Language of document : ECLI:EU:C:2014:2360

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 11. November 2014(1)

Rechtssache C‑472/13

Andre Lawrence Shepherd

gegen

Bundesrepublik Deutschland

(Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Verwaltungsgerichts München [Deutschland])

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asyl – Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen als Flüchtlinge und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes – Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG – Strafverfolgung und Bestrafung eines Angehörigen der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika wegen Verweigerung des Dienstes im Irakkrieg“





1.        Durch das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Verwaltungsgerichts München (Deutschland) wird der Gerichtshof mit einem ungewöhnlichen Einzelfall befasst.

2.        Herr Shepherd, ein Staatsbürger der Vereinigten Staaten von Amerika (im Folgenden: US oder USA), verpflichtete sich im Dezember 2003 zum Dienst in den US-Streitkräften. Er wurde zum Wartungstechniker für Apache-Hubschrauber ausgebildet und im September 2004 nach Deutschland versetzt. Seine Einheit hatte sich damals bereits seit Februar 2004 im Einsatz im Irak befunden, und er wurde dementsprechend in den Irak weitergeleitet. Im Irak wartete er von September 2004 bis Februar 2005 insbesondere Hubschrauber. Eine Teilnahme an direkten militärischen Aktionen und Kampfeinsätzen ist nicht erfolgt. Im Februar 2005 kehrte seine Einheit zu ihrem Stationierungsort in Deutschland zurück. In der Folgezeit begann er aufgrund von Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Krieges, Recherchen hierüber anzustellen.

3.        Anfang Januar 2007 wurde ein bevorstehender weiterer Irakeinsatz seiner Einheit bekannt. Am 1. April 2007 erhielt er den Einsatzbefehl. Herr Shepherd war inzwischen zu der Auffassung gelangt, dass der Irakkrieg völkerrechtswidrig sei und gegen Art. 2 Abs. 4 der Charta der Vereinten Nationen verstoße. Es komme bei den militärischen Operationen im Irak zu einem systematischen, unterschiedslosen und unverhältnismäßigen Waffeneinsatz ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Insbesondere durch die zunehmenden Einsätze der Apache-Hubschrauber würden vermehrt Zivilpersonen beeinträchtigt und humanitäres Völkerrecht verletzt. Die Hubschrauber seien nicht in der Lage, in den Krieg zu fliegen, wenn er und andere Wartungstechniker sie nicht kampftauglich gemacht hätten. (Zwischen 2007 und 2008, als die Einheit von Herrn Shepherd wieder im Irak im Einsatz gewesen sei, sei weiter bombardiert worden. Es lägen zahlreiche Berichte vor, denen zufolge die US-Armee im Irak Kriegsverbrechen begangen habe, wobei Herr Shepherd allerdings nicht weiß, ob an den beanstandeten Operationen speziell die von ihm gewarteten Hubschrauber beteiligt waren.)

4.        Herr Shepherd wollte keine Gefahr laufen, im Rahmen des Irakeinsatzes seiner Einheit an Kriegsverbrechen teilzunehmen. Die Möglichkeit eines Antrags bei den US-Behörden auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer(2) zog er nicht in Erwägung, da er Krieg und die Anwendung von Gewalt nicht vollständig ablehnt. Tatsächlich hatte er sich nach Ablauf seiner ursprünglichen Dienstzeit weiterverpflichtet. Er ging davon aus, dass ein Antrag auf Verweigerung des Militärdienstes ihn nicht vor einem erneuten Einsatz im Irak geschützt hätte. Er beschloss daher, vor einem zweiten Dienstabschnitt dort die US-Armee zu verlassen und desertierte am 11. April 2007. Wegen der Verweigerung, den Militärdienst im Irak zu erfüllen, droht ihm Strafverfolgung wegen Desertion. Aus amerikanischer Sicht schränkt eine Verurteilung wegen dieser Straftat das weitere Leben ein. Daher beantragte Herr Shepherd im August 2008 Asyl in Deutschland(3).

 Völkerrecht

 Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge

5.        Gemäß der Genfer Konvention(4), die die Grundlage für die Anerkennungsrichtlinie(5) bildet, findet der Ausdruck „Flüchtling“ auf jede Person Anwendung, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“(6).

6.        Nach ihrem Art. 1 Abschnitt F Buchst. a findet die Genfer Konvention keine Anwendung auf Personen, in Bezug auf die aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass sie „ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen haben, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen“(7).

 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten

7.        Art. 9 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten(8) garantiert das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, einschließlich der Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln.

 Unionsrecht

 Charta der Grundrechte der Europäischen Union

8.        Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(9) (im Folgenden: Charta) entspricht Art. 9 Abs. 1 EMRK. Gemäß Art. 10 Abs. 2 wird das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln. Nach Art. 52 Abs. 3 sind die in der Charta verankerten Rechte in Übereinstimmung mit den entsprechenden durch die EMRK gewährleisteten Rechte auszulegen.

 Anerkennungsrichtlinie

9.        Die Anerkennungsrichtlinie gehört zu den Maßnahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Sie beruht auf der uneingeschränkten und umfassenden Anwendung der Genfer Konvention, die einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt(10). Durch die Anerkennungsrichtlinie sollen Mindestnormen und gemeinsame Kriterien aller Mitgliedstaaten für die Anerkennung und den Inhalt der Flüchtlingseigenschaft von Personen, die tatsächlich Schutz benötigen, sowie für ein gerechtes und wirksames Asylverfahren festgelegt werden(11). Die in der Charta anerkannten Grundrechte werden anerkannt und beachtet(12). Bei der Behandlung von Personen, die unter den Geltungsbereich der Anerkennungsrichtlinie fallen, sind die Mitgliedstaaten durch ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten gebunden(13).

10.      In Anlehnung an Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Konvention bezeichnet der Ausdruck „Flüchtling“ in der Anerkennungsrichtlinie „einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet“(14).

11.      Die Prüfung der Ereignisse und Umstände betreffend Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist in Art. 4 geregelt. Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen(15).

12.      Laut Anerkennungsrichtlinie sind „Akteure, von denen die Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann“ der Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat beherrschen, und nichtstaatliche Akteure(16).

13.      Schutz kann u. a. vom Staat gewährt werden(17). Generell ist solcher Schutz gewährleistet, wenn etwa der Staat geeignete Schritte, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung solcher Handlungen einleitet, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat(18).

14.      Eine Person, die die für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz geltenden Voraussetzungen des Kapitels II der Anerkennungsrichtlinie erfüllt, wird als Flüchtling anerkannt, wenn sie nachweisen kann, dass sie einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 ausgesetzt war oder begründete Furcht vor einer solchen Handlung hatte. Die Handlungen müssen aufgrund ihrer Natur so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der in Art. 15 Abs. 2 EMRK aufgeführten unabdingbaren Rechte(19), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass sie einer solchen Verletzung gleichkommen(20). Verfolgungshandlungen in diesem Sinne können sein: „gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden“(21), „unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung“(22) und „Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 fallen“(23). Es muss eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 genannten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen(24).

15.      Die in Art. 10 Abs. 1 aufgeführten Gründe umfassen:

„…

d)      [Mitgliedschaft in] eine[r] bestimmte[n] soziale[n] Gruppe, wenn

–        die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und 

–        die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

e)      unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Artikel 6 genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.“

16.      Ein Drittstaatsangehöriger ist vom Geltungsbereich der Anerkennungsrichtlinie ausgeschlossen, wenn er unter deren Art. 12 fällt. Der hier einschlägige Ausschlusstatbestand ist Art. 12 Abs. 2, der sich an den Wortlaut von Art. 1 Abschnitt F der Genfer Konvention anlehnt. Dementsprechend ist eine Person vom Schutzbereich der Richtlinie ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass sie „ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen“(25). Art. 12 Abs. 2 „findet auf Personen Anwendung, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen“(26).

17.      Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III der Anerkennungsrichtlinie erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu(27).

 Nationales Recht

18.      Den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts zufolge sind die nationalen Vorschriften zur Definition des Begriffs „Flüchtling“ aus Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Konvention hergeleitet. Eine Person wird nicht von dieser Definition erfasst, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass einer der in Art. 1 Abschnitt F der Genfer Konvention genannten Gründe vorliegt(28).

19.      Im nationalen Recht ist ein Verbot der Abschiebung in einen Staat vorgesehen, in dem das Leben des Betreffenden oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Geht die Bedrohung vom Staat aus, kann sie eine Verfolgung im Sinne der einschlägigen nationalen Vorschriften darstellen(29).

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

20.      In der Einleitung der vorliegenden Schlussanträge habe ich den Herrn Shepherd betreffenden Sachverhalt dargestellt, der sich dem Vorlagebeschluss entnehmen lässt.

