Language of document : ECLI:EU:C:2019:44

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 22. Januar 2019(1)

Rechtssache C694/17

Pillar Securitisation Sàrl

gegen

Hildur Arnadottir

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Kassationsgerichtshof, Luxemburg])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Lugano‑II‑Übereinkommen – Richtlinie 2008/48/EG – Kreditvertrag – Begriffe ,Verbraucher‘ und ,Zweck, der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugeordnet werden kann‘“






I.      Einleitung

1.        Beim vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen geht es um das Zusammenspiel zwischen den Definitionen des Begriffs „Verbraucher“ in zwei verschiedenen Rechtsakten, die in die Auslegungszuständigkeit des Gerichtshofs fallen.

2.        Genauer gesagt möchte die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Luxemburg) vom Gerichtshof wissen, ob eine Person, die einen Darlehensvertrag abgeschlossen hat, der nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2008/48/EG(2) nicht unter diese Richtlinie fällt, weil der Gesamtbetrag des auf der Grundlage dieses Vertrags gewährten Kredits über 75 000 Euro liegt, automatisch nicht als Verbraucher im Sinne von Art. 15 des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen(3) anzusehen ist.

3.        Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Begriff, der in der Richtlinie 2008/48 verankert ist, die bestimmte materiell-rechtliche Bestimmungen über Verbraucherkreditverträge harmonisiert, einen entscheidenden Einfluss auf die Auslegung einer Zuständigkeitsvorschrift hat, die der Gesetzgeber erlassen hat, um Verbraucher bei ihren grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten mit Gewerbetreibenden zu schützen. Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof die Gelegenheit, seine jüngst ergangene Rechtsprechung in den Urteilen Vapenik(4) und Kainz(5) weiterzuentwickeln, bei der es um die Suche nach einer Kohärenz zwischen den Begriffen des internationalen Privatrechts innerhalb des Rechtssystems der Union geht.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Das LuganoII-Übereinkommen

4.        Art. 15 Abs. 1 des Lugano‑II-Übereinkommens, der sich in Titel II („Zuständigkeit“) Abschnitt 4 („Zuständigkeit bei Verbrauchersachen“) befindet, bestimmt:

„Bilden ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag, den eine Person, der Verbraucher, zu einem Zweck geschlossen hat, der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person zugerechnet werden kann, den Gegenstand des Verfahrens, so bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 4 und des Artikels 5 Nummer 5 nach diesem Abschnitt,

a)      wenn es sich um den Kauf beweglicher Sachen auf Teilzahlung handelt,

b)      wenn es sich um ein in Raten zurückzuzahlendes Darlehen oder ein anderes Kreditgeschäft handelt, das zur Finanzierung eines Kaufs derartiger Sachen bestimmt ist, oder

c)      in allen anderen Fällen, wenn der andere Vertragspartner in dem durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausübt oder eine solche auf irgendeinem Wege auf diesen Staat oder auf mehrere Staaten, einschließlich dieses Staates, ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt.“

5.        Art. 16 Abs. 2 dieses Übereinkommens sieht vor:

„Die Klage des anderen Vertragspartners gegen den Verbraucher kann nur vor den Gerichten des durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates erhoben werden, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat.“

6.        Art. 23 des Lugano‑II-Übereinkommens erlaubt es den Parteien, die Zuständigkeit für die Entscheidung über eine bereits entstandene Rechtsstreitigkeit oder über eine künftige aus einem bestimmten Rechtsverhältnis entspringende Rechtsstreitigkeit einem Gericht oder Gerichten eines durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates mittels Vereinbarung zu übertragen. In Bezug auf Verbrauchersachen, die in Abschnitt 4 dieses Übereinkommens geregelt sind, bestimmt jedoch sein Art. 17:

„Von den Vorschriften dieses Abschnitts kann im Wege der Vereinbarung nur abgewichen werden:

1.      wenn die Vereinbarung nach der Entstehung der Streitigkeit getroffen wird … oder

2.      wenn sie dem Verbraucher die Befugnis einräumt, andere als die in diesem Abschnitt angeführten Gerichte anzurufen, oder

3.      wenn sie zwischen einem Verbraucher und seinem Vertragspartner, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in demselben durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat haben, getroffen ist und die Zuständigkeit der Gerichte dieses Staates begründet, es sei denn, dass eine solche Vereinbarung nach dem Recht dieses Staates nicht zulässig ist.“

B.      Richtlinie 2008/48

7.        Der zehnte Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/48 bestimmt:

„Mit den Begriffsbestimmungen dieser Richtlinie wird der Bereich der Harmonisierung festgelegt. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Bestimmungen dieser Richtlinie sollte sich daher nur auf den durch diese Begriffsbestimmungen festgelegten Bereich erstrecken. Diese Richtlinie sollte die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran hindern, nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts die Bestimmungen dieser Richtlinie auch auf Bereiche anzuwenden, die nicht in deren Geltungsbereich fallen. So könnte ein Mitgliedstaat für Kreditverträge, die nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen, innerstaatliche Vorschriften beibehalten oder einführen, die den Bestimmungen dieser Richtlinie oder manchen ihrer Bestimmungen außerhalb des Geltungsbereichs dieser Richtlinie ganz oder zum Teil entsprechen, beispielsweise für Kreditverträge über einen Betrag von weniger als 200 [Euro] oder von mehr als 75 000 [Euro]. …“

8.        Art. 2 („Geltungsbereich“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für Kreditverträge.

(2)      Diese Richtlinie gilt nicht für:

c)      Kreditverträge, bei denen der Gesamtkreditbetrag weniger als 200 [Euro] oder mehr als 75 000 [Euro] beträgt;

…“

9.        Art. 3 Buchst. a der Richtlinie 2008/48 definiert den Begriff „Verbraucher“ als „eine natürliche Person, die bei den von dieser Richtlinie erfassten Geschäften zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann“.

