) und soll gewährleisten, dass umfassende und angemessene Schutzmaßnahmen – wie sie in einem Strafverfahren zu Recht verlangt werden – beachtet werden müssen, ehe eine Geldsanktionsentscheidung im Vollstreckungsstaat vollstreckt werden kann. Da auch eine „gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßende Verhaltensweise“ in den Katalog der Zuwiderhandlungen aufgenommen wurde, müssen, wenn eine Geldsanktionsentscheidung wegen eines Verstoßes gegen Straßenverkehrsvorschriften vollstreckt werden soll, dabei folglich dieselben Schutzmaßnahmen gelten wie bei einer Geldsanktionsentscheidung wegen etwa Korruption, illegalen Handels mit Drogen und psychotropen Stoffen oder Schmuggels.

35.      Um es anders auszudrücken: Das durch den Rahmenbeschluss geschaffene System der gegenseitigen Anerkennung von Geldsanktionsentscheidungen setzt ein hohes Maß gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten voraus. Wie jedoch der Europäische Rat in seinem Stockholmer Programm festgestellt hat, „[ist d]er Schutz der Rechte von Verdächtigen oder Beschuldigten im Rahmen von Strafverfahren … ein Grundwert der Union, der für die Aufrechterhaltung des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten und des Vertrauens der Allgemeinheit in die Union von wesentlicher Bedeutung ist“(8). Aus genau diesem Grund ist der dem Bürger mit der „Möglichkeit …, die Sache vor ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen“ (Art. 1 Buchst. a Ziff. ii und iii des Rahmenbeschlusses), gewährte Schutz wohl dem Schutz gleichzustellen, der von „einem Gericht des Entscheidungsstaats in Bezug auf eine nach dessen Recht strafbare Handlung“ (Art. 1 Buchst. a Ziff. i) gewährt wird oder der sich aus dem Umstand ergibt, dass die Entscheidung von „einem auch in Strafsachen zuständigen Gericht getroffen wurde“ (Art. 1 Buchst. a Ziff. iv).

36.      Auch wenn die These verführerisch sein mag, dass eine „gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßende Verhaltensweise“ ihrer Natur nach weniger verwerflich sei als Terrorismus oder vorsätzliche Tötung und daher eine Person, die eine Geldstrafe oder Geldbuße wegen einer solchen Verhaltensweise zu zahlen habe, der gesamten Palette des im Strafrecht bestehenden Schutzes weniger bedürfe als eine Person, die wegen einer in die letztgenannten Kategorien fallenden Straftat verurteilt werde, so muss man dieser Versuchung meines Erachtens widerstehen. Der Rahmenbeschluss bestimmt – wenn auch mit jeweils leicht voneinander abweichenden Formulierungen in Art. 1 Buchst. a –, dass der Schutz durch Zugang zu „einem Gericht des Entscheidungsstaats in Bezug auf eine … strafbare Handlung“ oder zu „einem auch in Strafsachen zuständigen Gericht“ eine Vollstreckungsvoraussetzung ist. Ich gehe daher davon aus, dass die beiden Formulierungen praktisch gleichbedeutend sind und dass es kein wesentlich unterschiedliches Schutzniveau im Rahmen ein und desselben Rechtsakts (Rahmenbeschluss) je nachdem geben darf, ob die in den Katalog fallende Zuwiderhandlung, derentwegen die Geldsanktionsentscheidung ergeht, als gravierend oder geringfügig eingestuft wird. Wie es im Stockholmer Programm heißt, ist es „von größter Wichtigkeit, dass einerseits Strafverfolgungsmaßnahmen und andererseits Maßnahmen zur Sicherung individueller Rechte, Rechtsstaatlichkeit und internationale Schutzregelungen gleichgerichtet miteinander verbunden werden und sich gegenseitig verstärken“(9).

37.      Mit seinen Vorlagefragen möchte der Vrchní soud im Wesentlichen wissen, wie der Rahmenbeschluss auszulegen ist, damit der wirksame gerichtliche Rechtsschutz solcher Unionsbürger gewährleistet wird, gegen die wie gegen Herrn Baláž bei der Ausübung des Rechts, sich in der Union frei zu bewegen, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dem sie sich in der Regel aufhalten, eine Geldstrafe oder Geldbuße festgesetzt wurde(10).

38.      Bei der Prüfung der hier aufgeworfenen Fragen berücksichtige ich, dass Herr Baláž keine schriftlichen Erklärungen eingereicht hat und in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war. Angesichts der vehement betriebenen Anfechtung des nationalen Vollstreckungsverfahrens, in dem er eine (durch zumindest die Aussage eines Zeugen bestätigte) Schilderung der Ereignisse gegeben hat, die in völligem Gegensatz(11) zu der Sachverhaltsdarstellung steht, die die Grundlage für das Verwaltungsverfahren wegen eines Verstoßes gegen die Straßenverkehrsvorschriften und für die von der Bezirkshauptmannschaft in seiner Abwesenheit gegen ihn verhängte Geldstrafe bildet, gibt seine fehlende Vertretung vor dem Gerichtshof Anlass zur Sorge. Die Geldstrafe mag zwar im Verwaltungsweg verhängt worden sein, die Vollstreckung erfolgt jedoch in einem strafrechtlichen Kontext. Ich will auch nicht ausschließen, dass Herr Baláž als Lkw-Fahrer mit einem tschechischen Lohn (für den die Aussicht, aller Wahrscheinlichkeit nach 220 Euro zahlen zu müssen, an sich schon ziemlich entmutigend sein mag) der Ansicht war, sich die weiteren Kosten der Beauftragung eines ihn vor dem Gerichtshof vertretenden Rechtsanwalts nicht leisten zu können. Ich bin auch keineswegs sicher, dass ihm die (begrenzten) Möglichkeiten einer Beantragung von Prozesskostenhilfe beim Gerichtshof unbedingt bekannt waren.

39.      Aus diesen Gründen halte ich mich für verpflichtet, zumindest auf eine Reihe von Gesichtspunkten hinzuweisen, die für die Frage maßgeblich sein könnten, ob Herr Baláž wirklich „die Möglichkeit“ hatte (oder nicht hatte), die Sache vor „ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen“ (was nach Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses die Voraussetzung für die Vollstreckung der gegen ihn ergangenen Geldsanktionsentscheidung ist). Diese Hinweise erfolgen unten in meinen Schlussanträgen und lediglich im Rahmen der Darlegung von Grundprinzipien(12). Dabei handelt es sich um praktische Gesichtspunkte – das übliche Handwerkszeug der Verteidigung in Strafsachen. Sie reichen von der Frage der Belehrung über das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs bei einem Strafgericht bis hin zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit der verhängten Sanktion. Es ist Sache des nationalen Gerichts als alleinige Tatsacheninstanz, die notwendigen Überprüfungen vorzunehmen, wenn es wieder mit der Sache befasst wird.

