Language of document : ECLI:EU:C:2019:108

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

12. Februar 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 12 – Inhafthaltung der gesuchten Person – Art. 17 – Fristen für den Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls – Nationale Rechtsvorschriften, wonach 90 Tage nach der Festnahme die Aussetzung der Haft von Amts wegen vorgesehen ist – Unionsrechtskonforme Auslegung – Aussetzung der Fristen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 6 – Recht auf Freiheit und Sicherheit – Unterschiedliche Auslegungen des nationalen Rechts – Klarheit und Vorhersehbarkeit“

In der Rechtssache C‑492/18 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) mit Entscheidung vom 27. Juli 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juli 2018, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gegen

TC

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter A. Arabadjiev (Berichterstatter), E. Regan, C. G. Fernlund und S. Rodin,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 27. Juli 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juli 2018, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Oktober 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von TC, vertreten durch T. J. Kodrzycki und T. O. M. Dieben, advocaten,

–        des Openbaar Ministerie, vertreten durch R. Vorrink, J. Asbroek und K. van der Schaft, Officieren van Justitie,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. A. M. de Ree und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und A. Kasalická als Bevollmächtigte,

–        von Irland, vertreten durch A. Joyce und G. Mullan als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Faraci, avvocato dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. November 2018

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines von den zuständigen Behörden des Vereinigten Königreichs am 12. Juni 2017 gegen TC erlassenen Europäischen Haftbefehls in den Niederlanden (im Folgenden: in Rede stehender Europäischer Haftbefehl).

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Charta

3        Art. 6 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) der Charta sieht vor:

„Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“

 Rahmenbeschluss 2002/584/JI

4        Im zwölften Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) heißt es:

„Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta … zum Ausdruck kommen. …“

5        Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) Abs. 3 des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

6        Art. 12 („Inhafthaltung der gesuchten Person“) des Rahmenbeschlusses hat folgenden Wortlaut:

„Im Fall der Festnahme einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls entscheidet die vollstreckende Justizbehörde, ob die gesuchte Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist. Eine vorläufige Haftentlassung nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ist jederzeit möglich, sofern die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats die ihres Erachtens erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht der gesuchten Person trifft.“

7        Art. 15 („Entscheidung über die Übergabe“) Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses sieht vor:

„Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.“

8        In Art. 17 („Fristen und Modalitäten der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:

„(1)      Ein Europäischer Haftbefehl wird als Eilsache erledigt und vollstreckt.

(3)      In den anderen Fällen sollte die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls innerhalb von 60 Tagen nach der Festnahme der gesuchten Person erfolgen.

(4)      Kann in Sonderfällen der Europäische Haftbefehl nicht innerhalb der in den Absätzen 2 bzw. 3 vorgesehenen Fristen vollstreckt werden, so setzt die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde von diesem Umstand und von den jeweiligen Gründen unverzüglich in Kenntnis. In diesem Fall können die Fristen um weitere 30 Tage verlängert werden.

(5)      Solange noch keine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde ergangen ist, stellt diese sicher, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben sind.

(7)      Kann ein Mitgliedstaat bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände die in diesem Artikel vorgesehenen Fristen nicht einhalten, so setzt er [die Europäische Stelle für justizielle Zusammenarbeit (Eurojust)] von diesem Umstand und von den Gründen der Verzögerung in Kenntnis. Außerdem teilt ein Mitgliedstaat, der wiederholt Verzögerungen bei der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen durch einen anderen Mitgliedstaat ausgesetzt gewesen ist, diesen Umstand dem Rat mit, damit eine Beurteilung der Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses auf Ebene der Mitgliedstaaten erfolgen kann.“

 Niederländisches Recht

9        Art. 22 der Overleveringswet (Übergabegesetz, Stb 2004, Nr. 195, im Folgenden: OLW), die den Rahmenbeschluss 2002/584 in niederländisches Recht umsetzt, bestimmt:

„(1)      Die Übergabeentscheidung ist durch die Rechtbank [(Bezirksgericht)] spätestens 60 Tage nach der Festnahme der in Art. 21 genannten gesuchten Person zu erlassen.

(3)      In Sonderfällen kann die Rechtbank [(Bezirksgericht)] die Frist von 60 Tagen unter Mitteilung der jeweiligen Gründe an die ausstellende Justizbehörde um höchstens 30 Tage verlängern.

(4)      Hat die Rechtbank [(Bezirksgericht)] noch keine Entscheidung innerhalb der in Abs. 3 vorgesehenen Frist erlassen, kann sie die Frist erneut um eine unbestimmte Zeit verlängern, wenn gleichzeitig die Haft der gesuchten Person unter Auflagen ausgesetzt und die ausstellende Justizbehörde davon in Kenntnis gesetzt wird.“

10      Art. 64 OLW sieht vor:

„(1)      Kann oder muss nach diesem Gesetz eine Haftentscheidung getroffen werden, kann angeordnet werden, dass die Haft unter Auflagen vorläufig oder bis zum Zeitpunkt der Entscheidung der Rechtbank [(Bezirksgericht)], durch die die Übergabe gestattet wird, aufgeschoben oder ausgesetzt wird. Die zu erteilenden Auflagen dürfen nur die Verhinderung der Flucht zum Zweck haben.