III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits

10.      Die Kassationsbeschwerdegegnerin, Frau Hildur Arnadottir, wohnhaft in Island, nahm im März 2005 ein Darlehen über einen Betrag von mehr als 1 Mio. Euro bei der Gesellschaft Kaupthing Bank Luxemburg auf. Mit diesem Darlehen wollte die Kassationsbeschwerdegegnerin Aktien der isländischen Gesellschaft Bakkavör Group hf, kaufen, deren Geschäftsleitung sie angehörte. Dieses Darlehen war mit einer Einmalzahlung bis spätestens 1. März 2010 zurückzuzahlen.

11.      Die Kreditzahlung wurde durch eine Bürgschaft der Bakkavör Group besichert, die von der Kassationsbeschwerdegegnerin und einem weiteren Mitglied der Geschäftsleitung dieser Gesellschaft unterzeichnet wurde.

12.      Die Kaupthing Bank Luxemburg wurde in der Folge in zwei Unternehmen aufgespalten. Eine davon, die Kassationsbeschwerdeführerin, die Gesellschaft Pillar Securitisation Sàrl, klagte die Rückzahlung des von der Kassationsbeschwerdegegnerin aufgenommenen Darlehens vor den luxemburgischen Gerichten ein und stützte sich dabei auf die Klausel des Darlehensvertrags, mit der diesen die Zuständigkeit zugewiesen wurde.

13.      In erster Instanz erklärte sich das Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg, Luxemburg) für die Entscheidung über diesen Rechtsstreit mit der Begründung für unzuständig, dass die Kassationsbeschwerdegegnerin als Verbraucherin im Sinne von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens anzusehen sei. Folglich sei die Klausel, mit der den luxemburgischen Gerichten die Zuständigkeit zugewiesen werde, nicht anzuwenden, weil sie nicht den Ausnahmebestimmungen des Art. 17 des Lugano‑II-Übereinkommens entspreche.

14.      In zweiter Instanz bestätigte die Cour d’appel (Berufungsgericht, Luxemburg) die Unzuständigkeit der luxemburgischen Gerichte für die Klage.

15.      Die Kassationsbeschwerdeführerin legte Kassationsbeschwerde ein, in der sie drei verschiedene Kassationsbeschwerdegründe geltend machte.

16.      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich zum einen, dass das vorlegende Gericht den ersten Kassationsbeschwerdegrund als unbegründet erachtet, und zum anderen, dass dieses Gericht über den zweiten und den dritten Kassationsbeschwerdegrund noch nicht endgültig entschieden hat.

17.      Mit ihrem zweiten Kassationsbeschwerdegrund, mit dem eine Verletzung von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens gerügt wird, wirft die Kassationsbeschwerdeführerin der Cour d’appel (Berufungsgericht) vor, festgestellt zu haben, dass die von der Kassationsbeschwerdegegnerin dank des Darlehensvertrags getätigte Investition nicht beruflichen oder gewerblichen Zwecken gedient habe.

18.      Mit ihrem dritten Kassationsbeschwerdegrund, mit dem auch ein Verstoß gegen eben diese Vorschrift gerügt wird, wirft die Kassationsbeschwerdeführerin der Cour d’appel (Berufungsgericht) vor, die Tatsache nicht berücksichtigt zu haben, dass der von der Kassationsbeschwerdegegnerin abgeschlossene Darlehensvertrag nicht unter die Richtlinie 2008/48 falle, die Kreditverträge, bei denen der Gesamtkreditbetrag mehr als 75 000 Euro betrage, von ihrem Geltungsbereich ausschließe. Nach Ansicht der Kassationsbeschwerdeführerin kann daher ein Darlehensvertrag, bei dem der Gesamtbetrag mehr als 75 000 Euro beträgt, nicht als Verbrauchervertrag für die Zwecke der Anwendung dieser Vorschrift angesehen werden, selbst wenn der Begriff „Verbraucher“ im Sinne von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens ein autonomer Begriff sei.

19.      In Anbetracht dieser Beschwerdegründe möchte die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) wissen, ob sich der Geltungsbereich der Richtlinie 2008/48 auf die Definition des Begriffs „Verbraucher“ im Sinne von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens auswirkt.

IV.    Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof

20.      Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation du Luxembourg (Kassationsgerichtshof Luxemburg) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Kann eine Person im Rahmen eines Kreditvertrags, der aufgrund des Gesamtkreditbetrags nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/48 fällt, als Verbraucher im Sinne von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens angesehen werden, weil der Vertrag für einen Zweck geschlossen wurde, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann, wenn es keine nationale Vorschrift gibt, nach der die Bestimmungen der Richtlinie auf Bereiche angewendet werden, die nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen?

21.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 11. Dezember 2017 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

22.      Die Parteien des Ausgangsverfahrens, die luxemburgische, die portugiesische und die Schweizer Regierung sowie die Europäische Kommission haben beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht.

V.      Würdigung

A.      Vorbemerkung

23.      Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Person, die einen Kreditvertrag für private Zwecke abgeschlossen hat, der aufgrund seines Gesamtbetrags nicht unter die Richtlinie 2008/48 fällt, dennoch als Verbraucher im Sinne von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens angesehen werden kann, wenn es keine nationale Vorschrift gibt, nach der die Bestimmungen der Richtlinie 2008/48 auf Bereiche angewendet werden, die nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen.