 Erste Frage

40.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses als autonomer Begriff des Unionsrechts auszulegen ist.

41.      Nach Meinung der niederländischen und der schwedischen Regierung ist die Bedeutung dieser Bestimmung anhand des Rechts des Entscheidungsstaats zu ermitteln. Demgegenüber sind das vorlegende Gericht, die italienische, die österreichische und die tschechische Regierung sowie die Kommission der Ansicht, dass es sich um einen autonomen Begriff des Unionsrechts handele, der einheitlich auszulegen sei.

42.      Ich schließe mich letzterer Auffassung an.

43.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontexts der Vorschrift und des mit der Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss(13).

44.      Das Ziel des Rahmenbeschlusses wurde bereits genannt: die Vollstreckung von Geldsanktionsentscheidungen im Wege gegenseitiger Anerkennung(14). Der in Art. 1 Buchst. a Ziff. iii verwendete Begriff „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ spielt für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Rahmenbeschlusses eine entscheidende Rolle, denn durch ihn werden die Arten von Geldsanktionsentscheidungen definiert, die Gegenstand der gegenseitigen Anerkennung und somit der Vollstreckung sein können. Während an anderen Stellen des Rahmenbeschlusses in der Tat Querverweise auf das nationale Recht zu finden sind(15), ist dies hier nicht der Fall.

45.      Zur Erreichung des verfolgten Ziels und zur Herstellung der beabsichtigten Tragweite des Rahmenbeschlusses schlage ich dem Gerichtshof deshalb vor, denselben Lösungsansatz zu verfolgen, den er bereits bei der Auslegung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl(16) gewählt hat, der ebenfalls die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung justizieller Entscheidungen in Strafsachen betrifft. Sowohl im Urteil Mantello(17) als auch im Urteil Kozłowski(18) ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass Begriffe, die den Anwendungsbereich jenes Rahmenbeschlusses festlegten, einheitlich auszulegen seien(19); sie könnten nicht der Auslegung durch die Justizbehörden der einzelnen Mitgliedstaaten nach deren nationalem Recht überlassen bleiben.

46.      Die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung gewinnt vor allem dann Bedeutung, wenn (wie hier) in der in Rede stehenden Bestimmung eine Schutzmaßnahme zugunsten des Einzelnen verankert ist. Der Zugang zu einem „auch in Strafsachen zuständigen Gericht“ garantiert einen angemessenen und effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, der eingreift, bevor gegen den Betreffenden eine Geldsanktionsentscheidung erlassen werden kann, die in jedem beliebigen Mitgliedstaat der Union gegen ihn vollstreckbar ist. Dies spricht dagegen, eine wesentliche Abweichung der Schutzmaßnahmen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat zuzulassen. Das gemeinsame Vertrauen in die Existenz von Schutzmaßnahmen zugunsten von Personen, die einer Straftat beschuldigt werden, bildet nämlich die Grundlage der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen. Eine einheitliche Auslegung des Begriffs „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ schafft das gegenseitige Vertrauens- und Treueverhältnis, auf dem die gegenseitige Anerkennung gegründet sein muss.

47.      Die Schwierigkeiten, die mit der Bevorzugung einer einheitlichen Auslegung gegenüber einer hinter das nationale Recht zurücktretenden Auslegung der Begriffsbestimmung verbunden sind, scheinen mir eher theoretisch als real zu sein. Selbstverständlich hat jeder Mitgliedstaat seinen eigenen speziellen Gerichtsaufbau, und weder mit dem hier maßgeblichen Rahmenbeschluss noch mit irgendeinem anderen Beschluss ist bisher der Versuch einer wie auch immer gearteten Harmonisierung auf diesem Gebiet unternommen worden. Ich weise jedoch darauf hin, dass es für das Gericht des Vollstreckungsstaats keinen praktischen Unterschied bedeutet, ob der Begriff „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ als autonomer Begriff oder anhand des Rechts des Entscheidungsstaats ausgelegt wird. Das Gericht des Vollstreckungsstaats steht nach wie vor vor dem grundlegenden Problem, dass es mit dem Gerichtsaufbau des Entscheidungsstaats (wahrscheinlich) nicht vertraut ist. Ohne weitere Erkundigungen ist es daher möglicherweise nicht in der Lage, sich zu vergewissern, ob das Gericht des Entscheidungsstaats der Definition entspricht.

48.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die erste Frage dahin zu beantworten, dass der Begriff „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist.

 Zweite Frage Teil a

49.      Mit der zweiten Frage Teil a möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Merkmale ein Gericht aufweisen muss, um als „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii zu gelten.

50.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts und der tschechischen Regierung ist mit dem Begriff eine Stelle (bei der es sich um ein Gericht handeln müsse) gemeint, die ein Verfahren strafrechtlichen Charakters anwende. Die italienische und die österreichische Regierung tragen vor, es müsse sich um ein Gericht handeln, vor dem sich die betreffende Person auf die in Art. 6 EMRK enthaltenen Garantien berufen könne. Die schwedische Regierung ist der Meinung, dass bei der Beurteilung (sofern diese nach Unionsrecht und nicht nach nationalem Recht zu treffen sei), ob ein bestimmtes Gericht „auch in Strafsachen zuständig“ sei, nicht auf formale, sondern auf materielle Merkmale abzustellen sei. Nach Auffassung der niederländischen Regierung ist es Sache des Entscheidungsstaats, zu bestimmen, ob das dortige Gericht der Definition entspreche. Die Kommission meint, dass sich Art. 1 Buchst. a Ziff. iii auf ein Gericht beziehe, das in Angelegenheiten zuständig sei, die im Entscheidungsstaat formal als Strafsachen eingestuft würden. Ein solches Gericht könne durchaus auch in anderen, nicht strafrechtlichen Sachen zuständig sein. Zur Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii sei jedoch erforderlich, dass die Geldsanktionsentscheidung in den Händen der Strafabteilung liege.

51.      Ich stimme dem vorlegenden Gericht und allen Regierungen zu, die das Wesensmerkmal eines „auch in Strafsachen zuständigen Gerichts“ darin sehen, dass es strafrechtliche Verfahren und Garantien anwendet, und zwar unabhängig davon, ob es darüber hinaus auch in anderen, nicht strafrechtlichen Sachen zuständig ist.

52.      Wie ich bereits hervorgehoben habe(20), gehören zu den in Art. 5 des Rahmenbeschlusses aufgeführten Zuwiderhandlungen, die zu einer gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen führen können, Tatbestände wie etwa „Terrorismus“, die in allen Mitgliedstaaten als strafrechtlich eingeordnet werden, aber auch solche, bei denen dies nur in einigen Mitgliedstaaten, nicht aber in anderen der Fall ist (wo sie nämlich nicht unter das Strafrecht, sondern unter das Verwaltungsrecht fallen). Eine „gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßende Verhaltensweise“ fällt in die letztgenannte Kategorie. Der Gesetzgeber beabsichtigte also eine Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung von wegen solcher Zuwiderhandlungen verhängten Geldsanktionsentscheidungen, ohne den Begriff der „strafbaren“ Handlung zu harmonisieren. Tatbestände, die in Art. 5 aufgeführt sind, können zur gegenseitigen Anerkennung führen, und zwar unabhängig davon, ob der Tatbestand im Recht des Entscheidungsstaats oder des Vollstreckungsstaats als „Straftatbestand“ gewertet wird.

