Language of document : ECLI:EU:C:2006:140

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

L. A. GEELHOED

vom 23. Februar 20061(1)

Rechtssache C‑432/04

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Edith Cresson

„Klage gemäß Artikel 213 Absatz 2 Unterabsatz 3 EG und Artikel 126 Absatz 2 Unterabsatz 3 EA – Verwirkung von Ruhegehaltansprüchen eines ehemaligen Kommissionsmitglieds – Verletzung der sich aus dem Amt als Kommissionsmitglied ergebenden Pflichten“





I –    Einleitung

1.        Mit der vorliegenden Klage beantragt die Kommission die Feststellung, dass sich Edith Cresson der Günstlingswirtschaft oder zumindest der groben Fahrlässigkeit schuldig gemacht hat, indem sie während ihrer Amtszeit als Mitglied der Kommission zwei Personen aus ihrem persönlichen Bekanntenkreis eingestellt und begünstigt hat. Die Kommission vertritt die Auffassung, dass Frau Cresson dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 213 Absatz 2 EG und Artikel 126 Absatz 2 EA(2) verstoßen habe. Sie beantragt daher die Verhängung einer angemessenen finanziellen Sanktion, wie sie im letzten Unterabsatz dieser Vertragsbestimmungen vorgesehen ist.

2.        Diese Rechtssache ist die erste ihrer Art, bei der es zu einem Urteil des Gerichtshofes kommen wird. Eine frühere Klage, die der Rat gegen das ehemalige Kommissionsmitglied Bangemann wegen einer Stelle erhoben hatte, die dieser nach dem Ende seiner Amtzeit annehmen wollte, wurde zurückgenommen(3). Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof daher eine noch nicht dagewesene Gelegenheit, zu klären, welche Pflichten Kommissionsmitgliedern im Sinne von Artikel 213 EG obliegen. Das Urteil des Gerichtshofes wird allgemein von Bedeutung sein, weil es Vorgaben für alle diejenigen festlegt, die hohe Ämter bei den Organen der Europäischen Union innehaben.

II – Rechtlicher Rahmen

3.        Artikel 213 Absatz 2 EG bestimmt:

„Die Mitglieder der Kommission üben ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaften aus.

Sie dürfen bei der Erfüllung ihrer Pflichten Anweisungen von einer Regierung oder einer anderen Stelle weder anfordern noch entgegennehmen. Sie haben jede Handlung zu unterlassen, die mit ihren Aufgaben unvereinbar ist. Jeder Mitgliedstaat verpflichtet sich, diesen Grundsatz zu achten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der Kommission bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu beeinflussen.

Die Mitglieder der Kommission dürfen während ihrer Amtszeit keine andere entgeltliche oder unentgeltliche Berufstätigkeit ausüben. Bei der Aufnahme ihrer Tätigkeit übernehmen sie die feierliche Verpflichtung, während der Ausübung und nach Ablauf ihrer Amtstätigkeit die sich aus ihrem Amt ergebenden Pflichten zu erfüllen, insbesondere die Pflicht, bei der Annahme gewisser Tätigkeiten oder Vorteile nach Ablauf dieser Tätigkeit ehrenhaft und zurückhaltend zu sein. Werden diese Pflichten verletzt, so kann der Gerichtshof auf Antrag des Rates oder der Kommission das Mitglied je nach Lage des Falles gemäß Artikel 216 seines Amtes entheben oder ihm seine Ruhegehaltsansprüche oder andere an ihrer Stelle gewährte Vergünstigungen aberkennen.“

4.        Artikel 216 EG bestimmt:

„Jedes Mitglied der Kommission, das die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfüllt oder eine schwere Verfehlung begangen hat, kann auf Antrag des Rates oder der Kommission durch den Gerichtshof seines Amtes enthoben werden.“

III – Von der Kommission vorgetragener Sachverhalt

5.        Edith Cresson war vom 24. Januar 1995 bis 8. September 1999 Mitglied der Europäischen Kommission. Die Kommission war am 16. März 1999 geschlossen zurückgetreten, aber bis 8. September 1999 im Amt geblieben. Ihr Ressort innerhalb der Kommission umfasste die Bereiche Wissenschaft, Forschung und Entwicklung, Gemeinsame Forschungsstelle (GFS) und Humanressourcen, allgemeine und berufliche Bildung, Jugend. Die damals für diese Bereiche zuständigen Dienststellen der Kommission waren die Generaldirektionen (GD) XII, XIII.D und XXII und die GFS.

6.        Der Vorwurf der Kommission, dass Frau Cresson in ihrem Amt Günstlingswirtschaft betrieben habe, stützt sich auf Vorgänge, die zwei Personen aus ihrem Bekanntenkreis, René Berthelot und Timm Riedinger, betreffen.