(2)      Auf die von der Rechtbank [(Bezirksgericht)] bzw. dem Untersuchungsrichter gemäß Abs. 1 getroffenen Anordnungen sind Art. 80, mit Ausnahme von Abs. 2, und die Art. 81 bis 88 des Wetboek van Strafvordering (Strafprozessordnung) entsprechend anwendbar.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

11      TC, gegen den der in Rede stehende Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, ist ein britischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Spanien. Er wird verdächtigt, als ranghohes Mitglied einer kriminellen Vereinigung an der Einfuhr, dem Vertrieb und dem Verkauf harter Drogen, insbesondere von 300 kg Kokain, beteiligt gewesen zu sein. Für diese Straftat sieht das Recht des Vereinigen Königreichs als Höchststrafe eine lebenslange Freiheitsstrafe vor.

12      TC wurde am 4. April 2018 in den Niederlanden festgenommen. An diesem Tag begann die in Art. 22 Abs. 1 OLW und Art. 17 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene Frist von 60 Tagen für den Erlass einer Entscheidung über die Vollstreckung des in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls zu laufen.

13      Das vorlegende Gericht, die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande), verhandelte den in Rede stehenden Europäischen Haftbefehl in seiner Sitzung vom 31. Mai 2018. In dieser Sitzung ordnete es die Inhafthaltung von TC an und verlängerte die Frist für den Erlass einer Entscheidung über die Vollstreckung des in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls um 30 Tage. Mit Entscheidung vom 14. Juni 2018 eröffnete das vorlegende Gericht wieder die Verhandlung, setzte das Verfahren bis zur Antwort des Gerichtshofs auf das am 17. Mai 2018 eingereichte Vorabentscheidungsersuchen, zu dem in der Zwischenzeit das Urteil vom 19. September 2018, RO (C‑327/18 PPU, EU:C:2018:733), ergangen ist, aus und entschied, dass die Entscheidungsfrist vom 14. Juni 2018 bis zur Verkündung des eben genannten Urteils ausgesetzt sei.

14      TC beantragte, seine Haft ab dem 4. Juli 2018, dem Tag, an dem 90 Tage seit seiner Festnahme verstrichen waren, auszusetzen.

15      Das vorlegende Gericht führt aus, dass es nach Art. 22 Abs. 4 OLW die Übergabehaft einer gesuchten Person eigentlich auszusetzen habe, sobald die Frist von 90 Tagen für den Erlass einer endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelaufen sei. Der niederländische Gesetzgeber sei nämlich beim Erlass dieser Bestimmung von der Prämisse ausgegangen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 zu einer solchen Aussetzung verpflichte.

16      Aus dem Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474), gehe jedoch hervor, dass diese Annahme nicht zutreffe. Sie berücksichtige nicht hinreichend diejenigen Pflichten, die einem mit einem Antrag auf Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls befassten Gericht nach den Bestimmungen des Primärrechts der Union oblägen. Dazu zähle insbesondere die Verpflichtung, als letztinstanzliches Gericht in dieser Art von Rechtssachen den Gerichtshof mit einer Vorabentscheidungsfrage zu befassen, wenn die Antwort auf diese Frage für seine Entscheidung erforderlich sei, und die Verpflichtung, die Übergabeentscheidung aufzuschieben, wenn für die gesuchte Person im Ausstellungsmitgliedstaat eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne des Urteils vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), bestehe.

17      Daher habe das vorlegende Gericht eine Rechtsprechung entwickelt, die es ihm ermögliche, Art. 22 Abs. 4 OLW sowohl im Einklang mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 als auch mit der OLW auszulegen, in dem Sinne, dass es die Entscheidung über die Übergabe in den in der vorstehenden Randnummer genannten Fällen aussetze. Diese Auslegung lasse Art. 22 Abs. 4 OLW nicht unangewendet, weil die für die Entscheidung über die Übergabe gesetzte Frist ausgesetzt sei.

18      Diese Auslegung lasse die Möglichkeit unberührt, die Aussetzung der Übergabehaft anzuordnen, wovon das vorlegende Gericht im Allgemeinen Gebrauch mache, insbesondere dann, wenn die Fluchtgefahr durch die Erteilung von Auflagen auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden könne. Im vorliegenden Fall bestehe jedoch eine sehr ernsthafte Fluchtgefahr, die nicht auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden könne.

