Language of document : ECLI:EU:C:2015:285

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 28. April 2015(1)

Rechtssache C‑290/14

Skerdjan Celaj

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Firenze [Italien])

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen – Art. 15 und 16 – Nationale Regelung, die für einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen im Fall der Wiedereinreise eine Haftstrafe vorsieht – Zulässigkeit“





 Einleitung

1.        „Ist es eine Straftat, ein Ausländer zu sein? Wir denken dies nicht.“

2.        So lauten die Schlussworte einer „gemeinsamen, teilweise abweichenden Meinung“ von sechs Richtern des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) in der richtungweisenden Rechtssache Saadi/Vereinigtes Königreich(2).

3.        In ähnlicher Weise vertritt die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte folgende Ansicht: „Die bloße Tatsache, dass es sich bei einer Person um eine Migrantin/einen Migranten in einer irregulären Situation handelt, sollte niemals als hinreichender Grund für eine Inhaftnahme gelten.“(3)

4.        Die Strafverfolgung und Bestrafung von Drittstaatsangehörigen, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, ist Gegenstand einer aufgeheizten Debatte. Selbst Stellen, die für eine auf Rechtsnormen gestützte Beurteilung zuständig sind, können häufig der Versuchung nicht widerstehen, in ihrer Argumentation in die Rechtspolitik abzugleiten, wie die beiden oben angeführten Stellungnahmen veranschaulichen mögen.

5.        Die vorliegende Rechtssache betrifft einen Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, nachdem er unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot, das zusammen mit einer Rückkehrentscheidung nach der Richtlinie 2008/115/EG(4) verhängt wurde, erneut in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats eingereist ist. Der Gerichtshof wird mit der Frage befasst, ob die Richtlinie 2008/115 der Inhaftierung dieser Person entgegensteht.

6.        Ich schlage dem Gerichtshof vor(5), die mit dem Urteil El Dridi(6) begonnene und mit den Urteilen Achughbabian(7) und Sagor(8) fortgeführte Rechtsprechung anhand des vorrangigen Ziels der Richtlinie, der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, näher auszuarbeiten und zu präzisieren. Der Gerichtshof sollte entscheiden, dass die Richtlinie 2008/115 einer solchen strafrechtlichen Sanktion entgegensteht, und zwar nicht aus politischen Erwägungen wie den oben angeführten, sondern im Interesse der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie 2008/115.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

7.        Der Zweck der Richtlinie 2008/115 wird in ihrem Art. 1 („Gegenstand“) wie folgt definiert:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

8.        Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.

(2)      Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:

a)      die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 des Schengener Grenzkodex unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land-, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten;

b)      die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.

…“

9.        In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

2.      ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die … Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

3.      ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

–      deren Herkunftsland oder

–      ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

–      ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

4.      ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

5.      ‚Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat;

6.      ‚Einreiseverbot‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht;

…“

10.      Art. 6 („Rückkehrentscheidung“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt in Abs. 1:

„Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.“

11.      Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 lautet: „Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.“

12.      Art. 11 („Einreiseverbot“) der Richtlinie lautet:

„(1)      Rückkehrentscheidungen gehen mit einem Einreiseverbot einher,

a)      falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder

b)      falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde.

In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen.

(2)      Die Dauer des Einreiseverbots wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.

(3)      Die Mitgliedstaaten prüfen die Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots, wenn Drittstaatsangehörige, gegen die ein Einreiseverbot nach Absatz 1 Unterabsatz 2 verhängt wurde, nachweisen können, dass sie das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter uneingeschränkter Einhaltung einer Rückkehrentscheidung verlassen haben.

Gegen Opfer des Menschenhandels, denen nach Maßgabe der Richtlinie 2004/81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren[(9)] ein Aufenthaltstitel erteilt wurde, wird unbeschadet des Absatzes 1 Unterabsatz 1 Buchstabe b kein Einreiseverbot verhängt, sofern die betreffenden Drittstaatsangehörigen keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellen.

Die Mitgliedstaaten können in Einzelfällen aus humanitären Gründen von der Verhängung eines Einreiseverbots absehen oder ein Einreiseverbot aufheben oder aussetzen.

Die Mitgliedstaaten können in Einzelfällen oder bestimmten Kategorien von Fällen ein Einreiseverbot aus sonstigen Gründen aufheben oder aussetzen.

(4)      Erwägt ein Mitgliedstaat, einen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung für Drittstaatsangehörige auszustellen, gegen die ein Einreiseverbot eines anderen Mitgliedstaats besteht, so konsultiert er zunächst den Mitgliedstaat, der das Einreiseverbot verhängt hat, und berücksichtigt dessen Interessen gemäß Artikel 25 des Schengener Durchführungsübereinkommens[(10)].