24.      In seinem Vorabentscheidungsersuchen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es den Gerichtshof aufgrund des zweiten und des dritten Kassationsbeschwerdegrundes der Kassationsbeschwerdeführerin um Auslegung von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens ersuche. Jedoch geht es beim zweiten Kassationsbeschwerdegrund nicht um die Kohärenz zwischen diesem Übereinkommen und der Richtlinie 2008/48. Es scheint, dass die Kassationsbeschwerdeführerin mit diesem Kassationsbeschwerdegrund bestreitet, dass die Kassationsbeschwerdegegnerin beim Abschluss des betreffenden Vertrags zu privaten Zwecken gehandelt habe.

25.      Im gleichen Sinne führt die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen aus, dass sie hinsichtlich dieser Beurteilung des vorlegenden Gerichts Zweifel hege. Ohne diese Sachverhaltswürdigung in Frage zu stellen, beschränkt sich die luxemburgische Regierung darauf, abstrakte Überlegungen über die Natur und den Zweck der von Verbrauchern abgeschlossenen Verträge anzustellen.

26.      Dies vorausgeschickt, scheint mir, dass der zweite Kassationsbeschwerdegrund und die Erklärungen der Kommission auf die Prämisse abzielen, auf die sich das vorlegende Gericht gestützt hat. Der Gerichtshof wird nicht mit der Frage befasst, ob mit Ausnahme des Gesamtbetrags des Kredits andere Tatsachen des Ausgangsverfahrens dafür sprechen, dass die Kassationsbeschwerdegegnerin nicht als Verbraucherin anzusehen ist.

27.      Jedenfalls enthält das Vorabentscheidungsersuchen keine Angaben, die es ermöglichen könnten, diese Frage von Amts wegen eingehend zu prüfen. Alle dem Gerichtshof zur Verfügung gestellten Angaben kommen von der Kassationsbeschwerdeführerin, die die Unzuständigkeit der luxemburgischen Gerichte für ihre Klage bestreitet. Daher werde ich unabhängig von den Zweifeln, die man insoweit hegen könnte, angesichts der Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten nicht die Frage prüfen, ob die Kassationsbeschwerdegegnerin beim Abschluss des Kreditvertrags für private Zwecke gehandelt hat. Folglich werde ich mich in den vorliegenden Schlussanträgen auf die Analyse der rechtlichen Problematik beschränken, die in der vom vorlegenden Gericht formulierten Vorlagefrage ihren Niederschlag findet.

B.      Vorbringen der Parteien

28.      Nur die Kassationsbeschwerdeführerin vertritt die Ansicht, dass Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens dem entgegenstehe, dass ein Kreditnehmer, der einen Kreditvertrag abgeschlossen habe, der aufgrund seines Betrags nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/48 falle, als Verbraucher gelte. Erstens macht die Kassationsbeschwerdeführerin unter Bezugnahme auf den erläuternden Bericht zum Lugano‑II-Übereinkommen von Professor Fausto Pocar(6) geltend, die Auslegung von Art. 15 dieses Übereinkommens müsse im Licht der Rechtsvorschriften der Union und vor allem der Richtlinie 2008/48 erfolgen(7). Zweitens ist die Kassationsbeschwerdeführerin im Wesentlichen der Ansicht, dass der Gesetzgeber, indem er Kreditverträge über einen Betrag von mehr als 75 000 Euro vom Geltungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen habe, davon ausgegangen sei, dass Personen, die diesen Betrag übersteigende Kreditverträge abschlössen, keines besonderen Schutzes bedürfen. Die Zuständigkeitsvorschriften wie Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens dürften nicht auf Personen ausgedehnt werden, für die dieser besondere Schutz nicht gerechtfertigt sei.

29.      Hingegen vertreten die Kassationsbeschwerdegegnerin, die portugiesische und die Schweizer Regierung sowie die Kommission die Ansicht, die Auslegung von Art.15 des Lugano‑II-Übereinkommens hänge nicht von der Richtlinie 2008/48 ab. Sie sind kurz gesagt der Meinung, dass der in dieser Vorschrift verwendete Begriff „Verbraucher“ autonom und daher unabhängig von dem in Art. 2 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2008/48 angeführten maximalen Gesamtkreditbetrag auszulegen sei.

C.      Analyse

30.      Die Vorlagefrage, wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert wurde, zielt auf den Begriff „Verbraucher“ im Sinne des Lugano‑II-Übereinkommens und der Richtlinie 2008/48 ab. Gleichwohl liegt in dieser Rechtssache das wahre Rechtsproblem nicht unmittelbar darin, wie man den Begriff „Verbraucher“ definiert, der im Lugano‑II-Übereinkommen und in der Richtlinie 2008/48 vorkommt, sondern wie man die in Art. 15 dieses Übereinkommens bzw. Art. 3 dieser Richtlinie enthaltenen Begriffe „Vertrag“ und „Geschäfte“ definiert.

31.      Im Rahmen dieser beiden Rechtsakte ist der Kern der Definition des Begriffs „Verbraucher“ weitgehend identisch.

32.      Nach Art. 3 Buchst. a der Richtlinie 2008/48 versteht man unter einem „Verbraucher“ eine natürliche Person, die bei den von dieser Richtlinie erfassten Geschäften „zu einem Zweck [handelt], der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann“.

33.      Ebenso ist der Verbraucher nach Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens eine Person, die einen Vertrag „zu einem Zweck geschlossen hat, der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person zugerechnet werden kann“.

34.      Somit liegt zumindest im Kontext der vorliegenden Rechtssache der wichtigste Unterschied zwischen der oben genannten Vorschrift der Richtlinie 2008/48 und jener des Lugano‑II-Übereinkommens darin, dass ein Verbraucher an einem „Vertrag, den [dieser] geschlossen hat“, einerseits und an „von [der Richtlinie 2008/48] erfassten Geschäften“ andererseits beteiligt ist.

