Language of document : ECLI:EU:C:2016:430

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MELCHIOR WATHELET

vom 9. Juni 2016(1)

Verbundene Rechtssachen C‑401/15 bis C‑403/15

Noémie Depesme (C‑401/15),

Saïd Kerrou (C‑401/15),

Adrien Kauffmann (C‑402/15),

Maxime Lefort (C‑403/15)

gegen

Ministre de l’Enseignement supérieur et de la Recherche

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour administrative [Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freizügigkeit – Gleichbehandlung – Soziale Vergünstigungen – Verordnung (EU) Nr. 492/2011 – Art. 7 Abs. 2 – Studienbeihilfe – Voraussetzung – Diskriminierung – Abstammungsverhältnis – Begriff ‚Kind‘ – Stiefelternteil“





I –    Einleitung

1.        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union(2).

2.        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von drei Rechtsstreitigkeiten zwischen Frau Noémie Depesme und Herrn Saïd Kerrou, Herrn Adrien Kauffmann bzw. Herrn Maxime Lefort und dem Ministre de l’Enseignement supérieur et de la Recherche (Minister für Hochschulbildung und Forschung, im Folgenden: Minister) wegen der Ablehnung, für das Studienjahr 2013/2014 staatliche Studienbeihilfen zu gewähren.

3.        Sie fügen sich ein in den Kontext von Änderungen des luxemburgischen Rechts in der Folge des Urteils vom 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411).

4.        Mit der gestellten Frage wird der Gerichtshof ersucht zu beurteilen, ob der Begriff „Kind“ eines Wanderarbeitnehmers, der in dem neuen Art. 2bis des Gesetzes vom 22. Juni 2000 über die staatliche Studienbeihilfe in der Fassung des Gesetzes vom 19. Juli 2013 (Mémorial A 2013, S. 3214), das im Anschluss an das Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411), erlassen wurde, auch die Stiefkinder dieses Arbeitnehmers umfasst(3).

5.        Im Rahmen dieser Schlussanträge sind die Begriffe „Stiefsohn“, „Stieftochter“ oder „Stiefkinder“ so zu verstehen, dass sie die Beziehung zwischen einem Kind und der Person betreffen, mit der sein Vater oder seine Mutter verheiratet ist oder eine einer Ehe gleichzustellende eingetragene Partnerschaft eingegangen ist.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Verordnung Nr. 492/2011

6.        Art. 7 dieser Verordnung sieht vor:

„(1)      Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.

(2)      Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.

…“

2.      Richtlinie 2004/38/EG

7.        Der Begriff „Familienangehöriger“ eines Unionsbürgers ist in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG(4) definiert. Nach dieser Vorschrift bezeichnet der Ausdruck „Familienangehöriger“:

„a)      den Ehegatten;

b)      den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind;

c)      die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;

d)      die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), denen von diesen Unterhalt gewährt wird“.

B –    Luxemburgisches Recht

8.        Art. 2 des Gesetzes vom 22. Juni 2000 über die staatliche Studienbeihilfe in der Fassung des Gesetzes vom 26. Juli 2010 (Mémorial A 2010, S. 2040) (im Folgenden: Gesetz vom 22. Juni 2000) bestimmte:

„Begünstigte der finanziellen Beihilfe

Die staatliche finanzielle Studienbeihilfe wird Studierenden gewährt, die zum Studium an einer Hochschule zugelassen sind und eine der folgenden Voraussetzungen erfüllen:

a)      Sie sind luxemburgische Staatsangehörige oder Familienmitglied eines luxemburgischen Staatsangehörigen und haben ihren Wohnsitz im Großherzogtum Luxemburg, oder

b)      sie sind Angehörige eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines der anderen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum[, vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3)], und der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die sich gemäß Kapitel 2 des geänderten Gesetzes vom 29. August 2008 über den freien Personenverkehr und die Einwanderung als Arbeitnehmer, als Selbständiger, als Person, die diesen Status beibehält, oder als Familienangehöriger einer der vorgenannten Personengruppen im Großherzogtum Luxemburg aufhalten oder das Recht auf Daueraufenthalt erworben haben …

…“

9.        Im Anschluss an das Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411), wurde durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes vom 19. Juli 2013 (Mémorial A 2013, S. 3214) ein Art. 2bis in das Gesetz vom 22. Juni 2000 eingefügt, der folgenden Wortlaut hat:

„Ein Studierender, der nicht im Großherzogtum Luxemburg wohnt, kann die Studienbeihilfe ebenfalls erhalten, wenn er Kind eines in Luxemburg beschäftigten bzw. tätigen Arbeitnehmers oder Selbständigen ist, der die luxemburgische Staatsangehörigkeit besitzt oder Bürger der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist und zum Zeitpunkt der Beantragung der Studienbeihilfe durch den Studierenden seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen in Luxemburg beschäftigt war oder dort seine Tätigkeit ausgeübt hat. Die Beschäftigung in Luxemburg muss mindestens der Hälfte der für das betreffende Unternehmen geltenden normalen gesetzlichen oder gegebenenfalls tariflichen Arbeitszeit entsprechen. Der Selbständige muss in den fünf Jahren vor der Beantragung der Studienbeihilfe nach Art. 1 Nr. 4 des Code de la sécurité sociale [(Sozialgesetzbuch)] im Großherzogtum Luxemburg ununterbrochen pflichtversichert gewesen sein.“

10.      Das Gesetz vom 22. Juni 2000 in der Fassung des Gesetzes vom 19. Juni 2013 (im Folgenden: geändertes Gesetz vom 22. Juni 2000) wurde jedoch durch das Gesetz vom 24. Juli 2014 über die staatliche Studienbeihilfe (Mémorial A 2014, S. 2188) kurze Zeit später aufgehoben.