A –    Der Vorgang Berthelot

7.        Kurz nach ihrer Amtsübernahme soll Frau Cresson den Wunsch geäußert haben, Herrn Berthelot als persönlichen Berater einzustellen. Herr Berthelot, der gelernter Zahnarzt gewesen sei, habe damals in der Nähe von Châtellerault gelebt, einer Stadt in Frankreich, deren Bürgermeisterin Frau Cresson gewesen sei. Angesichts der Tatsache, dass Herr Berthelot 66 Jahre alt gewesen sei und ihr Kabinett bereits gebildet worden sei, habe ihr Kabinettschef ihr mitgeteilt, dass er keine Möglichkeit für eine Einstellung durch die Kommission sehe. Trotzdem sei Herrn Berthelot einige Monate später auf Wunsch von Frau Cresson ein Vertrag als Gastwissenschaftler bei der Generaldirektion XII ab dem 1. September 1995 für eine Dauer von zunächst sechs Monaten angeboten worden. Obwohl eine Einstellung als Gastwissenschaftler voraussetze, dass der Betreffende in einem Forschungszentrum oder in einer mit Forschung befassten Dienststelle der Kommission arbeite, habe sich herausgestellt, dass Herr Berthelot ausschließlich als persönlicher Berater für Frau Cresson tätig gewesen sei. Die ursprüngliche Dauer von sechs Monaten sei schließlich bis Ende Februar 1997 verlängert worden.

8.        Aufgrund einer für Gastwissenschaftler geltenden Regelung zur Vermeidung von Doppelbezügen sei das Gehalt von Herrn Berthelot Ende April 1996 im Hinblick auf eine Pension, die er in Frankreich bezogen habe, gekürzt worden. Kurz nachdem diese Maßnahme ergriffen worden sei, seien auf persönlichen Wunsch von Frau Cresson 13 auf Herrn Berthelot lautende Dienstreiseaufträge nach Châtellerault erstellt und an die Verwaltungsstellen der Kommission gesandt worden. Diese Aufträge hätten sich auf Dienstreisen bezogen, die angeblich zwischen dem 23. Mai und dem 21. Juni 1996 stattgefunden hätten. Infolgedessen seien 6 930 Euro an Herrn Berthelot überwiesen worden. Mit Wirkung vom 1. September 1996 sei Herr Berthelot in eine höhere Vergütungsgruppe für Gastwissenschaftler eingestuft worden, was eine deutliche Gehaltserhöhung von etwa 1 000 Euro zur Folge gehabt habe. Diese Erhöhung habe den Gehaltsverlust infolge der Maßnahme zur Vermeidung von Doppelbezügen mehr als ausgeglichen.

9.        Bei Ablauf seines Vertrages mit der GD XII sei Herrn Berthelot ein neuer Vertrag als Gastwissenschaftler angeboten worden, dieses Mal bei der GFS für eine Dauer von einem Jahr. Dies habe seinen Aufenthalt bei der Kommission auf zweieinhalb Jahre verlängert, obwohl Gastwissenschaftler nur für eine Höchstdauer von 24 Monaten beschäftigt würden.

10.      Am 2. Oktober 1997 habe der Finanzkontrolldienst der Kommission die Tätigkeitsberichte verlangt, die Herr Berthelot mit Beendigung seines ersten Vertrages hätte vorlegen müssen. Die an den Finanzkontrolldienst gesandten Berichte seien sehr kurz gewesen. Tatsächlich habe es sich um eine Reihe von Vermerken verschiedener Verfasser gehandelt, die von Frau Cressons Kabinett zusammengestellt worden seien.

11.      Am 11. Dezember 1997 habe Herr Berthelot aus medizinischen Gründen um eine Auflösung seines Vertrages zum 31. Dezember 1997 gebeten. Dieser Bitte sei entsprochen worden. Frau Cresson habe daraufhin ihren Kabinettschef gebeten, eine Lösung zu finden, um die Vertragsbeziehung mit Herrn Berthelot mit Wirkung vom 1. Januar 1998 fortzusetzen. Diese Lösung habe in dessen Einstellung als Sonderberater bestanden. Herr Berthelot habe diese Stelle jedoch abgelehnt.

12.      Herr Berthelot sei am 2. März 2000 verstorben.

B –    Der Vorgang Riedinger

13.      Herrn Riedinger, einem Wirtschaftsanwalt, seien 1995 drei Verträge von Dienststellen der Kommission im Zuständigkeitsbereich von Frau Cresson angeboten worden. Mindestens zwei dieser Angebote seien auf ausdrücklichen Wunsch von Frau Cresson ergangen.

14.      Diese Verträge hätten sich auf folgende drei Gegenstände bezogen: 1. eine Machbarkeitsanalyse hinsichtlich der Errichtung eines Netzwerks zwischen Denkfabriken in Mitteleuropa und der Europäischen Gemeinschaft, 2. die Begleitung von Frau Cresson auf einer offiziellen Besuchsreise nach Südafrika vom 13. bis 16. Mai 1995 und die Erstellung eines Berichts und 3. eine Durchführbarkeitsvorstudie über die Errichtung eines europäischen Instituts für Rechtsvergleichung.

15.      Obwohl die erforderlichen Haushaltsmittel für diese drei Verträge gebunden worden seien, sei keiner von ihnen durchgeführt worden, und es sei für sie auch keine Zahlung an Herrn Riedinger erfolgt.

IV – Verfahren

A –    Voruntersuchungen

16.      Bevor die Kommission nach Artikel 213 EG Klage beim Gerichtshof erhoben hat, waren die Vorgänge in Bezug auf Herrn Berthelot und Herrn Riedinger Gegenstand einer Reihe von Ermittlungen seitens verschiedener Stellen. Die Klage der Kommission stützt sich auf die Ergebnisse dieser Ermittlungen.

