Language of document : ECLI:EU:C:2017:465

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

15. Juni 2017(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 78/660/EWG – Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen – Grundsatz der Bilanzwahrheit – Grundsatz der Vorsicht – Gesellschaft, die eine Aktienoption ausgibt und den Veräußerungspreis dieser Option in dem Geschäftsjahr, in dem diese Option ausgeübt wird, oder am Ende der Laufzeit dieser Option verbucht“

In den verbundenen Rechtssachen C‑444/16 und C‑445/16

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Mons (Berufungsgericht Mons, Belgien) mit Entscheidungen vom 3. August 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 8. August 2016, in den Verfahren

Immo Chiaradia SPRL (C‑444/16),

Docteur De Bruyne SPRL (C‑445/16)

gegen

État belge

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Juhász, des Richters C. Vajda (Berichterstatter) und der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Immo Chiaradia SPRL und der Docteur De Bruyne SPRL, vertreten durch J.‑J. Vandenbroucke, avocat,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Støvlbæk und N. Gossement als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssachen zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel [50 Absatz 2 Buchstabe g AEUV] über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. 1978, L 222, S. 11) in der durch die Richtlinie 2003/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2003 (ABl. 2003, L 178, S. 16) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 78/660).

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Immo Chiaradia SPRL bzw. der Docteur De Bruyne SPRL einerseits und dem belgischen Staat andererseits über die von den Klägerinnen der Ausgangsverfahren für die Steuerjahre 2006 bzw. 2008 geschuldete Körperschaftsteuer.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Im dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 78/660 heißt es:

„… ist es erforderlich, dass hinsichtlich des Umfangs der zu veröffentlichenden finanziellen Angaben in der Gemeinschaft gleichwertige rechtliche Mindestbedingungen für miteinander im Wettbewerb stehende Gesellschaften hergestellt werden“.

4        Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 78/660 lautet:

„Der Jahresabschluss hat ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln.“

5        Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 78/660 sieht vor:

„Als Rückstellungen sind ihrer Eigenart nach genau umschriebene Verbindlichkeiten auszuweisen, die am Bilanzstichtag wahrscheinlich oder sicher, aber hinsichtlich ihrer Höhe oder des Zeitpunkts ihres Eintritts unbestimmt sind.“

6        Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 78/660 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass für die Bewertung der Posten im Jahresabschluss folgende allgemeine Grundsätze gelten:

c)      Der Grundsatz der Vorsicht muss in jedem Fall beachtet werden. Das bedeutet insbesondere:

aa)      Nur die am Bilanzstichtag realisierten Gewinne werden ausgewiesen.

bb)      Es müssen alle Risiken berücksichtigt werden, die in dem betreffenden Geschäftsjahr oder einem früheren Geschäftsjahr entstanden sind, selbst wenn diese Risiken erst zwischen dem Bilanzstichtag und dem Tag der Aufstellung der Bilanz bekannt geworden sind.

cc)      Wertminderungen sind unabhängig davon zu berücksichtigen, ob das Geschäftsjahr mit einem Gewinn oder einem Verlust abschließt.

d)      Aufwendungen und Erträge für das Geschäftsjahr, auf das sich der Jahresabschluss bezieht, müssen berücksichtigt werden, ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Ausgabe oder Einnahme dieser Aufwendung oder Erträge.

e)      Die in den Aktiv- und Passivposten enthaltenen Vermögensgegenstände sind einzeln zu bewerten.

…“

 Belgisches Recht

7        Art. 41 des Gesetzes vom 26. März 1999 über den belgischen Aktionsplan für die Beschäftigung 1998 und zur Festlegung sonstiger Bestimmungen (Moniteur belge vom 1. April 1999, S. 10904) in seiner auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 26. März 1999) sieht vor:

„Für die Anwendung des vorliegenden Unterabschnitts versteht man unter:

1.      Gesellschaft: jede belgische oder ausländische Gesellschaft mit Rechtspersönlichkeit,

2.      Aktie: jede Aktie, jeden Anteil oder Gewinnanteil einer Gesellschaft,

3.      Option: das Recht, während eines bestimmten Zeitraums eine bestimmte Anzahl Aktien zu einem bestimmten oder noch zu bestimmenden Preis zu kaufen oder anlässlich der Erhöhung des Kapitals einer Gesellschaft zu zeichnen,

5.      Börse: jeden geregelten Markt oder einen anderen öffentlich zugänglichen, regelmäßig stattfindenden Markt.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

8        Aus dem Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑444/16 geht hervor, dass Immo Chiaradia am 11. Februar 2002 im Rahmen des Gesetzes vom 26. März 1999 zugunsten ihres Geschäftsführers ein entgeltliches Aktienoptionsrecht über 2 360 Aktien eines anderen Unternehmens ausgab. Der Preis der Option betrug 12 942 Euro und entsprach dem geldwerten Vorteil, wie er durch dieses Gesetz definiert ist, nämlich 20 % des Werts der Wertpapiere, der sich auf 64 709,36 Euro belief.