11.      Nunmehr sieht Art. 3 dieses letztgenannten Gesetzes vor:

„Die staatliche finanzielle Studienbeihilfe wird Studierenden und Schülern im Sinne von Art. 2, im Folgenden bezeichnet als ‚Studierender‘, gewährt, die eine der folgenden Voraussetzungen erfüllen:

(5)      für Studierende ohne Wohnsitz im Großherzogtum Luxemburg:

a)      ein Arbeitnehmer, der die luxemburgische Staatsangehörigkeit besitzt oder Bürger der Europäischen Union oder Angehöriger eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist und der zum Zeitpunkt seines Antrags auf Studienbeihilfe in Luxemburg beschäftigt war oder dort seine Tätigkeit ausgeübt hat, oder

b)      ein Kind eines Arbeitnehmers ist, der die luxemburgische Staatsangehörigkeit besitzt oder Bürger der Europäischen Union oder Angehöriger eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist und der zum Zeitpunkt des Antrags des Studierenden auf Studienbeihilfe in Luxemburg beschäftigt war oder dort seine Tätigkeit ausgeübt hat, sofern dieser Arbeitnehmer weiter zum Unterhalt des Studierenden beiträgt und zum Zeitpunkt des Antrags des Studierenden auf Studienbeihilfe mindestens fünf Jahren in Luxemburg beschäftigt war oder dort seine Tätigkeit ausgeübt hat, und zwar während eines rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Antrags auf Studienbeihilfe berechneten Referenzzeitraums von sieben Jahren, oder, davon abweichend, die Person, die den Arbeitnehmerstatus behält, das vorgenannte ‚fünf-von-sieben-Jahren-Kriterium‘ zum Zeitpunkt der Beendigung ihrer Tätigkeit erfüllt.“

III – Sachverhalte der Ausgangsverfahren

12.      Frau Depesme ist die Stieftochter von Herrn Kerrou, der als Grenzgänger in Luxemburg tätig ist. Sie haben ihren Wohnsitz in Mont-Saint-Martin in Lothringen (Frankreich), nahe der Grenze zum Großherzogtum. Frau Depesme beantragte die Studienbeihilfe des luxemburgischen Staates in der Absicht, sich zum ersten Studienjahr eines Medizinstudiums an der Universität Lothringen in Nancy (Frankreich) anzumelden.

13.      Herr Kauffmann ist der Stiefsohn von Herrn Patrick Kiefer, der ebenfalls als Grenzgänger im Großherzogtum Luxemburg tätig ist. Beide haben ihren Wohnsitz in Marly Freskaty (Frankreich) in der Grenzregion Lothringens. Herr Kauffmann beantragte für sein Rechts- und Wirtschaftsstudium an der Universität Lothringen in Nancy die Studienbeihilfe des luxemburgischen Staates.

14.      Herr Lefort ist der Stiefsohn von Herrn Terwoigne, der gleichfalls als Grenzgänger im Großherzogtum Luxemburg tätig ist. Herr Terwoigne heiratete nach dem Tod seiner Ehefrau die Mutter von Herrn Lefort. Sie wohnen in Vance (Belgien) im Grenzgebiet der Provinz Luxemburg zum Großherzogtum Luxemburg. Herr Lefort beantragte für sein Soziologie- und Anthropologiestudium an der Katholischen Universität Louvain in Louvain-la-Neuve (Belgien) die Studienbeihilfe des luxemburgischen Staates.

15.      Nach der für die Sachverhalte der Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung des geänderten Gesetzes vom 22. Juni 2000 werden die beantragten Studienbeihilfen Studierenden ohne Wohnsitz im Hoheitsgebiet Luxemburgs gewährt, wenn zum einen der Begünstigte das Kind eines in Luxemburg beschäftigten bzw. tätigen Arbeitnehmers oder Selbständigen ist, der die luxemburgische Staatsangehörigkeit besitzt oder Unionsbürger ist, und zum anderen zum Zeitpunkt der Antragstellung dieser Arbeitnehmer oder Selbständige seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen in Luxemburg beschäftigt war oder dort seine Tätigkeit ausgeübt hat.

16.      Mit Schreiben vom 26. September, 17. Oktober bzw. 12. November 2013 lehnte der Minister die Anträge von Frau Depesme, von Herrn Kauffmann und von Herrn Lefort mit der Begründung ab, dass sie nicht die Voraussetzungen des geänderten Gesetzes vom 22. Juni 2000 erfüllten. Nach den Feststellungen der Vorlageentscheidungen war der Minister der Auffassung, Frau Depesme, Herr Kauffmann und Herr Lefort könnten nicht als „Kinder“ eines Grenzgängers angesehen werden, da nur ihre Stiefväter in Luxemburg arbeiteten.

17.      Am 20. Dezember 2013 erhob Frau Depesme beim Tribunal administratif de Luxembourg (Verwaltungsgericht Luxemburg) Klage auf Aufhebung der sie betreffenden Ablehnungsentscheidung. Ihr Stiefvater, Herr Kerrou, erklärte, als Streithelfer an diesem Verfahren teilzunehmen. Am 20. Januar bzw. am 25. April 2014 erhoben Herr Lefort und Herr Kauffmann gegen die sie betreffenden Ablehnungsentscheidungen entsprechende Klagen.