17.      Die ersten Ermittlungen wurden von dem unter der Ägide des Europäischen Parlaments eingesetzten Ausschuss unabhängiger Sachverständiger geführt. Dessen Aufgabe bestand darin, einen ersten Bericht zu erstellen, in dem „versucht werden [könnte], festzustellen, in welchem Ausmaß die Kommission als Kollegium oder einzelne Kommissionsmitglieder spezifische Verantwortung für die jüngsten Fälle von Betrug, Missmanagement oder Nepotismus tragen, die in parlamentarischen Debatten oder in den im Rahmen dieser Debatten erhobenen Anschuldigungen zur Sprache kamen“. In seinem Bericht vom 15. März 1999(4) gelangte der Ausschuss zu dem Schluss, „dass es sich hier um einen ausgesprochenen Fall von Günstlingswirtschaft handelt. Eine Persönlichkeit, die aufgrund ihrer Berufslaufbahn den verschiedenen Positionen nicht gewachsen war, für die sie eingestellt wurde, ist dennoch unter Vertrag genommen worden. Die erbrachten Leistungen sind in Bezug auf Quantität, Qualität und Sachkenntnis eindeutig unzureichend. Die Gemeinschaft ist nicht auf ihre Kosten gekommen.“ (5)

18.      Infolge des Berichts des Ausschusses unabhängiger Sachverständiger beschloss die Kommission, die ihre Amtsgeschäfte am 9. September 1999 aufnahm, einen Reformprozess mit dem Ziel einzuleiten, die vom Ausschuss kritisierten Praktiken zu verhindern und ihre internen Verwaltungs- und Finanzabläufe zu verbessern. In diesem Zusammenhang führte das OLAF (Office européen de lutte anti-fraude) selbst eine Untersuchung durch, die in einen Bericht vom 23. November 1999 mündete. Daraufhin wurden gegen eine Reihe von Beamten und Bediensteten der Kommission Disziplinarverfahren eingeleitet.

19.      Am 20. Februar 2001 beschloss die Kommission ein Verfahren einzuleiten, um die in nicht ordnungsgemäßer Weise an Herrn Berthelot gezahlten Beträge zurückzuerhalten. Dieses Verfahren betrifft dessen Erben.

20.      Eine nachfolgende Untersuchung wurde von der GD ADMIN und später, nach seiner Errichtung, vom IDOC (Untersuchungs- und Disziplinaramt der Kommission) hinsichtlich des Vorgangs Riedinger durchgeführt. Dieses nahm auch zwei weitere Untersuchungen zum Fall Berthelot vor, eine zur Rolle der GD XII, die andere zur Verwicklung der GFS. Im Laufe dieser Untersuchungen fanden zahlreiche Anhörungen statt. Frau Cresson wurde von den zuständigen Dienststellen und dem für interne Reformen verantwortlichen Kommissar, Herrn Kinnock, zur Anhörung geladen. Frau Cresson zog es jedoch vor, schriftlich zu antworten. Ein Bericht zu Herrn Riedinger wurde am 8. August 2001 fertiggestellt. Ein Bericht des IDOC, der sich ausschließlich mit dem Fall von Herrn Berthelot befasst, wurde am 22. Februar 2002 vorgelegt.

B –    Kommissionsinternes Verfahren in Bezug auf Frau Cresson

21.      Am 21. Januar 2003 beschloss das Kollegium der Kommissionsmitglieder, an Frau Cresson eine Mitteilung der Beschwerdepunkte (communication des griefs) im Zusammenhang mit einem möglichen Verfahren nach Artikel 213 Absatz 2 EG zu richten. In dieser Mitteilung machte die Kommission geltend, dass Frau Cresson in den Fällen von Herrn Berthelot und Herrn Riedinger gegen die sich aus ihrem Amt als Mitglied der Kommission ergebenden Pflichten verstoßen habe. Das Verhalten von Frau Cresson sei in beiden Fällen nicht vom allgemeinen Wohl bestimmt, sondern im Wesentlichen von dem Wunsch geleitet gewesen, zwei Personen aus ihrem persönlichen Bekanntenkreis zu begünstigen. Jedenfalls habe sie in beiden Fällen bei der Prüfung, ob die internen Verfahren eingehalten worden seien, nicht die erforderliche Sorgfalt angewandt. Die Kommission beschuldigte sie deshalb, die sich aus ihrem Amt ergebenden Pflichten entweder vorsätzlich oder zumindest infolge grober Fahrlässigkeit verletzt zu haben.

22.      Um die Rechte der Verteidigung zu wahren, beschloss die Kommission außerdem, Frau Cresson Akteneinsicht zu gewähren und sie zu einer Stellungnahme zu ihrer Mitteilung der Beschwerdepunkte aufzufordern. Daran schloss sich ein umfangreicher Schriftwechsel zwischen dem Anwalt von Frau Cresson und der Kommission über den Umfang des Verfahrens und darüber an, ob ihr Zugang zu bestimmten Dokumenten gewährt werden solle.