53.      Mangels Harmonisierung des Begriffs „strafbar“ kann also der Begriff „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ nicht eine einheitliche Auslegung des Begriffs „Strafsache“ voraussetzen.

54.      Deshalb kann meiner Meinung nach auch nicht der Auffassung der Kommission gefolgt werden. Wenn als „auch in Strafsachen zuständige Gerichte“ nur diejenigen Gerichte gelten, die für „Strafsachen“ im Sinne des Rechts des Entscheidungsstaats zuständig sind, kommt es zu einer unbeabsichtigten Einschränkung des Anwendungsbereichs des Rahmenbeschlusses. Mitgliedstaaten, in denen einige der in Art. 5 aufgeführten Tatbestände nicht als „Straftatbestand“ gewertet werden und in denen Verwaltungsentscheidungen über solche Tathandlungen entsprechend dem dortigen Gerichtsaufbau von anderen Gerichten als denjenigen überprüft werden, die für Strafsachen im Sinne des nationalen Rechts zuständig sind, könnten dann nicht das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung in Anspruch nehmen, wenn wegen solcher Handlungen Geldsanktionsentscheidungen ergehen. Dies dürfte dem erklärten Willen des Gesetzgebers, der sich aus der Aufnahme dieser Tatbestände in den Katalog des Art. 5 ergibt, und damit den Zielen des Rahmenbeschlusses zuwiderlaufen.

55.      Gepaart mit der Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen über Geldstrafen oder Geldbußen hat der Gesetzgeber allerdings auch ausdrücklich die Achtung der Grundrechte der Betroffenen garantiert (vgl. fünfter Erwägungsgrund und Art. 3 des Rahmenbeschlusses).

56.      Bei einer Zusammenschau dieser beiden Ziele ist Art. 1 Buchst. a Ziff. iii meines Erachtens dahin auszulegen, dass Geldsanktionsentscheidungen einer Verwaltungsbehörde im Gegenseitigkeitsverfahren anerkannt und demzufolge vollstreckt werden können, sofern die betreffende Person tatsächlich die Möglichkeit hatte, die Entscheidung bei einem Gericht anzufechten, das für die Achtung der Grundrechte Sorge trägt. Dies wiederum setzt voraus, dass die Verfassung, das Verfahren und die Kontrollbefugnis des im Entscheidungsstaat für Geldsanktionsentscheidungen zuständigen Gerichts die Mindestgarantien nach den Art. 47 und 48 der Charta sicherstellen, wenn einer Person eine strafbare Handlung zur Last gelegt wird. Das heißt also, dass es sich bei dem zuständigen Gericht des Entscheidungsstaats zwar nicht notwendigerweise um ein Gericht handeln muss, das für nach dem Recht dieses Staats formal als „Strafsachen“ eingestufte Sachen zuständig ist, es muss aber dieselben verfahrens‑ und materiell‑rechtlichen Garantien bieten.

57.      Die durch die Art. 47 und 48 der Charta verbürgten Rechte umfassen ausdrücklich das Recht auf ein faires Verfahren bei einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, die Möglichkeit, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, ein begrenztes Recht auf Prozesskostenhilfe sowie eine allgemeine Bestimmung, wonach „die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet“ wird. In Art. 52 Abs. 3 der Charta heißt es ausdrücklich, dass, „[s]oweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, … sie die gleiche Bedeutung und Tragweite [haben], wie sie ihnen in der [EMRK] verliehen wird“. In den Erläuterungen zu den Art. 47 und 48 der Charta ist als Bezugsvorschrift der EMRK deren Art. 6 genannt(21).

58.      In Art. 6 Abs. 1 bis 3 EMRK sind wichtige Garantien für Personen verankert, die einer strafbaren Handlung angeklagt sind. So muss die überprüfende Stelle auf Gesetz beruhen sowie unabhängig und unparteiisch sein. Sie muss die Achtung der folgenden Rechte sicherstellen. Der Angeklagte muss bis zum gesetzlichen Beweis seiner Schuld als unschuldig gelten und das Recht haben, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihm verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden, ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu haben, sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihm die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten, sowie unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn er die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.

59.      Fraglich ist indes, inwieweit der Angeklagten zustehende Schutz dieser Grundrechte auch für Personen für erforderlich gehalten wird, deren Zuwiderhandlung nach nationalem Recht nicht strafrechtlicher, sondern verwaltungsrechtlicher Natur ist, deren Schutz gegen die gewissermaßen automatische Anerkennung und Vollstreckung(22) einer Entscheidung, durch die eine Geldstrafe oder Geldbuße gegen sie verhängt wird, jedoch allein in der Sicherung des Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses besteht, d. h. in der „Möglichkeit …, die Sache vor ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen“.

60.      Eine enge Auslegung, die einen Rückgriff auf die in Art. 6 Abs. 1, 2 und 3 EMRK normierten Garantien des Strafverfahrens ausschließt, erscheint mir aus mehreren Gründen unangebracht.

61.      Erstens spricht allein schon der Wortlaut des Rahmenbeschlusses gegen eine solche Auslegung. In Art. 1 Buchst. a Ziff. iii ist ausdrücklich von einem in Strafsachen zuständigen Gericht die Rede. Worin läge der Sinn dieser Formulierung, wenn dieses Gericht nicht verpflichtet wäre, bei der Wahrnehmung seiner Zuständigkeit die Schutzmaßnahmen zugunsten des Einzelnen zu beachten, die eine solche strafrechtliche Zuständigkeit impliziert?

62.      Zweitens stellt die Möglichkeit einer Kontrolle durch ein solches Gericht die einzige Schutzmaßnahme des Einzelnen gegen die anschließende Anerkennung und Vollstreckung der Geldsanktionsentscheidung im Gegenseitigkeitsverfahren dar. Das spricht für eine eher weite als enge Auslegung des zur Verfügung zu stellenden Schutzes.

63.      Drittens kann es vorkommen, dass die Person, gegen die eine Geldstrafe oder Geldbuße festgesetzt wird, den der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt anders darstellt. Falls dieser Darstellung gefolgt wird, mag im Ergebnis gar keine oder eine wesentlich herabgesetzte Strafe oder Buße zu zahlen sein. Wenn das gegenseitige Vertrauen, auf dem die Regelung der gegenseitigen Anerkennung beruht, nicht erschüttert (und das Vertrauen und die Akzeptanz der Allgemeinheit hinsichtlich einer solchen Anerkennung und Vollstreckung nicht ernsthaft geschwächt) werden soll, ist die Möglichkeit einer wirksamen gerichtlichen Überprüfung der Geldsanktionsentscheidung unerlässlich (was eine Überprüfung nicht nur der rechtlichen Gründe, sondern auch der Tatsachenfeststellungen erfordert und das Erscheinen und die Vernehmung von Zeugen umfassen kann).