18.      Mit Urteilen vom 15. Januar 2015 erklärte das Tribunal administratif de Luxembourg (Verwaltungsgericht Luxemburg) die Klagen von Frau Depesme, Herrn Kauffmann und Herrn Lefort für zulässig, aber unbegründet. Frau Depesme, Herr Kerrou, Herr Kauffmann und Herr Lefort fochten diese Urteile vor dem vorlegenden Gericht an.

19.      Vor diesem Gericht machen Frau Depesme und Herr Kerrou insbesondere geltend, Herr Kerrou, Grenzgänger in Luxemburg seit 14 Jahren, habe am 24. Mai 2006 die Mutter von Frau Depesme geheiratet. Sie lebten seither alle drei in derselben Wohnung. Ferner trage Herr Kerrou zum Unterhalt des Kindes seiner Ehefrau einschließlich der Aufwendungen für das Studium des Kindes bei. Er habe im Übrigen vor dessen Studienbeginn vom luxemburgischen Staat Familienzulagen für dieses Kind erhalten.

20.      Herr Kauffmann macht geltend, seine Eltern hätten sich im Jahr 2003 getrennt und seien seit dem 20. Juni 2005 geschieden. Das ausschließliche Sorgerecht für die Kinder sei seiner Mutter übertragen worden. Diese habe am 10. März 2007 Herrn Kiefer geheiratet. Seitdem lebten sie alle drei in derselben Wohnung. Herr Kiefer habe zu den Kosten für Unterhalt und Erziehung beigetragen. Auch habe Herr Kiefer vom luxemburgischen Staat Familienzulagen für Herrn Kaufmann bezogen.

21.      Herr Lefort schließlich trägt vor, sein Vater sei gestorben. Seine Mutter habe mit Herrn Terwoigne, der seit mehr als fünf Jahren als Grenzgänger in Luxemburg tätig sei, eine neue Ehe geschlossen. Er lebe seitdem bei seiner Mutter und seinem Stiefvater, Herrn Terwoigne, der vollständig für die Haushaltskosten aufkomme. Ferner trage dieser die Kosten seines Studiums.

22.      In seiner Stellungnahme zu diesen Sachargumenten bringt der luxemburgische Staat vor, Frau Depesme sowie Herr Kauffmann und Herr Lefort seien „im rechtlichen Sinne“ nicht Kinder ihrer Stiefväter.

23.      In ihren Vorlageentscheidungen weist die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof Luxemburg) darauf hin, dass Art. 2bis des geänderten Gesetzes vom 22. Juni 2000 als Reaktion auf das Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411), erlassen worden sei. Nach der Auffassung des vorlegenden Gerichts ist der Streitpunkt bei den bei ihm anhängigen Streitigkeiten nicht in den im neuen Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen für die Beihilfegewährung zu sehen, sondern in dem vom Gesetz verwendeten Begriff „Kind“ als solchem, auf den das genannte Urteil des Gerichtshofs Bezug nehme. Das Abstammungsverhältnis könne jedoch sowohl aus rechtlicher als auch aus wirtschaftlicher Sicht betrachtet werden.

24.      Unter diesen Umständen hat die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen.

IV – Die Vorlagefragen und das Verfahren vor dem Gerichtshof

25.      Mit drei Entscheidungen vom 22. Juli 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juli 2015, hat die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) gemäß Art. 267 AEUV an den Gerichtshof drei Fragen zur Vorabentscheidung gerichtet, die mit Ausnahme einer einzigen Nuance miteinander identisch sind.

26.      In der Rechtssache C‑403/15 fügt das vorlegende Gericht den in den beiden anderen Rechtssachen angeführten unionsrechtlichen Vorschriften nämlich Art. 33 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), gegebenenfalls in Verbindung mit Art. 7 der Charta, hinzu.

27.      In ihrer vollständigsten Fassung hat die Frage folgenden Wortlaut:

Ist zum Zweck einer gebührenden Beachtung der Erfordernisse der Nichtdiskriminierung nach Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 in Verbindung mit Art. 45 Abs. 2 AEUV – vor dem Hintergrund von Art. 33 Abs. 1 der Charta, gegebenenfalls in Verbindung mit deren Art. 7 – im Rahmen der Berücksichtigung des tatsächlichen Grades der Verbundenheit zwischen einem nicht gebietsansässigen Studierenden, der eine Studienbeihilfe beantragt, und der Gesellschaft und dem Arbeitsmarkt Luxemburgs – des Mitgliedstaats, in dem ein Grenzgänger entsprechend den Voraussetzungen nach Art. 2bis des geänderten Gesetzes vom 22. Juni 2000, der als unmittelbare Konsequenz des Urteils des EuGH vom 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411), eingefügt wurde, beschäftigt war oder seine Tätigkeit ausübte –

–        die Voraussetzung, dass der Studierende das „Kind“ des Grenzgängers sein muss, dahin zu verstehen, dass er dessen „Verwandter ersten Grades in gerader absteigender Linie, dessen Abstammung von ihm rechtlich feststeht“, sein muss, wobei maßgebend auf das zwischen dem Studierenden und dem Grenzgänger festgestellte Abstammungsverhältnis, auf das die oben genannte Verbundenheit gestützt wird, abzustellen ist, oder

–        ist das Hauptaugenmerk darauf zu legen, dass der Grenzgänger „weiter für den Unterhalt des Studierenden aufkommt“, ohne dass zwischen ihm und dem Studierenden notwendigerweise ein rechtliches Abstammungsverhältnis besteht, indem insbesondere auf eine hinreichende Verbindung in Form einer Lebensgemeinschaft abgestellt wird, die ihn mit einem Elternteil des Studierenden verbindet, zu dem dieser ein rechtlich festgestelltes Abstammungsverhältnis hat?