21.      Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) lehnte den von Herrn Shepherd gestellten Asylantrag mit Bescheid vom 31. März 2011 ab. Zur Begründung führte es Folgendes an: i) Es gebe kein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen; ii) Herr Shepherd hätte den Militärdienst auf legale Weise quittieren können; iii) die Tatbestandsmerkmale des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art. 12 der Anerkennungsrichtlinie seien im Fall von Herrn Shepherd nicht erfüllt. Die Richtlinie setze voraus, dass in dem betreffenden Konflikt völkerrechtswidrige Taten begangen worden seien. Solche Verstöße würden von den US-Streitkräften nicht toleriert und schon gar nicht gefördert. Herr Shepherd sei nur Hubschraubermechaniker; er sei nicht persönlich unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligt gewesen. Es lägen auch keine Hinweise auf eine mittelbare Beteiligung an Kriegsverbrechen bzw. Beteiligung „seiner“ Hubschrauber vor. Selbst wenn Herr Shepherd indirekt an solchen Verbrechen beteiligt gewesen wäre, sei dies für eine strafrechtliche Verantwortung im Sinne von Art. 25 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs(30) nicht hinreichend. Was im Übrigen die Frage des Vorliegens eines Verbrechens gegen den Frieden betreffe, komme Herr Shepherd unabhängig davon, ob der Angriff auf den Irak völkerrechtswidrig gewesen sei oder nicht, jedenfalls als Täter nicht in Betracht, da er kein hoher Militär sei. Zudem sei der Einsatz der Koalitionsstreitkräfte im Irak bereits während des ersten Aufenthalts von Herrn Shepherd im Irak völkerrechtlich legitimiert gewesen.

22.      Schließlich machte das Bundesamt geltend, dass, sofern Herr Shepherd durch die US-Behörden wegen einer Verletzung seiner militärischen Dienstpflichten, insbesondere wegen Desertion belangt werden sollte, sich dies lediglich als grundsätzlich legitimes Strafverfolgungsinteresse seines Heimatlands darstelle.

23.      Am 7. April 2011 erhob Herr Shepherd beim vorlegenden Gericht Klage gegen den Bescheid des Bundesamts. Seiner Meinung nach hat das Bundesamt den Fokus zu sehr auf den Begriff der Verfolgungshandlung bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Begriffs der Verfolgungsgründe gerichtet. Das Bundesamt wende auf einen Asylantrag völkerstrafrechtliche Grundsätze an. Es habe deshalb fälschlich angenommen, dass dem Militärdienstverweigerer die Flüchtlingseigenschaft nur zuerkannt werde, wenn er „jenseits vernünftiger Zweifel“ nachweisen könne, dass er sich beim Verbleib in den Streitkräften der Begehung eines völkerstrafrechtlichen Delikts schuldig gemacht hätte. Das vorlegende Gericht legt dar, dass Herr Shepherd seinen Antrag mit der Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie begründe und sich dabei auf zwei Verfolgungsgründe berufe, nämlich Verfolgung wegen i) seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und/oder ii) seiner politischen Überzeugung im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. e. In der mündlichen Verhandlung wurde dem Gerichtshof vorgetragen, Herr Shepherd stütze sich ausschließlich auf Art. 10 Abs. 1 Buchst. d(31).

24.      Vor diesem Hintergrund ersucht das Verwaltungsgericht um Vorabentscheidung über folgende Fragen:

1.      Ist Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie dahin gehend auszulegen, dass unter den Schutzbereich nur solche Personen fallen, deren konkreter militärischer Aufgabenbereich die unmittelbare Beteiligung an Kampfhandlungen, also Einsätze mit der Waffe umfasst bzw. die über die Befehlsgewalt zur Anordnung solcher Einsätze verfügen (Alt. 1), oder können auch sonstige Mitglieder der Streitkräfte dem Schutz dieser Regelung unterfallen, wenn sich ihr Aufgabenbereich in der logistischen, technischen Unterstützung der Truppe außerhalb der eigentlichen Kampfhandlungen erschöpft und nur mittelbare Auswirkungen auf das eigentliche Kampfgeschehen hat (Alt. 2)?

2.      Für den Fall, dass die Frage 1 im Sinne der zweiten Alternative beantwortet wird:

Ist Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie dahin gehend auszulegen, dass der Militärdienst in einem (internationalen oder innerstaatlichen) Konflikt überwiegend oder systematisch zur Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie aufrufen bzw. verpflichten muss (Alt. 1), oder reicht es aus, dass der Asylsuchende darlegt, dass von den Streitkräften, denen er angehört, in dem Einsatzgebiet, in dem sie eingesetzt worden sind, in Einzelfällen Verbrechen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Buchst. a der Anerkennungsrichtlinie begangen wurden, sei es, weil einzelne Einsatzbefehle sich als verbrecherisch in diesem Sinne erwiesen haben, sei es, weil es sich um Exzesse einzelner Personen gehandelt hat (Alt. 2)?

3.      Für den Fall, dass Frage 2 im Sinne der zweiten Alternative beantwortet wird:

Wird Flüchtlingsschutz nur dann gewährt, wenn auch für die Zukunft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, jenseits vernünftiger Zweifel, damit zu rechnen ist, dass es zu Verstößen gegen humanitäres Völkerrecht kommt, oder reicht es aus, wenn der Asylsuchende Tatsachen bezeichnet, wonach es in dem konkreten Konflikt (zwangsläufig oder wahrscheinlich) zu derartigen Verbrechen kommt und deshalb die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, dass er in diese verwickelt werden könnte?

4.      Schließt die Nichttolerierung oder die Ahndung von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht durch die Truppendienstgerichte einen Flüchtlingsschutz nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie aus, oder spielt diese Tatsache keine Rolle?

Muss es gar zu einer Ahndung durch den Internationalen Strafgerichtshof gekommen sein?

5.      Schließt die Tatsache, dass der Truppeneinsatz bzw. das Besatzungsstatut von der Internationalen Gemeinschaft sanktioniert wird oder auf einem Mandat des UN-Sicherheitsrats fußt, den Flüchtlingsschutz aus?

6.      Ist es für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie erforderlich, dass der Asylsuchende bei Wahrnehmung seiner Dienstpflichten nach den Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs verurteilt werden könnte (Alt. 1), oder wird Flüchtlingsschutz bereits dann gewährt, wenn diese Schwelle nicht erreicht ist, der Asylsuchende also keine strafrechtliche Ahndung zu befürchten hat, er aber gleichwohl die Leistung des Militärdienstes nicht mit seinem Gewissen in Einklang bringen kann (Alt. 2)?

7.      Für den Fall, dass Frage 6 im Sinne der zweiten Alternative zu beantworten ist:

Schließt die Tatsache, dass der Asylsuchende die Möglichkeit, ein reguläres Kriegsdienstverweigerungsverfahren zu durchlaufen, nicht genutzt hat, obwohl er die Gelegenheit dazu gehabt hätte, den Flüchtlingsschutz nach den oben genannten Vorschriften aus, oder kommt Flüchtlingsschutz auch dann in Betracht, wenn es sich um eine aktuelle Gewissensentscheidung handelt?

8.      Stellt die unehrenhafte Entlassung aus der Armee, die Verhängung einer Freiheitsstrafe und eine daran anknüpfende soziale Ächtung und Benachteiligung eine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 2 Buchst. b oder Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie dar?

25.      Herr Shepherd, Deutschland, Griechenland, die Niederlande, das Vereinigte Königreich und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der Niederlande haben diese Verfahrensbeteiligten in der Sitzung vom 25. Juni 2014 mündlich verhandelt.

 Vorbemerkungen

26.      Man könnte meinen, dass die Umstände, die Herrn Shepherd zur Stellung seines Asylantrags veranlasst haben, allgemeine Problemkreise wie etwa die Schnittstelle zwischen Unions- und Völkerrecht berühren. Das vorlegende Gericht hat sich in seinem Vorlagebeschluss jedoch auf eine engere Fragestellung konzentriert. Es möchte im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie auf den vorliegenden Fall anwendbar ist und wie der Asylantrag gegebenenfalls zu prüfen ist. Nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e kann eine Handlung als „Verfolgung“ gelten, wenn einer Person Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt droht, falls der Militärdienst die Begehung bestimmter Handlungen umfassen würde, einschließlich Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie. Meines Erachtens sollte sich der Gerichtshof bei der Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen einer Prüfung der allgemeinen Problemkreise enthalten, die in den Vorträgen nicht hinreichend angesprochen wurden; dementsprechend werde ich diese allgemeinen Problemkreise in den vorliegenden Schlussanträgen nicht behandeln.

27.      Die Genfer Konvention ist ein dynamisches Instrument, das im Licht der aktuellen Verhältnisse und in Einklang mit den völkerrechtlichen Entwicklungen auszulegen ist(32). Im Rahmen der Genfer Konvention nimmt der UNHCR eine Sonderstellung ein und bietet den Mitgliedstaaten wertvolle Hilfe bei der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft(33). Die Genfer Konvention stellt einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar, und die Anerkennungsrichtlinie ist daher im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Konvention auszulegen(34). Diese Auslegung muss zudem, wie Art. 78 Abs. 1 AEUV zu entnehmen ist, in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention und den einschlägigen anderen Verträgen erfolgen sowie die Achtung der in der Charta anerkannten Rechte gewährleisten(35).