35.      Wenngleich die Richtlinie 2008/48 den Begriff „Geschäft“ nicht definiert, so führt sie doch in ihrem Art. 2 („Geltungsbereich“) Abs. 2 die Verträge an, für die sie nicht gilt. Aus Art. 2 Abs. 2 Buchst. c dieser Richtlinie geht insbesondere hervor, dass sie für Kreditverträge, bei denen der Gesamtkreditbetrag weniger als 200 Euro oder mehr als 75 000 Euro beträgt, nicht gilt.

36.      Hingegen legt der zweite Teil von Art. 15 Abs. 1 des Lugano‑II-Übereinkommens fest, für welche mit einem Verbraucher im oben genannten Sinn geschlossene Verträge die Vorschriften von Titel II Abschnitt 4 dieses Übereinkommens gelten. Das Lugano‑II-Übereinkommen begrenzt den Geltungsbereich der Vorschriften dieses Abschnitts nicht auf Verträge, deren Betrag unter oder über einem bestimmten Wert liegt.

37.      Folglich möchte ich diesen Teil meiner Analyse mit der Feststellung abschließen, dass die Begriffe „Vertrag“ im Sinne von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens und „Geschäft“ im Sinne der Richtlinie 2008/48 voneinander unabhängig sind, wenn es um den Gesamtbetrag des einem Kreditnehmer gewährten Kredits geht. Im Übrigen bestimmt der Begriff „Geschäft“ im Sinne von Art. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2008/48 den Geltungsbereich dieser Richtlinie und ist nicht dazu bestimmt, außerhalb des Rahmens dieser Richtlinie angewendet zu werden. Folglich scheinen mir die im Lugano‑II-Übereinkommen und in der Richtlinie 2008/48 enthaltenen Definitionen des Begriffs „Verbraucher“, die einen Verbraucher unter Bezugnahme auf einen „Vertrag“ bzw. auf ein „Geschäft“ beschreiben, ebenfalls voneinander unabhängig zu sein, zumindest was den in Rede stehenden Gesamtbetrag des aufgrund eines Vertrags gewährten Kredits anbelangt.

38.      Ich werde nun unter Berücksichtigung der Parteienvorbringen die oben dargelegte Auslegung zuerst der Rechtsprechung des Gerichtshofs und dem dort geäußerten Gedanken der Kohärenz der Begriffe des Unionsrechts und sodann den Erklärungen des Pocar-Berichts zu Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens gegenüberstellen. Drittens werde ich schließlich unter Berücksichtigung der Formulierung der Vorlagefrage die möglichen Auswirkungen der gesetzgeberischen Umsetzung der Richtlinie 2008/48 in nationales Recht auf die Beantwortung dieser Frage prüfen.

1.      Kohärenz der Begriffe im Unionsrecht

39.      Mir ist das von bestimmten Parteien vorgetragene Argument bekannt, wonach der Gerichtshof im Urteil Vapenik(8) festgestellt hat, dass insbesondere der in anderen unionsrechtlichen Regelungen enthaltene Verbraucherbegriff zu berücksichtigen ist, um die Beachtung der vom Unionsgesetzgeber auf dem Gebiet der Verbraucherverträge verfolgten Ziele und die Kohärenz des Unionsrechts zu gewährleisten.

40.      Meines Erachtens ist es offensichtlich, dass die zentrale Botschaft dieser Passage der Urteils Vapenik(9) nicht nur die Auslegung des Begriffs „Verbraucher“, sondern alle Begriffe des Unionsrechts betrifft. Jedoch kann ich der Vorstellung, dass der Begriff „Vertrag“ im Sinne von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens im Licht des Begriffs „Geschäft“ im Sinne von Art. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2008/48 auszulegen sein sollte, nichts abgewinnen.

41.      Es trifft zu, dass das Lugano‑II-Übereinkommen nicht nur für die Mitgliedstaaten der Union verbindlich ist. Obwohl der räumliche Anwendungsbereich des Lugano‑II-Übereinkommens weiter ist als jener der Verordnung (EG) Nr. 44/2001(10) und ihrer Nachfolgerin, der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012(11), ist es für die Relevanz der zentralen Botschaft des Urteils Vapenik(12) im Kontext der vorliegenden Rechtssache von Bedeutung, dass dieses Übereinkommen und diese Verordnungen den gleichen Gegenstand, die gleiche Systematik und die gleichen Zuständigkeitsvorschriften haben(13). Im Übrigen sind die Gerichte, die die Lugano‑II-Übereinkunft anwenden und auslegen, verpflichtet, gleichwertige Vorschriften dieser Rechtsintrumente einheitlich auszulegen(14). Folglich ist das Lugano‑II-Übereinkommen in erster Linie vor dem Hintergrund eines fortwährenden Zusammenspiels zwischen der Brüssel-Regelung und der Lugano-Regelung zu sehen(15). Zweitens sind ebenso wie die Vorschriften dieser Verordnungen die in Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens verwendeten Begriffe autonom auszulegen, wobei in erster Linie die Systematik und die Ziele dieses Übereinkommens heranzuziehen sind, um die einheitliche Anwendung des Lugano‑II-Übereinkommens in allen daran gebundenen Staaten sicherzustellen(16).

42.      Gleichwohl glaube ich nicht, dass es möglich ist, aus dem Urteil Vapenik(17) Erkenntnisse zu gewinnen, die für eine Verneinung der in der vorliegenden Rechtssache gestellten Vorlagefrage sprechen können.