Muss in diesem zweiten Fall der naturgemäß freiwillige Beitrag des Grenzgängers dann, wenn er nicht allein, sondern neben dem Beitrag geleistet wird, den der Elternteil oder die Eltern gewähren, die durch ein rechtliches Abstammungsverhältnis mit dem Studierenden verbunden sind und daher diesem gegenüber grundsätzlich eine gesetzliche Unterhaltspflicht haben, bestimmten Kriterien hinsichtlich seines Umfangs genügen?

28.      Frau Depesme, Herr Kerrou, Herr Kauffmann und Herr Lefort, die luxemburgische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen abgegeben. Nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens hielt sich der Gerichtshof für ausreichend unterrichtet, um gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.

V –    Würdigung

A –    Vorbemerkungen zum Urteil Giersch u. a. und der anwendbaren Verordnung

1.      Urteil Giersch u. a.

29.      Das vorlegende Gericht hat mehrfach den Zusammenhang zwischen dem Urteil von 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411), und der Änderung des Gesetzes über die staatliche Studienbeihilfe hervorgehoben. Dieser Zusammenhang findet in der Begründung des Gesetzesentwurfs Nr. 6585 zu dem Gesetz vom 19. Juli 2013(5) seine ausdrückliche Bestätigung.

30.      Was das Problem anbelangt, das im Mittelpunkt der Ausgangsverfahren steht, trifft es zu, dass der Gerichtshof selbst in Rn. 39 seines Urteils vom 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411), auf die ständige Rechtsprechung hingewiesen hat, wonach „eine Studienfinanzierung, die ein Mitgliedstaat den Kindern von Arbeitnehmern gewährt, für einen Wanderarbeitnehmer eine soziale Vergünstigung im Sinne des Art. 7 Abs. 2 der Verordnung [(EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft(6) in der Fassung der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004(7)] darstellt“(8).

31.      Ferner hat er bestätigt, dass die Familienangehörigen eines Wanderarbeitnehmers mittelbare Nutznießer der diesem durch den besagten Art. 7 Abs. 2 zuerkannten Gleichbehandlung sind und dass, „[d]a die Gewährung der Studienfinanzierung an ein Kind eines Wanderarbeitnehmers für diesen eine soziale Vergünstigung darstellt, … sich das Kind selbst auf diese Bestimmung berufen [kann], um diese Finanzierung zu erhalten, wenn sie nach nationalem Recht unmittelbar dem Studierenden gewährt wird“(9).

2.      Anwendbare Verordnung

32.      In seinem Vorabentscheidungsersuchen nimmt das vorlegende Gericht auf die Auslegung von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 Bezug. Dagegen bezieht sich der Gerichtshof in seinem Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411), auf die Verordnung Nr. 1612/68.

33.      Jedoch ist dieser Unterschied ohne Einfluss auf die Maßgeblichkeit des Urteils für die Ausgangsverfahren. Denn auch wenn die Verordnung Nr. 1612/68 aufgehoben und mit Wirkung vom 15. Juni 2011 durch die Verordnung Nr. 429/2011 ersetzt wurde, ist Art. 7 in jeder Hinsicht in beiden Verordnungen identisch(10).

B –    Zur Vorlagefrage

34.      Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist zunächst der Begriff des „Kindes“ eines Wanderarbeitnehmers auszulegen.

35.      Betrifft dieser Begriff, wie er sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 (jetzt Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011) wiederfindet, ausschließlich die Abstammung im rechtlichen Sinne, oder schließt er auch die „Stiefkinder“ des Arbeitnehmers ein, d. h. die Kinder seines Ehegatten, ohne dass insoweit notwendigerweise ein rechtliches Verhältnis zwischen ihnen bestehen muss?

36.      Nur falls der zweiten Auslegung zu folgen wäre – was nach meiner Ansicht der Fall sein müsste –, müsste sodann die weitere Frage untersucht werden, ob es möglicherweise eines bestimmten Beitrags zum Kindesunterhalt seitens des Grenzgängers bedarf.

1.      Zum Begriff des „Kindes“ des Wanderarbeitnehmers

37.      Zwei Feststellungen können als Leitlinie für die Auslegung durch den Gerichtshof dienen.

38.      Zum einen steht nach ständiger Rechtsprechung fest, dass eine Studienfinanzierung, die ein Mitgliedstaat den Kindern von Arbeitnehmern gewährt, für einen Wanderarbeitnehmer eine soziale Vergünstigung im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 darstellt, wenn Letzterer weiter für den Unterhalt des Kindes aufkommt(11). Seine Familienangehörigen wurden im Übrigen als mittelbare Nutznießer der in diesem Artikel vorgesehenen Gleichbehandlung anerkannt(12).

39.      Zum anderen durften nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1612/68 der Ehegatte eines Arbeitnehmers, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, „sowie die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird“, bei ihm im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit ihre Wohnung nehmen.