64.      Viertens meine ich, dass im Rahmen der Zulassung der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung einer Geldsanktionsentscheidung bei einem grenzüberschreitenden Sachverhalt die den sprachlichen Bereich betreffenden Anforderungen besonders wichtige Garantien für ein faires Verfahren sind. Eine Geldsanktionsentscheidung kommt naturgemäß nur dann für eine Anerkennung und Vollstreckung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses in Betracht, wenn sich die betreffende Person zur Tatzeit in einem Mitgliedstaat (dem Entscheidungsstaat) befunden hat, jetzt aber in einem anderen Mitgliedstaat (dem Vollstreckungsstaat) aufhält. Die Union hat soeben eine weitere Amtssprache, Kroatisch(23), zu den 23 Amtssprachen hinzugewonnen, die bereits die Vielfalt und den kulturellen Reichtum ihrer Völker widerspiegeln(24). Unter dem Gesichtspunkt einer Union, die die Grundsätze der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit umfasst, kommt dem Schutz der Rechte und Möglichkeiten der Einzelnen im sprachlichen Bereich besondere Bedeutung zu, wie der Gerichtshof im Urteil Bickel und Franz(25) bereits festgestellt hat.

65.      Gerade aufgrund des Erfolgs des Binnenmarkts kann es dazu kommen, dass die Polizei einen litauischen Lkw-Fahrer bei der Durchfahrt durch Polen oder Deutschland auf dem Weg zur Ablieferung von Waren in Belgien anhält. Falls dabei Umstände zutage treten, die zur Festsetzung einer Geldstrafe oder Geldbuße gegen den Lkw-Fahrer führen, ist es aus der Sicht des Mitgliedstaats verständlich und auch bedeutsam, dass diese Geldbuße oder Geldstrafe gegen den Lkw-Fahrer zu Hause in Vilnius vollstreckbar sein muss. Ebenso bedeutsam ist aber auch, dass der Lkw-Fahrer angemessenen Grundrechtsschutz erfährt.

66.      Daher bin ich der Ansicht, dass die Wesensmerkmale eines „auch in Strafsachen zuständigen Gerichts“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses darin bestehen, dass a) es sich bei der überprüfenden Stelle um ein Gericht handelt und dass b) dieses Gericht die Wahrung der in Art. 6 Abs. 1, 2 und 3 EMRK normierten Mindestgarantien sicherstellt.

67.      Was das Wort „auch“ angeht, muss dies angesichts der fehlenden Harmonisierung der Gerichtsstrukturen in der Union und im Interesse der vollen Wirkung des Rahmenbeschlusses dahin verstanden werden, dass bei einem Gericht, das neben der Zuständigkeit in Sachen, in denen es Strafverfahrensrecht anwendet, auch in anderen als Strafsachen zuständig ist, eine Subsumierung unter Art. 1 Buchst. a Ziff. iii nicht ausgeschlossen ist. Es kommt jedoch entscheidend darauf an, dass es bei der Überprüfung einer Geldsanktionsentscheidung ein Verfahren durchführt, in dem die in Art. 6 Abs. 1, 2 und 3 EMRK garantierten Mindestrechte geachtet werden.

68.      Man mag einwenden, dass die von mir vorgeschlagene Definition zu einer Einschränkung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung führe, der vom Europäischen Rat auf seiner Tagung im Jahr 1999 in Tampere unterstützt wurde und der zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen werden sollte. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen setzt jedoch voraus, dass die Mitgliedstaaten den Strafrechtssystemen der anderen Mitgliedstaaten vertrauen und dass insbesondere die Rechte von Verdächtigen oder Beschuldigten nach gemeinsamen Mindeststandards geschützt werden. Insoweit sind die Schlussfolgerungen von Tampere zu beachten, wonach „auch Arbeiten … über diejenigen verfahrensrechtlichen Aspekte initiiert werden [sollten], bei denen zur Erleichterung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gemeinsame Mindeststandards für notwendig erachtet werden, wobei die Grundprinzipien des Rechts der Mitgliedstaaten zu achten sind“(26).

69.      Während eine Reihe von Maßnahmen angenommen wurde, die die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung justizieller Entscheidungen vorsehen, darunter der vorliegende Rahmenbeschluss, sind bei der Festlegung von gemeinsamen Mindeststandards für verfahrensrechtliche Garantien bisher noch nicht so viele Fortschritte zu verzeichnen. Der Rat hat im Jahr 2009 einen Fahrplan(27) zur Stärkung der Verfahrensrechte des Einzelnen in Strafverfahren angenommen, der vom Europäischen Rat begrüßt und zu einem Teil des Stockholmer Programms erklärt wurde. Gemäß diesem Fahrplan sind inzwischen zwei Maßnahmen erlassen worden – die Richtlinie 2010/64(28), die das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren vorsieht, und die Richtlinie 2012/13(29) über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Außerdem gibt es einen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme bei der Festnahme(30).

70.      Die beiden bereits erlassenen Richtlinien sollen in einem Verfahren vor einem „in Strafsachen zuständigen Gericht“ Anwendung finden, das über Rechtsmittel gegen Entscheidungen befindet, die von einer nicht gerichtlichen Behörde über Sanktionen wegen geringfügiger Zuwiderhandlungen erlassen wurden – vgl. 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/64 und 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13. Demnach hat nach Ablauf der Frist für die Umsetzung dieser Richtlinien (27. Oktober 2013 bzw. 2. Juni 2014) ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii bei der Wahrnehmung seiner strafrechtlichen Zuständigkeit zur Überprüfung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion im Rechtsmittelverfahren die in den beiden genannten Richtlinien festgelegten gemeinsamen Mindeststandards anzuwenden(31).

71.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die zweite Frage Teil a in dem Sinne zu beantworten, dass Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass unter einem „auch in Strafsachen zuständigen Gericht“ ein Gericht zu verstehen ist, vor dem die betreffende Person bei der Verhandlung der Sache die durch Art. 6 Abs. 1, 2 und 3 EMRK garantierten Rechte genießt.

 Zweite Frage Teil b

72.      Mit der zweiten Frage Teil b möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein österreichischer Unabhängiger Verwaltungssenat als ein „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii anzusehen ist.