19      Der Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam, Niederlande) habe jedoch bereits entschieden, dass die in Rn. 17 des vorliegenden Urteils angesprochene Auslegung von Art. 22 Abs. 4 OLW unzutreffend sei; dabei habe er auch ausgeführt, dass die strikte Anwendung dieser Bestimmung des nationalen Rechts die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen könne. Der Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) habe daher eine abstrakte Abwägung durchgeführt zwischen dem Belang der Unionsrechtsordnung im Zusammenhang mit den Verpflichtungen, den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen zu befassen und dessen Antwort abzuwarten, oder der Verpflichtung, die Übergabeentscheidung aufzuschieben, wenn für die gesuchte Person im Ausstellungsmitgliedstaat eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bestehe, und dem Belang der Sicherstellung der Wahrung des nationalen Rechts sowie der Rechtssicherheit. Das Ergebnis dieser Interessenabwägung führe dazu, dass die Frist für die Entscheidung über die Übergabe ab dem Zeitpunkt als ausgesetzt anzusehen sei, zu dem die Rechtbank (Bezirksgericht) beschließe, dem Gerichtshof Vorabentscheidungsfragen vorzulegen, oder ab dem Zeitpunkt, zu dem sie die Übergabeentscheidung aufgeschoben habe, es sei denn, die Aufrechterhaltung der Übergabehaft stehe im Widerspruch zu Art. 6 der Charta.

20      Gleichwohl habe das vorlegende Gericht im Folgenden an seiner Auslegung von Art. 22 Abs. 4 OLW, die seines Erachtens mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 in Einklang steht, festgehalten. Diese Auslegung habe bislang noch nicht zu einem anderen Ergebnis geführt als die vom Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) durchgeführte abstrakte Abwägung.

21      Im vorliegenden Fall mache TC u. a. geltend, dass diese Auslegung von Art. 22 Abs. 4 OLW gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoße, so dass die Aufrechterhaltung seiner Übergabehaft Art. 5 der der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und Art. 6 der Charta verletze. Zur Stützung dieser Auffassung habe TC ausgeführt, dass in einem früheren ähnlichen Verfahren die gesuchte Person eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen das Königreich der Niederlande wegen der Verletzung von Art. 5 EMRK eingereicht habe (Rechtssache Cernea/Niederlande, Beschwerde Nr. 62318/16) und dass die Niederlande in dieser Rechtssache einseitig erklärt hätten, dass Art. 5 EMRK verletzt sei. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stehe jedoch noch aus.

22      Insoweit geht nach Ansicht des vorlegenden Gerichts aus Rn. 32 des Urteils vom 29. Juni 2017, Popławski (C‑579/15, EU:C:2017:503), hervor, dass die Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung des nationalen Rechts u. a. durch den Grundsatz der Rechtssicherheit begrenzt werde. Darüber hinaus müsse die Übergabehaft mit Art. 6 der Charta im Einklang stehen.

23      Das vorlegende Gericht stellt sich daher die Frage, ob die Aufrechterhaltung der Übergabehaft in einem Fall wie dem von TC gegen Art. 6 der Charta, insbesondere gegen den durch diese Vorschrift gewährleisteten Grundsatz der Rechtssicherheit, verstößt.

24      In diesem Zusammenhang führt das vorlegende Gericht aus, dass seine Rechtsprechung zur Aussetzung der Entscheidungsfrist für zwei Konstellationen gelte, dass sie klar und kohärent sei sowie veröffentlicht worden sei. Gleiches gelte für die Rechtsprechung des Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam). Daher habe TC – gegebenenfalls nach Rücksprache mit seiner Rechtsanwältin – vorhersehen können, dass sich seine Übergabehaft über die Frist von 90 Tagen nach seiner Festnahme hinaus verlängern könnte.

25      Sollte der Gerichtshof befinden, dass die Übergabehaft in einem Fall wie dem von TC gegen Art. 6 der Charta verstoße, stellt sich das vorlegende Gericht weiter die Frage, ob es Art. 22 Abs. 4 OLW unangewendet lassen müsse, weil die Anwendung dieser Bestimmung zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde und eine unionsrechtskonforme Auslegung dieser Bestimmung daher nicht möglich sei, und ob eine solche Vorgehensweise nicht selbst gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoße.

26      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht in einem Fall, in dem

–        der Vollstreckungsmitgliedstaat Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2002/584 so umgesetzt hat, dass die Übergabehaft der gesuchten Person stets ausgesetzt werden muss, sobald die Frist von 90 Tagen für den Erlass der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelaufen ist, und

–        die Gerichte dieses Mitgliedstaats das nationale Recht so ausgelegt haben, dass die Entscheidungsfrist ausgesetzt wird, sobald die vollstreckende Justizbehörde beschlossen hat, dem Gerichtshof der Europäischen Union eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen oder die Beantwortung einer von einer anderen vollstreckenden Justizbehörde zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage abzuwarten bzw. die Übergabeentscheidung wegen des Bestehens einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat aufzuschieben,

die Aufrechterhaltung der Übergabehaft einer gesuchten Person, bei der Fluchtgefahr vorliegt, im Widerspruch zu Art. 6 der Charta, sobald die Übergabehaft mehr als 90 Tage nach der Festnahme der gesuchten Person dauert?

 Zum Eilverfahren

27      Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

28      Es hat diesen Antrag darauf gestützt, dass TC allein auf der Grundlage des vom Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland im Hinblick auf seine Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehls in den Niederlanden inhaftiert sei. Das vorlegende Gericht vertritt die Auffassung, dass es nicht über den Antrag auf Aussetzung der Haft von TC entscheiden könne, bevor der Gerichtshof nicht über sein Vorabentscheidungsersuchen befunden habe. Daher wirke sich die Frist, innerhalb deren die Antwort des Gerichtshofs ergehe, unmittelbar und entscheidend auf die Dauer der Inhaftierung von TC aus.