(5)      Die Absätze 1 bis 4 berühren nicht das Recht, in den Mitgliedstaaten um internationalen Schutz nach Artikel 2 Buchstabe a der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes[(11)] nachzusuchen.“

13.      Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)      Fluchtgefahr besteht oder

b)      die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.“

 Italienisches Recht

14.      Art. 13 Abs. 13 des Decreto legislativo Nr. 286 vom 25. Juli 1998 bestimmt: „Ein Ausländer, dessen Abschiebung angeordnet wurde, darf nicht ohne besondere Genehmigung des Innenministeriums erneut in das Staatsgebiet einreisen. Bei Zuwiderhandlung wird der Ausländer mit Haft von einem bis zu vier Jahren bestraft und unter unmittelbarer Begleitung an die Grenze erneut abgeschoben.“

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage

15.      Herr Celaj, ein albanischer Staatsangehöriger, reiste zu einem unbekannten Zeitpunkt in das italienische Staatsgebiet ein. Er wurde am 26. August 2011 von den italienischen Behörden wegen eines versuchten Raubes festgenommen und anschließend zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr (die zur Bewährung ausgesetzt wurde) und einer Geldstrafe von 400 Euro verurteilt. Das Urteil wurde am 15. März 2012 rechtskräftig.

16.      Am 17. April 2012 ergingen ein Ausweisungsdekret des Präfekten von Florenz und eine Abschiebungsanordnung des Questore di Firenze, verbunden mit einem dreijährigen Wiedereinreiseverbot nach Italien. Der Präfekt von Florenz führte in seinem Dekret aus, dass eine freiwillige Rückkehr auszuschließen sei und dass unter den Umständen des Falles eine unmittelbare Begleitung von Herrn Celaj an die Grenze erforderlich sei. Dieser habe nämlich nicht beantragt, ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, und wegen des Fehlens von Belegen dafür, dass er eine Unterkunft habe, bestehe Fluchtgefahr.

17.      Da kein Luftfahrtunternehmen zur Verfügung stand und Herr Celaj nicht in einer Hafteinrichtung untergebracht werden konnte, fand keine zwangsweise Abschiebung statt, sondern der Questore di Firenze forderte ihn unter Androhung der gesetzlichen Strafen auf, das Staatsgebiet zu verlassen.

18.      Herr Celaj blieb sodann in Italien. Zwischen dem 27. Juli 2012 und dem 30. August 2012 wurde in drei Fällen an drei verschiedenen Orten seine Identität festgestellt, und gegen ihn wurden Anzeigen wegen illegaler Einwanderung und Drogenanbau erstattet.

19.      Am 4. September 2012 erschien Herr Celaj unaufgefordert bei der Grenzpolizei von Brindisi und verließ freiwillig das Staatsgebiet.

20.      Später reiste Herr Celaj erneut in das italienische Hoheitsgebiet ein. Am 14. Februar 2014 wurde er von Carabinieri am Bahnhof von San Piero a Sieve bei einer dort durchgeführten Kontrolle wegen Verstoßes gegen Art. 13 Abs. 13 des Decreto legislativo Nr. 286/1998 festgenommen.

21.      Die Staatsanwaltschaft erhob vor dem Tribunale di Firenze (Bezirksgericht Florenz) Anklage gegen ihn und beantragte aufgrund von Art. 13 Abs. 13 des Decreto legislativo Nr. 286/1998 seine Verurteilung zu einer Haftstrafe von acht Monaten.

22.      Im Rahmen dieses Verfahrens hat das Tribunale di Firenze mit Beschluss vom 22. Mai 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Juni 2014, folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stehen die Vorschriften der Richtlinie 2008/115 nationalen Rechtsnormen der Mitgliedstaaten entgegen, die eine Haftstrafe von bis zu vier Jahren für einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen vorsehen, der nach seiner nicht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion erfolgten Rückführung in sein Herkunftsland unter Verstoß gegen ein rechtmäßiges Wiedereinreiseverbot erneut in das Staatsgebiet eingereist ist, der aber zuvor nicht den in Art. 8 der Richtlinie 2008/115 zum Zweck seiner schnellen und wirksamen Abschiebung vorgesehenen Zwangsmaßnahmen unterworfen wurde?

23.      Die Regierungen der Tschechischen Republik, Deutschlands, Griechenlands, Italiens, Norwegens und der Schweiz sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

 Würdigung

24.      Der Gerichtshof wird erneut um eine Entscheidung über die Vereinbarkeit einer innerstaatlichen strafrechtlichen Sanktion mit den Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 ersucht. Dieses Mal geht es um eine innerstaatliche strafrechtliche Sanktion in Form der Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen, die allein deshalb erfolgen soll, weil er nach seiner im Rahmen eines früheren Rückführungsverfahrens aus einem Mitgliedstaat erfolgten Rückkehr in sein Herkunftsland erneut in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats eingereist ist.

25.      Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass das Strafrecht und das Strafprozessrecht zwar grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen und weder die Richtlinie 2008/115 noch ihre Rechtsgrundlage(12) die strafrechtliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der illegalen Einwanderung und des illegalen Aufenthalts ausschließt, dass die Mitgliedstaaten jedoch keine strafrechtliche Regelung anwenden dürfen, die die Verwirklichung der mit der Richtlinie 2008/115 verfolgten Ziele gefährden und sie damit ihrer praktischen Wirksamkeit berauben könnte(13).

26.      Bevor ich mich der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden innerstaatlichen Regelung zuwende, möchte ich für die Zwecke des vorliegenden Falles kurz auf die durch die Richtlinie 2008/115 eingeführte Regelung und die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu strafrechtlichen Sanktionen im Zusammenhang mit dieser Richtlinie eingehen.

 Durch die Richtlinie 2008/115 eingeführte Regelung der Rückkehr, Abschiebung und Inhaftnahme

27.      Das durch die Richtlinie 2008/115 eingeführte Rückführungsverfahren ist vom Gerichtshof in verschiedenen Rechtssachen bereits umfassend dargestellt worden(14). Ich kann mich daher an dieser Stelle kurzfassen und auf die für die vorliegende Rechtssache zentralen Elemente beschränken.