23.      Frau Cresson antwortete am 30. September 2003 auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte. Sie bestreitet in erster Linie, dass Artikel 213 Absatz 2 EG die geeignete Rechtsgrundlage für die Mitteilung der Beschwerdepunkte sei. Außerdem verletze diese Bestimmung grundlegende Rechte der Verteidigung. Weiterhin werde der ihr zur Last gelegte Sachverhalt nicht von diesem Artikel erfasst. Jedenfalls seien die von der Kommission vorgebrachten Beschwerdepunkte nicht erwiesen. Frau Cresson kritisiert die Unbestimmtheit der Begriffe Günstlingswirtschaft und grobe Fahrlässigkeit, wie sie in der Mitteilung der Beschwerdepunkte definiert würden. Schließlich fordert sie einen Betrag von 50 000 Euro als Ersatz für den materiellen und immateriellen Schaden, den sie infolge des gegen sie gerichteten Disziplinarverfahrens erlitten habe.

24.      Im Licht dieser schriftlichen Ausführungen beschloss die Kommission, ihr Angebot zu wiederzuholen, Frau Cresson unmittelbar und persönlich vor dem Kollegium der Kommissionsmitglieder anzuhören. Diese Anhörung fand am 30. Juni 2004 statt.

25.      Die Kommission beschloss auf ihrer Zusammenkunft vom 19. Juli 2004, den Gerichtshof anzurufen.

C –    Strafverfahren in Belgien

26.      Parallel zu den Untersuchungen und dem Verfahren, die kommissionsintern geführt wurden, war der Vorgang Berthelot Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen der belgischen Strafverfolgungsbehörden. Dieses Verfahren wurde auf eine Anzeige hin eingeleitet, die von einem Mitglied des Europäischen Parlaments gegen eine Reihe von Personen erstattet worden war, die seiner Ansicht nach im Verdacht standen, an mehreren Fällen von Amtsmissbrauch innerhalb der Kommission beteiligt gewesen zu sein, darunter auch Frau Cresson. Die Kommission nahm als Zivilpartei an dem Verfahren teil.

27.      Der Untersuchungsrichter (juge d’instruction) prüfte, ob Frau Cresson im Hinblick auf folgende Punkte strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könne:

–        für die Einstellung von Herrn Berthelot als Gastwissenschaftler unter Verstoß gegen die kommissionsinternen Regeln wegen Urkundenfälschung und Missbrauchs eines öffentlichen Amtes im persönlichen Interesse (faux, usage de faux et prise d’intérêt);

–        für die Abschlussberichte von Herrn Berthelot wegen Urkundenfälschung und Betrug;

–        für die Dienstreiseaufträge und -abrechnungen (décomptes de mission) für Herrn Berthelot wegen Urkundenfälschung und Betrug.

28.      Im anschließenden Verfahrensabschnitt beschloss die Staatsanwaltschaft jedoch, den ersten Punkt fallen zu lassen, weil die Einstellung nicht gegen Gemeinschaftsregeln verstoßen habe. Der zweite Punkt kam nicht zur Anklage, weil er nicht gegen Frau Cresson gerichtet sei. Der dritte Punkt wurde zunächst weiterverfolgt, aber schließlich auch fallen gelassen.

29.      Mit Beschluss vom 30. Juni 2004 entschied die Chambre du conseil am Tribunal de première instance Brüssel, dass es keine Gründe für die Fortsetzung des Strafverfahrens gegen die Beschuldigten gebe (non-lieu). Was insbesondere Frau Cresson angehe, so könne sie nicht beschuldigt werden, von dem inkriminierten Sachverhalt Kenntnis gehabt zu haben.

D –    Verfahren vor dem Gerichtshof

30.      Die Klage der Kommission ist am 7. Oktober 2004 in das Register eingetragen worden.

31.      Die Kommission beantragt,

–        festzustellen, dass Frau Cresson gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 213 EG verstoßen hat;

–        Frau Cresson die ihr zustehenden Ruhegehaltsansprüche und/oder alle weiteren mit diesen Ansprüchen in Zusammenhang stehenden oder an ihrer Stelle gewährten Vergünstigungen ganz oder teilweise abzuerkennen, wobei die Kommission die Festsetzung der Dauer und des Ausmaßes dieser Aberkennung dem Ermessen des Gerichtshofes überlässt;

–        Frau Cresson die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

32.      Frau Cresson beantragt,

–        die Klage der Kommission für unzulässig zu erklären;

–        hilfsweise, die Klage als rechtswidrig und unbegründet abzuweisen;

–        der Kommission aufzugeben, das vollständige Protokoll der Beratungen, die dieses Organ veranlasst haben, am 19. Juli 2004 die Entscheidung über die Anrufung des Gerichtshofes zu erlassen, sowie die weiteren Unterlagen vorzulegen, die im Antrag der Beklagten und in ihrem Zweitantrag vom 26. April und 5. Oktober 2004 genannt sind;

–        der Kommission sämtliche Kosten aufzuerlegen.

33.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofes vom 2. Juni 2005 ist die Französische Republik nach Artikel 93 § 7 der Verfahrensordnung als Streithelferin zur Unterstützung von Frau Cresson in der mündlichen Verhandlung zugelassen worden.