29      Insoweit ist erstens festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 betrifft, der zu den von Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags erfassten Bereichen gehört. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.

30      Zweitens ist hinsichtlich des Kriteriums der Dringlichkeit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Umstand zu berücksichtigen, dass dem Betroffenen seine Freiheit entzogen war und dass seine weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt. Ferner ist bei der Beurteilung der Situation des Betroffenen auf den Zeitpunkt der Prüfung des Antrags abzustellen, die Vorlage zur Vorabentscheidung dem Eilverfahren zu unterwerfen (Urteil vom 19. September 2018, RO, C‑327/18 PPU, EU:C:2018:733, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Im vorliegenden Fall war unstreitig, dass sich TC zu diesem Zeitpunkt in Haft befand und dass deren Fortdauer von der Entscheidung abhing, die über seinen Antrag auf Aussetzung der Haft ergehen sollte und im Hinblick auf den die Aussetzung des Verfahrens bis zur Antwort des Gerichtshofs insbesondere in diesem Verfahren beschlossen worden war.

32      Unter diesen Umständen hat die Erste Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts am 9. August 2018 entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

33      Drittens hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof am 9. Oktober 2018 davon in Kenntnis gesetzt, dass es am Vortag die Aussetzung der Haft von TC unter Auflagen ab dem 8. Oktober 2018 bis zur Verkündung der Entscheidung über seine Übergabe an das Vereinigte Königreich angeordnet habe. Nach den Berechnungen dieses Gerichts sei nämlich die Entscheidungsfrist von 90 Tagen unter Berücksichtigung des Zeitraums, während dessen diese Frist ausgesetzt gewesen sei, am 8. Oktober 2018 abgelaufen.

34      Nachdem das Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft, Niederlande) gegen die Entscheidung des vorlegenden Gerichts vom 8. Oktober 2018 Berufung eingelegt hatte, hat außerdem der Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) den Gerichtshof am 12. November 2018 darüber informiert, dass er dieses Verfahren bis zum vorliegenden Urteil ausgesetzt habe.

35      Unter diesen Umständen hat die Erste Kammer des Gerichtshofs entschieden, dass die Dringlichkeit in dieser Rechtssache seit dem 8. Oktober 2018 nicht mehr bestand und dass sie in der Folge nicht mehr als Eilvorabentscheidungsverfahren zu behandeln ist.

 Zur Vorlagefrage

36      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Vorlagefrage auf den folgenden Prämissen beruht: Erstens kann ein Übergabeverfahren wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende insbesondere in einem der Fälle, die Gegenstand der Vorlagefrage sind, länger als 90 Tage dauern, zweitens ist die durch Art. 22 Abs. 4 OLW auferlegte Verpflichtung, die Haft der gesuchten Person in jedem Fall auszusetzen, sobald eine Frist von 90 Tagen seit ihrer Festnahme abgelaufen ist, nicht mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 vereinbar, drittens zielen sowohl die Auslegung dieser nationalen Bestimmung durch das vorlegende Gericht also auch die Rechtsprechung des Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) darauf ab, den nationalen Rechtsrahmen mit dem Rahmenbeschluss in Einklang zu bringen, und viertens haben diese Auslegungen trotz ihrer unterschiedlichen Rechtsgrundlagen bislang nicht zu abweichenden Entscheidungen geführt. Darüber hinaus stellt sich das vorlegende Gericht, worauf in Rn. 25 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, die Frage, ob es die genannte nationale Bestimmung gegebenenfalls unangewendet lassen muss.

37      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Aus diesem Blickwinkel obliegt es dem Gerichtshof gegebenenfalls, die ihm gestellten Fragen umzuformulieren. Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof nicht daran, diesem Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, C‑74/16, EU:C:2017:496, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Da im vorliegenden Fall das vorlegende Gericht am 8. Oktober 2018 entschieden hat, die Haft von TC auszusetzen, und diese Entscheidung vom Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) nicht abgeändert worden ist, braucht auf die in der Begründung der Vorlageentscheidung aufgeworfene Frage zur eventuellen Nichtanwendung von Art. 22 Abs. 4 OLW nicht eingegangen zu werden. Um dem vorlegenden Gericht Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, ist aber die Vorlagefrage umzuformulieren und diese unter Berücksichtigung der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils dargelegten Prämissen zu beantworten.