28.      Das Ziel der Richtlinie 2008/115 besteht nach ihrem zweiten Erwägungsgrund in der Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden(15). Zu diesem Zweck führt sie ein Rückführungsverfahren ein, dessen Kern und Ausgangspunkt eine Rückkehrentscheidung ist. Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 verpflichtet(16), eine solche Entscheidung gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu erlassen(17). Diese Bestimmung stellt das Schlüsselelement der Richtlinie dar(18).

29.      Das anschließende Verfahren beruht auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit(19); dementsprechend ist eine Abschiebung, d. h. die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtungen durch tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat(20), regelmäßig nur zulässig, wenn eine freiwillige Ausreise nicht möglich oder nicht erfolgt ist(21), und von einer Inhaftnahme darf nur als ultima ratio, nicht länger als unbedingt erforderlich und nur bis zur Abschiebung Gebrauch gemacht werden(22). Der den Bestimmungen über die Inhaftnahme zugrunde liegende Gedanke ist, dass nur die Rückkehr- und Abschiebeverfahren einen Freiheitsentzug rechtfertigen und dass, wenn diese Verfahren nicht mit der nötigen Sorgfalt durchgeführt werden, die Inhaftnahme nach diesen Bestimmungen nicht mehr gerechtfertigt ist(23). Wie ich bereits in meiner Stellungnahme in der Rechtssache Mahdi hervorgehoben habe(24), hat die Abschiebehaft keinen Strafcharakter und ist keine Strafhaft(25). Ferner ist Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 eng auszulegen, da es sich bei der Haft um einen Freiheitsentzug und damit um eine Einschränkung des Grundrechts der Freiheit der Person handelt(26).

 Zulässige Inhaftnahme oder Inhaftierung über die Fälle der Richtlinie 2008/115 hinaus

30.      Die Richtlinie selbst enthält somit keine Bestimmungen über die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, auf eine Inhaftnahme oder Inhaftierung als strafrechtliche Sanktion in Zusammenhang mit einem illegalen Aufenthalt zurückzugreifen. Aus meiner Sicht ist der Grund hierfür klar: Für eine solche Sanktion ist kein Raum, wenn das Ziel der Richtlinie darin besteht, für die schnelle Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zu sorgen. Jede Inhaftnahme oder Inhaftierung, die nicht als Bestandteil eines Rückkehrverfahrens angeordnet wird, wird dieses Verfahren letztlich verzögern.

31.      Bekanntermaßen und wie in der Einleitung dieser Schlussanträge bereits erwähnt, gibt es auch Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Frage. Bisher gab es jedoch noch keinen Fall, in dem der Gerichtshof auf der Grundlage des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens entschieden hätte, dass eine Inhaftnahme oder Inhaftierung als strafrechtliche Sanktion mit der Richtlinie 2008/115 vereinbar ist.

 Bisherige Rechtsprechung: vom Urteil El Dridi über das Urteil Achughbabian zum Urteil Sagor

32.      In der Rechtssache El Dridi(27) wurde der Gerichtshof um Klärung der Frage ersucht, ob die Richtlinie 2008/115 einer nationalen Regelung wie der im dortigen Ausgangsverfahren in Rede stehenden italienischen Regelung(28) entgegensteht, die eine Haftstrafe für einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein deshalb vorsah, weil er unter Verstoß gegen eine Anordnung, das italienische Hoheitsgebiet innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, ohne berechtigten Grund dort blieb. Der Gerichtshof entschied, dass die Richtlinie, insbesondere ihre Art. 15 und 16, einer solchen Regelung in der Tat entgegensteht(29).

33.      In der Rechtssache Achughbabian(30) wurde dem Gerichtshof erneut die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob die Richtlinie 2008/115 einer nationalen Regelung wie der französischen Regelung im dortigen Ausgangsverfahren(31) entgegensteht, die eine Haftstrafe für einen Drittstaatsangehörigen allein wegen seiner illegalen Einreise in das französische Staatsgebiet oder seines illegalen Aufenthalts dort vorsah. Der Gerichtshof entschied erneut, dass die Richtlinie einer solchen Regelung entgegensteht, „soweit diese Regelung die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, der sich zwar illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und nicht bereit ist, dieses Hoheitsgebiet freiwillig zu verlassen, gegen den aber keine Zwangsmaßnahmen im Sinne von Art. 8 dieser Richtlinie verhängt wurden und dessen Haft im Fall einer Inhaftnahme zur Vorbereitung und Durchführung seiner Abschiebung die höchstzulässige Dauer noch nicht erreicht hat“(32). Die Situation von Herrn Achughbabian im Ausgangsverfahren fiel in diese Kategorie.

34.      Der Gerichtshof begründete seine Entscheidung in diesen beiden Rechtssachen damit, dass eine Inhaftierung die Verwirklichung des mit der Richtlinie verfolgten Ziels zu gefährden drohte und dass sie die Anwendung der in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 genannten Maßnahmen zum Scheitern bringen und die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung verzögern könnte(33).