9        Am 26. August 2005 gab Immo Chiaradia im Rahmen des Gesetzes vom 26. März 1999 zugunsten ihres Geschäftsführers ein zweites entgeltliches Aktienoptionsrecht über 18 423 Aktien eines anderen Unternehmens aus. Der Preis der Option betrug 9 996,35 Euro und entsprach dem geldwerten Vorteil, wie er durch dieses Gesetz definiert ist, nämlich 20 % des Werts der Wertpapiere, der sich auf 49 981,77 Euro belief.

10      Der Optionspreis wurde als passiver Rechnungsabgrenzungsposten von Immo Chiaradia verbucht und somit nicht als Ertrag in der Gewinn- und Verlustrechnung ausgewiesen.

11      Der Geschäftsführer von Immo Chiaradia übte sein zweites Aktienoptionsrecht im Steuerjahr 2006, in dem Immo Chiaradia eine Wertminderung von 3 265 Euro verbuchte, teilweise aus.

12      Am 13. November 2008 richtete die Steuerverwaltung einen Berichtigungsbescheid an Immo Chiaradia, mit dem sie dieser ihre Absicht mitteilte, die Optionspreise für das Steuerjahr 2006 als stille Reserve in Höhe von 22 708,35 Euro unmittelbar zu besteuern.

13      Trotz des Widerspruchs von Immo Chiaradia richtete die Steuerverwaltung an diese einen Steuerbescheid, in dem sie ihre Absicht bestätigte, den vom Geschäftsführer gezahlten Optionspreis als Überbewertung der Passiva zu besteuern, der ihrer Ansicht nach einen geldwerten Vorteil darstellte, der für das Steuerjahr 2006 (Rechnungsabschluss am 31. Dezember 2005) als Ertrag zu verbuchen sei. Die Steuerverwaltung stellte somit am 23. Dezember 2008 zulasten von Immo Chiaradia einen Nacherhebungsbescheid für das Steuerjahr 2006 aus.

14      Die von Immo Chiaradia gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde vom 14. Januar 2009 wurde durch eine Entscheidung der Steuerverwaltung vom 24. Mai 2012 zurückgewiesen.

15      Am 6. August 2012 erhob Immo Chiaradia beim Tribunal de première instance du Hainaut, division de Mons (Gericht erster Instanz Hainaut, Abteilung Mons, Belgien) eine Klage auf Aufhebung der streitigen Besteuerung, die mit Urteil vom 3. April 2014 abgewiesen wurde.

16      Immo Chiaradia legte am 30. Juni 2014 bei der Cour d’appel de Mons (Berufungsgericht Mons) Berufung gegen dieses Urteil ein. Mit ihrer Klage begehrt sie die Aufhebung der streitigen Besteuerung mit der Begründung, es gebe keine Rechtsvorschrift, die für die in Rede stehende Option eine eigene Art der Verbuchung vorsehe oder eine eigene steuerliche Regelung schaffe. Sie habe den Vorgang gemäß dem Gutachten 167/1 der Commission des Normes Comptables (CNN) (Kommission für Buchhaltungsnormen) verbucht und sich für die Auffassung entschieden, dass der vom Veräußerer einer Option erzielte Preis die Gegenleistung für das von ihm für die gesamte Laufzeit der Option übernommene Risiko darstelle und dieser Preis erst zum Fälligkeitstermin der Option wirtschaftlichen Wert habe und als Ertrag zu verbuchen sei.

17      Das vorlegende Gericht führt aus, dass es in mehreren seiner Urteile festgestellt habe, dass die Steuerverwaltung den Optionspreis nicht als stille Reserve besteuern könne. In diesen Urteilen habe es ausgeführt, dass sich die steuerpflichtigen Gewinne in Ermangelung einer ausdrücklichen Abweichung der steuerlichen Vorschriften nach den Vorschriften der Rechnungslegung bestimmten. Dann habe es drei Gutachten der CNC analysiert, darunter das Gutachten 167/1.