39      Folglich ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage zum einen wissen möchte, ob der Rahmenbeschluss 2002/584 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die eine allgemeine und unbedingte Verpflichtung zur Freilassung einer gesuchten und aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommenen Person vorsieht, sobald eine Frist von 90 Tagen seit ihrer Festnahme abgelaufen ist, wenn eine sehr ernsthafte Fluchtgefahr dieser Person besteht, die nicht durch geeignete Maßnahmen auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden kann. Ferner ist davon auszugehen, dass dieses Gericht zum anderen wissen möchte, ob Art. 6 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Inhafthaltung einer gesuchten Person über die Frist von 90 Tagen hinaus zulässig ist und die auf einer Auslegung dieser nationalen Bestimmung beruht, nach der diese Frist ausgesetzt wird, wenn die vollstreckende Justizbehörde entweder beschließt, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen oder die Beantwortung einer von einer anderen vollstreckenden Justizbehörde zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage abzuwarten bzw. die Übergabeentscheidung wegen des möglichen Bestehens einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat aufzuschieben.

40      Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass mit dem Rahmenbeschluss 2002/584, wie sich insbesondere aus dessen Art. 1 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit seinen Erwägungsgründen 5 und 7 ergibt, das auf dem am 13. Dezember 1957 in Paris unterzeichneten Europäischen Auslieferungsübereinkommen beruhende multilaterale Auslieferungssystem durch ein auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhendes System der Übergabe verurteilter oder verdächtiger Personen zwischen Justizbehörden zur Vollstreckung von Urteilen oder zur Strafverfolgung ersetzt werden soll (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Der Rahmenbeschluss 2002/584 ist daher darauf gerichtet, durch die Einführung eines neuen vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Dieses Ziel, die justizielle Zusammenarbeit zu beschleunigen, liegt insbesondere den Fristen für den Erlass von Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl zugrunde. Dabei sind die Art. 15 und 17 des Rahmenbeschlusses 2002/584, wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, dahin auszulegen, dass die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls grundsätzlich innerhalb dieser Fristen erfolgen muss, deren Bedeutung im Übrigen in mehreren Bestimmungen des Rahmenbeschlusses zum Ausdruck kommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 29 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Die Beurteilung der vollstreckenden Justizbehörde, die über die Übergabe der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, zu entscheiden hat, ob eine echte Gefahr besteht, dass diese Person im Fall ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta erfährt oder dass sie eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet und damit der Wesensgehalt ihres in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird, nach Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 83 und 88 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justzisystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 59 und 60 sowie die dort angeführte Rechtsprechung) kann, wie das vorlegende Gericht zutreffend ausführt, dazu führen, dass die Dauer des Übergabeverfahrens eine Frist von 90 Tagen übersteigt. Gleiches dürfte für die zusätzliche Frist im Zusammenhang mit der Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs in Beantwortung einer von der vollstreckenden Justizbehörde nach Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage gelten.

44      Zweitens entscheidet nach Art. 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die vollstreckende Justizbehörde, ob eine aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommene Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist. Weiter heißt es darin, dass eine vorläufige Haftentlassung nach Maßgabe der Rechtsvorschriften dieses Staates jederzeit möglich ist, sofern die zuständige Behörde dieses Staates die ihres Erachtens erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht dieser Person trifft.

45      Hingegen sieht dieser Artikel nicht allgemein vor, dass die Inhafthaltung der gesuchten Person nur innerhalb ganz bestimmter zeitlicher Grenzen möglich ist, und insbesondere nicht, dass sie nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen ausgeschlossen ist (Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 44).

46      Desgleichen ist zwar nach Art. 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 unter bestimmten Bedingungen eine vorläufige Haftentlassung der aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommenen Person möglich, doch sieht weder er noch eine andere Bestimmung dieses Rahmenbeschlusses vor, dass die vollstreckende Justizbehörde nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen zu einer solchen bedingten oder gar uneingeschränkten Haftentlassung dieser Person verpflichtet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 45 und 46).

47      Da das Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auch nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2002/584 festgelegten Fristen fortgesetzt werden muss, könnte nämlich eine allgemeine und unbedingte Verpflichtung zur vorläufigen oder gar uneingeschränkten Haftentlassung der gesuchten Person nach Ablauf dieser Fristen oder bei einer sie überschreitenden Gesamthaftdauer dieser Person die Wirksamkeit des durch den Rahmenbeschluss geschaffenen Systems der Übergabe beeinträchtigen und damit die Verwirklichung der mit ihm verfolgten Ziele behindern (Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 50).

48      Entscheidet die vollstreckende Justizbehörde, die Inhaftierung der gesuchten Person zu beenden, muss sie daher nach Art. 12 und Art. 17 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses die vorläufige Freilassung dieser Person mit den ihres Erachtens zur Verhinderung einer Flucht erforderlichen Maßnahmen verbinden und sicherstellen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person, solange noch keine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ergangen ist, weiterhin gegeben sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 61).

49      Folglich könnte die vorläufige Haftentlassung der gesuchten Person, wenn – wie hier vom vorlegenden Gericht ausgeführt wird – eine sehr ernsthafte Fluchtgefahr besteht, die nicht durch geeignete Maßnahmen auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden kann, die sicherzustellen vermögen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe dieser Person weiterhin gegeben sind, die Wirksamkeit des durch den Rahmenbeschluss 2002/584 geschaffenen Systems der Übergabe beeinträchtigen und damit die Verwirklichung der mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziele behindern, weil nicht mehr sichergestellt wäre, dass diese materiellen Voraussetzungen weiterhin gegeben sind.