35.      Im Übrigen wählte der Gerichtshof im Urteil Achughbabian eine etwas weitere Formulierung als im Urteil El Dridi: Er führte aus, dass diese Feststellung auch für den Erlass einer Rückkehrentscheidung gilt. Der Gerichtshof stellte fest, dass „die den Mitgliedstaaten durch Art. 8 dieser Richtlinie auferlegte Pflicht, in den in Abs. 1 dieser Vorschrift genannten Fällen die Abschiebung vorzunehmen, innerhalb kürzester Frist zu erfüllen ist. Diesem Erfordernis würde ganz offensichtlich nicht genügt, wenn der betreffende Mitgliedstaat, nachdem er den illegalen Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen festgestellt hätte, vor der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung oder gar vor deren Erlass[(34)] ein Strafverfahren durchführte, das gegebenenfalls zu einer Freiheitsstrafe führte.“(35)

36.      Diese Entwicklung vom Urteil El Dridi zum Urteil Achughbabian ist bemerkenswert; ich werde später darauf zurückkommen(36).

37.      Überdies bemerkenswert und aus meiner Sicht unklar ist, warum der Gerichtshof in seiner Begründung und im ersten Gedankenstrich des Tenors, anders als im Urteil El Dridi(37), nicht mehr auf die Art. 15 und 16 der Richtlinie 2008/115 Bezug nimmt. Auch hierauf werde ich später zurückkommen(38).

38.      Im Urteil Sagor bestätigte der Gerichtshof, dass eine Hausarreststrafe, die während eines Rückkehrverfahrens verhängt und vollzogen wird, „die Maßnahmen, die, wie die Begleitung an die Grenze oder die Zwangsrückkehr auf dem Luftweg, der Umsetzung der Abschiebung dienen, verzögern und damit behindern [kann]“(39).

39.      Das Urteil Achughbabian(40) endete jedoch nicht mit der oben angeführten Feststellung. Obwohl es keine Verbindung zum Sachverhalt des Ausgangsverfahrens gab, führte der Gerichtshof weiter aus, dass die Richtlinie 2008/115 einer Regelung eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, nicht entgegensteht, soweit sie „die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, auf den das mit [der Richtlinie 2008/115] geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und der sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal in dem genannten Hoheitsgebiet aufhält“(41).

40.      Hervorzuheben ist nochmals, dass sowohl im Urteil El Dridi(42) als auch im Urteil Achughbabian(43) der Sachverhalt so lag, dass das jeweilige Rückkehrverfahren nicht vollständig angewandt worden war(44).

41.      Im Anschluss stellte der Gerichtshof im Urteil Sagor in Bezug auf ein zu einer Geldstrafe führendes Strafverfahren fest, dass eine solche Geldstrafe nicht geeignet ist, das Rückkehrverfahren nach der Richtlinie 2008/115 zu behindern(45). Er fügte hinzu: „Die Verhängung einer Geldstrafe steht in keiner Weise dem Erlass und der Durchführung einer Rückkehrentscheidung unter voller Beachtung der in den Art. 6 bis 8 der Richtlinie 2008/115 genannten Voraussetzungen entgegen und beeinträchtigt auch nicht die in den Art. 15 und 16 dieser Richtlinie aufgeführten gemeinsamen Normen im Bereich des Freiheitsentzugs.“(46)

42.      Die Verwendung des Begriffs „Erlass“(47) ist aufschlussreich, denn sie belegt, dass die Verpflichtung zum Erlass einer Rückkehrentscheidung (wie auch im vorliegenden Fall) permanent gilt. Sie belegt auch, dass die Unterscheidung danach, ob ein Rückkehrverfahren läuft oder nicht, in Wirklichkeit künstlich ist. Selbst wenn kein Rückkehrverfahren läuft und die Voraussetzungen von Art. 6 erfüllt sind, muss es eingeleitet werden.

 Inhaftierung infolge der Wiedereinreise

43.      Wenden wir uns nun dem vorliegenden Fall zu.

44.      Das vorlegende Gericht hat festgestellt, dass sich Herr Celaj illegal im italienischen Hoheitsgebiet aufhält. Die Richtlinie 2008/115 ist daher nach ihrem Art. 2 Abs. 1 anwendbar. Keine der Ausnahmen in Art. 2 Abs. 2 und 3 ist einschlägig. Insbesondere gibt es keinen Hinweis darauf, dass Herr Celaj einem Einreiseverbot nach Art. 13 des Schengener Grenzkodex unterliegt(48).

45.      Damit stellt sich die Frage, ob die italienischen Behörden im vorliegenden Fall eine Haftstrafe gegen Herrn Celaj verhängen dürfen.

46.      Die italienische, die tschechische, die deutsche, die griechische, die norwegische und die Schweizer Regierung sind ebenso wie die Kommission der Ansicht, dass dies möglich sei. Ihrer Ansicht nach unterscheidet sich der Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache von denjenigen der Urteile El Dridi und Achughbabian. Auch wenn ihre Argumentation in Einzelheiten voneinander abweicht, ist ihrer Meinung nach zu unterscheiden zwischen einem Drittstaatsangehörigen, der erstmals in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist, und seiner späteren erneuten Einreise nach Durchführung eines Rückkehrverfahrens. Im ersten Fall habe ein Mitgliedstaat keine andere Möglichkeit, als die Richtlinie 2008/115 anzuwenden; im zweiten Fall dürfe ein Mitgliedstaat jedoch die Verhängung einer Haftstrafe anstreben, um den Drittstaatsangehörigen von einer erneuten illegalen Einreise in sein Hoheitsgebiet abzuhalten.