18      Nach dem Vorlagebeschluss habe das vorlegende Gericht in diesen Urteilen festgestellt, dass das Gutachten 167/1 für die Behandlung des als Gegenleistung für das ausgegebene Optionsrecht vereinnahmten Preises bei der Rechnungslegung zwei Ansätze vorschlage. Nach dem ersten Ansatz werde der Preis des Optionsrechts unmittelbar als Ertrag verbucht. Dem zweiten Ansatz zufolge werde dieser Preis – bis zur Fälligkeit der Option – als passiver Abgrenzungsposten betrachtet und damit als vorzutragender Ertrag ausgewiesen. Das vorlegende Gericht war der Ansicht, dass der zweite Ansatz gerechtfertigt sei, und wies darauf hin, dass dieser Ansatz von der CNC gemäß dem Grundsatz der Vorsicht bevorzugt werde.

19      Der belgische Staat bezweifelt die Vereinbarkeit des zweiten Ansatzes mit der Richtlinie 78/660. Er fragt sich insbesondere, ob es mit dieser Richtlinie vereinbar ist, dass eine Gesellschaft den Preis des in Rede stehenden Optionsrechts in dem Geschäftsjahr, in dem die Option ausgeübt wird, oder am Ende der Laufzeit der Option als Ertrag verbuchen kann, um dem Risiko Rechnung zu tragen, das der Veräußerer der Option infolge der von ihm eingegangenen Verpflichtung übernimmt, und nicht in dem Geschäftsjahr, in dem die Option veräußert und ihr Preis endgültig vereinnahmt wird, wobei in diesem Fall das vom Veräußerer der Option übernommene Risiko durch die Verbuchung einer Rückstellung gesondert bewertet wird.

20      Aus dem Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑445/16 geht hervor, dass Docteur de Bruyne mit Vereinbarung vom 12. Dezember 2006 im Rahmen des Gesetzes vom 26. März 1999 zugunsten ihrer Geschäftsführerin ein entgeltliches Aktienoptionsrecht über 540 Aktien eines anderen Unternehmens ausgab. Der Preis der Option betrug 12 550,68 Euro und entsprach dem geldwerten Vorteil, wie er durch das Gesetz vom 26. März 1999 definiert ist, nämlich 20 % des Werts der Wertpapiere, der sich auf 62 753,40 Euro belief.

21      Der Optionspreis wurde als passiver Rechnungsabgrenzungsposten von Docteur De Bruyne verbucht und somit nicht als Ertrag in der Gewinn- und Verlustrechnung ausgewiesen.

22      Am 16. November 2009 richtete die Steuerverwaltung einen Berichtigungsbescheid an Docteur De Bruyne, mit dem sie dieser mitteilte, dass der Optionspreis von 12 550,68 Euro für das Steuerjahr 2008 eine endgültige Einnahme der Gesellschaft darstelle und als solche auf einem Ertragskonto für das Geschäftsjahr 2007 zu verbuchen sei.

23      Trotz des Widerspruchs von Docteur De Bruyne richtete die Steuerverwaltung am 21. Dezember 2009 an diese einen Steuerbescheid, in dem sie ihre Absicht bestätigte, den Optionspreis als Überbewertung der Passiva zu besteuern, der ihrer Ansicht nach einen geldwerten Vorteil darstellte, der für das Steuerjahr 2008 (Rechnungsabschluss am 31. Dezember 2007) als Ertrag zu verbuchen sei. Die Steuerverwaltung stellte somit am 14. Januar 2010 zulasten von Docteur De Bruyne einen Nacherhebungsbescheid für das Steuerjahr 2008 aus.

24      Die von Docteur De Bruyne gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde vom 5. März 2010 wurde durch eine Entscheidung der Steuerverwaltung vom 26. April 2012 zurückgewiesen.

25      Am 18. Juli 2012 erhob Docteur De Bruyne beim Tribunal de première instance du Hainaut, division de Mons (Gericht erster Instanz Hainaut, Abteilung Mons) eine Klage auf Aufhebung der streitigen Besteuerung, die mit Urteil vom 8. Mai 2014 abgewiesen wurde.