34.      Mit Beschluss des Gerichtshofes vom 9. September 2005 ist der Antrag von Frau Cresson zurückgewiesen worden, der Kommission aufzugeben, Zugang zu einer Reihe von Unterlagen zu gewähren, die sich auf die Entscheidung der Kommission beziehen, gegen Frau Cresson ein Verfahren nach Artikel 213 Absatz 2 EG einzuleiten.

35.      Die Kommission und Frau Cresson sowie die Französische Republik haben in der Sitzung vom 9. November 2005 mündlich verhandelt.

V –    Vorbringen der Beteiligten

A –    Kommission

1.      Artikel 213 EG

36.      Die Kommission trägt vor, dass eine auf Artikel 213 Absatz 2 EG gestützte Klage gegen ein (ehemaliges) Mitglied der Kommission voraussetze, dass es gegen die sich aus diesem Amt ergebenden Pflichten im Sinne dieser Vorschrift des Vertrages verstoßen habe. Es sei Aufgabe der Kommission, Inhalt und Umfang dieser Pflichten unter der Kontrolle des Gerichtshofes zu bestimmen. Diese Pflichten seien verletzt, wenn ein Kommissionsmitglied nicht für das allgemeine Wohl handele oder von persönlichen, privaten oder finanziellen Interessen geleitet werde.

37.      Im Licht dieser Auslegung widerspreche Günstlingswirtschaft sowohl dem allgemeinen Wohl als auch der Ehrenhaftigkeit und der Zurückhaltung, die sich mit dem Amt des Kommissionsmitglieds verbinde. Die Kommission definiert Günstlingswirtschaft als eine Handlung oder Einstellung, die sowohl dem allgemeinen Wohl als auch der Ehrenhaftigkeit eines öffentlichen Amtes zuwiderlaufe und darin bestehe, einer Person (vielfach im Wege der Einstellung) einen Vorteil zu gewähren, die weder Verdienste habe noch qualifiziert sei oder deren Verdienste im Hinblick auf die zu besetzende Stelle offensichtlich unzureichend seien, oder wenn der Vorteil ohne Berücksichtigung der betreffenden Stelle, sondern deshalb gewährt werde, weil es sich um einen persönlichen Freund oder irgendeine andere Person handele, die man belohnen wolle.

38.      In bestimmten Fällen verfügten die Mitglieder der Kommission über ein weites Ermessen, und dies gelte insbesondere für die Zusammenstellung ihrer Kabinette. Darüber hinaus müssten sie sich an die für Einstellungen geltenden Gemeinschaftsvorschriften halten und seien verpflichtet, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob entsprechende Entscheidungen zum allgemeinen Wohl und in Übereinstimmung mit den geltenden Vorschriften getroffen würden. Diese Verpflichtung erstrecke sich auf alle administrativen Stadien nach der Einstellung einer Person, z. B. auf die Verlängerung eines Vertrages oder Beförderungen.

2.      Entgegnung auf die Antwort von Frau Cresson auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte

39.      In ihrer Klageschrift antwortet die Kommission auf die Stellungnahme von Frau Cresson zur Mitteilung der Beschwerdepunkte.

40.      Frau Cresson bestreitet, dass die Klage der Kommission auf Artikel 213 EG gestützt werden könne, und macht geltend, dass das in dieser Vorschrift festgelegte Verfahren in keinem Zusammenhang mit den ihr gegenüber erhobenen Vorwürfen stehe. Es sei auch kein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz vorgesehen. Die Kommission hingegen ist der Auffassung, dass Artikel 213 EG eine geeignete Rechtsgrundlage für ihre Klage darstelle. Dieses Verfahren sei mit den in nationalen Verfassungen vorgesehenen Verfahren wegen Missbrauchs eines öffentlichen Amtes vergleichbar. Dort sei, gerade im Hinblick auf zusätzliche Garantien, der unmittelbare Zugang zum höchsten Gericht des Landes eröffnet. Das Verhalten und die Handlungen von Mitgliedern der Kommission seien Gegenstand spezieller Vorschriften. Die für Beamte der Gemeinschaft geltenden Diziplinarvorschriften fänden auf sie keine Anwendung. Nach Ansicht der Kommission verletzt Artikel 213 EG nicht das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Artikel 213 Absatz 2 EG betreffe alle Pflichten, die den Kommissionsmitgliedern oblägen, und nicht nur die in dieser Vorschrift genannnten Beispiele.

41.      Zum Einwand von Frau Cresson, dass die Berichte des IDOC mangels Zuständigkeit keine Grundlage für die Mitteilung der Beschwerdepunkte darstellen könnten, bemerkt die Kommission, dass die behördlichen Ermittlungen vor der Errichtung dieser Dienststelle begonnen hätten. Die Mitteilung der Beschwerdepunkte hätte sich sowohl auf diese Ermittlungen als auch auf die Berichte des IDOC und des OLAF gestützt. Jedenfalls habe die Kommission und nicht das IDOC die Mitteilung der Beschwerdepunkte an Frau Cresson gerichtet.