28.      Bei jeder Auslegung einzelner Bestimmungen der Anerkennungsrichtlinie sind jedoch deren Wortlaut nach dem allgemeinen Sprachverständnis sowie deren Zweck, Systematik und Kontext zu berücksichtigen. Was den letztgenannten Gesichtspunkt betrifft, regelt Art. 4 (in Kapitel II der Richtlinie) die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz(36). Mit dieser Prüfung wird ein Interessenausgleich angestrebt. Einerseits benötigen und verdienen genuine Flüchtlinge Schutz; andererseits muss den Mitgliedstaaten aber auch die Durchführung von Verfahren erlaubt sein, um genuine Antragsteller von Scheinasylanten zu scheiden. Zweifellos muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es sich bei genuinen Bewerbern um Menschen handelt, die traumatischen Erlebnissen ausgesetzt waren. Gleichwohl hat der einzelne Bewerber seinen Asylantrag durch eine klare und glaubhafte Darstellung der Vorgänge zu begründen.

29.      In der Herrn Shepherd betreffenden Rechtssache hat das vorlegende Gericht acht zusammenhängende, sich zum Teil überschneidende Fragen gestellt. Die Hauptfrage lautet, ob sich eine Person in der Lage von Herrn Shepherd zur Begründung ihres Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund der Anerkennungsrichtlinie auf eine in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e bezeichnete Verfolgungshandlung berufen kann. Ich werde mich daher in erster Linie mit dem Geltungsbereich dieser Bestimmung und ihrer Verknüpfung mit den in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und e aufgeführten „Verfolgungsgründen“ befassen.

 Erste Frage

30.      Mit der ersten Frage begehrt das vorlegende Gericht eine Klarstellung des Geltungsbereichs von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie, insbesondere der Bedeutung der Wendung „… wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 fallen“(37). Erfasst diese Bestimmung nur solche Personen, die unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligt sind, oder erstreckt sie sich auf das gesamte dienende Militärpersonal einschließlich Personen, die logistische und technische Unterstützung leisten wie etwa Wartungstechniker für Hubschrauber?

 Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie

31.      Herr Shepherd, Deutschland, das Vereinigte Königreich und die Kommission sind der Ansicht, dass sämtliche Militärangehörige in den Geltungsbereich von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie fallen. Griechenland verfolgt einen anderen Lösungsansatz. Seiner Meinung nach fragt das vorlegende Gericht, inwieweit die die Anerkennung als Flüchtling beantragende Person an der Begehung von Handlungen wie etwa Kriegsverbrechen beteiligt sein muss, um darzutun, dass sie persönlich für solche Handlungen verantwortlich ist. Die Niederlande weisen darauf hin, dass Militärangehörige, die Unterstützungsaufgaben erfüllten, in der Regel nicht an militärischen Aktionen oder Kampfhandlungen teilnähmen. Es ist nicht ganz klar, ob der genannte Mitgliedstaat davon ausgeht, dass diese Personen dennoch in den Geltungsbereich von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e fallen können.

32.      Meines Erachtens erfasst Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie sämtliche Militärangehörige, einschließlich Personen mit logistischen und unterstützenden Aufgaben wie etwa Hubschraubermechaniker.

33.      Im Rahmen der Definition einer bestimmten Kategorie von „Verfolgungshandlungen“ wird in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e ausdrücklich auf Art. 12 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie Bezug genommen, der in Verbindung mit Art. 12 Abs. 3 zu lesen ist(38). Der Wortlaut der Anerkennungsrichtlinie enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass mit der Wendung „wenn der Militärdienst … umfassen würde“ nur Angehörige der kämpfenden Truppe erfasst werden. Die eindeutige Formulierung von Art. 12 Abs. 3 (oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen) besagt, dass Personen, die nicht unmittelbar an den von Art. 12 Abs. 2 erfassten eigentlichen Handlungen mitwirken, gleichwohl aufgrund dieser Bestimmung vom Schutz der Anerkennungsrichtlinie ausgeschlossen sein können. Wenn Art. 9 Abs. 2 Buchst. e in Einklang mit Art. 12 Abs. 2 und 3 zu lesen ist, dann folgt daraus, dass die ausgewiesene Funktion, Dienstbezeichnung oder Aufgabenbeschreibung des Betreffenden nicht entscheidend dafür sein kann, ob er eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie befürchtet.

34.      Die Einbeziehung des Unterstützungspersonals in den Geltungsbereich von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e entspricht auch der übergeordneten Zielsetzung der Anerkennungsrichtlinie, nämlich diejenigen Personen zu bestimmen, die aufgrund der Umstände gezwungen sind, Schutz in der Union zu suchen, und die diesen Schutz tatsächlich benötigen(39). Wenn eine Person nachweisen kann, dass ihr Militärdienst Handlungen umfassen würde, die in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie als Ausschlussgründe aufgeführt sind, gibt es keinen triftigen Grund, diese Person vom Geltungsbereich des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie auszunehmen (es gibt vielmehr triftige Gründe für die Annahme, dass sie tatsächlich Schutz benötigt).

35.      Mir leuchtet auch nicht ein, weshalb eine Person deshalb an einer Berufung auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie gehindert ist oder sein sollte, weil sie Berufssoldat und kein Wehrdienstpflichtiger ist. Die Formulierung „Verweigerung des Militärdienstes“ ist hinreichend weit, um alle Militärdienst Leistenden zu umfassen. Es erfolgt keine Differenzierung nach den Modalitäten der Rekrutierung des Betreffenden, die somit also ohne Belang sind.

36.      Der nächste Prüfungsschritt ist diffiziler. Zu fragen ist, ob der Betreffende zur Teilnahme an in Art. 12 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie genannten Handlungen wie Kriegsverbrechen veranlasst würde. Dies umfasst die Würdigung der Tatbestandsmerkmale des Art. 12 Abs. 2 unter dem Gesichtspunkt des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e. Die letztgenannte Bestimmung erfordert eine Ex-ante-Einschätzung der Lage des Antragstellers, also eine Einschätzung, mit welcher Wahrscheinlichkeit es zu einer Handlung kommt. Bei Art. 12 Abs. 2 geht es dagegen um eine Ex-post-Beurteilung bereits erfolgter Handlungen.

37.      Erstens ist meines Erachtens Art. 9 Abs. 2 Buchst. e mit seiner Formulierung „wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 fallen“, dahin zu verstehen, dass der Betreffende im Rahmen des Militärdienstes andere zu solchen Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen würde. Für diese Auslegung spricht auch die französische Sprachfassung von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie „… en cas de conflit lorsque le service militaire supposerait de commettre des crimes ou d’accomplir des actes …“(40). Es wird darauf abgestellt, was dieser Militärdienst umfassen würde oder könnte. Zweitens deutet das Wort „würde“ darauf hin, dass die Begehung von Handlungen wie die in Art. 12 Abs. 2 genannten von dem Militärdienst Leistenden abhängt(41). Drittens verdeutlicht dieses „würde“ auch, dass der Betreffende die Handlungen noch nicht begangen hat. Es wird daher auf potenzielle künftige Vorgänge verwiesen und nicht auf zurückliegende Handlungen.

38.      Diese Beurteilung unterscheidet sich somit grundlegend von den Untersuchungen, die ex post bei der Einleitung eines Strafverfahrens oder in Fällen durchgeführt werden, in denen ein Mitgliedstaat nachweisen will, dass eine bestimmte Person vom Schutzbereich der Anerkennungsrichtlinie auszuschließen sei, weil sie in die Ausschlusskategorie nach Art. 12 Abs. 2 falle. Art. 9 Abs. 2 Buchst. e lässt sich sinnvollerweise nicht dahin auslegen, dass eine Person, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt, den Nachweis führen muss, dass sie unter Art. 12 Abs. 2 fällt. Wenn dieser Nachweis gelänge, käme sie zwangsläufig nicht für einen Schutz in Betracht.

39.      Art. 12 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie ist aus Art. 1 Abschnitt F der Genfer Konvention abgeleitet. Im Fall von Herrn Shepherd ist allein Art. 12 Abs. 2 Buchst. a einschlägig. Lassen Sie mich kurz erklären, weshalb ich diese Auffassung vertrete.

40.      Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie bezieht sich auf Personen, die eine „schwere nichtpolitische Straftat“ begangen haben. Der Vorlagebeschluss enthält keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Herr Shepherd zu diesem Personenkreis gehört. Eine nähere Prüfung von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b erübrigt sich daher. Art. 12 Abs. 2 Buchst. c betrifft Personen, die sich Handlungen zuschulden kommen ließen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen(42). Meines Erachtens können solche Handlungen nur von Personen begangen werden, die in einem Staat oder einem staatsähnlichen Gebilde eine Machtposition innehaben. Eine solche Stellung nahm Herr Shepherd nicht ein.

41.      Wenn man sich daher wieder Art. 12 Abs. 2 Buchst. a zuwendet, so zeigt sich, dass die in dieser Bestimmung genannten Handlungen mit denen in Art. 1 Abschnitt F Buchst. a der Genfer Konvention identisch sind. Es handelt sich um Verbrechen gegen den Frieden, um Kriegsverbrechen oder um Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen (die Richtlinie enthält keine eigenständige Definition).

