Language of document : ECLI:EU:C:2013:288

Verbundene Rechtssachen C‑197/11 und C‑203/11

Eric Libert u. a.

gegen

Flämische Regierung (C‑197/11)

und

All Projects & Developments NV u. a.

gegen

Flämische Regierung (C‑203/11)

(Vorabentscheidungsersuchen des Verfassungsgerichtshofs [Belgien])

„Grundfreiheiten – Beschränkung – Rechtfertigung – Staatliche Beihilfen – Begriff des öffentlichen Bauauftrags – In bestimmten Gemeinden belegene Grundstücke und Bauten – Regionale Regelung, die deren Übertragung vom Bestehen einer ‚ausreichenden Bindung‘ des potenziellen Käufers oder Mieters zu der Zielgemeinde abhängig macht – Soziale Auflage für die Bauherren und Parzellierer – Steuerliche Anreize und Subventionsmechanismen“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 8. Mai 2013

1.        Vorabentscheidungsverfahren – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Grenzen – Frage in Bezug auf einen Rechtsstreit, der nicht über die Grenzen eines einzigen Mitgliedstaats hinausweist – Zuständigkeit im Hinblick auf die mögliche Beeinträchtigung von Personen aus anderen Mitgliedstaaten

(Art. 267 AEUV)

2.        Unionsbürgerschaft – Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungsverkehr – Freier Kapital- und Zahlungsverkehr – Beschränkungen für Immobiliengeschäfte – Regionale Regelung, die die Übertragung von Liegenschaften, die in bestimmten Gemeinden belegen sind, von der Überprüfung des Bestehens einer ‚ausreichenden Bindung‘ des potenziellen Erwerbers oder Mieters zu diesen Gemeinden durch eine provinziale Bewertungskommission abhängig macht – Unzulässigkeit – Rechtfertigung – Politik des sozialen Wohnungsbaus – Fehlen

(Art. 21 AEUV, 45 AEUV, 49 AEUV, 56 AEUV und 63 AEUV; Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 22 und 24)

3.        Freier Kapital- und Zahlungsverkehr – Beschränkungen für Immobiliengeschäfte – Regionale Regelung, nach der bestimmten Wirtschaftsteilnehmern mit der Erteilung einer Bau- oder Parzellierungsgenehmigung eine „soziale Auflage“ erteilt wird – Zulässigkeit – Rechtfertigung – Politik des sozialen Wohnungsbaus – Voraussetzungen – Verhältnismäßigkeit – Beurteilung durch das nationale Gericht

(Art. 63 AEUV)

4.        Staatliche Beihilfen – Begriff – Steueranreize und Subventionsmechanismen, mit denen die soziale Auflage für die Bauherren und Parzellierer ausgeglichen werden soll – Einbeziehung – Voraussetzungen – Begründung eines wirtschaftlichen Vorteils und nicht eines Ausgleichs für die Erfüllung von Gemeinwohlverpflichtungen – Beurteilung durch das nationale Gericht

(Art. 107 Abs. 1 AEUV; Entscheidung 2005/842 der Kommission)

5.        Vorabentscheidungsverfahren – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Grenzen – Zuständigkeit des nationalen Gerichts – Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Rechtsstreits – Anwendung der vom Gerichtshof ausgelegten Bestimmungen

(Art. 267 AEUV)

6.        Rechtsangleichung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge – Richtlinie 2004/18 – Öffentliche Bauaufträge – Begriff – Errichtung von Sozialwohnungen, die anschließend mit einer Preisdeckelung an eine öffentliche Einrichtung des sozialen Wohnungsbaus oder im Wege der Substitution des Dienstleistungserbringers, der die Wohnungen verwirklicht hat, durch diese Einrichtung verkauft werden müssen – Einbeziehung – Voraussetzungen – Beurteilung durch das nationale Gericht

(Richtlinie 2004/18 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 1 Abs. 2 Buchst. b)

1.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 33, 34, 36)

2.        Die Art. 21 AEUV, 45 AEUV, 49 AEUV, 56 AEUV und 63 AEUV sowie die Art. 22 und 24 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, stehen einer regionalen Regelung entgegen, die die Übertragung von Liegenschaften, die in bestimmten Gemeinden belegen sind, der Überprüfung des Bestehens einer „ausreichenden Bindung“ des potenziellen Erwerbers oder Mieters zu diesen Gemeinden durch eine provinziale Bewertungskommission unterwirft. In einer solchen Regelung liegt nämlich eine Beschränkung der Grundfreiheiten, die durch die genannten Bestimmungen des Unionsrechts verbürgt sind.