42.      Die Kommission bestreitet, dass die Rechte der Verteidigung von Frau Cresson verletzt worden seien, wie diese behauptet. Was ihr Recht auf Einleitung des Verfahrens innerhalb einer angemessenen Frist angehe, so erwähne Artikel 213 EG keine Frist, und Frau Cresson habe auch nicht dargetan, dass ihr Recht, sich zu verteidigen, durch den Zeitablauf in irgendeiner Weise beeinträchtigt worden sei. Die Kommission habe bei der erstmaligen Anwendung von Artikel 213 EG mit der gebotenen Sorgfalt handeln müssen. Außerdem könne das in Artikel 213 EG vorgesehene Verfahren nicht als unfair bezeichnet werden, da es voraussetze, dass die Vorschriften der Satzung des Gerichtshofes und die Verfahrensordnung eingehalten würden. Der Entscheidung, ein Verfahren vor dem Gerichtshof einzuleiten, sei keine Entscheidung vorausgegangen, die sich nachteilig auf die Interessen von Frau Cresson ausgewirkt habe. Das Verfahren beeinträchtige nicht deren Recht, von den Gründen für die Anschuldigung Kenntnis zu erhalten. Aus der Antwort von Frau Cresson auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte gehe hervor, dass ihr die Vorwürfe der Kommission vollständig bekannt gewesen seien und sie alle Möglichkeiten gehabt habe, darauf zu erwidern. Was die angebliche Befangenheit der Kommission angehe, so bemerkt diese, dass nicht sie, sondern der Gerichtshof entscheide, ob eine Sanktion zu verhängen sei. Was schließlich die Verletzung des Rechts von Frau Cresson auf Zugang zu Unterlagen angehe, so sei ihr jederzeit Zugang zu den sie betreffenden Akten angeboten worden.

43.      Zu den Auswirkungen der Entscheidung in dem belgischen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren bemerkt die Kommission, dass der vom Gericht erster Instanz im Urteil François(6) zitierte Satz „le pénal tient le disciplinaire en l’état“ bedeute, dass Disziplinarverfahren bis zum Abschluss des Strafverfahrens ausgesetzt werden müssten. Jedenfalls müsse dieser Grundsatz nicht für die Kommission, sondern für den Gerichtshof gelten, da er in diesem Zusammenhang die Disziplinarbehörde sei. Die Kommission räumt ein, dass die Disziplinarbehörde an den vom Strafgericht festgestellten Sachverhalt gebunden sei. Dies helfe Frau Cresson jedoch nicht weiter, da sich die Entscheidung im Strafverfahren nicht auf den Sachverhalt beziehe, um den es im vorliegenden Verfahren gehe, nämlich Günstlingswirtschaft, die sich in der Einstellung von Herrn Berthelot und der Verlängerung seines Vertrages sowie in den zugunsten von Herrn Riedinger getroffenen Maßnahmen manifestiere. Die Entscheidung, das Strafverfahren gegen Frau Cresson nicht fortzusetzen, stelle daher kein rechtliches Hindernis für die vorliegende Disziplinarklage dar.

44.      Die Kommission tritt dem Argument von Frau Cresson entgegen, dass hinsichtlich der in Rede stehenden Beträge der Grundsatz „de minimis non curat praetor“ anwendbar sei. Wenn überhaupt, betreffe ein solches Argument die Begründetheit, nicht die Zulässigkeit der Klage der Kommission.

45.      Frau Cresson rügt, dass bei den kommissionsintern durchgeführten Ermittlungen eine Reihe von Verfahrensverstößen aufgetreten seien. So verweist sie auf einen Verstoß gegen die Entscheidung über die Errichtung des IDOC, die Tatsache, dass das IDOC in den Zuständigkeitsbereich eingegriffen habe, der dem OLAF vorbehalten sei, die Tatsache, dass die Berichte des IDOC unvollständig seien, die Tatsache, dass sich die Disziplinarverfahren überschnitten hätten, und die Tatsache, dass das Herrn Riedinger betreffende Problem im Kontext des Vorgangs Berthelot angesprochen worden sei. Die Kommission entgegnet, es sei nicht ersichtlich, wie diese angeblichen Unregelmäßigkeiten die Rechte der Verteidigung beeinträchtigt hätten. Was zudem die Bemerkungen von Frau Cresson zu den vom OLAF durchgeführten Ermittlungen betreffe, so habe diese Dienststelle einen allgemeinen Auftrag, bei Betrugsverdacht zu ermitteln, und es sei nicht erforderlich, spezielle Aufträge für jeden Verfahrensschritt zu erteilen. Die Kommission sei auch nicht verpflichtet gewesen, Frau Cresson über ihre Kontakte mit dem OLAF zu informieren. Ebenso wenig hätten die Zusammenfassungen über bestimmte Treffen der Unterzeichnung bedurft. Schließlich sei nicht ersichtlich, dass die angebliche Rechtswidrigkeit des Berichts des Ausschusses unabhängiger Sachverständiger von Bedeutung sein könnte, da die Klage der Kommission auf ihrer eigenen Ermittlung des Sachverhalts beruhe.

46.      Soweit Frau Cresson Schadensersatz fordert, kann die Kommission nicht erkennen, wie die Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 213 EG einem Fehlverhalten gleichkommen könne, sofern nicht die betreffende Entscheidung einen Ermessensmissbrauch darstelle oder abwegig sei, wie z. B. im Fall der Vorlage einer Akte, die nichts Relevantes enthalte.