42.      Im Statut für den Internationalen Militärgerichtshof(43) ist „Verbrechen gegen den Frieden“ definiert als Planung, Vorbereitung und Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge oder sonstiger Abkommen. Angesichts der Natur dieses Verbrechens kann es nur von Personen verübt werden, die eine hohe Stellung in der Machtstruktur innehaben und einen Staat oder ein staatenähnliches Gebilde vertreten(44). In einer solchen Position befand sich Herr Shepherd zu keinem Zeitpunkt. Es ist daher unwahrscheinlich, dass er Gefahr gelaufen wäre, eine solche Handlung zu begehen. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ schließen Handlungen wie Völkermord, Mord, Vergewaltigung und Folter ein und sind dadurch charakterisiert, dass sie Teil eines groß angelegten oder systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung sein müssen(45). Mangels irgendwelcher Tatsachenfeststellungen im Vorlagebeschluss hierzu werde ich dem nicht weiter nachgehen(46).

43.      Der Begriff „Kriegsverbrechen“ ist in einer Reihe von internationalen Vertragswerken definiert(47). Solche Verbrechen umfassen schwerwiegende Verstöße gegen die Regeln des humanitären Völkerrechts, durch die Personen, die nicht oder nicht mehr an Feindseligkeiten beteiligt sind, geschützt und die eingesetzten Methoden und Mittel der Kriegsführung beschränkt werden sollen. Es ist anerkannt, dass vorsätzliche Tötung und Folterung von Zivilpersonen als Kriegsverbrechen zu qualifizieren sind(48). Den Ausführungen im Vorlagebeschluss lässt sich entnehmen, dass im Fall von Herrn Shepherd diese (und nur diese) Kategorie mutmaßlicher Kriegsverbrechen relevant ist.

44.      Ich bin bereits zu dem Ergebnis gelangt, dass Militärangehörige, die nicht unmittelbar an Kampfhandlungen teilnehmen, nicht vom Geltungsbereich des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie ausgeschlossen sind. Ob solche Personen im Fall der Erfüllung ihrer militärischen Dienstpflichten Kriegsverbrechen begehen würden, ist eine Tatsachenfrage, die von den zuständigen nationalen Behörden zu beurteilen ist. Diese Beurteilung ist deshalb schwierig, weil die Behörden dabei Handlungen und die Folgen von Handlungen bewerten müssen, die noch nicht stattgefunden haben. Die Frage lautet dann, ob es denkbar ist, dass die Handlungen der Betreffenden die Begehung von Kriegsverbrechen ermöglichen würden(49)?

45.      Der Gerichtshof kann unmöglich einen aussagekräftigen erschöpfenden Katalog von Kriterien vorschlagen, die die nationalen Behörden anzuwenden hätten. Beispielsweise sind Militärangehörige, die in einem Friseursalon in einem Stützpunkt der US-Armee arbeiten, um sicherzustellen, dass alle Personen im Militärdienst den vorschriftsmäßigen Haarschnitt haben, fernab der Kampfhandlungen tätig, so dass sie wohl kaum einen solchen direkten Bezug nachzuweisen vermögen. Andererseits wird eine Person, die Flugzeuge mit Bomben bestückt oder Kampfflugzeuge wartet, eher dartun können, dass ihre Funktion einen unmittelbaren Bezug zu solchen Militäroperationen aufweist und daher die Möglichkeit des Begehens von Kriegsverbrechen besteht. Insoweit ist ein Soldat, der Pilot oder Besatzungsmitglied eines Flugzeugs oder Hubschraubers ist, von dem aus Raketen oder Maschinengewehrfeuer auf eine Kolonne ziviler Flüchtlinge gerichtet werden, eindeutig näher an einer Ereigniskette, die zu Kriegsverbrechen führt, als die Person, die das Flugzeug oder den Hubschrauber mit Waffen bestückt und für dessen Kampftauglichkeit gesorgt hat. Dies besagt jedoch nicht, dass der Wartungstechniker nicht an der Begehung des Verbrechens „beteiligt“ sein kann (oder dass keine Wahrscheinlichkeit einer Beteiligung besteht).

46.      Im Kern bin ich der Meinung, dass die nationalen Behörden prüfen müssen, ob ein direkter Bezug zwischen den Handlungen des Betreffenden und der hinreichenden Wahrscheinlichkeit besteht, dass Kriegsverbrechen verübt werden könnten, so dass er zur Beteiligung an Kriegsverbrechen veranlasst werden könnte, weil seine Handlungen einen notwendigen Tatbeitrag darstellen. Im Wesentlichen ist zu entscheiden, ob ohne diesen Tatbeitrag oder ohne sämtliche Tatbeiträge der Personen, die sich in derselben Situation wie der Betreffende befinden, die Kriegsverbrechen oder Handlungen unmöglich wären.

 Anerkennung als Flüchtling

47.      Einer Person, die mit Grund die Verfolgung etwa wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) oder wegen ihrer politischen Überzeugung (Art. 10 Abs. 1 Buchst. e) befürchtet und bezüglich derer die Voraussetzungen von Art. 2 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie vorliegen, muss die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden(50). Es muss eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 aufgeführten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie bezeichneten Verfolgungshandlungen bestehen. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts stützt Herr Shepherd seinen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. d und Art. 10 Abs. 1 Buchst. e. In der mündlichen Verhandlung beim Gerichtshof hat Herr Shepherd jedoch erklärt, er berufe sich allein auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e und Art. 10 Abs. 1 Buchst. d (also nicht auf Art. 10 Abs. 1 Buchst. e). Das vorlegende Gericht hat den Gerichtshof nicht um Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Anerkennungsrichtlinie ersucht. Angesichts des mündlichen Vortrags von Herrn Shepherd erachte ich es jedoch trotzdem als notwendig, auch diese Bestimmung zu untersuchen.

48.      Meines Erachtens wären bei Herrn Shepherd eindeutig die Voraussetzungen des Art. 10 Abs. 1 Buchst. e gegeben. Unter einer politischen Überzeugung in diesem Sinne ist insbesondere das Vertreten einer Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung in einer den Staat sowie dessen Politiken oder Verfahren betreffenden Angelegenheit zu verstehen. Hierunter muss auch die Überzeugung fallen, dass man keinen Militärdienst in einem Konflikt leisten darf, wenn dies zur Begehung von Kriegsverbrechen führen könnte.

49.      In Bezug auf Art. 10 Abs. 1 Buchst. d (Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) ist die Lage hingegen nicht so eindeutig.

50.      Herr Shepherd trägt vor, seine Überzeugung, dass er aufgrund der Teilnahme am Irakkrieg Gefahr laufe, eine in Art. 12 Abs. 2 bezeichnete Handlung zu begehen, sei so bedeutsam für sein Gewissen, dass er nicht gezwungen werden sollte, dieser Überzeugung zuwiderzuhandeln (er falle also unter Art. 10 Abs. 1 Buchst. d); er gehöre mithin einer Gruppe an, die (im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich) in den USA eine deutlich abgegrenzte Identität habe, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werde.

51.      Ob diesem Vorbringen gefolgt werden kann, hängt von mehreren Faktoren ab.

52.      Der Ausdruck „Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen“ wird in Art. 10 Abs. 1 der Charta, der sich eng an Art. 9 Abs. 1 EMRK anlehnt, nicht verwendet. Gleichwohl hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass die Verweigerung des Militärdienstes, wenn diese auf einem schweren und unüberwindlichen Konflikt zwischen der Pflicht zum Dienst in einer Armee und dem Gewissen einer Person beruhe, eine Überzeugung mit ausreichender Schlüssigkeit, Ernsthaftigkeit, Geschlossenheit und Wichtigkeit darstelle, um unter den Schutz von Art. 9 Abs. 1 EMRK zu fallen(51). Art. 10 Abs. 1 der Charta ist daher entsprechend auszulegen. In Art. 10 Abs. 2 der Charta wird das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ausdrücklich genannt und nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln(52).

53.      Der Begriff „Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen“ hat jedoch mehr als nur eine Bedeutung. Er wird dahin verstanden, dass darunter Pazifisten (wie etwa Quäker) fallen, für die die Verweigerung militärischer Handlungen absolut gilt(53). Die Wendung kann sich aber auch auf Personen beziehen, die aus juristischen, moralischen oder politischen Gründen einen konkreten Konflikt oder die Mittel und Methoden zur Austragung dieses Konflikts ablehnen.

54.      Mir leuchtet ein, dass bei Personen, die militärische Handlungen absolut ablehnen, wohl ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass sie im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d erster Gedankenstrich „Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Ihre Haltung ist klar und unmissverständlich. Sie sind unter keinen Umständen bereit, die Anwendung von Gewalt in Erwägung zu ziehen. Ihr Standpunkt ist ohne Weiteres glaubhaft, eben weil er so eindeutig ist.

55.      Personen, deren Ablehnung der Anwendung von Gewalt nuancierter ist, habe es dagegen schwerer. Der genaue Gegenstand ihrer Ablehnung wird individuell verschieden sein. Der eine mag sich gegen einen bestimmten Krieg wenden, der andere gegen die in einem konkreten Konflikt eingesetzten Mittel und Methoden, und ein Dritter mag sich aus ganz persönlichen Gründen weigern, weil er gegen seine eigene ethnische Gruppe kämpfen muss. Da die Anwendung von Gewalt nicht grundsätzlich, sondern nur partiell abgelehnt wird, ist es für solche Personen entsprechend schwieriger, nachzuweisen, dass ihre individuelle Haltung glaubhaft ist, dass ihre individuelle Ablehnung auf Gewissensgründen und Grundsätzen beruht und nicht auf Bequemlichkeit. Für sie mag es daher problematischer sein, darzutun, dass sie unter Art. 10 Abs. 1 Buchst. d erster Gedankenstrich fallen.