Zwar können Erfordernisse im Zusammenhang mit der Sozialwohnungspolitik eines Mitgliedstaats, mit der ein ausreichendes Wohnangebot für einkommensschwache Personen oder andere benachteiligte Gruppen der örtlichen Bevölkerung sichergestellt werden soll, zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen und damit solche Beschränkungen rechtfertigen.

Die betreffenden Maßnahmen gehen jedoch über das hinaus, was zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderlich ist. Die in der fraglichen Regelung vorgesehenen alternativen Bedingungen, deren Erfüllung von der provinzialen Bewertungskommission für die Feststellung, dass die Voraussetzung des Bestehens einer „ausreichenden Bindung“ des potenziellen Käufers zu der betreffenden Gemeinde vorliegt, systematisch zu überprüfen ist, können nämlich nicht nur von der am wenigsten begüterten Bevölkerung erfüllt werden, sondern auch von anderen Personen, die über ausreichende Mittel verfügen und daher keinen besonderen Bedarf an sozialem Schutz auf dem entsprechenden Markt haben.

Schließlich muss ein System vorheriger behördlicher Genehmigungen, damit es trotz des Eingriffs in eine Grundfreiheit gerechtfertigt wäre, auf objektiven, nicht diskriminierenden im Voraus bekannten Kriterien beruhen, die sicherstellen, dass der Ermessensausübung durch die nationalen Behörden hinreichende Grenzen gesetzt werden. Dies ist nicht der Fall, wenn nach einer der genannten Bedingungen aufgrund eines wichtigen und dauerhaften Umstands eine gesellschaftliche, familiäre, soziale oder wirtschaftliche Bindung des potenziellen Käufers oder Mieters zu der betreffenden Gemeinde geknüpft worden sein muss, wenn man den vagen Charakter dieser Bedingung und das Fehlen einer Beschreibung der Situationen, in denen sie als erfüllt anzusehen wäre, berücksichtigt.

(vgl. Randnrn. 48, 51, 52, 55, 57-60, Tenor 1)

3.        Art. 63 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung, nach der bestimmten Wirtschaftsteilnehmern mit der Erteilung einer Bau- oder Parzellierungsgenehmigung eine „soziale Auflage“ erteilt wird, nicht entgegensteht, sofern das vorlegende Gericht die Feststellung trifft, dass diese Regelung für die Erreichung des Ziels, ein ausreichendes Wohnangebot für einkommensschwache Personen oder andere benachteiligte Gruppen der örtlichen Bevölkerung sicherzustellen, erforderlich und angemessen ist.

Die Verpflichtung für bestimmte Bauherren oder Parzellierer, sich, um eine Bau- oder Parzellierungsgenehmigung zu erhalten, einem Verfahren zu unterwerfen, in dessen Rahmen ihnen die Erfüllung einer sozialen Auflage obliegt, die darin besteht, einen Teil ihres Projekts auf die Errichtung von Sozialwohnungen zu verwenden oder der Gemeinde, in der das Projekt verwirklicht wird, einen finanziellen Beitrag zu zahlen, stellt nämlich eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar, da die fraglichen Investoren die Grundstücke nicht frei für die Zwecke nutzen können, für die sie sie zu erwerben beabsichtigen.

Allerdings kann diese Verpflichtung durch Erfordernisse im Zusammenhang mit der Sozialwohnungspolitik eines Mitgliedstaats als zwingender Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. Es kommt dem vorlegenden Gericht zu, zu beurteilen, ob eine solche Verpflichtung dem Kriterium der Verhältnismäßigkeit genügt.