40.      Der Gerichtshof hat jedoch dieses „Recht ‚des Ehegatte[n] sowie [der] Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht einundzwanzig Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird‘, auf Wohnungnahme bei dem Wanderarbeitnehmer … dahin [ausgelegt], dass es sowohl den Abkömmlingen des Arbeitnehmers als auch denen seines Ehegatten zusteht. Eine enge Auslegung dieser Bestimmung, wonach nur die gemeinsamen Kinder des Wanderarbeitnehmers und seines Ehegatten zum Aufenthalt bei ihnen berechtigt wären, liefe nämlich dem … Zweck [der Integration der Familienangehörigen der Wanderarbeitnehmer] der Verordnung Nr. 1612/68 zuwider“(13).

41.      Zwar wurde Art. 10 der Verordnung Nr. 1612/68 im Rahmen der durch die Richtlinie 2004/38 erfolgten Änderung der Verordnung Nr. 1612/68 aufgehoben(14). Jedoch ist zum einen festzustellen, dass diese Bestimmung zugunsten aller Unionsbürger in Art. 2 der Richtlinie 2004/38 wieder aufgenommen wurde und dass zum anderen der Unionsgesetzgeber die formale Definition des „Verwandten in absteigender Linie“ im Sinne der weiten Auslegung durch den Gerichtshof präzisierte.

42.      Denn nach Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 gelten als Familienangehörige des Unionsbürgers „die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners …, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird“(15).

43.      Da das Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411), sich auf die Verordnung Nr. 1612/68 bezieht und nach dem Erlass der Richtlinie 2004/38 erging, sind dieses Urteil und der darin verwendete Begriff „Kind“ unbestreitbar Teil dieser Entwicklung in der Rechtsprechung und der Gesetzgebung.

44.      Dennoch setzt die luxemburgische Regierung dieser kontextbezogenen und historischen Auslegung eine strikte Trennung der Anwendungsbereiche der Verordnung Nr. 492/2011 und der Richtlinie 2004/38 entgegen. Diese Richtlinie betreffe allein das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, und nicht das in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 vorgesehene Recht der Grenzgänger, die gleichen sozialen Vergünstigungen zu genießen wie die inländischen Arbeitnehmer(16).

45.      Nach der Auffassung dieser Regierung ist der Verweis auf die Definition des „Familienangehörigen“ in der Richtlinie 2004/38 von daher für die Beurteilung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung der Arbeitnehmer im Rahmen der Verordnung Nr. 492/2011 nicht maßgeblich(17).

46.      Ich teile nicht diese Auffassung, die eine strikte Trennung zwischen den Anwendungsbereichen der beiden Vorschriften vornimmt und der zufolge die Familie eines Unionsbürgers nicht zwingend die gleiche sein soll wie jene eines Unionsbürgers, wenn er als „Arbeitnehmer“ gesehen wird.

47.      Sie blendet nicht nur die Entwicklung der Unionsgesetzgebung aus, wie ich sie vorstehend beschrieben habe, sondern führt im Übrigen zu Situationen, die nicht gerechtfertigt werden können.

48.      Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass die weite Definition des „Verwandten in absteigender Linie, der das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder dem Unterhalt gewährt wird“ vom Gerichtshof im Rahmen einer Rechtssache vorgenommen wurde, in der das Recht in Rede stand, nach dem „[d]ie Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, … wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats [am Schulbesuch] teilnehmen [können]“(18).

49.      Jedoch ist dieses Recht, das vormals in Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 verankert war, nach wie vor mit identischem Wortlaut in der Verordnung Nr. 492/2011 enthalten(19). Der Umstand, dass der Gerichtshof seit dem Urteil vom 17. September 2002, Baumbast und R (C‑413/99, EU:C:2002:493), seine Auslegung dieser Bestimmung nicht änderte, bedeutet konkret, dass sowohl die Verwandten des Wanderarbeitnehmers in absteigender Linie als auch jene seines Ehegatten gemäß Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 das Recht haben, zum Schulsystem des Aufnahmemitgliedstaats zugelassen zu werden.

50.      Falls daher der Gerichtshof der Argumentation der luxemburgischen Regierung folgen sollte, bedeutete dies, dass der Begriff „Kind“ im Rahmen des Rechts auf Schulbildung (Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011) weit ausgelegt würde, dagegen restriktiv im Hinblick auf die Gleichstellung mit inländischen Arbeitnehmern bei der Gewährung der sozialen und steuerlichen Vergünstigungen (Art. 7 der Verordnung Nr. 492/2011), einschließlich der Vergünstigungen betreffend die Finanzierung der Studien.

51.      Ein solch unterschiedliches Verständnis des Begriffs „Kind“ bei der Anwendung ein und derselben Verordnung wäre sicherlich nicht gerechtfertigt.

52.      Im Übrigen hat der Unionsgesetzgeber selbst vor Kurzem die Einheitlichkeit des Begriffs „Familienangehöriger“ bestätigt, sei es, dass er aus der Sicht des Arbeitnehmers oder aus dem weiteren Blickwinkel der Unionsbürgerschaft betrachtet wird.