50      Hieraus ergibt sich, dass die Verpflichtung nach Art. 22 Abs. 4 OLW, die Übergabehaft der gesuchten Person in jedem Fall auszusetzen, sobald eine Frist von 90 Tagen seit ihrer Festnahme abgelaufen ist, mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 nicht vereinbar ist, wie im Übrigen das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausgeführt hat.

51      Drittens ist zunächst festzustellen, dass die vom vorlegenden Gericht vorgenommene Auslegung der genannten nationalen Bestimmung diese Unvereinbarkeit offenbar nicht in allen Fällen heilen kann, da, wie sich aus Rn. 33 des vorliegenden Urteils ergibt, dieses Gericht im vorliegenden Fall trotz des von ihm in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausdrücklich angesprochenen Umstands, dass bei TC eine sehr ernsthafte Fluchtgefahr besteht, die nicht durch geeignete Maßnahmen auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden kann, die sicherzustellen vermögen, dass die materiellen Voraussetzungen für seine tatsächliche Übergabe weiterhin gegeben sind, die Aussetzung seiner Haft unter Auflagen ab dem 8. Oktober 2018 angeordnet hat. Grund hierfür war, dass nach den Berechnungen dieses Gerichts die Entscheidungsfrist von 90 Tagen unter Berücksichtigung des Zeitraums, während dessen diese Frist ausgesetzt war, am 8. Oktober 2018 abgelaufen war.

52      Sodann kann die Rechtsprechung des Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) zwar ebenfalls zur vorläufigen Haftentlassung einer gesuchten Person führen, obwohl eine sehr ernsthafte Fluchtgefahr besteht, die nicht durch geeignete Maßnahmen auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden kann, die sicherzustellen vermögen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben sind, jedoch erlaubt sie es auch nicht, Art. 22 Abs. 4 OLW so auszulegen, dass er mit den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 vereinbar wäre.

53      Schließlich ist zu unterstreichen, dass eine Aussetzung der Frist, gleich welcher Art, für die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls jedenfalls nur zulässig sein kann, wenn die der vollstreckenden Justizbehörde insbesondere durch Art. 17 Abs. 4 und 7 des Rahmenbeschlusses auferlegten Informationspflichten eingehalten werden.

54      Viertens sieht Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ausdrücklich vor, dass dieser nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu achten, wie sie in Art. 6 EU niedergelegt sind und in der Charta zum Ausdruck kommen. Diese Pflicht gilt zudem für alle Mitgliedstaaten und insbesondere sowohl für den Ausstellungsmitgliedstaat als auch für den Vollstreckungsmitgliedstaat (Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Art. 12 des Rahmenbeschlusses muss daher im Einklang mit Art. 6 der Charta ausgelegt werden, wonach jeder Mensch das Recht auf Freiheit und Sicherheit hat (Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 54).

56      Insoweit lässt Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen der Ausübung dieses Rechts zu, sofern die Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt der betreffenden Rechte und Freiheiten achten und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (Urteile vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 37).

57      Mit Art. 52 Abs. 3 der Charta soll jedoch, da die in der Charta enthaltenen Rechte den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK geschaffen werden, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird. Bei der Auslegung von Art. 6 der Charta ist somit Art. 5 Abs. 1 EMRK als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 37, und vom 14. September 2017, K., C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58      In diesem Zusammenhang geht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 5 EMRK hervor, dass der Umstand, dass jede Freiheitsentziehung rechtmäßig sein muss, nicht nur voraussetzt, dass sie eine Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Recht haben muss, sondern auch, dass sie hinreichend zugänglich, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbar ist, um jede Gefahr von Willkür zu vermeiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59      Ferner ist im Einklang mit der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorzuheben, dass das Ziel der Freiheitsgarantien, wie sie sowohl in Art. 6 der Charta als auch in Art. 5 EMRK verbürgt sind, insbesondere darin besteht, den Einzelnen vor Willkür zu schützen. Die Vereinbarkeit der Durchführung einer freiheitsentziehenden Maßnahme mit diesem Ziel setzt daher u. a. voraus, dass sie frei von Elementen bösen Glaubens oder der Täuschung seitens der Behörden ist (Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Daraus folgt, dass bei der Inhafthaltung einer gesuchten Person über eine Frist von 90 Tagen hinaus, die einen schwerwiegenden Eingriff in deren Recht auf Freiheit darstellt, strenge Garantien einzuhalten sind, nämlich das Bestehen einer sie rechtfertigenden Rechtsgrundlage, wobei diese, wie sich aus Rn. 58 des vorliegenden Urteils ergibt, die Anforderungen der Klarheit, Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit zu erfüllen hat, um jede Gefahr von Willkür zu vermeiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die OLW in der niederländischen Rechtsordnung die Rechtsgrundlage für die Haft im Sinne von Art. 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 darstellt, dass das nationale Recht, das Unionsrecht und die Rechtsprechung in diesem Bereich frei zugänglich sind und dass keinerlei Hinweis für die Annahme vorliegt, dass das nationale Recht willkürlich angewandt wird. Daher ist lediglich zu prüfen, ob dieses nationale Recht die Merkmale der Klarheit und der Vorhersehbarkeit aufweist, die für die Regeln über die Haftdauer einer Person wie TC in den Niederlanden bis zu ihrer Übergabe im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls erforderlich sind.