(vgl. Randnrn. 65-69, Tenor 2)

4.        Die Steueranreize und Subventionsmechanismen können als staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV angesehen werden. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für das Vorliegen einer staatlichen Beihilfe erfüllt sind, und bejahendenfalls in Bezug auf die Maßnahmen, mit denen die soziale Auflage für bestimmte Bauherren und Parzellierer ausgeglichen werden soll, zu überprüfen, ob aber auf solche Maßnahmen die Entscheidung 2005/842 über die Anwendung von Artikel 86 Absatz 2 [EG] auf staatliche Beihilfen, die bestimmten mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmen als Ausgleich gewährt werden, Anwendung findet.

Als Beihilfen gelten insoweit Maßnahmen gleich welcher Art, die unmittelbar oder mittelbar Unternehmen begünstigen oder als ein wirtschaftlicher Vorteil anzusehen sind, den das begünstigte Unternehmen unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätte. Dagegen wird eine staatliche Maßnahme nicht von Art. 107 Abs. 1 AEUV erfasst, soweit sie als Ausgleich anzusehen ist, der die Gegenleistung für Leistungen bildet, die von den Unternehmen, denen sie zugutekommt, zur Erfüllung von Gemeinwohlverpflichtungen erbracht werden, so dass diese Unternehmen in Wirklichkeit keinen finanziellen Vorteil erhalten und die genannte Maßnahme somit nicht bewirkt, dass sie gegenüber den mit ihnen im Wettbewerb stehenden Unternehmen in eine günstigere Wettbewerbsstellung gelangen. Dies könnte bei den Maßnahmen der Fall sein, die die soziale Auflage für die Parzellierer und Bauherren ausgleichen sollen, die darin besteht, einen Teil ihres Projekts auf die Errichtung von Sozialwohnungen zu verwenden oder der Gemeinde, in der das Projekt verwirklicht wird, einen finanziellen Beitrag zu zahlen.

Ein derartiger Ausgleich ist im konkreten Fall jedoch nur dann nicht als staatliche Beihilfe zu qualifizieren, wenn eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens müssen die durch diesen Ausgleich begünstigten Unternehmen tatsächlich mit der Erfüllung von Gemeinwohlverpflichtungen betraut sein, und diese Verpflichtungen müssen klar definiert sein. Insoweit kann unter Berücksichtigung insbesondere des weiten Ermessens der Mitgliedstaaten nicht ausgeschlossen werden, dass Dienstleistungen des sozialen Wohnungsbaus als Gemeinwohldienstleistungen eingestuft werden können. Dabei hat der Umstand, dass die besagte soziale Auflage nicht unmittelbar den Einzelnen, die Sozialwohnungen beantragen, sondern den Gesellschaften für sozialen Wohnungsbau zugutekommt, keinerlei Einfluss auf die Qualifizierung der fraglichen Dienstleistung. Zweitens sind die Parameter, anhand deren der Ausgleich berechnet wird, zuvor objektiv und transparent aufzustellen, um zu verhindern, dass der Ausgleich einen wirtschaftlichen Vorteil mit sich bringt, der das Unternehmen, dem er gewährt wird, gegenüber konkurrierenden Unternehmen begünstigt. Drittens darf der gewährte Ausgleich nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der Gemeinwohlverpflichtungen unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und eines angemessenen Gewinns aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen ganz oder teilweise zu decken. Viertens ist dieser Ausgleich auf der Grundlage einer Analyse der Kosten zu bestimmen, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen, das so angemessen mit den notwendigen Mitteln ausgestattet ist, dass es den gestellten Gemeinwohlanforderungen genügen kann, bei der Erfüllung der betreffenden Verpflichtungen hätte, wobei die dabei erzielten Einnahmen und ein angemessener Gewinn aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen zu berücksichtigen sind.

(vgl. Randnrn. 83-89, 91, 92, 102, Tenor 3)

5.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 94, 95)

6.        Die Errichtung von Sozialwohnungen, die anschließend mit einer Preisdeckelung an eine öffentliche Einrichtung des sozialen Wohnungsbaus oder im Wege der Substitution des Dienstleistungserbringers, der die Wohnungen verwirklicht hat, durch diese Einrichtung verkauft werden müssen, fällt unter den Begriff des öffentlichen Bauauftrags in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, wenn die in dieser Bestimmung vorgesehenen Kriterien erfüllt sind, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

(vgl. Randnr. 119, Tenor 4)