56.      Bei Art. 10 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich sind die Schwierigkeiten meiner Ansicht nach geringer. Begrifflich ist durchaus denkbar, dass sowohl Personen, die die Anwendung von Gewalt absolut ablehnen, als auch Personen, deren Ablehnung nuancierter ist, (getrennt oder gemeinsam) eine Gruppe bilden könnten, die „in dem betreffenden Land“ (hier die USA) „eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“. Ob es sich tatsächlich so verhält, hätten die zuständigen Behörden auf der Grundlage der ihnen vorgelegten Beweise zu beurteilen, wobei diese Entscheidung der Kontrolle durch die nationalen Gerichte unterliegt.

57.      Somit stellt sich die Frage, ob Herr Shepherd bei Zugrundelegung dieser Kriterien von den beiden (kumulativ geltenden) Gedankenstrichen von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d erfasst wird.

58.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass Herr Shepherd militärische Handlungen nicht absolut verweigere. Er war Berufssoldat in der US-Armee. Er lehnt die Anwendung von Waffengewalt nicht völlig ab. Er trägt vielmehr vor, dass er sich der konkreten Art und Weise der Führung eines konkreten Krieges widersetze (eine Art und Weise, die seiner Ansicht nach die Begehung von Kriegsverbrechen umfasste oder künftig umfassen könnte), und dass er befürchtet habe, bei Fortsetzung seines Militärdienstes und Befolgung des erneuten Einsatzbefehls für den Irak in solche Aktivitäten verwickelt zu werden.

59.      Die nationalen Behörden müssen zunächst entscheiden, ob Herr Shepherd als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen oder als Deserteur einzustufen ist. Bei der Entscheidung dieser Frage haben sie zu berücksichtigen, ob Herr Shepherd bezüglich des in Rede stehenden Konflikts eine Überzeugung vertritt, die ein ausreichendes Maß an Schlüssigkeit, Ernsthaftigkeit, Geschlossenheit und Wichtigkeit aufweist, um ihn unter Art. 10 Abs. 1 Buchst. d erster Gedankenstrich fallen zu lassen. Anders ausgedrückt: Es stellt sich die Frage, ob Herr Shepherd einfach ein Deserteur ist oder ob er – wie er vehement geltend macht – den weiteren Militärdienst im Irak aus Gewissensgründen verweigerte. Sollten die nationalen Behörden zu dem Ergebnis gelangen, dass er schlichtweg ein Deserteur ist, dürfte es höchst unwahrscheinlich sein, dass ihm der Nachweis des Eingreifens von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d erster Gedankenstrich gelingt. Da die Voraussetzungen beider Gedankenstriche von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d kumulativ erfüllt sein müssen, wäre es dann unerheblich, ob Militärdienstdeserteure eine einzige, einheitliche Gruppe bilden.

60.      Sollten die nationalen Behörden hingegen zu der Einschätzung kommen, dass Herr Shepherd den Militärdienst im Irak verweigerte, weil ein schwerer und unüberwindlicher Konflikt zwischen dem vernünftigerweise erwarteten Inhalt seiner Dienstpflichten und seinem Gewissen bestand, würde er von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d erster Gedankenstrich erfasst. Die nationalen Behörden müssten dann prüfen, ob bei Zugrundelegung der für sie verfügbaren Angaben vernünftigerweise angenommen werden kann, dass in den USA Personen, die sich in der konkreten Situation wie Herr Shepherd befinden, als andersartig betrachtet werden und von der Gesellschaft insgesamt in einer bestimmten Weise behandelt werden. Sollte dies der Fall sein, wären auch die Voraussetzungen von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich erfüllt. Meines Erachtens liegen dem Gerichtshof nicht genügend Informationen vor, um nähere Hinweise zu diesem Punkt zu geben.

 Zweite Frage

61.      Das vorlegende Gericht formuliert seine Frage hier in Form von zwei Alternativen. Ist für ein Eingreifen von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie Voraussetzung, dass der in Rede stehende Konflikt überwiegend oder systematisch die Begehung von in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie genannten Verbrechen umfasst, oder reicht es aus, dass der Antragsteller darlegt, dass von den Streitkräften, denen er angehört, in Einzelfällen solche Handlungen begangen wurden?

62.      Meines Erachtens ist keiner der in den beiden Alternativen beschriebenen Gesichtspunkte für die Anwendung von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e ausschlaggebend. Es kommt vielmehr darauf an, ob der Antragsteller Gefahr läuft, Kriegsverbrechen zu verüben. Der Betreffende muss dartun, weshalb er meint, dass er bei Leistung seines Militärdienstes Gefahr liefe, solche Verbrechen zu begehen.

63.      Handelt es sich um einen Konflikt, hinsichtlich dessen geltend gemacht wird, dass solche Handlungen bereits systematisch begangen worden seien, und bei dem in der öffentlichen Sphäre Belege für diese Behauptung existieren, mag es für einen Antragsteller (relativ) einfacher sein, das Vorliegen dieser Voraussetzung nachzuweisen. Sofern sich vor seiner Entsendung in das Einsatzgebiet kein grundsätzlicher Wandel vollzogen hat, könnte er hinreichend begründen, dass solche Handlungen durchaus auch in Zukunft vorkommen könnten und dass er darin verwickelt werden könnte. Wird behauptet, dass solche Handlungen in einem Konflikt in einzelnen, isolierten Fällen begangen worden seien, hat es der Antragsteller schwerer. Er muss dann nämlich darlegen, weshalb er davon ausgeht, dass bei Leistung des Militärdienstes seine Handlungen ihn der Gefahr aussetzen würden, in die Begehung von Kriegsverbrechen verwickelt zu werden (subjektives Tatbestandselement). So hätte er (beispielsweise) darzutun, weshalb er angesichts des Ortes, an dem er eingesetzt werden sollte, und der Handlungen, zu denen er verpflichtet worden wäre, davon ausgehen durfte, dass es zu seiner Teilnahme an solchen Verbrechen kommen werde. Darüber hinaus gilt auch ein objektives Tatbestandselement: Kann bei Zugrundelegung der verfügbaren Informationen vernünftigerweise angenommen werden, dass der Antragsteller in eine solche Lage geraten könnte? Es bedarf also der Beurteilung, ob es objektive Gründe für die Annahme gibt, dass der Betreffende in die Begehung von Kriegsverbrechen verwickelt werden könnte.

 Dritte Frage

64.      Meiner Meinung nach deckt die von mir vorgeschlagene Antwort auf die zweite Frage automatisch auch die dritte Frage ab. Ein Nachweis jenseits vernünftiger Zweifel, dass mit Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht zu rechnen ist, wird nicht verlangt.

 Sechste Frage

65.      Zweckmäßigerweise ist als Nächstes die sechste Frage zu behandeln, mit der das vorlegende Gericht wissen möchte, ob im Rahmen der Prüfung von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie die Bestimmungen des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zu berücksichtigen sind.

66.      Die Bestimmungen des IStGH-Statuts sind meiner Ansicht nach nicht einschlägig. Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie ist nicht auf Personen ausgerichtet, gegen die eine Strafverfolgung wegen internationaler Verbrechen betrieben werden könnte. Die Vorschrift bezweckt ganz im Gegenteil den Schutz von Personen, die die Begehung solcher Handlungen bei der Leistung von Militärdienst vermeiden wollen. Wenn die Wahrscheinlichkeit, dass Soldat X wegen eines Kriegsverbrechens belangt wird, als Kriterium für die Entscheidung herangezogen würde, ob er als Flüchtling Schutz genießen sollte, weil er nicht in eine Lage geraten möchte, in der er belangt werden könnte, dann liefe dies dieser Zielsetzung diametral entgegen. Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie regelt die zur Entscheidung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderliche Prüfung der Ereignisse und Umstände. Letztlich muss beurteilt werden, ob das Vorbringen des Antragstellers im Einzelfall glaubhaft ist. Die im Völkerstrafrecht geltenden Voraussetzungen für eine erfolgreiche Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen sind vollkommen anders (wesentlich strenger) ausgestaltet und spielen im Rahmen dieser Beurteilung keine Rolle(54).

 Vierte Frage

67.      Hier stellt das vorlegende Gericht die Frage, ob die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter bestimmten Umständen ausgeschlossen ist. Insbesondere soll geklärt werden, ob a) die Tatsache, dass die Behörden des Staates, dem der Antragsteller angehört, Kriegsverbrechen verfolgen, einer Berufung auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie entgegensteht, und ob b) eine Ahndung durch den IStGH von Bedeutung ist? In seinen Erläuterungen deutet das vorlegende Gericht an, dass immer dann, wenn eine Regelung zur Strafverfolgung und Bestrafung von Kriegsverbrechern bestehe, davon ausgegangen werden könnte, dass die Verübung von Kriegsverbrechen unwahrscheinlich sei, weil sie von dem betreffenden Staat nicht toleriert würden. Allein der Umstand, dass Kriegsverbrechen geahndet würden, sei bereits Beleg dafür, dass der Staat Schutz vor Verfolgung im Sinne von Art. 7 der Anerkennungsrichtlinie biete.