26      Docteur De Bruyne legte am 4. Juli 2014 bei der Cour d’appel de Mons (Berufungsgericht Mons) Berufung gegen dieses Urteil ein.

27      Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Mons (Berufungsgericht Mons) aus in beiden Rechtssachen ähnlichen Gründen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende, in beiden Rechtssachen gleichlautende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist es vereinbar mit den in der Richtlinie 78/660 vorgesehenen Bilanzierungsregeln, nach denen

–        der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln hat (Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 78/660),

–        als Rückstellungen ihrer Eigenart nach genau umschriebene Verbindlichkeiten auszuweisen sind, die am Bilanzstichtag wahrscheinlich oder sicher, aber hinsichtlich ihrer Höhe oder dem Zeitpunkt ihres Eintritts unbestimmt sind (Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 78/660),

–        der Grundsatz der Vorsicht in jedem Fall beachtet werden muss, was insbesondere bedeutet, dass

–        nur die am Bilanzstichtag realisierten Gewinne ausgewiesen werden,

–        alle voraussehbaren Risiken und zu vermutenden Verluste berücksichtigt werden müssen, die in dem Geschäftsjahr oder einem früheren Geschäftsjahr entstanden sind, selbst wenn diese Risiken oder Verluste erst zwischen dem Bilanzstichtag und dem Tag der Aufstellung der Bilanz bekannt geworden sind (Art. 31 Abs. 1 Buchst. c Unterabs. aa und bb der Richtlinie 78/660),

–        Aufwendungen und Erträge für das Geschäftsjahr, auf das sich der Jahresabschluss bezieht, berücksichtigt werden müssen, ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Ausgabe oder Einnahme dieser Aufwendung oder Erträge (Art. 31 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 78/660),

–        die in den Aktiv- und Passivposten enthaltenen Vermögensgegenstände einzeln zu bewerten sind (Art. 31 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 78/660),

dass eine Gesellschaft, die eine Aktienoption ausgibt, den Veräußerungspreis dieser Option in dem Geschäftsjahr, in dem die Option ausgeübt wird, oder am Ende der Laufzeit der Option als Ertrag verbuchen kann, um dem Risiko Rechnung zu tragen, das der Veräußerer der Option infolge der von ihm eingegangenen Verpflichtung übernimmt, und nicht in dem Geschäftsjahr, in dem die Veräußerung der Option erfolgt und ihr Preis endgültig vereinnahmt wird, wobei in diesem Fall das vom Veräußerer der Option übernommene Risiko durch die Verbuchung einer Rückstellung gesondert bewertet wird?

28      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 13. September 2016 sind die Rechtssachen C‑444/16 und C‑445/16 zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

 Zur Vorlagefrage

 Zur Zulässigkeit

29      Die Zulässigkeit der Vorlagefrage wurde sowohl von den Klägerinnen der Ausgangsverfahren als auch von der Europäischen Kommission in Frage gestellt.

30      Erstens weist die Kommission darauf hin, dass der Ausgangsrechtsstreit steuerlicher Natur sei. Die Vorlagefrage betreffe aber die Auslegung der Richtlinie 78/660, bei der es um den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen gehe.

31      Die Richtlinie 78/660 ist zwar nicht darauf gerichtet, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen die Finanzbehörden der Mitgliedstaaten die Jahresabschlüsse dieser Gesellschaften bei der Festsetzung der Besteuerungsgrundlage und der Höhe von Steuern wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Körperschaftsteuer zugrunde legen können oder müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C‑322/12, EU:C:2013:632, Rn. 28).

32      Aus dieser Feststellung lässt sich aber nicht ableiten, dass die Vorlagefrage unzulässig ist. Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof die Entscheidung über die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur dann verweigern darf, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 17. März 2016, Aspiro, C‑40/15, EU:C:2016:172, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Der Gerichtshof hat bereits anerkannt, dass die Mitgliedstaaten die Jahresabschlüsse der Gesellschaften als maßgebliche Grundlage für steuerliche Zwecke verwenden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C‑322/12, EU:C:2013:632, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). Aus den Vorlagebeschlüssen geht aber hervor, dass sich im belgischen Recht die steuerpflichtigen Gewinne in Ermangelung einer ausdrücklichen Abweichung der steuerlichen Vorschriften nach den Vorschriften der Rechnungslegung bestimmen und dass das maßgebliche belgische Recht keine Vorgaben zur Technik der Verbuchung des Optionspreises enthält.