73.      Die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats wird zunächst anhand des Wortlauts der Geldsanktionsentscheidung selbst und der gemäß Art. 4 des Rahmenbeschlusses zusammen mit dieser Entscheidung übermittelten Bescheinigung prüfen, ob die Geldsanktionsentscheidung im Gegenseitigkeitsverfahren anzuerkennen und somit nach Art. 6 zu vollstrecken ist (sofern nicht einer der in Art. 7 aufgeführten Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung vorliegt). Aus Art. 11 Abs. 2 ergibt sich, dass der Vollstreckungsstaat nur die Möglichkeit hat, die Entscheidung entweder anzuerkennen und zu vollstrecken oder sie nicht anzuerkennen und nicht zu vollstrecken. Er ist jedoch nicht zur Überprüfung befugt – über einen Antrag auf eine solche Wiederaufnahme des Verfahrens kann allein der Entscheidungsstaat befinden. Das Prüfungsverfahren ist daher unerlässlich, wenn das Gleichgewicht zwischen den Belangen der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung auf der einen und dem Grundrechtsschutz auf der anderen Seite gewahrt werden soll.

74.      Art. 7 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses enthält eine Aufzählung von Fällen, in denen die zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung verweigern können. Für einige dieser Fälle bestimmt Art. 7 Abs. 3, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats, bevor sie beschließt, die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung ganz oder teilweise zu verweigern, „auf geeignete Art und Weise die zuständige Behörde des Entscheidungsstaats [konsultiert] und … sie gegebenenfalls um die unverzügliche Übermittlung aller erforderlichen zusätzlichen Informationen [bittet]“.

75.      Ganz grundsätzlich fällt eine „Entscheidung“ allerdings nur dann in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses als solchen, wenn sie den Voraussetzungen einer der vier Kategorien entspricht, die in Art. 1 Buchst. a erschöpfend aufgeführt sind, und wenn ihr die Begehung einer der Zuwiderhandlungen zugrunde liegt, die in Art. 5 erschöpfend aufgezählt sind. Nur eine solche Entscheidung ist im Gegenseitigkeitsverfahren anzuerkennen und zu vollstrecken. Ist sich die zuständige Behörde in dieser Hinsicht nicht sicher (weil sie z. B. Zweifel hegt, ob entsprechend der Vorschrift des Art. 1 Buchst. a Ziff. iii „die betreffende Person die Möglichkeit hatte, die Sache vor ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen“), hat sie sich meines Erachtens ebenfalls (d. h. in unmittelbarer Entsprechung zu Art. 7 Abs. 3) an die zuständige Behörde des Entscheidungsstaats zu wenden und um alle erforderlichen Informationen zu bitten. Nach Eingang dieser Informationen muss die zuständige Behörde aus diesen die Konsequenzen unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof im Rahmen der Beantwortung der zweiten Frage Teil a gewählten Definition ziehen, um zu beurteilen, ob es sich bei der in Rede stehenden Stelle um ein „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ handelt(32). Erforderlichenfalls können auch die Kontaktstellen des Europäischen Justiziellen Netzes eingeschaltet werden(33).

76.      Die österreichische Regierung hat in ihren an den Gerichtshof gerichteten schriftlichen Erklärungen bestimmte Gesichtspunkte dargelegt, die es dem Gerichtshof ermöglichen, dem vorlegenden Gericht für dessen Urteilsfindung sachdienliche Hinweise zu geben. Insbesondere bestätigt die österreichische Regierung, dass die Unabhängigen Verwaltungssenate das österreichische Verwaltungsstrafgesetz von 1991 anzuwenden und die in Art. 6 EMRK aufgeführten Rechte zu garantieren haben, einschließlich der Garantien, die im Fall der Anklage einer Person wegen einer Straftat zum Tragen kommen müssen (Art. 6 Abs. 2 und 3). Das vorlegende Gericht selbst merkt an, dass es sich beim Unabhängigen Verwaltungssenat nach den Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) um ein Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK handele(34) und dass er von der Unschuldsvermutung ausgehe(35). Das vorlegende Gericht weist allerdings auch darauf hin, dass der EGMR im Urteil Kammerer/Österreich(36) festgestellt habe, dass das Recht auf rechtliches Gehör nicht immer garantiert sei. Hierzu führt die österreichische Regierung jedoch aus, dass der EGMR in jenem Urteil nicht zum Ausdruck gebracht habe, dass der Unabhängige Verwaltungssenat dieses Recht generell unangewendet lasse.

77.      Dass ein Gericht gelegentlich die geltenden Verfahrensgarantien nicht beachten mag, schließt eine Subsumierung unter den Begriff „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ noch nicht aus. Wird eine solche Garantie jedoch in einem eine Geldsanktionsentscheidung betreffenden Einzelfall nicht beachtet, hat dies meines Erachtens zur Folge, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats nicht zur Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses verpflichtet ist. Bei der Anerkennung und Vollstreckung solcher Entscheidungen führt die zuständige Behörde das Recht der Union durch und ist somit gehalten, die durch die Art. 47 und 48 der Charta garantierten Rechte zu achten, die den in Art. 6 EMRK verankerten Rechten entsprechen(37). Ist eines dieser Rechte verletzt, kann die zuständige Behörde nach Durchführung des in Art. 7 Abs. 3 vorgesehenen Verfahrens zur Einholung von Informationen beim Entscheidungsstaat die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung gemäß Art. 20 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses verweigern(38).

78.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die zweite Frage Teil b in dem Sinne zu beantworten, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Informationen zu beurteilen, ob es sich beim Unabhängigen Verwaltungssenat um ein „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses handelt.

 Zweite Frage Teil c

79.      Angesichts der von mir vorgeschlagenen Antwort auf die erste Frage erübrigt sich eine Beantwortung der zweiten Frage Teil c.

 Dritte Frage

80.      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht erstens wissen, ob die „Möglichkeit …, die Sache vor ein … Gericht zu bringen“, im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii auch dann gewahrt ist, wenn die betreffende Person gegen eine Entscheidung einer Verwaltungsbehörde zunächst Einspruch bei derselben Behörde einlegen muss, und erst nach einer weiteren Entscheidung dieser Behörde einen Rechtsbehelf bei einem „auch in Strafsachen zuständigen Gericht“ einlegen kann. Zweitens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Gericht, das über den Rechtsbehelf befindet, über die Sache verhandeln können muss, ehe die Entscheidung rechtskräftig wird, und ob es befugt sein muss, die Sache umfassend sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht zu überprüfen.

81.      Das vorlegende Gericht und alle Verfahrensbeteiligten, die Ausführungen zu dieser Frage gemacht haben, sind der Auffassung, dass es unbedenklich sei, wenn der Zugang zu dem Gericht erst nach einem weiteren Abschnitt des Verwaltungsverfahrens gewährt werde. Die italienische und die tschechische Regierung sowie die Kommission meinen außerdem, dass das Gericht über die umfassende Befugnis verfügen müsse, über Streitigkeiten sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht zu entscheiden. Des Weiteren ist die tschechische Regierung der Ansicht, dass die Entscheidung vor Gewährung des Zugangs zu einem Gericht keine Rechtskraft erlangen dürfe. Demgegenüber trägt die italienische Regierung vor, der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes der betreffenden Person verbiete nicht, dass eine Entscheidung im Verwaltungsverfahren rechtskräftig werde.