68.      Meines Erachtens lautet die Antwort auf beide Fragen kurz und bündig „nein“. Nationale oder internationale Regelungen zur Ahndung von Kriegsverbrechen mögen zwar grundsätzlich von der Begehung solcher Taten abschrecken. Es ist allerdings eine traurige, doch nicht zu leugnende Tatsache, dass ungeachtet solcher Regelungen in der Hitze des Gefechts Kriegsverbrechen manchmal sehr wohl begangen werden(55) (ebenso wie Gesetze in einem für die Zivilbevölkerung geltenden Rechtssystem, durch die Vergewaltigung und Mord kriminalisiert und bestraft werden, leider nicht gewährleisten, dass niemals jemand vergewaltigt oder ermordet wird). Wenn Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie überhaupt eine Bedeutung als Mittel haben soll, Personen, die der Gefahr einer Zwangsteilnahme an Kriegsverbrechen ausgesetzt sind, Schutz zu bieten, muss die genannte Bestimmung unabhängig davon gelten, ob es nationale oder internationale Regelungen zur Strafverfolgung und Bestrafung von Kriegsverbrechen gibt oder nicht.

 Fünfte Frage

69.      Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Berufung auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e auch dann möglich ist, wenn die militärische Aktion von der internationalen Gemeinschaft sanktioniert wird oder aufgrund eines Mandats des UN-Sicherheitsrats durchgeführt wird.

70.      Mir ist nicht ganz klar, was mit der Wendung „von der internationalen Gemeinschaft sanktioniert“ juristisch genau gemeint ist. In der UN-Charta findet sich keine Definition für einen legitimen Krieg; mir ist auch kein anderes internationales Vertragswerk bekannt, das diese Regelungslücke füllen würde (wenn es denn eine Regelungslücke ist)(56). Für mich ist nicht ersichtlich, wie das Bestreben, den Geltungsbereich von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie anhand eines nicht definierten Begriffs zu bestimmen, in der Sache weiterhelfen soll. Da ein Mandat des UN-Sicherheitsrats weder für die den Beginn eines Krieges noch für die Verteidigung gegen einen Angriff Voraussetzung ist, kann die Existenz oder Nichtexistenz eines Mandats nicht entscheidend dafür sein, ob es zu den in Art. 12 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie aufgeführten Handlungen kommt. Selbst wenn also einem Konflikt eine Resolution des UN-Sicherheitsrats vorausgeht, durch die die Anwendung von Gewalt unter bestimmten Umständen und Voraussetzungen autorisiert wird, folgt daraus keineswegs, dass die Begehung von Kriegsverbrechen per definitionem nicht erfolgen kann und nicht erfolgen wird.

71.      Im Ergebnis ist diese Frage meiner Ansicht nach dahin zu beantworten, dass die Existenz eines Mandats des UN-Sicherheitsrats für den in Rede stehenden Konflikt die nach Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie durchzuführende Prüfung weder überflüssig macht noch für deren Ergebnis von Belang ist. Ein Mandat als solches schließt auch nicht die Möglichkeit aus, dass in Art. 12 der Anerkennungsrichtlinie aufgeführte Handlungen begangen wurden oder möglicherweise künftig begangen werden.

 Siebte Frage

72.      Mit der letzten seiner die Auslegung von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie betreffenden Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Antragsteller zunächst das reguläre Kriegsdienstverweigerungsverfahren bei den nationalen Behörden des Staates, dem er angehört, durchlaufen muss, ehe er sich auf die genannte Bestimmung berufen kann.

73.      Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Strafverfolgung oder Bestrafung, der Herr Shepherd im Fall einer Überstellung an die USA ausgesetzt wäre, wegen Desertion und nicht wegen Kriegsdienstverweigerung erfolgen würde.

74.      Es ist nicht ganz klar, was das vorlegende Gericht mit der Wendung „reguläres Kriegsdienstverweigerungsverfahren“ meint. Soweit darunter die insoweit nach US-amerikanischem Recht zur Verfügung stehenden Anerkennungsverfahren zu verstehen sein könnten, besitzt der Gerichtshof keine Informationen darüber, ob Herr Shepherd nach US-amerikanischem Recht die Möglichkeit zum Rückgriff auf ein solches Verfahren hätte oder ob ihm dies verwehrt wäre, weil er (wie das vorlegende Gericht ausführt) die Anwendung von Waffengewalt nicht völlig ablehnt. Hierzu kann ich auf Ziff. 1-5(a)(4) der Army Regulation 600-43 verweisen, wo es heißt, dass „Anträge von Soldaten, nach Eintritt in den Militärdienst als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden, nicht wohlwollend geprüft werden, wenn sie … mit der Ablehnung eines bestimmten Krieges begründet werden“. Ich weiß natürlich nicht, wie diese Bestimmung von den Militärgerichten in den USA in der Praxis ausgelegt wird.

75.      Es ist Sache der nationalen Behörden, (erforderlichenfalls durch Sachverständigenbeweis) zu prüfen, ob Herr Shepherd zutreffend davon ausgeht, dass er nach US-amerikanischem Recht nicht als Kriegsdienstverweigerer hätte anerkannt werden können. Hätte er diesen Rechtsweg mit hinreichender Aussicht auf Erfolg beschreiten können und hat er von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht, sehe ich keinen triftigen Grund, ihm die Flüchtlingseigenschaft wegen einer Verfolgung zuzuerkennen, der er (Vorstehendes vorausgesetzt) hätte entgehen können, ohne seine Überzeugungen zu verraten. Wenn ihm umgekehrt als aktiver Soldat ein Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer wegen seiner Ablehnung eines erneuten Einsatzes im Irak verwehrt gewesen wäre, kann der Umstand, dass er einen solchen Anerkennungsantrag nicht gestellt hat, für seinen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie keine Rolle spielen.

 Achte Frage

76.      Die achte Frage des vorlegenden Gerichts bezieht sich auf zwei verschiedene in der Anerkennungsrichtlinie genannte „Verfolgungshandlungen“, nämlich „gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden“ (Art. 9 Abs. 2 Buchst. b), und „unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung“ (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c). Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die unehrenhafte Entlassung nach Verhängung einer Freiheitsstrafe und eine daran anknüpfende soziale Ächtung und Benachteiligung eine Verfolgungshandlung im Sinne dieser beiden Bestimmungen darstellt.

77.      Die achte Frage ist eigenständig. Bei ihrer Beantwortung ist zu beachten, dass der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nur besteht, wenn eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 mit einem Verfolgungsgrund im Sinne von Art. 10 verknüpft ist(57). Alle Verfahrensbeteiligten, die dem Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben – auch Herr Shepherd –, gehen davon aus, dass Staaten Militärangehörige bestrafen dürfen, die die weitere Leistung des Militärdienstes verweigern, wenn ihre Desertion nicht aus anerkannten Gewissensgründen erfolgt und sofern die Bestrafung und die damit verbundenen Verfahren internationalen Normen entsprechen. Nach meinem Verständnis kommt die achte Frage daher nur dann zum Tragen, wenn die nationalen Behörden zu dem Ergebnis gelangen, dass Herr Shepherd nicht glaubhaft davon ausgegangen ist, im Fall eines erneuten Einsatzes im Irak Gefahr zu laufen, Kriegsverbrechen zu begehen (so dass er also nicht von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e erfasst wird), dass bei ihm aber dennoch entweder die Voraussetzungen beider Gedankenstriche von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d (Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) oder – aufgrund seiner bezüglich der Kriegsführung im Irak vertretenen politischen Überzeugung – die Voraussetzungen von Art. 10 Abs. 1 Buchst. e vorliegen. Bei dieser Sichtweise könnte man Herrn Shepherd dann vielleicht als „Deserteur mit Gewissen“ bezeichnen.

78.      Fraglich ist, ob die Durchführung eines Militärgerichtsverfahrens gegen eine solche Person und ihre Bestrafung diskriminierend oder unverhältnismäßig ist, so dass Art. 9 Abs. 2 Buchst. b oder c eingreift.

79.      Militärgerichtsverfahren und/oder unehrenhafte Entlassung fallen zweifellos unter den Begriff „gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen“ in Art. 9 Abs. 2 Buchst. b. Der Antragsteller hat jedoch darzutun, dass solche Maßnahmen an sich schon diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden. Da sich Herr Shepherd auf Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie (Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) beruft, muss im Rahmen der Beurteilung geprüft werden, ob es in den USA soziale Gruppen gibt, die mit der Gruppe, zu der Herr Shepherd seinem Vortrag nach gehört, insofern vergleichbar sind, als sie sich in einer ähnlichen Lage befinden, ob die Gruppe von Herrn Shepherd mit höherer Wahrscheinlichkeit diskriminiert wird als die Vergleichsgruppe und ob eine etwaige Ungleichbehandlung gerechtfertigt sein könnte. Mangels Anhaltspunkten in den Gerichtsakten, dass hier eine solche Diskriminierung vorliegt, ist es Sache der nationalen Behörden, die erforderliche detaillierte Beurteilung der Fakten und Umstände zur Ermittlung der tatsächlichen Lage vorzunehmen.