43.      Erstens hat der Gerichtshof in diesem Urteil die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 805/2004(18) ausgelegt, die Teil des rechtlichen Rahmens ist, mit dem die Union eine justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen, die einen grenzüberschreitenden Bezug aufweisen, entwickeln möchte. Dabei hat der Gerichtshof festgestellt, dass die mit der Verordnung Nr. 805/2004 eingeführten Regeln diejenigen der Verordnung Nr. 44/2001 ergänzen sollen und deren Bestimmungen deshalb besonderes Gewicht zukommt(19). Sodann hat sich der Gerichtshof(20), stets im Kontext der Kohärenz der Rechtsinstrumente des Unionsrechts, auf die Richtlinie 93/13/EWG(21) und die Verordnung (EG) Nr. 593/2008(22)berufen. Die Wahl dieser beiden Rechtsinstrumente des Unionsrechts erscheint mir im Zusammenhang mit dem Urteil Vapenik(23) einleuchtend. Die Verordnung Nr. 593/2008 führt Kollisionsnormen ein, die ihrerseits ergänzend zu den Vorschriften über die internationale Zuständigkeit der Verordnung Nr. 44/2001 sind(24), während die Richtlinie 93/13, wenngleich sie wie die Richtlinie 2008/48 Vorschriften des materiellen Rechts harmonisiert, grundsätzlich auf alle von Verbrauchern abgeschlossenen Verträge anwendbar ist, und deshalb eine allgemeine Regelung schafft(25)für den Schutz der Verbraucher innerhalb der Union(26).

44.      Somit ist im Licht des Urteils Vapenik(27) die Wahl der Rechtsinstrumente des Unionsrechts, die bei der Auslegung von Begriffen eines anderen Rechtsakts berücksichtigt werden, nicht zufällig. Es ist symptomatisch, dass der Gerichtshof nicht auf die Richtlinie 2008/48 Bezug genommen hat, obwohl es bei der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, um die Zahlung eines aus einem Darlehensvertrag geschuldeten Betrags ging. Vor diesem Hintergrund bin ich angesichts der Umstände des vorliegenden Falles nicht der Ansicht, dass die Richtlinie 2008/48 einen entscheidenden Einfluss auf die Auslegung von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens haben kann.

45.      Zweitens hat der Gerichtshof im Urteil Vapenik(28) aus den drei oben genannten Rechtsinstrumenten des Unionsrechts eine einzige Erkenntnis mit recht allgemeiner Tragweite gewonnen, wonach das in den genannten unionsrechtlichen Bestimmungen vorgesehene Verbraucherschutzziel der Wiederherstellung von Gleichheit zwischen den Parteien in den Verträgen zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer die Anwendung dieser Vorschriften auf Personen ausschließt, die dieses Schutzes nicht bedürfen(29). Der Gedanke, dass die Partei dieses Vertrags aufgrund einer Vertragsmodalität wie des Gesamtkreditbetrags nicht als Verbraucher im Sinne dieser Richtlinie angesehen werden darf, kann nicht als eine solche Erkenntnis mit allgemeiner Tragweite angesehen werden, die mit jener vergleichbar ist, um die es im Urteil Vapenik(30) geht.

46.      Drittens hat der Gerichtshof auch im Zusammenhang mit Regelungen, die, wie aus ihren Erwägungsgründen hervorgeht, ausdrücklich eine Übereinstimmung anstreben(31), nämlich den Verordnungen Nrn. 864/2007 und 44/2001, im Urteil Kainz(32), das nach dem Urteil Vapenik(33) ergangen ist, festgestellt, dass „[d]ie angestrebte Kohärenz … keinesfalls zu einer Auslegung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 44/2001 führen [kann], die ihrer Systematik und ihren Zielsetzungen fremd ist“.

47.      Die Ziele der Richtlinie 2008/48 und des Lugano‑II-Übereinkommens sind völlig verschieden. Ziel der Richtlinie 2008/48 ist die Harmonisierung bestimmter Aspekte der Vorschriften über Verbraucherkreditverträge, insbesondere der Bedingungen über die Information des Verbrauchers/Kreditnehmers, während das Ziel des Lugano‑II-Übereinkommens darin besteht, die Vorschriften für die Bestimmung des Gerichts festzulegen, das für die Entscheidung eines Rechtsstreits in Zivil- und Handelssachen zuständig ist. Was dieses Übereinkommen angeht, so sind die Vorschriften in seinem Titel II Abschnitt 4 von dem Bestreben getragen, den Verbraucher als den Vertragspartner, der als wirtschaftlich schwächer und rechtlich weniger erfahren angesehen wird, zu schützen.

48.      Die vom vorlegenden Gericht in der Vorlagefrage gezogene Parallele, nämlich dass die Schwellenwerte für den Gesamtkreditbetrag der Richtlinie 2008/48 die Tragweite von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens begrenzen, würde dazu führen, dass Personen, die einen Kreditvertrag über einen Betrag von weniger als 200 Euro abgeschlossen haben, nicht als „Verbraucher“ gelten würden und sich nicht auf diese Vorschrift des Lugano‑II-Übereinkommens stützen könnten. Eine solche Situation scheint mir nicht im Einklang mit den Zielen des Lugano‑II-Übereinkommens zu stehen. Es ist offensichtlich, dass hinsichtlich der vermuteten Schwäche kein wesentlicher Unterschied zwischen einer Person, die einen Kreditvertrag über 100 Euro abgeschlossen hat, und einer, die einen Kreditvertrag über 200 Euro abgeschlossen hat, besteht.

49.      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es möglich ist, bei der Auslegung von Vorschriften des Lugano‑II-Übereinkommens oder jener des internationalen Privatrechts der Union im Allgemeinen auf andere Rechtsinstrumente des Unionsrechts zurückzugreifen. Diese Instrumente können somit Anhaltspunkte für die Auslegung von Begriffen in solchen Vorschriften sein.