82.      Ich bin mit dem vorlegenden Gericht und den Regierungen, die zu dieser Frage Ausführungen gemacht haben, der Meinung, dass die Voraussetzung des Bestehens der „Möglichkeit …, die Sache vor ein … Gericht zu bringen“, auch dann erfüllt ist, wenn diese Möglichkeit erst gegeben ist, nachdem die betreffende Person den weiteren Verwaltungsrechtsweg erschöpft hat. Die Wahrnehmung der „Möglichkeit …, die Sache vor ein … Gericht zu bringen“, darf jedoch nicht unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden. Andernfalls wäre der effektive gerichtliche Rechtsschutz der betreffenden Person nicht gewährleistet(39).

83.      Insoweit ist zu beachten, dass die durch Art. 6 EUV und die Art. 47 und 48 der Charta garantierten Grundrechte nicht auf einen nur formalen Zugang zu den Gerichten abzielen. Es geht um effektiven Rechtsschutz des einzelnen Bürgers. Ebenso, wie der Begriff „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ so ausgelegt werden muss, dass ein angemessener und effektiver Rechtsschutz sichergestellt ist, ist auch der Begriff „Möglichkeit …, die Sache vor ein … Gericht zu bringen“ im Sinne einer Gewährleistung auszulegen, dass die Garantie nicht bedeutungslos wird und dieses Recht nicht nur Theorie oder Illusion bleibt(40).

84.      Dem nationalen Gericht des Vollstreckungsstaats obliegt es erforderlichenfalls(41), geeignete Erkundigungen bezüglich des durchgeführten Verfahrens einzuziehen, um sich Gewissheit hinsichtlich des Rechtsschutzes zu verschaffen. Ich meine, dass das nationale Gericht mindestens kontrollieren muss, dass die Entscheidung über die Geldstrafe oder Geldbuße dem Adressaten in einer ihm verständlichen Sprache mitgeteilt wurde, dass eine unmissverständliche Belehrung über die Modalitäten und die Frist für die Einlegung eines Rechtsmittels erfolgt ist, dass klare Angaben über den Beginn des Fristenlaufs gemacht wurden(42), dass der Adressat über die Pflicht oder die Möglichkeit, sich vertreten zu lassen, belehrt wurde, dass er darüber unterrichtet wurde, ob (und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen) Prozesskostenhilfe gewährt werden kann(43), und dass die Sprachregelung (Sprache der Kommunikation mit dem Gericht, Sprache der Schriftsätze und der mündlichen Ausführungen) klar und sachdienlich erklärt wurde(44).

85.      Ich stimme auch dem vorlegenden Gericht sowie der Kommission und denjenigen Mitgliedstaaten zu, die der Meinung sind, dass das Gericht, das über die Sache befindet, über die umfassende Befugnis verfügen müsse, dabei über Streitigkeiten sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht zu entscheiden. Nur wenn das Gericht eine umfassende Befugnis besitzt, kann es sicherstellen, dass die durch Art. 6 Abs. 1, 2 und 3 EMRK garantierten Rechte der betreffenden Person in vollem Umfang geachtet werden. Sofern die Möglichkeit zur Durchführung eines solchen Gerichtsverfahrens besteht, führt der Umstand, dass eine Entscheidung im Verwaltungsverfahren „rechtskräftig“ wird (mit der verbleibenden Möglichkeit, später einen Rechtsbehelf bei Gericht einzulegen), nicht zu einer Beeinträchtigung des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes der betreffenden Person. Unter diesem Vorbehalt bin ich der Meinung, dass eine Entscheidung, die im Verwaltungsverfahren rechtskräftig wird, nicht außerhalb des Anwendungsbereichs des Rahmenbeschlusses liegt.

86.      Demnach ist Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses meines Erachtens dahin auszulegen, dass eine „Möglichkeit …, die Sache vor ein … Gericht zu bringen“, auch dann gegeben ist, wenn die betreffende Person zunächst einen Verwaltungsrechtsweg erschöpfen muss, vorausgesetzt, dass der Zugang zu einem Gericht nicht an Bedingungen geknüpft ist, die den Zugang unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Zweitens muss das Gericht, das über die Sache befindet, über die umfassende Befugnis verfügen, dabei sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht zu entscheiden. Drittens schließt Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses nicht aus, dass eine von einer Verwaltungsbehörde erlassene Geldsanktionsentscheidung bereits vor dem Gerichtsverfahren rechtskräftig wird.

 Nachtrag: Verhältnismäßigkeit der verhängten Sanktion

87.      Der Grundrechtsschutz, der dem Bürger mit dem in Art. 1 Buchst. a Ziff. iii normierten Erfordernis des Bestehens der „Möglichkeit …, die Sache vor ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen“, gewährt wird, beinhaltet auch den Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit der verhängten Sanktion. Dies ist insofern von besonderer Bedeutung, als sich aus Art. 11 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses ergibt, dass der Vollstreckungsstaat eine Geldsanktionsentscheidung nicht überprüfen darf. Der Adressat einer solchen Entscheidung kann sich daher nicht an das örtlich für ihn zuständige Gericht wenden, um Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe für die Zuwiderhandlung vorzubringen oder die Herabsetzung der festgesetzten Geldstrafe oder Geldbuße zu beantragen.

88.      Selbstverständlich ist der Hinweis banal, dass die Durchschnittseinkommen in der Union ganz unterschiedlich hoch sind. Eine Geldstrafe in einer bestimmten Höhe, die im Fall ihrer Festsetzung gegen eine Person (etwa den Angehörigen eines Mitgliedstaats, in dem die Einkommen vergleichsweise hoch sind) zwar durchaus unangenehm sein mag, aber nicht unerträglich ist, kann eine drakonische und unverhältnismäßige Bestrafung darstellen, wenn sie gegen eine andere Person mit einem wesentlich niedrigeren Monatslohn festgesetzt wird, gegen die die Geldsanktionsentscheidung aufgrund eines Vorfalls ergeht, der sich bei der Durchreise des Betreffenden durch den Entscheidungsstaat auf dem Weg von oder zu dem Mitgliedstaat seines Wohnsitzes oder seiner Beschäftigung ereignet. Meines Erachtens ergibt sich daher implizit aus der Wendung „Möglichkeit …, die Sache vor ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen“, dass die Möglichkeit bestehen muss, die Höhe der von der Verwaltungsbehörde festgesetzten Geldstrafe oder Geldbuße vor einem Gericht anzufechten, ehe die Geldsanktionsentscheidung im Gegenseitigkeitsverfahren anerkannt werden kann und vollstreckbar wird.