62      In diesem Zusammenhang ist zunächst festzustellen, dass nach Art. 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Fall der Festnahme einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls die vollstreckende Justizbehörde entscheidet, ob die gesuchte Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist, und dass eine vorläufige Haftentlassung dieser Person nur möglich ist, sofern die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats die ihres Erachtens erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung ihrer Flucht trifft.

63      Wie sich aus den Rn. 49 und 50 des vorliegenden Urteils ergibt, geht aus der in dessen Rn. 54 und 55 angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass bei Bestehen einer sehr ernsthaften Fluchtgefahr, die nicht durch geeignete Maßnahmen auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden kann, die sicherzustellen vermögen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der gesuchten Person weiterhin gegeben sind, wie hier das vorlegende Gericht ausführt, die – auch nur vorläufige – Haftentlassung dieser Person allein aufgrund des Umstands, dass eine Frist von 90 Tagen seit ihrer Festnahme abgelaufen ist, mit den Verpflichtungen aus dem Rahmenbeschluss 2002/584 nicht vereinbar ist.

64      Zudem hat der Gerichtshof in den Rn. 57 bis 59 des Urteils vom 16. Juli 2015, Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474), des Weiteren die Voraussetzungen genannt, die die Verlängerung der Inhaftierung der gesuchten Person über die in Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Fristen hinaus bis zu deren tatsächlichen Übergabe erfüllen muss.

65      Folglich stellt das Unionsrecht in seiner Auslegung durch das genannte Urteil des Gerichtshofs klare und vorhersehbare Regeln hinsichtlich der Dauer der Inhaftierung einer gesuchten Person auf.

66      Sodann ist unstreitig, dass auch Art. 22 Abs. 4 OLW eine klare und vorhersehbare Regelung aufstellt, da nach dieser Bestimmung die Haft der gesuchten Person eigentlich ipso facto allein durch den Ablauf einer Frist von 90 Tagen seit ihrer Festnahme ausgesetzt wird. In den Rn. 49 und 50 des vorliegenden Urteils ist jedoch festgestellt worden, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einem solchen System entgegensteht.

67      Insoweit hat nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der zwingende Charakter eines Rahmenbeschlusses für die nationalen Behörden, einschließlich der nationalen Gerichte, eine Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung des nationalen Rechts zur Folge. Die Gerichte müssen das nationale Recht bei seiner Anwendung daher so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des betreffenden Rahmenbeschlusses auslegen, um das darin festgelegte Ziel zu erreichen. Diese Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung des nationalen Rechts ist dem System des AEU-Vertrags immanent, da es den nationalen Gerichten dadurch ermöglicht wird, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn sie über die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden (Urteil vom 29. Juni 2017, Popławski, C‑579/15, EU:C:2017:503, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68      Der Grundsatz rahmenbeschlusskonformer Auslegung gebietet es insbesondere, dass die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des in Rede stehenden Rahmenbeschlusses zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das im Einklang mit dem mit ihm verfolgten Ziel steht (Urteil vom 29. Juni 2017, Popławski, C‑579/15, EU:C:2017:503, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69      Folglich war im vorliegenden Fall, und zwar seit einem weit vor der Einleitung des Ausgangsverfahrens liegenden Zeitpunkt, ebenfalls klar und vorhersehbar, dass das vorlegende Gericht und der Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) verpflichtet waren, alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu gewährleisten, indem sie Art. 22 Abs. 4 OLW und die darin vorgesehene Verpflichtung zur vorläufigen Haftentlassung im Einklang mit dem von diesem Rahmenbeschluss verfolgten Ziel auslegen.

70      In den Rn. 51 und 52 des vorliegenden Urteils ist jedoch festgestellt worden, dass die Auslegungen dieser nationalen Bestimmung, die vom vorlegenden Gericht und dem Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) zur Sicherstellung der Konformität mit dem Rahmenbeschluss vorgenommen werden, dessen Anforderungen nicht in vollem Umfang erfüllen. Insbesondere konnte die Auslegung des vorlegenden Gerichts im vorliegenden Fall nicht sicherstellen, dass Art. 22 Abs. 4 OLW mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 im Einklang steht.

71      Zu den vom vorlegenden Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen angeführten Umständen, wonach sowohl seine Auslegung von Art. 22 Abs. 4 OLW als auch die Rechtsprechung des Gerechtshof Amsterdem (Berufungsgericht Amsterdam) erstens klar und vorhersehbar seien, zweitens auf unterschiedlichen rechtlichen Überlegungen beruhten und drittens, auch wenn dieser Fall noch nicht eingetreten sei, zu abweichenden Entscheidungen führen könnten, sind schließlich die folgenden Überlegungen anzustellen.