50.      Allerdings ist im Rahmen einer solchen Auslegung, die auf andere Rechtsinstrumente des Unionsrechts zurückgreift, angesichts der Gefahr, überschießende Schlussfolgerungen zu ziehen, Vorsicht geboten. So müssen diese Rechtsinstrumente erstens sorgfältig ausgewählt werden, je nachdem, in welcher Beziehung sie mit dem ausgelegten Rechtsakt stehen und was für eine Rolle sie im Rechtssystem der Union spielen. Zweitens können aus solchen Quellen zwar allgemeine Erkenntnisse gewonnen werden, doch können sich diese Erkenntnisse nicht auf Detailfragen beziehen, mit denen der Unionsgesetzgeber die Geltungsbereiche von Rechtsinstrumenten bestimmt, die eine spezielle und begrenzte Tragweite haben. Drittens schließlich kann eine kohärente Auslegung von Begriffen in Rechtsakten des internationalen Privatrechts der Union nicht zu einer Auslegung der Bestimmungen dieser Rechtsakte führen, die ihrer Systematik und ihren Zielsetzungen fremd ist.

51.      Im Licht dieser drei Erwägungen ist die in der Vorlagefrage gezogene Parallele in Bezug auf die Begriffe des Lugano‑II-Übereinkommens und die Richtlinie 2008/48 somit als unzutreffend zu erachten.

2.      Der Pocar-Bericht

52.      Wie mehrere Beteiligte in ihren schriftlichen Erklärungen ausführen, geht aus Rn. 81 des Pocar-Berichts hervor, dass die weite Auslegung des Begriffs „Verbrauchersachen“ im Rahmen von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens alle Verträge umfasst, die als Verbraucherverträge in Unionsrichtlinien geregelt werden, einschließlich der Verträge, bei denen ein Kreditgeber einem Verbraucher einen Kredit in Form eines Zahlungsaufschubs, eines Darlehens oder einer sonstigen ähnlichen Finanzierungshilfe gewährt oder zu gewähren verspricht, soweit sie in der Richtlinie 87/102/EWG(34) geregelt sind, die, wie bereits ausgeführt, durch die Richtlinie 2008/48 aufgehoben und ersetzt wurde(35).

53.      Jedoch scheint mir die Schlussfolgerung, die die Kassationsbeschwerdeführerin aus dieser Passage des Pocar-Berichts zieht, dass nämlich die Vorlagefrage zu verneinen sei, nicht den Intentionen des Verfassers dieses Berichts zu entsprechen.

54.      Ich bin mit der Kommission der Ansicht, dass man sich, um Rn. 81 des Pocar-Berichts zu verstehen, auf die Funktion konzentrieren muss, die Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens im System der durch dieses Übereinkommen eingeführten Zuständigkeitsvorschriften hat.

55.      Unter der Geltung des Vorgängers des Lugano‑II-Übereinkommens, des ersten Lugano-Übereinkommens(36), waren die Vorschriften von Titel II Abschnitt 4 gemäß Art. 13 dieses Übereinkommens auf begrenzte Kategorien von Verträgen anwendbar. Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens hat den Bereich der von den Vorschriften dieses Abschnitts umfassten Verträge beträchtlich erweitert.

56.      Wie sich aus Rn. 81 des Pocar-Berichts ergibt, erwähnt zwar Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 des Lugano-Übereinkommens „andere Verträge, wenn sie die Erbringung einer Dienstleistung oder die Lieferung beweglicher Sachen zum Gegenstand haben“, jedoch spricht Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Lugano‑II-Übereinkommens von „allen anderen Fällen“, ohne Einschränkungen hinsichtlich des Gegenstands eines betreffenden Vertrags zu machen. Zur Veranschaulichung der Neufassung des Geltungsbereichs der Vorschriften von Titel II Abschnitt 4 des Lugano-Übereinkommens nimmt der Pocar-Bericht auf mehrere Richtlinien des Unionsrechts Bezug. Diese Bezugnahmen können jedoch nicht in dem Sinne verstanden werden, dass zum einen der Geltungsbereich dieser Richtlinien und zum anderen jener des Lugano-Übereinkommens bis in die letzten Details koordiniert wurden. Diese Bezugnahmen dienen vielmehr als Veranschaulichung für die Verträge, die unter Berücksichtigung ihres Gegenstands von den Vorschriften in Titel II Abschnitt 4 des Lugano‑II-Übereinkommens erfasst sind.

57.      Somit lässt der Pocar-Bericht nicht den Schluss zu, dass ein Vertrag, der unter Berücksichtigung seines Ziels generell in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/48 fällt, aber aufgrund des Gesamtkreditbetrags von ihrem Geltungsbereich ausgeschlossen ist, nicht automatisch unter die Vorschriften von Titel II Abschnitt 4 des Lugano‑II-Übereinkommens fällt.

3.      Auswirkungen der gesetzgeberischen Umsetzung der Richtlinie 2008/48 auf die Beantwortung der Vorlagefrage

58.      Die Formulierung der Vorlagefrage lädt zur Prüfung ein, ob die Antwort auf diese Frage von der Entscheidung des nationalen Gesetzgebers abhängt, Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2008/48 auf Gebiete anzuwenden, die nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fallen. Eine solche Befugnis wird den Mitgliedstaaten im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/48 ausdrücklich eingeräumt, wonach „ein Mitgliedstaat für Kreditverträge, die nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen, innerstaatliche Vorschriften beibehalten oder einführen [könnte], die den Bestimmungen dieser Richtlinie oder manchen ihrer Bestimmungen außerhalb des Geltungsbereichs dieser Richtlinie ganz oder zum Teil entsprechen, beispielsweise für Kreditverträge über einen Betrag von weniger als 200 [Euro] oder von mehr als 75 000 [Euro]“.