34      Unter diesen Umständen ist nicht offensichtlich, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand der Ausgangsrechtsstreitigkeiten steht.

35      Zweitens möchten die Klägerinnen der Ausgangsverfahren im Wesentlichen wissen, ob der belgische Staat die Richtlinie 78/660 in den Ausgangsverfahren mit Erfolg geltend machen kann, da diese Richtlinie ihrer Ansicht nach nicht konkret in das belgische Recht umgesetzt worden ist.

36      Dazu ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorschriften des nationalen Rechts zwar die Bestimmungen der Richtlinie 78/660 nicht wörtlich übernommen haben, bei der Aufstellung der Rechnungsabschlüsse von Gesellschaften der Zweck, die Grundsätze und die Bestimmungen dieser Richtlinie aber unstreitig zu beachten sind, so dass die Auslegung der Bestimmungen dieser Richtlinie durch den Gerichtshof für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens durch das vorlegende Gericht bindend ist (vgl. entsprechend Urteil vom 7. Januar 2003, BIAO, C‑306/99, EU:C:2003:3, Rn. 92 und 93). Im Übrigen ist es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs unter solchen Umständen Sache des vorlegenden Gerichts, das maßgebliche innerstaatliche Recht so weit wie möglich anhand des Unionsrechts – hier der Richtlinie 78/660 – auszulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 17. März 2016, Aspiro, C‑40/15, EU:C:2016:172, Rn. 18).

37      Folglich ist die Vorlagefrage als zulässig anzusehen.

 Zur Begründetheit

38      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob insbesondere die Grundsätze der Bilanzwahrheit und der Vorsicht im Sinne von Art. 2 Abs. 3 bzw. Art. 31 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 78/660 dahin auszulegen sind, dass sie einer Buchungsmethode entgegenstehen, wonach eine Gesellschaft, die ein Aktienoptionsrecht ausgibt, den Veräußerungspreis dieser Option in dem Geschäftsjahr, in dem diese Option ausgeübt wird, oder am Ende der Laufzeit dieser Option als Ertrag verbucht.

39      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 78/660 ihrem dritten Erwägungsgrund zufolge Mindestbedingungen hinsichtlich des Umfangs der zu veröffentlichenden finanziellen Angaben aufstellen soll (Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C‑322/12, EU:C:2013:632, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, stellt die Beachtung des Grundsatzes der Bilanzwahrheit die Hauptzielsetzung der Richtlinie 78/660 dar. Nach diesem in Art. 2 Abs. 3 dieser Richtlinie genannten Grundsatz muss der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens‑, Finanz‑ und Ertragslage der Gesellschaft vermitteln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C‑322/12, EU:C:2013:632, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Der Gerichtshof hat diesen Grundsatz flexibel ausgelegt. Seinen Ausführungen nach gebietet dieser Grundsatz, dass zum einen die Jahresabschlüsse die Tätigkeiten und Vorgänge wiedergeben, die sie beschreiben sollen, und dass zum anderen die Angaben so gemacht werden, dass sie möglichst verlässlich und in möglichst geeigneter Weise das Informationsbedürfnis Dritter befriedigen, ohne die Interessen der betroffenen Gesellschaft zu beeinträchtigen (Urteil vom 14. September 1999, DE + ES Bauunternehmung, C‑275/97, EU:C:1999:406, Rn. 27).

42      Der Gerichtshof hatte bereits Gelegenheit, darzulegen, dass sich die Anwendung des Grundsatzes der Bilanzwahrheit möglichst weitgehend an den in Art. 31 der Richtlinie 78/660 enthaltenen allgemeinen Grundsätzen zu orientieren hat, wobei dem in Art. 31 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie vorgesehenen Grundsatz der Vorsicht besondere Bedeutung zukommt (Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C‑322/12, EU:C:2013:632, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Nach Art. 31 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 78/660, der den Grundsatz der Vorsicht enthält, gestattet es die Berücksichtigung aller Faktoren – realisierte Gewinne, Aufwendungen, Erträge, Risiken und Verluste –, die sich tatsächlich auf das fragliche Geschäftsjahr beziehen, die Beachtung des Grundsatzes der Bilanzwahrheit sicherzustellen (Urteil vom 3. Oktober 2013, GIMLE, C‑322/12, EU:C:2013:632, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Was Aktienoptionsrechte wie die im Ausgangsverfahren fraglichen angeht, enthält die Richtlinie 78/660 keinen konkreten Hinweis darauf, nach welcher Methode der Preis dieser Optionen zu verbuchen ist. Wie die Kommission in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen vorgetragen hat, gibt es demnach zwangsläufig verschiedene Methoden, die mit dieser Richtlinie vereinbar sind, soweit sie die allgemeinen Grundsätze beachten, die durch diese Richtlinie aufgestellt werden.