47.      Das vorlegende Gericht ist dagegen der Ansicht, dass das Werturteil über die begrifflichen und strukturellen Unterschiede zwischen den verschiedenen Situationen, in denen sich ein Ausländer befinden könne, je nachdem, ob seine Anwesenheit im Inland auf einer illegalen Einreise oder Wiedereinreise nach einer vorangegangenen Rückführungsmaßnahme beruhe, irrelevant sei.

48.      Ich stimme dem Ansatz des vorlegenden Gerichts zu; meines Erachtens steht dieser Ansatz auch in vollem Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs.

49.      Das in ihrem Art. 1 ausdrücklich und unmissverständlich genannte Ziel der Richtlinie 2008/115 besteht darin, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige zurückzuführen. Die Mitgliedstaaten unterliegen einer ständigen Verpflichtung, ein Rückkehrverfahren durch Erlass einer Rückkehrentscheidung einzuleiten und es dann im Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durchzuführen.

50.      Die Richtlinie unterscheidet nicht danach, wie oft ein Drittstaatsangehöriger versucht, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen, und zwar aus gutem Grund: Fragen im Zusammenhang mit der illegalen Einreise sind in erster Linie Gegenstand der Einreiseregelungen der Union wie dem Schengener Grenzkodex. Sobald sich ein Drittstaatsangehöriger jedoch im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befindet und festgestellt worden ist, dass er sich dort illegal aufhält, muss er zurückgeführt werden(49). Die den Mitgliedstaaten aus den Art. 6 ff. der Richtlinie 2008/115 erwachsenden Verpflichtungen sind anhaltend, kontinuierlich und gelten ununterbrochen in dem Sinne, dass sie automatisch entstehen, sobald die Voraussetzungen dieser Bestimmungen erfüllt sind. Würde ein Mitgliedstaat, nachdem festgestellt wurde, dass sich ein Drittstaatsangehöriger illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhält, keine Rückkehrentscheidung erlassen, sondern stattdessen eine Inhaftierung der Person erwirken, würde er seine Verpflichtungen aus der Richtlinie de facto suspendieren.

51.      Der Gerichtshof scheint sich dessen voll und ganz bewusst zu sein, wie seine Begründung im Urteil Achughbabian(50) zeigt, in der er ausführt, dass auch dem Erlass einer Rückkehrentscheidung keine strafrechtliche Sanktion vorangehen darf.

52.      Eine Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen aus anderen als den in der Richtlinie vorgesehenen Gründen kommt de facto einer einseitigen vorübergehenden Suspendierung der Richtlinie durch den betreffenden Mitgliedstaat gleich. Für eine solche Suspendierung der Richtlinie ist meines Erachtens kein Raum.

 Einreiseverbot

53.      Wie ist das Bestehen eines Einreiseverbots in diesem Zusammenhang zu bewerten?

54.      Rechtsprechung hierzu ist rar und für den vorliegenden Fall wenig ergiebig(51).

55.      Die Richtlinie definiert ein Einreiseverbot als behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird(52). Wie sich aus Art. 11 der Richtlinie 2008/115 ergibt, geht ein Einreiseverbot mit einer Rückkehrentscheidung einher. Es ist daher lediglich akzessorisch zu einer Rückkehrentscheidung(53).

56.      Die Richtlinie 2008/115 betrifft, wie oben ausgeführt, die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. Fragen der Einreise in das Gebiet der Europäischen Union sind in erster Linie Gegenstand der Regelungen des Schengen-Besitzstands(54) und insbesondere des Schengener Grenzkodex(55). Auch wenn die Einreise- und die Rückkehrpolitik der Union untrennbar miteinander verbunden sind, sollte daher nicht außer Acht gelassen werden, dass sie in unterschiedlichen Rechtsakten geregelt sind. Deutlich wird dies auch an Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten beschließen können, die Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die einem Einreiseverbot nach Art. 13 des Schengener Grenzkodex unterliegen. Deutlich wird dies ferner daran, dass lediglich ein Erwägungsgrund(56) der Richtlinie 2008/115 und keine zwingende Bestimmung dieser Richtlinie die Aufforderung an die Mitgliedstaaten enthält, den anderen Mitgliedstaaten einen unmittelbaren Zugang zu Informationen über Einreiseverbote zu geben, und besagt, dass dieser Informationsaustausch in Übereinstimmung mit der SIS-II-Verordnung(57) erfolgen sollte.

57.      Das übergeordnete Ziel der Richtlinie 2008/115 ist nicht die Verhinderung, sondern die Beendigung eines illegalen Aufenthalts(58). Angesichts der akzessorischen Natur eines Einreiseverbots dürfen Maßnahmen, die seine Nichtbefolgung unter Strafe stellen, dieses übergeordnete Ziel nicht gefährden. Mit anderen Worten darf eine Inhaftnahme oder Inhaftierung zu Zwecken der Vollstreckung eines Einreiseverbots ein künftiges Rückkehrverfahren nicht gefährden.