59.      Jedoch ist im Licht der vorstehenden Erwägungen und insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Begriffe von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens autonom auszulegen sind, die einzige Feststellung, zu der man kommen könnte, jene, dass die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers in Bezug auf den Geltungsbereich der im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 2008/48 erlassenen Vorschriften im Zusammenhang mit dem von der Vorlagefrage aufgeworfenen Rechtsproblem irrelevant ist.

60.      Zudem ist, wie die Schweizer Regierung anmerkt, die Tatsache zu berücksichtigen, dass bestimmte an das Lugano‑II-Übereinkommen gebundene Staaten die Richtlinie 2008/48 nicht anwenden. So kann sich unabhängig von der Auslegung der Vorlagefrage herausstellen, dass gegebenenfalls das Recht des betreffenden Staates keine Umsetzung der Richtlinie 2008/48 enthält.

61.      Aufgrund der oben dargelegten Analyse bin ich zur Ansicht gelangt, dass eine Person, die einen Kreditvertrag für private Zwecke abgeschlossen hat, ihre Verbrauchereigenschaft im Sinne von Art. 15 Abs. 1 des Lugano‑II-Übereinkommens nicht verliert, wenn der betreffende Vertrag aufgrund des Gesamtkreditbetrags nicht unter die Richtlinie 2008/48 fällt. Des Weiteren sind im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. c dieser Richtlinie vorgesehenen Schwellenwerte für den Gesamtkreditbetrag nicht auf Art. 15 Abs. 1 des Lugano‑II-Übereinkommens übertragbar(37). Diese Erwägung wird durch die Erklärungen im Pocar-Bericht nicht in Frage gestellt(38). Schließlich ist ein Gericht, das die Anwendung von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens prüft, nicht an die Detailvorschriften des materiellen Rechts gebunden, die bei der Umsetzung der Richtlinie 2008/48 erlassen wurden. Die im Rahmen der Vorlagefrage ins Auge gefasste Parallele drängt sich nicht auf(39).

VI.    Ergebnis

62.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Luxemburg) wie folgt zu beantworten:

Art. 15 des am 30. Oktober 2007 unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, das im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss des Rates 2009/430/EG vom 27. November 2008 genehmigt wurde, ist dahin auszulegen, dass eine Person, die einen Kreditvertrag für private Zwecke abgeschlossen hat, ihre Verbrauchereigenschaft im Sinne dieses Artikels nicht verliert, wenn der betreffende Vertrag aufgrund des Gesamtkreditbetrags nicht unter die Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates fällt.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl. 2008, L 133, S. 66, berichtigt in ABl. 2009, L 207, S. 14, ABl. 2010, L 199, S. 40, und ABl. 2011, L 234, S. 46).


3      Am 30. Oktober 2007 unterzeichnetes Übereinkommen (ABl. 2009, L 147, S. 5), dessen Abschluss im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss 2009/430/EG des Rates vom 27. November 2008 (ABl. 2009, L 147, S. 1) gebilligt wurde (im Folgenden: Lugano‑II-Übereinkommen).


4      Urteil vom 5. Dezember 2013 (C‑508/12, EU:C:2013:790).


5      Urteil vom 16. Januar 2014 (C‑45/13, EU:C:2014:7).


6      ABl. 2009, C 319, S. 1, im Folgenden: Pocar-Bericht.


7      Vgl. Rn. 81 des Pocar-Berichts.


8      Urteil vom 5. Dezember 2013 (C‑508/12, EU:C:2013:790, Rn. 25).


9      Urteil vom 5. Dezember 2013 (C‑508/12, EU:C:2013:790, Rn. 25).


10      Verordnung des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).


11      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).


12      Urteil vom 5. Dezember 2013 (C‑508/12, EU:C:2013:790, Rn. 25).


13      Vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/03 (Neues Übereinkommen von Lugano) vom 7. Februar 2006 (EU:C:2006:81, Rn. 152).


14      Vgl. Protokoll 2 über die einheitliche Auslegung des Übereinkommens und den Ständigen Ausschuss (ABl. 2007, L 339, S. 27). Vgl. auch Urteil vom 20. Dezember 2017, Schlömp (C‑467/16, EU:C:2017:993, Rn. 47).


15      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Schlömp (C‑467/16, EU:C:2017:768, Nr. 23).


16      Vgl. Urteil vom 28. Januar 2015, Kolassa (C‑375/13, EU:C:2015:37, Rn. 22), sowie meine Schlussanträge in dieser Rechtssache (C‑375/13, EU:C:2014:2135, Nr. 33).


17      Urteil vom 5. Dezember 2013 (C‑508/12, EU:C:2013:790).


18      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (ABl. 2004, L 143, S. 15).


19      Urteil vom 5. Dezember 2013, Vapenik (C‑508/12, EU:C:2013:790, Rn. 25). Was den ergänzenden Charakter der Verordnung Nr. 805/2004 angeht, siehe auch den 20. Erwägungsgrund dieser Verordnung, wonach es dem Gläubiger freistehen sollte, eine Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel für unbestrittene Forderungen zu beantragen oder sich für das Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren nach der Verordnung Nr. 44/2001 oder für andere Gemeinschaftsrechtsakte zu entscheiden.


20      Urteil vom 5. Dezember 2013, Vapenik (C‑508/12, EU:C:2013:790, Rn. 26 und 29).


21      Richtlinie des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).


22      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. 2008, L 177, S. 6).