53.      Denn nach dem ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/54/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Maßnahmen zur Erleichterung der Ausübung der Rechte, die Arbeitnehmern im Rahmen der Freizügigkeit zustehen(20), „[ist d]ie Freizügigkeit der Arbeitnehmer … als eine Grundfreiheit der Bürger der Union und als eine der Säulen des Binnenmarkts der Union in Artikel 45 [AEUV] verankert. Ihre Durchführung ist durch das Unionsrecht näher geregelt, das darauf abzielt, die uneingeschränkte Ausübung der den Bürgern der Union sowie deren Familienangehörigen verliehenen Rechte zu gewährleisten. Der Begriff ‚Familienangehöriger‘ sollte die gleiche Bedeutung haben wie der in Artikel 2 Nummer 2 der Richtlinie [2004/38] definierte Begriff und sollte auch für Familienangehörige von Grenzgängern gelten“(21).

54.      Jedoch ist gemäß Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie deren Anwendungsbereich identisch mit jenem der Verordnung Nr. 492/2011. Art. 1 der Richtlinie 2014/54 stellt im Übrigen klar, dass die Richtlinie zum Gegenstand hat, „die einheitliche Anwendung und Durchsetzung der mit Artikel 45 AEUV und mit den Artikeln 1 bis 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 gewährten Rechte in der Praxis [zu] erleichtern“.

55.      Die Richtlinie 2014/54, die seit dem 20. Mai 2014 in Kraft ist, ist daher offenkundig in den Ausgangsverfahren uneingeschränkt anwendbar, soweit sie den Mitgliedstaaten in ihrem Art. 3 Abs. 1 auferlegt, sicherzustellen, dass die Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, die „sich … durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in ihren Rechten für verletzt halten“, zur Durchsetzung der mit Art. 45 AEUV und mit den Art. 1 bis 10 der Verordnung Nr. 492/2011 gewährten Rechte ihre Ansprüche auf dem Gerichtsweg geltend machen können.

56.      Ist es überhaupt noch nötig, darauf hinzuweisen, dass die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser vorgesehene Ziel zu erreichen, und ihre Pflicht, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten obliegen(22)? Konkret bedeutet dies, „dass ein nationales Gericht, soweit es bei der Anwendung des nationalen Rechts – gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt – dieses Recht auszulegen hat, seine Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten muss, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel [288 Abs. 3 AEUV] nachzukommen“(23).

57.      Unter diesen Umständen bestätigt die Richtlinie 2014/54, dass der Begriff „Kind“ in Anbetracht des Begriffs „Familienangehöriger“ im Sinne der durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf die Verordnung Nr. 1612/68 entwickelten und danach von Art. 2 der Richtlinie 2004/38 übernommenen Definition, dahin auszulegen ist, dass ihm der in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 verankerte Gleichheitsgrundsatz mittelbar zugutekommen kann(24).

58.      Im Übrigen entspricht diese Auslegung der Auslegung des „Familienlebens“, wie es von Art. 7 der Charta und Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützt wird. Denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat schrittweise insbesondere das Kriterium des „Verwandtschaftsverhältnisses“ zugunsten einer möglichen Anerkennung von „familiären De-facto-Beziehungen“ aufgegeben(25). Jedoch müssen gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch diese Konvention garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben.

59.      Abschließend soll anhand eines Beispiels gezeigt werden, dass eine streng rechtliche Definition des Abstammungsverhältnisses im Rahmen von Art. 7 der Verordnung Nr. 429/2011 sowie der sozialen und steuerlichen Vergünstigungen keine Bedeutung hat.

60.      Stellen wir uns eine Patchworkfamilie mit drei Kindern vor. Das erste Kind hatte schon mit wenigen Monaten infolge eines Autounfalls seinen Vater verloren. Als es drei Jahre alt war, lernte seine Mutter einen Mann kennen, der seinerseits in Scheidung lebte und ein Kind von zwei Jahren hatte, für das ihm das alleinige Sorgerecht zustand. Aus dieser neuen ehelichen Verbindung ging ein drittes Kind hervor. Die Familie lebt in Belgien, wenige Kilometer entfernt von Luxemburg, wo die Mutter seit mehr als zehn Jahren arbeitet.

61.      Wenn bei einer solchen Fallgestaltung der in Art. 2bis des geänderten Gesetzes vom 22. Juni 2000 verwendete Begriff „Kind“ restriktiv ausgelegt werden müsste, würde das bedeuten, dass die Mutter vom luxemburgischen Staat für ihr eigenes Kind und das gemeinsame Kind des Ehepaars Studienbeihilfe erhielte. Dagegen könnte das Kind des Ehegatten, das seit dem Alter von zwei Jahren bei dieser Familie lebt, nicht in den Genuss derselben Beihilfe kommen.

62.      Nach alledem bin ich daher der Auffassung, dass ein Kind, das in keinem rechtlichen Verhältnis zu dem Wanderarbeitnehmer steht, aber der Definition des „Familienangehörigen“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2004/38 entspricht, als Kind dieses Arbeitnehmers und mittelbarer Nutznießer der sozialen Vergünstigungen im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 angesehen werden muss.

2.      Zur Notwendigkeit, dass der Elternteil ohne rechtliches Verhältnis zum Unterhalt des Kindes beitragen muss

63.      Im zweiten Teil der Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht ferner wissen, in welchem Umfang der Grenzgänger zum Unterhalt eines Studierenden, mit dem ihn kein rechtliches Verhältnis verbindet, beitragen muss, damit dieser in den Genuss einer finanziellen Beihilfe kommen kann, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht.