58.      Dies bedeutet keineswegs, dass das Bestehen eines Einreiseverbots aus der Sicht eines Mitgliedstaats zwecklos ist: Indem eine Person an einer künftigen legalen Wiedereinreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats gehindert wird, kann es einen Drittstaatsangehörigen von einer illegalen Wiedereinreise in dieses Hoheitsgebiet abhalten. Die Richtlinie selbst stattet die Mitgliedstaaten daher mit Mitteln aus, um Drittstaatsangehörige von einer illegalen Wiedereinreise in ihr Hoheitsgebiet abzuhalten.

59.      Sobald ein Drittstaatsangehöriger jedoch (illegal) in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats (wieder-)eingereist ist, gelten die den Mitgliedstaaten aus der Richtlinie erwachsenden Verpflichtungen.

 Abschließende Erwägungen

60.      Wie man es auch betrachtet: Die Inhaftierung einer Person verzögert letztlich eine künftige Rückführung. Die schlichte Feststellung, dass die Richtlinie 2008/115 dem Recht eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, das den illegalen Aufenthalt als Straftat einstuft und strafrechtliche Sanktionen vorsieht, um von der Begehung derartiger Verstöße gegen die nationalen aufenthaltsrechtlichen Vorschriften abzuschrecken und sie zu ahnden(59), ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Eine Inhaftnahme oder Inhaftierung muss sich daher auf die Inhaftnahme wegen Straftaten, die nichts mit der Rechtswidrigkeit eines Aufenthalts zu tun haben(60), auf die Inhaftnahme im Verwaltungsverfahren in den in Kapitel IV der Richtlinie geregelten Fällen und auf die Inhaftnahme zum Zweck der Feststellung, ob der Aufenthalt rechtmäßig ist oder nicht, beschränken(61). Die Bestimmungen des Kapitels IV sind abschließend, soweit es um eine Inhaftnahme oder Inhaftierung im Zusammenhang mit einem Aufenthalt geht, dessen Rechtswidrigkeit festgestellt wurde. Daher folgt aus diesen Bestimmungen, insbesondere den Art. 15 und 16 der Richtlinie, dass die Richtlinie andere Fälle einer Inhaftnahme oder Inhaftierung ausschließt.

61.      Ich bin mir voll und ganz bewusst, dass mein Verständnis der Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 zu einer engen Auslegung des zweiten Gedankenstrichs des Tenors des Urteils Achughbabian(62) führt. Dies ist jedoch die einzige mögliche Auslegung, die sich mit den Bestimmungen dieser Richtlinie in Einklang bringen lässt(63). Ich verstehe den zweiten Gedankenstrich des Tenors des Urteils Achughbabian daher dahin, dass er nur Fälle umfasst, in denen ein Rückkehrverfahren erfolglos betrieben worden ist und die betreffende Person sich weiterhin ohne Rechtfertigungsgrund für ihre Nichtrückkehr illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhält(64).

62.      Hinzuweisen ist schließlich auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach ein nationales Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden und deren volle Wirksamkeit zu gewährleisten hat und Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet lassen muss, soweit sie den Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 zuwiderlaufen(65). Das vorlegende Gericht muss daher Art. 13 Abs. 13 des Decreto legislativo Nr. 286/1998 unangewendet lassen, soweit diese Bestimmung eine Haftstrafe für Herrn Celaj allein deshalb vorsieht, weil er nach seiner Rückkehr in sein Herkunftsland erneut in das italienische Hoheitsgebiet eingereist ist.

 Ergebnis

63.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Tribunale di Firenze (Italien) vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, insbesondere deren Art. 15 und 16, ist dahin auszulegen, dass sie nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die eine Haftstrafe für einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein deshalb vorsehen, weil er nach seiner im Rahmen eines früheren Rückkehrverfahrens erfolgten Rückführung in sein Herkunftsland erneut in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats eingereist ist.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – Siehe die gemeinsame, teilweise abweichende Meinung der Richter Rozakis, Tulkens, Kovler, Hajiyev, Spielmann und Hirvelä in der Rechtssache Saadi/Vereinigtes Königreich vom 29. Januar 2008 [Große Kammer], Nr. 13229/03, § 65.


3 – Siehe „Inhaftnahme von Drittstaatsangehörigen in Rückführungsverfahren“, Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, 2011, S. 20, abrufbar unter http://fra.europa.eu/sites/default/files/inhaftnahme_von_drittstaatsangehorigenin_ruckfuhrungsverfahren_web.pdf. Diese Feststellung steht nur in Zusammenhang mit einer Inhaftnahme im Verwaltungsverfahren, weshalb sie meines Erachtens erst recht für strafrechtliche Sanktionen gilt.


4 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).


5 – Dabei werde ich mich nach Kräften bemühen, mich auf rechtliche Argumente im Zusammenhang mit der Richtlinie 2008/115 statt auf politische Erwägungen wie die in den Nrn. 1 und 3 dieser Schlussanträge angeführten zu konzentrieren.


6 – Urteil El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268).


7 – Urteil Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807).


8 – Urteil Sagor (C‑430/11, EU:C:2012:777).


9 –      ABl. L 261, S. 19.


10 –      ABl. 2000, L 239, S. 19.


11 –      ABl. L 304, S. 12.


12 – Art. 63 Nr. 3 Buchst. b EG, übernommen in Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV. Zum Gesetzgebungsverfahren vgl. meine Stellungnahme in der Rechtssache Mahdi (C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1936, Nr. 45 und Fn. 12).


13 – Vgl. insbesondere Urteil Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 33).