23      Urteil vom 5. Dezember 2013 (C‑508/12, EU:C:2013:790).


24      Insoweit weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof in den Urteilen vom 26. Mai 1982, Ivenel (133/81, EU:C:1982:199, Rn. 15), und vom 8. März 1988, Arcado (9/87, EU:C:1988:127, Rn. 15), ähnlich argumentiert hat. In diesen Urteilen hat der Gerichtshof auf die Vorschriften des am 19. Juni 1980 in Rom unterzeichneten Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (ABl. 1980, C 282, S. 1) Bezug genommen, als er eine der Vorschriften des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) ausgelegt hat. Zur Veranschaulichung dieser Argumentation vgl. auch Urteil vom 14. November 2002, Baten (C‑271/00, EU:C:2002:656, Rn. 43), in dem der Gerichtshof die Vorschriften letzteren Übereinkommens im Licht der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. 1971, L 149, S. 2), ausgelegt hat, die die Bestimmungen zur Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit festlegte.


25      Zur Rolle der Richtlinie 93/13 im Rechtssystem der Union vgl. meine jüngst verfassten Schlussanträge in den Rechtssachen Abanca Corporación Bancaria und Bankia (C‑70/17 und C‑179/17, EU:C:2018:724, Nrn. 52 bis 55).


26      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2015, Holterman Ferho Exploitatie u. a. (C‑47/14, EU:C:2015:574, Rn. 41 und 42), in dem der Gerichtshof den Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 18 der Verordnung Nr. 44/2001 im Licht der Auslegungen dieses Begriffs im Rahmen von Art. 45 AEUV und mehrerer Rechtsakte der Union ausgelegt hat. Der Gerichtshof hat somit auf der Grundlage dieser Auslegungen die allgemeine Definition oder zumindest die Definition mit allgemeiner Tragweite des Begriffs „Arbeitnehmer“ im Unionsrecht rekonstruiert.


27      Urteil vom 5. Dezember 2013 (C‑508/12, EU:C:2013:790).


28      Urteil vom 5. Dezember 2013 (C‑508/12, EU:C:2013:790, Rn. 26 bis 31).


29      Diese Auslegung wird durch das Urteil vom 25. Januar 2018, Schrems (C‑498/16, EU:C:2018:37, Rn. 28), untermauert, in dem der Gerichtshof das Urteil Vapenik bestätigt hat, wonach auch der in anderen unionsrechtlichen Regelungen enthaltene Verbraucherbegriff zu berücksichtigen ist. Jedoch enthält das Urteil Schrems mit Ausnahme eines Verweises recht allgemeiner Tragweite auf Art. 169 Abs. 1 AEUV keine Verweise auf andere Vorschriften des Unionsrechts. Genauer gesagt hat der Gerichtshof, nachdem er Art. 169 Abs. 1 AEUV erwähnt hatte, darauf hingewiesen, dass eine Auslegung des Verbraucherbegriffs, die bestimmte Tätigkeiten ausschließt, darauf hinausliefe, eine effektive Verteidigung der Rechte, die den Verbrauchern gegenüber ihren gewerblichen Vertragspartnern zustehen, zu verhindern, und dass eine solche Auslegung dem in diesem Artikel des Vertrags angeführten Ziel der Förderung ihres Rechts auf Bildung von Vereinigungen zur Wahrung ihrer Interessen zuwiderliefe. Man könnte sogar argumentieren, dass es sich trotz der Bezugnahme auf das Urteil Vapenik im Urteil Schrems (Rn. 28) nicht um eine abgestimmte Auslegung des Begriffs „Verbraucher“ gehandelt hat, sondern um eine systematische Auslegung, die es erlaubt, die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts und seines Ziels des Verbraucherschutzes zu gewährleisten.


30      Urteil vom 5. Dezember 2013 (C‑508/12, EU:C:2013:790).


31      Nach dem siebten Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“) (ABl. 2007, L 199, S. 40) sollten der materielle Anwendungsbereich und die Bestimmungen dieser Verordnung mit der Verordnung Nr. 44/2001 und den Instrumenten, die das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht zum Gegenstand haben, in Einklang stehen.


32      Urteil vom 16. Januar 2014 (C‑45/13, EU:C:2014:7, Rn. 20).


33      Urteil vom 5. Dezember 2013 (C‑508/12, EU:C:2013:790).


34      Richtlinie des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit (ABl. 1987, L 42, S. 48).


35      Insoweit weise ich darauf hin, dass diese Beteiligten Rn. 81 des Pocar-Berichts unterschiedlich auslegen. Nach Ansicht der Kassationsbeschwerdeführerin hat die Auslegung von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens im Licht der Richtlinie 2008/48 zu erfolgen. Die Schweizer Regierung ihrerseits legt Rn. 81 des Pocar-Berichts dahin aus, dass alle Verträge, die unter die Richtlinie 2008/48 fallen, auch unter den Begriff „Verbrauchersachen“ nach dem Lugano‑II-Übereinkommen fallen. Daraus könne aber nicht im Umkehrschluss geschlossen werden, dass Verträge allein deshalb automatisch vom Anwendungsbereich der Verbraucherschutzvorschriften des Lugano‑II-Übereinkommens ausgeschlossen wären, weil sie nicht unter die vorerwähnte Richtlinie oder ihre Nachfolgeinstrumente, d. h. die Richtlinie 2008/48, fielen. Hingegen spricht sich die Kommission eher für die oben in den Nrn. 55 und 56 der vorliegenden Schlussanträge dargelegte Auslegung von Rn. 81 dieses Berichts aus.


36      Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, unterzeichnet in Lugano am 16. September 1988 (ABl. 1988, L 319, S. 9, im Folgenden: Lugano-Übereinkommen).


37      Vgl. Nrn. 58 bis 60 der vorliegenden Schlussanträge.


38      Vgl. Nr. 57 der vorliegenden Schlussanträge.


39      Vgl. Nrn. 49 bis 51 der vorliegenden Schlussanträge.