45      Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht nicht hervor, dass diese Grundsätze durch eine Buchungsmethode wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende missachtet werden, wonach eine Gesellschaft, die ein Aktienoptionsrecht ausgibt, den Veräußerungspreis dieser Option in dem Geschäftsjahr, in dem diese Option ausgeübt wird, oder am Ende der Laufzeit dieser Option als Ertrag verbuchen kann.

46      Zum einen widerspricht es nicht dem Grundsatz der Vorsicht, dass eine Gesellschaft, die ein Aktienoptionsrecht ausgibt, den Veräußerungspreis dieser Option erst nach Ausübung der Option oder am Ende ihrer Laufzeit als Ertrag verbucht. Aus den Vorlagebeschlüssen ergibt sich nämlich, dass der Preis die Gegenleistung für das von der ausgebenden Gesellschaft für die gesamte Laufzeit der Option übernommene Risiko darstellt. Es ist also in Anbetracht des Grundsatzes der Vorsicht gerechtfertigt, diesen Preis erst als Ertrag zu verbuchen, wenn endgültig bestimmt werden kann, ob sich dieses Risiko, mit dem er eng verknüpft ist, verwirklicht hat oder nicht.


47      Zum anderen kann – wie die Klägerinnen der Ausgangsverfahren in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen vorgetragen haben – nicht ausgeschlossen werden, dass, wenn der Veräußerungspreis der Option in dem Geschäftsjahr, in dem das Optionsrecht ausgegeben wird und bevor dieses ausgeübt wird oder gegebenenfalls seine Laufzeit endet, als Ertrag verbucht wird, die Buchführung der ausgebenden Gesellschaften in den Geschäftsjahren, die auf die Ausgabe des Optionsrechts folgen, ein höheres Risiko aufweist als im Fall der Verbuchung in dem Geschäftsjahr, in dem die Option ausgeübt wird oder in dem ihre Laufzeit endet. Das Risiko, das aufgrund einer eventuellen Kurssteigerung der den Optionen zugrunde liegenden Wertpapiere entsteht, kann nämlich tatsächlich durch die Höhe des Veräußerungspreises der Option ausgeglichen werden, der eine Gegenleistung für dieses Risiko darstellt. Unter diesen Umständen steht eine Buchungsmethode wie die in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten fragliche nicht im Gegensatz zum Grundsatz der Bilanzwahrheit.

48      Es ist hinzuzufügen, dass Art. 20 der Richtlinie 78/660 trotz des Hinweises auf diesen Artikel in der Vorlagefrage für die Beantwortung dieser Frage nicht relevant ist, die im Wesentlichen die Verbuchung des Optionspreises und nicht die Verbuchung von Rückstellungen für Verbindlichkeiten, die wahrscheinlich oder sicher sind, betrifft.

49      Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Grundsätze der Bilanzwahrheit und der Vorsicht im Sinne von Art. 2 Abs. 3 bzw. Art. 31 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 78/660 dahin auszulegen sind, dass sie einer Buchungsmethode nicht entgegenstehen, wonach eine Gesellschaft, die ein Aktienoptionsrecht ausgibt, den Veräußerungspreis dieser Option in dem Geschäftsjahr, in dem diese Option ausgeübt wird, oder am Ende der Laufzeit dieser Option als Ertrag verbucht.

 Kosten

50      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Die Grundsätze der Bilanzwahrheit und der Vorsicht im Sinne von Art. 2 Abs. 3 bzw. Art. 31 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel [50 Absatz 2 Buchstabe g AEUV] über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen in der durch die Richtlinie 2003/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2003 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer Buchungsmethode nicht entgegenstehen, wonach eine Gesellschaft, die ein Aktienoptionsrecht ausgibt, den Veräußerungspreis dieser Option in dem Geschäftsjahr, in dem diese Option ausgeübt wird, oder am Ende der Laufzeit dieser Option als Ertrag verbucht.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.