3.      Die Vorgänge Berthelot und Riedinger

47.      Der wesentliche Sachverhalt, auf den sich die Kommission stützt, ist bereits in Abschnitt III dieser Schlussanträge wiedergegeben worden. Anstatt diesen hier zu wiederholen, genügt wohl der Hinweis, dass nach Ansicht der Kommission die beiden Fälle zusammengenommen den Beweis für Frau Cressons persönliches Eingreifen zugunsten von zwei Personen aus ihrem persönlichen Bekanntenkreis erbringen. Zwar habe formal betrachtet die damit befasste Dienststelle oder ihr Kabinett gehandelt, doch sei im Ergebnis festzustellen, dass die betreffenden Entscheidungen Frau Cresson zuzurechnen seien. Die Kommission ist der Ansicht, dass das Verhalten von Frau Cresson einen – entweder vorsätzlich oder zumindest grob fahrlässig begangenen – schweren Verstoß gegen ihre Pflichten aus Artikel 213 Absatz 2 EG darstelle.

4.      Sanktion

48.      Die Kommission beantragt die Verhängung einer Sanktion, überlässt es aber dem Gerichtshof, deren Umfang festzulegen. Dies könnte auf eine vollständige oder teilweise Aberkennung ihrer Ruhegehaltsansprüche oder eine Aberkennung anderer Vergünstigungen hinauslaufen. Nach Ansicht der Kommission ist die Sanktion unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu verhängen. Insoweit könnten die in Artikel 10 des Anhangs IX des Beamtenstatuts genannten Gesichtspunkte von Bedeutung sein. Im vorliegenden Fall wiege das Fehlverhalten schwer, da es eine ethische Norm betreffe, die das Vertrauen in Frau Cresson untergrabe, auch wenn sie kein Mitglied der Kommission mehr sei. Sie sei sich vollständig bewusst gewesen, dass ihre Handlungen Günstlingswirtschaft dargestellt hätten, und es gebe glaubhafte Indizien, dass Frau Cresson zumindest zum Teil vorsätzlich gehandelt habe.

B –    Frau Cresson

1.      Allgemeine Bemerkungen

49.      Frau Cresson beklagt vor allem, dass gegen sie eine wahrhaftige Kriegsmaschine in Gang gesetzt worden sei, da sie vor dem Ausschuss für Haushaltskontrolle des Europäischen Parlaments (COCOBU) habe erscheinen müssen und von nachfolgenden Ermittlungen des OLAF, des IDOC und der GD ADMIN betroffen gewesen sei. Diese Maßnahmen stünden außer jedem Verhältnis zu dem ihr zur Last gelegten Sachverhalt. Dies lasse sich ohne Zweifel mit dem Klima rund um die ganze Affäre erklären, die zum kollektiven Rücktritt der Santer-Kommission geführt habe. Die Affäre sei durch einen Zeitungsartikel eines belgischen Journalisten ausgelöst worden, der wegen verschiedener Straftaten in Belgien und Frankreich verurteilt worden sei. Anschließend habe ein ehemaliger Beamter der Kommission, Herr Van Buitenen, in seinem Bestreben, angebliche Betrugsfälle zu Lasten der Gemeinschaft aufzudecken, die Akten an die belgischen Justizbehörden, den Ausschuss unabhängiger Experten, das OLAF und die Presse gesandt. Im Juni 1999 sei ein belgischer Untersuchungsrichter in der Angelegenheit tätig geworden und habe die Aufhebung der Immunität von Frau Cresson erreicht.

50.      Was das Strafverfahren in Belgien angeht, so weist Frau Cresson darauf hin, dass sie nur einmal innerhalb von fünf Jahren vom Untersuchungsrichter angehört worden sei. Die Kommission habe ihre Mitteilung der Beschwerdepunkte etwa zur selben Zeit versandt, als sie aus der Presse erfahren habe, dass gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet werde. Dies zeige die enge Verbindung zwischen dem Disziplinar- und dem Strafverfahren. Frau Cresson betont, dass letztlich keine der gegen sie erhobenen Beschuldigungen aufrechterhalten worden sei und das Verfahren mit einer Entscheidung über die Einstellung des Strafverfahrens (non-lieu) abgeschlossen worden sei. Überdies habe die Kommission kein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung eingelegt.

51.      Was das Verfahren bei der Kommission betreffe, so sei sie erst drei Jahre nach dem Rücktritt der Santer-Kommission davon in Kenntnis gesetzt worden, dass die Kommission ihr Günstlingswirtschaft zur Last lege und dies als eine schwerwiegende Verletzung ihrer Pflichten als Kommissionsmitglied ansehe. Der Rechtsanwalt von Frau Cresson kritisierte das Verfahren außerdem im Hinblick auf die Handlungsfristen, die Unabhängigkeit der Kommission, die Einhaltung von Grundrechten und das Fehlen eines eindeutig definierten Verfahrensrahmens für die Behandlung der Angelegenheit. Frau Cresson weist außerdem darauf hin, dass der Generalsekretär der Kommission einmal die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Straf- und dem Disziplinarverfahren aufgeworfen habe. Angesichts der Art und Weise, in der das Verfahren durchgeführt worden sei, und vor allem angesichts der Tatsache, dass bei der Anhörung vor dem Kollegium der Kommissionsmitglieder keine Fragen an sie gestellt worden seien, sei die Kommission offensichtlich entschlossen gewesen, die Angelegenheit vor den Gerichtshof zu bringen.