64.      Es trifft zu, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, auf die in Rn. 39 des Urteils vom 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411), hingewiesen wurde, „eine Studienfinanzierung, die ein Mitgliedstaat den Kindern von Arbeitnehmern gewährt, für einen Wanderarbeitnehmer eine soziale Vergünstigung im Sinne des Art. 7 Abs. 2 [der Verordnung Nr. 1612/68 (jetzt Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011)] darstellt, wenn Letzterer weiter für den Unterhalt des Kindes aufkommt“(26).

65.      Es steht ebenfalls fest, dass Art. 10 der Verordnung Nr. 1612/68 auf den Ehegatten des Arbeitnehmers „sowie die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird“ (27) Bezug nahm und dass der Ausdruck in Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 wieder aufgenommen wurde.

66.      Insoweit ist festzustellen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass „die Eigenschaft des Familienangehörigen[, dem Unterhalt gewährt wird,] … keinen Unterhaltsanspruch voraussetzt“(28). Denn „[w]äre dies der Fall, so würde die Familienzusammenführung von den nationalen Rechtsvorschriften abhängen, die von einem Staat zum anderen unterschiedlich sind, was zu einer uneinheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts führen würde“(29).

67.      Es ist anzumerken, dass dieselbe Überlegung für den Beitrag eines Ehegatten zugunsten seiner Stiefkinder gelten muss. Es erscheint daher durchaus vernünftig, wenn man die Auffassung vertritt, dass sich die Eigenschaft des „Familienangehörigen, dem Unterhalt gewährt wird, aus einer tatsächlichen Situation ergibt“(30), die der Würdigung durch die Verwaltung und anschließend gegebenenfalls durch das Gericht unterliegt.

68.      Diese Auslegung ist im Übrigen mit der oben erwähnten Rechtsprechung vereinbar, die dem weiten Ausdruck „für den Unterhalt des Kindes aufkommt“(31) gegenüber dem Ausdruck „Kind, dem Unterhalt gewährt wird“ den Vorzug gibt.

69.      Die Voraussetzung des Beitrags zum Unterhalt des Kindes ergibt sich aus einer tatsächlichen Situation, die mit objektiven Elementen wie der Ehe (oder der eingetragenen Partnerschaft des Elternteils im rechtlichen Sinne mit dem Stiefelternteil) oder einer gemeinsamen Wohnung beschrieben werden kann, ohne dass es erforderlich wäre, die Gründe zu bestimmen, aus denen auf diese Unterstützung zurückgegriffen wurde, oder ihren genauen Umfang zu berechnen.

70.      Insoweit kann der Auffassung der luxemburgischen Regierung nicht zugestimmt werden, wonach es ihrer Verwaltung nicht möglich sei, in jedem einzelnen Fall zu ermitteln, ob und, wenn ja, in welchem Umfang der Grenzgänger, der Stiefelternteil des Studierenden ist, zu dessen Unterhalt beitrage(32).

71.      Zunächst wird von einer Betreuung des Kindes bis zum Alter von 21 Jahren ausgegangen, da Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 die Voraussetzung der Unterhaltsgewährung als Alternative zum Alterskriterium von mehr als 21 Jahren betrachtet.

72.      Sodann ist den Erklärungen der Kläger des Ausgangsverfahrens zu entnehmen, dass die „Tragung des Unterhalts“ des Kindes im Rahmen des Haushalts das maßgebliche Kriterium für die Zahlung der Familienzulagen darstellt (die in den vorliegenden Fällen von mindestens zwei der betreffenden Stiefväter bezogen wurden) und dass dieser Umstand zu keinen besonderen Schwierigkeiten führt, auch wenn eine Abstammung im rechtlichen Sinne nicht Voraussetzung ist(33).

73.      Schließlich hat es der luxemburgische Gesetzgeber selbst in Art. 3 des geltenden Gesetzes, d. h. des Gesetzes vom 24. Juli 2014 über die staatliche Studienbeihilfe, zur Voraussetzung gemacht, dass der „Arbeitnehmer weiter zum Unterhalt des Studierenden beiträgt“. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass dieses Erfordernis von der Verwaltung nicht nachgeprüft werden kann.

VI – Ergebnis

74.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) wie folgt zu antworten:

Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union sind dahin auszulegen, dass ein Kind, das zu einem Wanderarbeitnehmer in keinem rechtlichen Verhältnis steht, das aber Verwandter in absteigender Linie des Ehegatten (oder des eingetragenen Lebenspartners) dieses Arbeitnehmers ist, als Kind dieses Arbeitnehmers anzusehen ist. Daher ist es mittelbarer Nutznießer der sozialen Vergünstigungen im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011, wenn der Arbeitnehmer zu seinem Unterhalt beiträgt.

Die Voraussetzung des Beitrags zum Unterhalt des Kindes ergibt sich aus einer tatsächlichen Situation, ohne dass es erforderlich wäre, die Gründe zu bestimmen, weshalb auf diese Unterstützung zurückgegriffen wurde, oder ihren genauen Umfang zu berechnen.


1 –      Originalsprache: Französisch.


2 –      ABl. 2011, L 141, S. 1.