89.      Damit will ich keineswegs sagen, dass eine Behörde, die eine verwaltungsrechtliche Geldbuße festsetzt, verpflichtet ist, nach der Herkunft des Betroffenen zu differenzieren. Dies käme einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nahe, die (offenkundig) gegen das Unionsrecht verstoßen würde. Ich will lediglich daran erinnern, dass ein Grundsatz des Strafrechts – der, soweit mir bekannt ist, in allen Rechtssystemen der Mitgliedstaaten gilt – lautet, dass ein in Strafsachen zuständiges Gericht bei der Überprüfung der Angemessenheit einer Sanktion die Umstände sowohl der Tat als auch des Täters zu berücksichtigen hat.

 Ergebnis

90.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, in Beantwortung der vom Vrchní soud v Praze vorgelegten Fragen den Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen wie folgt auszulegen:

1.      Der Begriff „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts.

2. a) Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses ist dahin auszulegen, dass unter einem „auch in Strafsachen zuständigen Gericht“ ein Gericht zu verstehen ist, vor dem die betreffende Person bei der Verhandlung der Sache die durch Art. 6 Abs. 1, 2 und 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Rechte genießt.

2. b) Es ist Sache der zuständigen Behörde des Vollstreckungsstaats, zu beurteilen, ob ein österreichischer Unabhängiger Verwaltungssenat als ein „auch in Strafsachen zuständiges Gericht“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses anzusehen ist.

3.      Eine „Möglichkeit …, die Sache vor ein … Gericht zu bringen“, ist auch dann gegeben, wenn die betreffende Person zunächst einen Verwaltungsrechtsweg erschöpfen muss, vorausgesetzt, dass der Zugang zum Gericht nicht an Bedingungen geknüpft ist, die den Zugang unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Das Gericht, das über die Sache befindet, muss über die umfassende Befugnis verfügen, dabei sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht zu entscheiden. Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses schließt nicht aus, dass eine von einer Verwaltungsbehörde erlassene Geldsanktionsentscheidung bereits vor dem Gerichtsverfahren rechtskräftig wird.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – Rahmenbeschluss 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (ABl. L 76, S. 16) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist (ABl. L 81, S. 24), geänderten Fassung.


3 – Das zu verwendende Formblatt für die in Art. 4 bezeichnete Bescheinigung ist im Anhang des Rahmenbeschlusses aufgeführt.


4 – Vgl. Art. 52 Abs. 3 der Charta sowie die Erläuterungen zur Charta (ABl. 2007, C 303, S. 30).


5 – Da Herr Baláž vor diesem Gericht nicht vertreten war, bestand keine Möglichkeit zur näheren Aufklärung dieser (doch recht wichtigen) Umstände.


6 – Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1).


7 – Zum Beispiel fallen nach Art. 1 Buchst. b „[u]nter den Ausdruck ‚Geldstrafe oder Geldbuße‘ nicht … Anordnungen zivilrechtlicher Natur …“, es erfolgt keine Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit der aufgeführten Straftaten (Art. 5 Abs. 1), „Geldstrafen oder Geldbußen, die gegen juristische Personen verhängt werden, werden selbst dann vollstreckt, wenn der Grundsatz der strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen im Vollstreckungsstaat nicht anerkannt ist“ (Art. 9 Abs. 3), es besteht die Möglichkeit der Anordnung einer Ersatzstrafe, u. a. einer Ersatzfreiheitsstrafe, wenn die Vollstreckung einer Entscheidung nicht möglich ist (Art. 10), und es ist eine Zuständigkeitsaufteilung zwischen dem Entscheidungsstaat und dem Vollstreckungsstaat hinsichtlich Amnestie, Begnadigung und Wiederaufnahme des Verfahrens vorgesehen (Art. 11).


8 – ABl. 2010, C 115, S. 1, Nr. 2.4.


9 – Oben in Fn. 8 angeführt, Nr. 1.1: „Politische Prioritäten“.


10 – Vgl. Art. 4 Abs. 1. Dies ist das erste Mal, dass sich der Gerichtshof mit der Auslegung des Rahmenbeschlusses 2005/214 zu befassen hat. Ein Vorabentscheidungsersuchen aus früherer Zeit wurde für unzulässig erklärt (Urteil vom 7. Juni 2012, Vinkov, C‑27/11).


11 – Dies wird in der Vorlageentscheidung deutlich festgehalten. Kurz gesagt macht Herr Baláž geltend, die österreichischen Polizeibeamten, von denen er angehalten worden sei, hätten ihn angewiesen, die Straße zur Brückenwaage zu benutzen, um den von ihm geführten Lkw kontrollieren zu lassen.


12 – Siehe unten, Nr. 84.


13 – Vgl. Urteile vom 17. Juli 2008, Kozłowski (C‑66/08, Slg. 2008, I‑6041, Randnr. 42), vom 16. November 2010, Mantello (C‑261/09, Slg. 2010, I‑11477, Randnr. 38), und vom 18. Oktober 2007, Österreichischer Rundfunk (C‑195/06, Slg. 2007, I‑8817, Randnr. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14 – Siehe oben, Nr. 31.


15 – Vgl. z. B. Art. 2 Abs. 1 (Benennung der zuständigen Behörden), Art. 5 (Definition der einzelnen aufgeführten Tatbestände) und Art. 7 in bestimmten Teilen (Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung).


16 – Oben in Fn. 6 angeführt.


17 – Oben in Fn. 13 angeführt.


18 – Oben in Fn. 13 angeführt.


19 – In der Rechtssache Kozłowski ging es um die Auslegung der Begriffe „sich aufhält“ und „ihren Wohnsitz hat“ im Sinne von Abs. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (vgl. Randnr. 43). Die Rechtssache Mantello betraf den Ausdruck „dieselbe Handlung“ im Sinne von Art. 3 Nr. 2 des Beschlusses (vgl. Randnr. 38).


20 – Siehe oben, Nr. 33.


21 – Siehe oben, Nr. 14. Der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf betreffende Teil von Art. 47 entspricht Art. 13 EMRK; dieses Recht ist jedoch – soweit ich dies der Vorlageentscheidung entnehmen kann – für das vorliegende Verfahren nicht unmittelbar relevant, so dass ich darauf hier nicht näher eingehen will.


22 – Eine begrenzte Anzahl von Gründen für die Versagung der Anerkennung und Vollstreckung sind in Art. 7 des Rahmenbeschlusses genannt.


23 – Kroatien ist am 1. Juli 2013 der Europäischen Union beigetreten.


24 – Darin sind noch nicht einmal die zahlreichen weiteren Sprachen inbegriffen, die zwar keine Amtssprachen der Union sind, jedoch eine wichtige Rolle im Leben der Bürger und deren Umgang mit Verwaltungs- und Vollstreckungseinrichtungen in der gesamten Union spielen – als Beispiel seien das Baskische, das Katalanische, das Walisische und das Luxemburgische genannt.


25 – Urteil vom 24. November 1998 (C‑274/96, Slg. 1998, I‑7637).