14 – Vgl. z. B. Urteil El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 34 ff.).


15 – Nähere Angaben zu den Inspirationsquellen der Richtlinie, wie die Rechtsprechung des EGMR und die „20 Leitlinien zur Frage der erzwungenen Rückkehr“, die das Ministerkomitee des Europarats am 4. Mai 2005 angenommen hat, enthält meine Stellungnahme in der Rechtssache Mahdi (C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1936, Nr. 45).


16 – Vgl. Urteil Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 31). Im englischen Text der Richtlinie wird der eine Verpflichtung normierende Begriff „shall“ verwendet. Zum zwingenden Charakter von Art. 6 der Richtlinie 2008/115 vgl. auch Slama, S., „La transposition de la directive ‚retour‘: vecteur de renforcement ou de régression des droits des irréguliers?“, in: L. Dubin, La légalité de la lutte contre l'immigration irrégulière par l’Union européenne, Bruylant 2012, S. 289 bis 345, speziell S. 330.


17 – Diese Verpflichtung gilt unbeschadet einer Reihe von Ausnahmen, die in Art. 6 Abs. 2 bis 5 aufgeführt sind. Darüber hinaus gestattet Art. 6 Abs. 6 den Mitgliedstaaten, eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts zusammen mit einer Rückkehrentscheidung zu erlassen.


18 – Vgl. auch Hörich, D., „Die Rückführungsrichtlinie: Entstehungsgeschichte, Regelungsgehalt und Hauptprobleme“, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 2011, S. 281 bis 286, speziell S. 283.


19 – Vgl. Erwägungsgründe 13 und 16 der Richtlinie 2008/115. Vgl. auch Urteil El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 41).


20 – Art. 3 Nr. 5 und Art. 8 der Richtlinie 2008/115.


21 – Vgl. Art. 7 der Richtlinie 2008/115.


22 – Vgl. Kapitel IV: Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung, Art. 15 bis 18 der Richtlinie 2008/115.


23 – Zu weiteren Einzelheiten vgl. meine Stellungnahme in der Rechtssache Mahdi (C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1936, Nrn. 46 bis 55).


24 – C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1936.


25 – Ebd. (Nr. 47), sowie Schlussanträge des Generalanwalts Bot in den Rechtssachen Bero und Bouzalmate (C‑473/13 und C‑514/13, EU:C:2014:295, Nr. 91), Stellungnahme des Generalanwalts Mazák in der Rechtssache El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:205, Nr. 35) und Stellungnahme des Generalanwalts Wathelet in der Rechtssache G. und R. (C‑383/13 PPU, EU:C:2013:553, Nr. 54).


26 – Vgl. meine Stellungnahme in der Rechtssache Mahdi (C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1936, Nr. 47) sowie die Stellungnahme des Generalanwalts Mazák in der Rechtssache Kadzoev (C‑357/09 PPU, EU:C:2009:691, Nr. 70). So auch die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK (vgl. z. B. Urteile Quinn/Frankreich vom 22. März 1995, Serie A, Nr. 311, § 42, und Kaya/Rumänien vom 12. Oktober 2006, Nr. 33970/05, § 16).


27 – Urteil El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268).


28 – Dort ging es um andere Vorschriften des auch hier in Rede stehenden Decreto legislativo.


29 – Ebd. (Rn. 62 und Tenor).


30 – Urteil Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807).


31 – Eine Bestimmung des französischen Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht (Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile [Ceseda]).


32 – Ebd. (Rn. 50 und erster Gedankenstrich des Tenors).


33 – Vgl. Urteile El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 59) und Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 45). Eine Reihe von Stimmen im Schrifttum spricht von einem gewissen Paradox in dieser Begründung. Vgl. z. B. Spitaleri, F., „Il rimpatrio dell’immigrato in condizione irregolare: il difficile equilibro tra efficienza delle procedure e garanzie in favore dello straniero nella disciplina dell’Unione europea“, in: S. Amadeo (Hrsg.), Le garanzie fondamentali dell’immigrato in Europa, Turin, 2015 (im Erscheinen), S. 17: „riconstruzioni abbastanza paradossali“; Leboeuf, L., „La directive retour et la privation de liberté des étrangers. Le rappel à l’ordre de la Cour de justice dans l’arrêt El Dridi“, in: Revue du droit des étrangers, 2011, S. 181 bis 191, speziell S. 191: „Paradoxalement, l’objectif de gestion efficace des flux migratoires permet à la Cour de justice de s’opposer à la pénalisation du séjour irrégulier.“ Andere erkennen gar einen gewissen Zynismus, vgl. Kauff-Gazin, F., „La directive ‚retour‘ au secours des étrangers?: de quelques ambiguïtés de l’affaire El Dridi du 28 avril 2011“, in: Europe, Nr. 6, Juni 2011, S. 1 bis 13, speziell S. 12: „Cet argumentaire suscite la critique à la fois par son cynisme et par son manque d’audace.“ Meiner Ansicht nach lässt sich ein solches Paradox in der Tat wahrnehmen, wenn man den Fokus auf die mutmaßlichen Interessen der Betroffenen und nicht auf die rechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Richtlinie legt. Die einzigen durch die Richtlinie geschützten Interessen der Betroffenen sind jedoch die ihnen während des Verfahrens im Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zustehenden Grundrechtsgarantien.


34 – Hervorhebung nur hier.