3 –      Es ist anzumerken, dass diese Gesetzgebung Gegenstand eines weiteren Vorabentscheidungsersuchens in der gegenwärtig beim Gerichtshof anhängigen Rechtssache Bragança Linares Verruga u. a. ist, in deren Rahmen ich am 2. Juni 2016 meine Schlussanträge (C‑238/15, EU:C:2016:389) gestellt habe. Diese andere Rechtssache betrifft noch fundamentaler und unmittelbarer die Vereinbarkeit der vom luxemburgischen Gesetzgeber gewählten Voraussetzung, die Gewährung der staatlichen Studienbeihilfe von einer Mindestzeit einer Beschäftigung in Luxemburg abhängig zu machen, mit dem Unionsrecht. Im Rahmen meiner Würdigung habe ich dem Gerichtshof vorgeschlagen, darauf zu erkennen, dass Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie dem luxemburgischen Gesetz entgegensteht.


4 – ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35.


5 –      Dem Wortlaut der Begründung zufolge war die Änderung der Regelung der luxemburgischen Studienbeihilfe dazu bestimmt, aus dem Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411) „die Konsequenzen zu ziehen“. Vgl. Gesetzesentwurf Nr. 6585 zur Änderung des Gesetzes vom 22. Juni 2000 über die staatliche Studienbeihilfe (Dokument 6585 vom 5. Juli 2013, S. 2, abrufbar auf der Internetseite der Chambre des députés du Grand-Duché de Luxembourg unter der folgenden Adresse: http://www.chd.lu/wps/portal/public/RoleEtendu?action=doDocpaDetails&id=6585#).


6 –      ABl. 1968, L 257, S. 2.


7 – ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35, und im ABl. 2005, L 197, S. 34.


8 – Hervorhebung nur hier.


9 –      Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411, Rn. 40). Hervorhebung nur hier.


10 –      Im Übrigen gelten nach Art. 41 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 Bezugnahmen auf die Verordnung Nr. 1612/68 als Bezugnahmen auf die Verordnung Nr. 492/2011.


11 –      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 1992, Bernini (C‑3/90, EU:C:1992:89, Rn. 29), vom 8. Juni 1999, Meeusen (C‑337/97, EU:C:1999:284, Rn. 19), sowie vom 14. Juni 2012, Kommission/Niederlande (C‑542/09, EU:C:2012:346, Rn. 35).


12 –      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 1992, Bernini (C‑3/90, EU:C:1992:89, Rn. 26 und 29), und vom 14. Juni 2012, Kommission/Niederlande (C‑542/09, EU:C:2012:346, Rn. 48). Vgl. auch insbesondere zur Garantie des Existenzminimums Urteil vom 18. Juni 1985, Lebon (316/85, EU:C:1987:302, Rn. 12).


13 –      Urteil vom 17. September 2002, Baumbast und R (C‑413/99, EU:C:2002:493, Rn. 57). Hervorhebung nur hier.


14 –      Vgl. Art. 38 der Richtlinie 2004/38.


15 – Hervorhebung nur hier. Es ist anzumerken, dass eine ähnliche Definition der „Familie“ auch in Art. 4 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12) verwendet wird.


16 –      Vgl. schriftliche Erklärungen der luxemburgischen Regierung (Nr. 23).


17 –      Vgl. schriftliche Erklärungen der luxemburgischen Regierung (Nr. 22).


18 –      Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68. Vgl. Urteil vom 17. September 2002, Baumbast und R (C‑413/99, EU:C:2002:493).


19 –      Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011.


20 –      ABl. 2014, L 128, S. 8.


21 – Hervorhebung nur hier.


22 –      Vgl. in diesem Sinne zu einem vor Kurzem erfolgten Hinweis auf die ständige Rechtsprechung Urteil vom 19. April 2016, DI (C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).


23 –      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. November 1990, Marleasing (C‑106/89, EU:C:1990:395, Rn. 8). Hervorhebung nur hier.


24 –      Bei seiner Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Sekundärrechts, die den Begriff „Familie“ verwenden, kommt T. Stein zu demselben Ergebnis: Nach seiner Auffassung beruht der unionsrechtliche Begriff „Familie“ auf einem Verständnis der Familie als ehelicher Verbindung, die auch die eingetragene Partnerschaft erfasst, geht dabei aber viel weiter als der traditionelle Begriff der Kernfamilie, indem er die unterhaltsberechtigten Familienangehörigen mit umfasst (Stein, T., „The notion of the term of family on European level with a focus on the case law of the European Court of Human Rights and the European Court of Justice“, in Verbeke, A., Scherpe, J.-M., Declerck, C., Helms, T. und Senaeve, P. (Hrsg.), Confronting the frontiers of family and succession law: liber amicorum Walter Pintens, Bd. 2, Cambridge/Antwerpen, Portland/Intersentia, 2012, S. 1375 bis 1392, insbesondere S. 1391).


25 –      Vgl. in diesem Sinne EGMR, 22. April 1997, X, Y und Z/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1997:0422JUD002183093.


26 – Hervorhebung nur hier.


27 – Hervorhebung nur hier.


28 –      Urteil vom 18. Juni 1985, Lebon (316/85, EU:C:1987:302, Rn. 21).


29 –      Urteil vom 18. Juni 1985, Lebon (316/85, EU:C:1987:302, Rn. 21).


30 –      Urteil vom 18. Juni 1985, Lebon (316/85, EU:C:1987:302, Rn. 22).


31 –      Urteil vom 20. Juni 2013, Giersch u. a. (C‑20/12, EU:C:2013:411, Rn. 39).


32 –      Vgl. schriftliche Erklärungen der luxemburgischen Regierung (Nr. 46).


33 –      Vgl. schriftliche Erklärungen von Frau Depesme und von Herrn Kerrou (Nrn. 90 ff.) sowie von Herrn Kauffmann (S. 21).