72      Wie der Generalanwalt in Nr. 60 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann der Ablauf der Frist von 90 Tagen je nachdem, um welches Gericht es sich handelt, variieren und somit zu einer unterschiedlichen Dauer der Inhafthaltung führen, weil das vorlegende Gericht und der Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) insbesondere nicht auf den gleichen Anfangszeitpunkt für die Berechnung des Zeitraums der Aussetzung der Frist abstellen, innerhalb deren die Gerichte über die Übergabe der gesuchten Person entscheiden müssen.

73      Während nämlich, wie Rn. 13 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, das vorlegende Gericht hier die Frist von 90 Tagen mit Wirkung vom 14. Juni 2018 ausgesetzt hat, wäre nach dem Ansatz des Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) diese Aussetzung mit Wirkung vom 17. Mai 2018 erfolgt, da der Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) davon ausginge, dass eine solche Aussetzung der Frist ab dem Zeitpunkt zu erfolgen habe, zu dem der Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst wird, das für das Ausgangsverfahren von Bedeutung ist.

74      Darüber hinaus fügen sich diese unterschiedlichen Vorgehensweisen in einen rechtlichen Kontext ein, der durch eine mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 nicht vereinbare nationale Bestimmung gekennzeichnet ist. Denn diese kann zum einen dazu führen, dass eine gesuchte Person trotz des Bestehens von Fluchtgefahr, die nicht durch geeignete Maßnahmen auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden kann, die sicherzustellen vermögen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben sind, aus der Haft entlassen wird. Zum anderen erfüllen die unterschiedlichen Auslegungen dieser nationalen Bestimmung, die die nationalen Gerichte zur Sicherstellung des Einklangs mit dem Rahmenbeschluss vornehmen, dessen Anforderungen nicht in vollem Umfang.

75      Hieraus ergibt sich, dass in einer Rechtssache wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Personen wie TC, die in den Niederlanden im Hinblick auf ihre Übergabe festgenommen werden, mit nicht miteinander vereinbaren Bestimmungen des nationalen Rechts und des Unionsrechts, nämlich Art. 22 Abs. 4 OLW sowie Art. 12 und Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2002/584, sowie damit konfrontiert werden, dass es in der nationalen Rechtsprechung unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wie diese nationalrechtliche Bestimmung auszulegen ist, um sie mit dem Unionsrecht in Einklang zu bringen.

76      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass es die zwischen der Auslegung des vorlegenden Gerichts und der Rechtsprechung des Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) bestehende Abweichung nicht ermöglicht, die Dauer der Inhafthaltung einer im Rahmen eines gegen sie ausgestellten Europäischen Haftbefehls gesuchten Person in den Niederlanden mit der Klarheit und Vorhersehbarkeit zu bestimmen, die in der in den Rn. 59 und 60 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs gefordert wird.

77      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass

–        der Rahmenbeschluss 2002/584 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die eine allgemeine und unbedingte Verpflichtung zur Freilassung einer gesuchten und aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommenen Person vorsieht, sobald eine Frist von 90 Tagen seit ihrer Festnahme abgelaufen ist, wenn eine sehr ernsthafte Fluchtgefahr dieser Person besteht, die nicht durch geeignete Maßnahmen auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden kann, und dass

–        Art. 6 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Inhafthaltung einer gesuchten Person über die Frist von 90 Tagen hinaus zulässig ist und die auf einer Auslegung dieser nationalen Bestimmung beruht, nach der diese Frist ausgesetzt wird, wenn die vollstreckende Justizbehörde entweder beschließt, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen oder die Beantwortung einer von einer anderen vollstreckenden Justizbehörde zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage abzuwarten bzw. die Übergabeentscheidung wegen des möglichen Bestehens einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat aufzuschieben, wenn diese Rechtsprechung nicht sicherstellt, dass die nationale Bestimmung mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 in Einklang steht, und Abweichungen aufweist, die zu einer unterschiedlichen Dauer der Inhafthaltung führen können.

 Kosten

78      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die eine allgemeine und unbedingte Verpflichtung zur Freilassung einer gesuchten und aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommenen Person vorsieht, sobald eine Frist von 90 Tagen seit ihrer Festnahme abgelaufen ist, wenn eine sehr ernsthafte Fluchtgefahr dieser Person besteht, die nicht durch geeignete Maßnahmen auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden kann.

Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach die Inhafthaltung einer gesuchten Person über die Frist von 90 Tagen hinaus zulässig ist und die auf einer Auslegung dieser nationalen Bestimmung beruht, nach der diese Frist ausgesetzt wird, wenn die vollstreckende Justizbehörde entweder beschließt, dem Gerichtshof der Europäischen Union eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen oder die Beantwortung einer von einer anderen vollstreckenden Justizbehörde zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage abzuwarten bzw. die Übergabeentscheidung wegen des möglichen Bestehens einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat aufzuschieben, wenn diese Rechtsprechung nicht sicherstellt, dass die nationale Bestimmung mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 in Einklang steht, und Abweichungen aufweist, die zu einer unterschiedlichen Dauer der Inhafthaltung führen können.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.