35 – Vgl. Urteil Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 45).


36 – In Nr. 51 dieser Schlussanträge.


37 – Urteil El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268). Dagegen nahm der Gerichtshof später im Urteil Sagor (C‑430/11, EU:C:2012:777, Rn. 36) und auch in seinem Beschluss Mbaye (C‑522/11, EU:C:2013:190, Rn. 28) als Teil seiner Begründung auf die Art. 15 und 16 der Richtlinie 2008/115 Bezug.


38 – In Nr. 60 dieser Schlussanträge.


39 – Urteil Sagor (C‑430/11, EU:C:2012:777, Rn. 45).


40 – Urteil Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807).


41 – Ebd. (Rn. 48 und 50 und zweiter Gedankenstrich des Tenors). Diese Passage ist zwar auch Bestandteil des Tenors der Rechtssache, meines Erachtens aber eindeutig als obiter dictum anzusehen, da sie keine Verbindung zum Sachverhalt des zugrunde liegenden Falles aufweist und eine hypothetische Situation betrifft.


42 – Urteil El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268).


43 – Urteil Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807).


44 – Dies wird auch hervorgehoben von Piccichè, F., „Il reato di ingresso e soggiorno illegale nel territorio dello stato alla luce della Direttiva 2008/115/CE“, in: Rivista penale 7-8-2012, S. 712 bis 715, speziell S. 715.


45 – Urteil Sagor (C‑430/11, EU:C:2012:777, Rn. 36).


46 – Urteil Sagor (C‑430/11, EU:C:2012:777, Rn. 36).


47 – [Betrifft nur die englische Fassung].


48 – Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 105, S. 1).


49 – Selbstverständlich unbeschadet der Ausnahmen in Art. 6 Abs. 2 bis 5 der Richtlinie 2008/115.


50 – Vgl. Urteil Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 45), angeführt in Nr. 34 dieser Schlussanträge.


51 – Die Fragen, die der Gerichtshof bisher zu beantworten hatte, betrafen die Befristung eines Einreiseverbots und die Frist für die Umsetzung der Richtlinie, vgl. Urteil Filev und Osmani (C‑297/12, EU:C:2013:569).


52 – Vgl. Art. 3 Nr. 6 der Richtlinie 2008/115. Hinzuweisen ist darauf, dass dies nur für die Mitgliedstaaten gilt, die am Schengen-System teilnehmen; vgl. auch die Erwägungsgründe 25 und 26 der Richtlinie 2008/115.


53 – Vgl. auch Martucci, F., „La directive ‚retour‘: la politique européenne d’immigration face à ses paradoxes“, in: Revue Trimestrielle deDroit Européen, 2009, S. 47 bis 67, speziell S. 50.


54 – Ein kurzer Überblick findet sich in den Schlussanträgen der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Zh. und O (C‑554/13, EU:C:2015:94, Nrn. 3 ff.). Vgl. auch Peers, S., EU Justice and Home Affairs Law, 3. Aufl., Oxford, OUP 2011, S. 136 ff.


55 – Dieser regelt insbesondere den Personenkreis, dem die Einreise zu verweigern ist, und überträgt den Grenzschutzbeamten die Verpflichtung, eine regelwidrige Einreise von Drittstaatsangehörigen zu verhindern; vgl. Art. 13 des Kodex. Hinzuweisen ist ferner darauf, dass der Kodex mehrfach auf eine sogenannte „SIS-Ausschreibung“ (SIS = Schengener Informationssystem) Bezug nimmt. Das rechtliche Verhältnis zwischen einer Einreiseverweigerung infolge einer solchen Ausschreibung und einem Einreiseverbot nach der Richtlinie 2008/115 ist nicht sehr klar; vgl. auch Boeles, P., „Entry Bans and SIS-alerts“, in: K. Zwaan (Hrsg.), The Returns Directive: central themes, problem issues and implementation in selected Member States, WLP, Nijmegen, 2011, S. 39 bis 45, speziell S. 44.


56 – Vgl. 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115.


57 – Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II) (ABl. L 381, S. 4).


58 – Vgl. auch Brunessen, B., „La Cour de justice et la directive Retour: la stratégie du Roseau“, in: Revue des affaires européennes, 2011/4, S. 845 bis 858, speziell S. 854.


59 – Vgl. Urteil Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 28).


60 – Solche Straftaten sind offenkundig vom Anwendungsbereich der Richtlinie nicht umfasst.


61 – Vgl. Urteil Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 29). So auch zu Art. 5 Abs. 1 Buchst. f erste Alternative EMRK das Urteil Saadi/Vereinigtes Königreich vom 29. Januar 2008 [Große Kammer], Nr. 13229/03, § 65.


62 – Urteil Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807).


63 – Die genaue Tragweite einer Urteilsbegründung zu bestimmen, bereitet stets größere Schwierigkeiten, wenn sie nicht in direktem Zusammenhang mit dem Sachverhalt der Rechtssache steht.


64 – Hat der Betreffende z. B. das Rückkehrverfahren, indem er sich ihm durch Flucht oder anderweitig entzieht, aktiv vereitelt, um zu verhindern, dass es erfolgreich ist, und hält er sich weiterhin illegal auf, dann darf dieser Mitgliedstaat ihn in der Tat strafrechtlich verfolgen und mit einer Strafe belegen.


65 – Vgl. Urteil El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).