26 – 37. Schlussfolgerung.


27 – Entschließung des Rates vom 30. November 2009 über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten in Strafverfahren (ABl. C 295, S. 1).


28 – Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. L 280, S. 1).


29 – Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. L 142, S. 1).


30 – KOM(2011) 326 endgültig.


31 – Vgl. Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 2010/64 und Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13.


32 – Vgl. entsprechend die von der zuständigen Justizbehörde eines Vollstreckungsstaats vorzunehmende Beurteilung, ob ein Europäischer Haftbefehl „dieselbe Handlung“ erfasst, die bereits Gegenstand einer früheren Strafverfolgung war – Urteil Mantello (oben in Fn. 13 angeführt, Randnr. 50).


33 – Vgl. Gemeinsame Maßnahme 98/428/JI des Rates vom 29. Juni 1998 zur Einrichtung eines Europäischen Justiziellen Netzes (ABl. L 191, S. 4).


34 – Vgl. Urteile des EGMR vom 31. August 1999, Hubner/Österreich (Beschwerde Nr. 34311/96), und vom 20. Dezember 2001, Baischer/Österreich (Beschwerde Nr. 32381/96). Die österreichische Regierung verweist außerdem auf folgende Urteile des EGMR: vom 27. Mai 2004, Yavus/Österreich (Beschwerde Nr. 46549/99), vom 5. Dezember 2005, Liedermann/Österreich (Beschwerde Nr. 54272/00), vom 3. Februar 2005, Blum/Österreich (Beschwerde Nr. 31655/02), vom 8. Juni 2006, Kaya/Österreich (Beschwerde Nr. 54698/00), vom 5. Oktober 2006, Müller/Österreich (Beschwerde Nr. 12555/03), vom 7. Dezember 2006, Hauser-Sporn/Österreich (Beschwerde Nr. 37301/03), und vom 26. Juli 2007, Stempfer/Österreich (Beschwerde Nr. 18294/03).


35 – Urteil des EGMR vom 18. März 2010, Krumpholz/Österreich (Beschwerde Nr. 13201/05). In jener Rechtssache hat der EGMR jedoch entschieden, dass der Unabhängige Verwaltungssenat Art. 6 Abs. 1 und 2 EMRK verletzt habe, da „Schlüsse aus dem Schweigen des Beschwerdeführers in einer Situation zu ziehen, die nicht eindeutig eine Erklärung von ihm verlangte, und das ohne ausreichende Verfahrensgarantien, … gegen das Recht des Beschwerdeführers, zu schweigen, und die Unschuldsvermutung verstoßen [hat]“ (§ 42).


36 – Urteil des EGMR vom 12. Mai 2010, Kammerer/Österreich (Beschwerde Nr. 32435/06). In jener Rechtssache hat der EGMR entschieden, dass Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK nicht verletzt worden sei.


37 – Vgl. Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2000/383/JI sowie Urteile vom 13. Juli 1989, Wachauf (5/88, Slg. 1989, 2609, Randnr. 19), und vom 4. Juni 2009, JK Otsa Talu (C‑241/07, Slg. 2009, I‑4323, Randnr. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung); vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Mantello (Urteil oben in Fn. 13 angeführt, Nr. 88).


38 – Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Mantello (Urteil oben in Fn. 13 angeführt, Nrn. 77 und 78), in denen er die Auffassung vertritt, dass im Fall eines Europäischen Haftbefehls davon auszugehen sei, die ausstellende Behörde werde sicherstellen, dass die Rechte des vom Haftbefehl Betroffenen geachtet würden (in jener Rechtssache durch Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem), dass aber auch die vollstreckende Behörde den Schutz dieses Rechts garantieren müsse.


39 – Urteile vom 22. Dezember 2010, DEB (C‑279/09, Slg. 2010, I‑13849, Randnr. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung), vom 28. Juli 2011, Samba Diouf (C‑69/10, Slg. 2011, I‑7151, Randnr. 57), und vom 19. September 2006, Wilson (C‑506/04, Slg. 2006, I‑8613, Randnrn. 60 bis 62).


40 – Zu Art. 6 EMRK vgl. Urteil des EGMR vom 13. Mai 1980, Artico/Italien (Beschwerde Nr. 6649/74).


41 – In vielen Fällen der grenzüberschreitenden Anerkennung und Vollstreckung einer Geldsanktionsentscheidung wird deren Vollstreckbarkeit wohl nicht – oder nicht begründet – angefochten. Dennoch ist wichtig, dass das Gericht des Vollstreckungsstaats eine mit der Verletzung von Grundrechten begründete Anfechtung – wenn diese dann doch erfolgt – ernst nimmt, die notwendigen Erkundigungen einzieht und dann auf der Grundlage der eingegangenen Informationen beurteilt, ob die Entscheidung vollstreckbar ist.


42 – So wird beispielsweise im vorliegenden Fall das nationale Gericht festzustellen haben, ob Herr Baláž, als ihm die Geldsanktionsentscheidung vom 25. März 2010 am 2. Juli 2010 bekannt gegeben wurde, auch darüber belehrt wurde, dass er innerhalb von zwei Wochen ab der Bekanntgabe (und nicht etwa innerhalb von zwei Wochen ab Erlass der Entscheidung) Rechtsmittel beim Unabhängigen Verwaltungssenat einlegen konnte. Eine sehr knapp bemessene Frist kann bei einem in einem anderen Land einzulegenden Rechtsbehelf unzureichend sein. Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ist nur dann gewahrt, wenn die Frist tatsächlich ausreicht, um einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung vorzubereiten und einzureichen, und gegenüber den berührten Rechten und Belangen angemessen und verhältnismäßig ist – vgl. Urteil Samba Diouf (oben in Fn. 39 angeführt, Randnrn. 66 bis 68).


43 – Zur Bereitstellung von Prozesskostenhilfe vgl. u. a. Urteile des EGMR vom 10. Juni 1996, Benham/Vereinigtes Königreich (Beschwerde Nr. 19380/92), und Artico/Italien (oben in Fn. 40 angeführt). Mir ist kein aktueller Vorschlag zur Harmonisierung der Verfügbarkeit von Prozesskostenhilfe in Sachen, die bei einem in Strafsachen zuständigen Gericht anhängig werden, bekannt (Prozesskostenhilfe ist jedoch in dem oben in Fn. 27 angeführten Fahrplan als Maßnahme C genannt).


44 – Vgl. Urteil Bickel und Franz (oben in Fn. 25 angeführt) sowie zu Art. 6 Abs. 1 EMRK die eingehende Erörterung von Fragen der Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Urteil des EGMR vom 19. Dezember 1989, Kamasinski/Österreich (Beschwerde Nr. 9783/82). Vgl. auch die Richtlinien 2010/64 und 2012/13 (oben in Nr. 69 und in den Fn. 28 und 29 angeführt) sowie den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme bei der Festnahme (oben in Fn. 30 angeführt).