80.      Ebenso wenig lässt sich abstrakt feststellen, ob eine mögliche Strafverfolgung unverhältnismäßig oder diskriminierend ist oder ob die zu erwartende Bestrafung von Herrn Shepherd im Fall seiner Verurteilung wegen Desertion(58) unverhältnismäßig wäre und somit Art. 9 Abs. 2 Buchst. c zum Tragen käme. Im Allgemeinen muss bei der Beurteilung der Frage, ob eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Desertion unverhältnismäßig ist, geprüft werden, ob ein solches Vorgehen über das hinausgeht, was erforderlich ist, damit der betreffende Staat sein legitimes Recht auf Unterhaltung einer Streitkraft ausüben kann. Die vom vorlegenden Gericht beschriebenen Strafen erscheinen nicht offensichtlich unverhältnismäßig. Letztlich sind aber auch diese Fragen von den nationalen Behörden im Licht des Sachverhalts zu beurteilen.

81.      Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass dieselben Kriterien auch im Fall einer Berufung auf den Verfolgungsgrund des Art. 10 Abs. 1 Buchst. e (politische Überzeugung) gelten würden. Da der Begriff der sozialen Gruppe bei diesem Verfolgungsgrund jedoch keine Rolle spielt, wird es einer Person in der Lage wie Herr Shepherd wohl nur mit großen Schwierigkeiten gelingen, eine Diskriminierung allein aufgrund ihrer individuellen Haltung darzulegen. Es dürfte für sie auch schwierig sein, eine geeignete Gruppe für den erforderlichen Vergleich zu benennen.

82.      Soziale Ächtung als solche wird in Art. 9 Abs. 2 nicht als „Verfolgungshandlung“ aufgeführt und lässt sich meines Erachtens nicht ohne Weiteres unter Art. 9 Abs. 2 Buchst. b oder Art. 9 Abs. 2 Buchst. c subsumieren. Allerdings ist die Aufzählung in Art. 9 Abs. 2 selbstverständlich nicht erschöpfend. Sollte die soziale Ächtung von „nichtstaatlichen Akteuren“ (im Sinne von Art. 6 Buchst. c der Richtlinie) ausgehen, so würde dies an sich noch nicht ihre Einstufung als (weitere) Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 2 ausschließen.

83.      Um jedoch die Grundlage für einen erfolgreichen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bilden zu können, müssen Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 entweder „aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend [sein], dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen“ (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a)(59), oder „in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher … Weise betroffen ist“ (Art. 9 Abs. 1 Buchst. b). Dem Gerichtshof liegen keine Informationen vor, denen sich entnehmen ließe, ob eine eventuelle Strafverfolgung, Bestrafung oder soziale Ächtung, der Herr Shepherd im Fall einer Überstellung an die USA ausgesetzt sein könnte, so gravierend ist, dass diese Schwelle überschritten wird. Es handelt sich (wiederum) um Faktoren, die von den zuständigen nationalen Behörden beurteilt werden müssen, wobei diese Beurteilung der Kontrolle durch das nationale Gericht unterliegt.

 Ergebnis

84.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Bayerischen Verwaltungsgericht München (Deutschland) vorgelegten Fragen in folgendem Sinne zu beantworten:

–        In den Schutzbereich von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes fallen auch Militärangehörige, die nicht unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligt sind, wenn diese Personen im Rahmen des Militärdienstes dazu veranlasst werden könnten, andere zu Straftaten oder Handlungen der in dieser Bestimmung bezeichneten Art anzustiften oder sich in sonstiger Weise daran zu beteiligen.

–        Bei der Beurteilung, ob dies der Fall ist, haben die nationalen Behörden zu berücksichtigen, ob i) ein direkter Bezug zwischen den Handlungen des Betreffenden und der hinreichenden Wahrscheinlichkeit besteht, dass Kriegsverbrechen verübt werden könnten, weil seine Handlungen einen notwendigen Tatbeitrag darstellen und ohne diesen Tatbeitrag oder ohne sämtliche Tatbeiträge der Personen, die sich in derselben Situation wie der Betreffende befinden, die Kriegsverbrechen oder Handlungen unmöglich wären, und ob ii) es objektive Gründe für die Annahme gibt, dass der Betreffende in die Begehung von Kriegsverbrechen verwickelt werden könnte. Insoweit ist die Anwendung von a) strafrechtlichen Beweismaßstäben (wie etwa „jenseits aller vernünftigen Zweifel“) und b) Grundsätzen des Völkerstrafrechts mit Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 unvereinbar.

–        Die Tatsache, dass die Behörden des Landes, dessen Staatsangehörigkeit ein Antragsteller besitzt, Kriegsverbrechen strafrechtlich verfolgen, steht seiner Berufung auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 nicht entgegen; insoweit ist es auch ohne Belang, ob eine Strafverfolgung vor dem Internationalen Strafgerichtshof erfolgt.

–        Ein Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen für den in Rede stehenden Konflikt steht der Geltendmachung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 nicht entgegen.

–        Einem Militärdienstverweigerer kann die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 nur zuerkannt werden, wenn er entweder zunächst die offen stehenden Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer erfolglos ausgeschöpft hat oder wenn er glaubhaft macht, dass ihm solche Verfahren nicht offen stehen.

–        Bei der Beurteilung, ob ein Militärdienstverweigerer als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/38 angesehen werden kann, ist zu berücksichtigen, ob i) er eine Überzeugung vertritt, die ein ausreichendes Maß an Schlüssigkeit, Ernsthaftigkeit, Geschlossenheit und Wichtigkeit aufweist, und ob ii) bei ihm angesichts dieser Überzeugung die Voraussetzungen von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d erster Gedankenstrich dieser Bestimmung vorliegen, weil seine Verweigerung auf einer Überzeugung beruht, die bedeutsam für sein Gewissen ist, und ob iii) Personen dieser Überzeugung in ihrem Herkunftsland als andersartig im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich betrachtet werden.

–        Soweit sich ein Antragsteller auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. b und Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/83 beruft, haben die zuständigen nationalen Behörden zu beurteilen, ob eine unehrenhafte Entlassung aus der Armee und eine Freiheitsstrafe deshalb diskriminierend sind, weil der Antragsteller einer bestimmten sozialen Gruppe angehört. Im Rahmen dieser Beurteilung muss geprüft werden, ob es in dem betreffenden Land soziale Gruppen gibt, die mit der Gruppe, zu der der Antragsteller seinem Vortrag nach gehört, insofern vergleichbar sind, als sie sich in einer ähnlichen Lage befinden, ob die Gruppe des Antragstellers wahrscheinlich anders behandelt wird, weil ihren Mitgliedern ein Militärgerichtsverfahren und/oder die unehrenhafte Entlassung drohen könnte, und ob eine etwaige vorliegende Ungleichbehandlung gerechtfertigt sein könnte.

–        Soweit sich ein Antragsteller auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 beruft, haben die zuständigen nationalen Behörden zu beurteilen, ob eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Desertion unverhältnismäßig ist. Insoweit muss geprüft werden, ob ein solches Vorgehen über das hinausgeht, was erforderlich ist, damit der betreffende Staat sein legitimes Recht auf Unterhaltung einer Streitkraft ausüben kann.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – Siehe unten, Nrn. 48 bis 59.


3 – Siehe meine zusammenfassende Darstellung des Ausgangsrechtsstreits unten, Nrn. 20 bis 23.


4 – Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden: Genfer Konvention) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde ergänzt durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat. Das Protokoll ist für die Entscheidung im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren ohne Belang.


5 – Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12) (im Folgenden: Anerkennungsrichtlinie oder Richtlinie). Diese Richtlinie wurde aufgehoben und in umgestalteter Form ersetzt durch die Richtlinie 2011/95/EU (ABl. 2011, L 337, S. 9). Der Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen hat sich nicht wesentlich geändert.


6 – Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 Unterabs. 1 der Genfer Konvention.


7 – Nach Art. 1 Abschnitt F Buchst. b bzw. c der Genfer Konvention findet diese keine Anwendung auf Personen, die ein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb des Aufnahmelandes begangen haben oder die sich Handlungen zuschulden kommen ließen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen.


8 – Am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet (im Folgenden: EMRK).


9 – ABl. 2010, C 83, S. 389.


10 – Erwägungsgründe 1 bis 4. Vgl. auch die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13, im Folgenden: Asylverfahrensrichtlinie), die für alle im Gebiet der Union gestellten Asylanträge gilt.


11 – Erwägungsgründe 1 bis 4, 6, 7, 8, 10, 11 und 17.


12 – Zehnter Erwägungsgrund.


13 – Elfter Erwägungsgrund.


14 – Art. 2 Buchst. c.


15 – Art. 4 Abs. 1.


16 – Art. 6.


17 – Art. 7 Abs. 1.


18 – Art. 7 Abs. 2.


19 – Die laut Art. 15 Abs. 2 EMRK unabdingbaren Rechte sind das Recht auf Leben (Art. 2), das Verbot der Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art. 3 und 4) sowie das Recht des Einzelnen, nicht ohne ordentliches Gerichtsverfahren bestraft zu werden (Art. 7).


20 – Art. 9 Abs. 1.


21 – Art. 9 Abs. 2 Buchst. b.


22 – Art. 9 Abs. 2 Buchst. c.


23 – Art. 9 Abs. 2 Buchst. e. Da in der englischen Sprachfassung dieser Bestimmung nicht von der Begehung von Verbrechen oder Handlungen die Rede ist, erscheint mir die Verwendung des Wortes „include“ (umfassen) im englischen Text seltsam. In der französischen Sprachfassung heißt es: „… en cas de conflit lorsque le service militaire supposerait de commettre des crimes ou d’accomplir des actes …“. Das dürfte dem Sinn der Bestimmung wohl näher kommen. Siehe weiter hierzu unten, Nrn. 35 und 37.


24 – Art. 9 Abs. 3.


25 – Art. 12 Abs. 2 Buchst. a. Der Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und c entspricht Art. 1 Abschnitt F Buchst. b und c der Genfer Konvention – siehe oben, Fn. 7.


26 – Art. 12 Abs. 3.


27 – Art. 13.


28 – Vgl. § 3 Abs. 1 und 2 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG).


29 – § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG).


30 – Das am 17. Juli 1998 in Rom unterzeichnete Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (im Folgenden: Römisches Statut) trat am 1. Juli 2002 in Kraft. Das vorlegende Gericht führt aus, dass nach Ansicht des Bundesamts eine Beteiligung an der Tatbestandsverwirklichung regelmäßig vorsätzliches und wissentliches Handeln voraussetze (vgl. Art. 30 des Römischen Statuts).


31 – Siehe weiter hierzu unten, Nrn. 47 bis 60.


32 – Vgl. die einleitenden Bemerkungen des Büros des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR – Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge) vom Dezember 2010 zur Genfer Konvention; vgl. des Weiteren Art. 35 der Genfer Konvention, Art. 8 Abs. 2 Buchst. b und Art. 21 der Verfahrensrichtlinie sowie 15. Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie. Der UNHCR hat hilfreiche Unterlagen herausgegeben, darunter die Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 10: Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Bezug auf den Militärdienst im Rahmen von Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Konvention (im Folgenden: UNHCR-Richtlinien Nr. 10) und die Richtlinien zum internationalen Schutz: Anwendung der Ausschlussklauseln: Artikel 1 F der Genfer Konvention (im Folgenden: UNHCR-Richtlinien zu den Ausschlussklauseln). Diese Dokumente sind zwar rechtlich nicht bindend, spiegeln aber anerkannte Grundsätze des Völkerrechts wider.


33 – Vgl. 15. Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie.


34 – Urteile Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105, Rn. 52), Y und Z (C‑71/11 und C‑99/11, EU:C:2012:518, Rn. 47) und X (C‑199/12 bis C‑201/12, EU:C:2013:720, Rn. 39).


35 – Urteil X (EU:C:2013:720, Rn. 40). Vgl. auch Art. 10 der Charta.


36 – Die in Art. 4 Abs. 1 erwähnten Anhaltspunkte sind in Art. 4 Abs. 2 im Einzelnen aufgeführt. Vgl. auch Urteil M. (C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 73).


37 – Hervorhebung nur hier.


38 – In Art. 12 Abs. 3 heißt es, dass Art. 12 Abs. 2 auf Personen Anwendung findet, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.


39 – Vgl. Erwägungsgründe 1 und 6 der Anerkennungsrichtlinie.


40 – Siehe oben, Fn. 23.


41 – Die Anerkennungsrichtlinie wurde am 29. April 2004 erlassen. Amtssprachen der Union waren damals Dänisch, Deutsch, Englisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Niederländisch, Portugiesisch, Schwedisch und Spanisch. In diesen Sprachen wird in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Konjunktiv verwendet (wenngleich nicht in jeder Sprachfassung, da in der niederländischen Fassung das Präsens verwendet wird).


42 – Die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen sind in Kapitel I ihrer Charta (Charta der Vereinten Nationen und Statut des Internationalen Gerichtshofs, unterzeichnet in San Francisco am 26. Juni 1945, im Folgenden: UN-Charta) aufgeführt. Was die Mitglieder der Vereinten Nationen betrifft, gehören zu diesen Grundsätzen die Anerkennung ihrer souveränen Gleichheit, die Beilegung internationaler Streitigkeiten durch friedliche Mittel sowie die Unterlassung der Androhung oder Anwendung von Gewalt in ihren internationalen Beziehungen.


43 – Statut für den Internationalen Militärgerichtshof, unterzeichnet am 8. August 1945 in London.


44 – Vgl. z. B. Nr. 11 der UNHCR-Richtlinien zu Ausschlussklauseln.


45 – Vgl. z. B. Nr. 13 der UNHCR-Richtlinien zu Ausschlussklauseln.


46 – Das vorlegende Gericht führt aus, dass Herr Shepherd den Irakkrieg für völkerrechtswidrig halte (siehe oben, Nr. 3). Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit dieses Krieges ist im Fall von Herrn Shepherd weder Sache des Gerichtshofs noch der nationalen Behörden. Diese Problematik bleibt weiterhin Gegenstand der Diskussion von Rechtsexperten auf dem Gebiet des Völkerrechts und übrigens auch von politischen Führungspersönlichkeiten. Am 16. September 2004 erklärte Kofi Annan (der damalige UN-Generalsekretär), dass der Einmarsch in den Irak gegen die UN-Charta verstoße. Allerdings wurden nach dieser Erklärung mehrere Resolutionen des UN-Sicherheitsrats bezüglich des Iraks verabschiedet.


47 – Vgl. elfter Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie; vgl. des Weiteren Art. 8 des Römischen Statuts.


48 – Vgl. z. B. Nr. 12 der UNHCR-Richtlinien zu Ausschlussklauseln.


49 – Siehe oben, Nr. 37.


50 – Vgl. Art. 13 der Anerkennungsrichtlinie.


51 – Urteil des EGMR (Große Kammer) vom 7. Juli 2011, Bayatyan/Armenien (Beschwerde Nr. 23459/03, § 110).


52 – Ob Art. 10 Abs. 2 der Charta im Fall von Herrn Shepherd einschlägig ist, hängt demnach von den die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen regelnden einzelstaatlichen Gesetzen des Mitgliedstaats (Deutschland), in dem er Asyl beantragt hat, ab. Die entsprechende Beurteilung ist Sache der zuständigen nationalen Behörden, vorbehaltlich der Kontrolle durch die nationalen Gerichte. Zur Stellung von Herrn Shepherd als US-Staatsangehöriger und ehemaliger Angehöriger der US-Streitkräfte siehe unten, Nrn. 74 und 75.


53 – Vgl. z. B. Nr. 3 der UNHCR-Richtlinien Nr. 10.


54 – Zu beachten ist, dass das IStGH-Statut im Fall von Herrn Shepherd ohnehin nicht angewandt werden könnte, da die USA nicht Vertragsstaat des Statuts sind.


55 – Ein berüchtigtes Beispiel ist das Massaker von Mӱ Lai im Vietnamkrieg. Von den 26 amerikanischen Soldaten, die wegen in Mӱ Lai begangener Straftaten angeklagt waren, wurde nur Lieutenant William Calley Jr. verurteilt. In jüngerer Zeit hat der Ankläger des IStGH Verfahren wegen Vorkommnissen in Uganda und der Demokratischen Republik Kongo eingeleitet. Im Rahmen der letztgenannten Verfahren kam es zu einer Verurteilung in der Rechtssache Ankläger/Thomas Lubanga Dyilo.


56 – Viel Nachdenken und viel Tinte sind darauf verwendet worden, zu analysieren, ob und unter welchen Umständen ein Krieg als „legitim“ oder „gerecht“ charakterisiert werden kann. Die Theorie vom gerechten Krieg (ius bellum iustum), zuerst untersucht von Augustinus von Hippo (354 bis 430), wurde bedeutend entwickelt von Thomas von Aquin (1225 bis 1274) in der Summa Theologica. Spätere Untersuchungen haben allmählich unterschieden zwischen den Regeln für den gerechten Krieg (ius ad bellum), den Regeln für gerechtfertigtes und faires Verhalten (ius in bello) und der Verantwortung und Verantwortlichkeit Krieg führender Parteien nach dem Krieg (ius post bellum). Als Grundsätze für den gerechten Krieg gelten gewöhnlich: Für ihn muss es einen gerechten Grund geben, er muss die ultima ratio sein, von einer zuständigen Stelle erklärt werden, das richtige Ziel und vernünftige Aussicht auf Erfolg haben, und der Endzweck muss im Verhältnis zu den eingesetzten Mitteln stehen. Jeder dieser Punkte ist kritisierbar.


57 – Art. 9 Abs. 3.


58 – Im Vorlagebeschluss heißt es, dass „[d]em Kläger … wegen Desertion nach Feststellung des Bundesamtes eine Haftstrafe zwischen 100 Tagen und 15 Monaten [droht], wobei der Strafrahmen bis zu fünf Jahren eröffnet ist“.


59 – Insbesondere der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten unabdingbaren Rechte – siehe oben, Fn. 19.