2.      Rechtliche Argumente

a)      Unzulässigkeit

52.      Frau Cresson macht geltend, dass Artikel 213 EG im Hinblick auf seinen Zweck, die Verhängung schwerer Sanktionen gegen Mitglieder der Kommission zu ermöglichen, eng ausgelegt werden müsse. Artikel 213 Absatz 2 Unterabsätze 1 und 2 EG verlange von den Mitgliedern der Kommission, dass sie „ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft aus[üben]“. Täten sie dies nicht, so seien die Vorschriften des Artikels 216 EG anwendbar. Demgegenüber sei Artikel 213 Absatz 2 Unterabsatz 3 einschlägig, wenn ein Kommissar bei der Übernahme externer Tätigkeiten, sei es während oder nach seiner Amtszeit, nicht ehrenhaft und zurückhaltend handele. In diesem Fall sei die Sanktion entweder die Amtsenthebung nach Artikel 216 EG oder die Aberkennung von Ruhegehaltsansprüchen oder anderen Vergünstigungen. Da Frau Cresson keine Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit externen Tätigkeiten zur Last gelegt würden, fänden die Vorschriften des Artikels 213 Absatz 2 Unterabsatz 3 auf sie keine Anwendung. Außer Artikel 213 Absatz 2 EG gebe es keine zwingende Rechtsvorschrift, die gegen Frau Cresson ins Feld geführt werden könne. Der Verhaltenskodex für Kommissionsmitglieder sei erst nach den vorliegend relevanten Ereignissen erlassen worden und enthalte darüber hinaus keine Verpflichtung, die im Hinblick auf den Frau Cresson zur Last gelegten Sachverhalt von Bedeutung wäre. Erneut verweist Frau Cresson darauf, dass in diesem Zusammenhang schriftliche Verfahrensregeln zur Gewährleistung der Rechte der Verteidigung fehlten, was die Klage der Kommission rechtswidrig mache. Artikel 213 Absatz 2 EG könne daher nicht als rechtliche Grundlage für die Entscheidung der Kommission vom 19. Juli 2004, den Gerichtshof anzurufen, dienen.

53.      Frau Cresson macht geltend, dass ab dem Zeitpunkt, zu dem die Kommission dem Strafverfahren als Zivilpartei beigetreten sei, der Grundsatz „le pénal tient de disciplinaire en l’état“ Anwendung finde, wonach in einem Disziplinarverfahren aufgrund desselben Sachverhalts der Ausgang des Strafverfahrens abgewartet werden müsse. Wenn der Sachverhalt in beiden Verfahren identisch sei, verliere das Disziplinarverfahren seine Existenzberechtigung, sofern die Vorwürfe im Rahmen des Strafverfahrens niedergeschlagen würden. Die belgische Staatsanwältin habe zwar die Anschuldigung in Bezug auf die Dienstreisen von Herrn Berthelot zunächst aufrechterhalten, sei aber später zu dem Ergebnis gekommen, dass sie keinen Grund habe, die Verantwortung dafür Frau Cresson zuzuschreiben. Da die den Vorwürfen zugrunde liegenden Tatsachen in beiden Verfahren ungeachtet ihrer rechtlichen Einordnung identisch seien, erfülle die vorliegende Klage keinen Zweck und müsse als unzulässig angesehen werden. Die Entscheidung in der Strafsache habe die Klage der Kommission gegenstandslos gemacht.

54.      Der einzige Vorwurf, der von der belgischen Strafverfolgungsbehörde aufrechterhalten worden sei, habe sich auf die falschen Dienstreiseaufträge bezogen, bei denen es um einen Betrag in Höhe von 6 930 Euro gegangen sei. Abgesehen davon, dass die Staatsanwältin entschieden habe, dass dieser Vorwurf nicht Frau Cresson zur Last gelegt werden könne, gehe es um einen vergleichsweise geringen Geldbetrag, für den der Grundsatz de minimis non curat praetor gelte.

55.      Aus all diesen Gründen sei die Klage der Kommission als unzulässig abzuweisen.

b)      Begründetheit

56.      Hilfsweise macht Frau Cresson geltend, dass die gegen sie erhobenen Vorwürfe unbegründet seien.

57.      Herr Berthelot sei im Einklang mit den geltenden Bestimmungen eingestellt worden, um ihr beratend zur Seite zu stehen. Da der Status eines Gastwissenschaftlers nach Ansicht der Verwaltung der geeignetste gewesen sei, habe Frau Cresson seinen Status nie in Frage gestellt. Die Qualifikationen von Herrn Berthelot seien nicht geringer gewesen als die anderer Gastwissenschaftler. Er habe effektiv gearbeitet und Frau Cresson auf ihren Dienstreisen begleitet. Er selbst habe seinen Vertrag aus gesundheitlichen Gründen beendet. Erst nach seinem Ausscheiden habe sich die Frage nach dem Abschlussbericht gestellt. Vorher sei davon keine Rede gewesen. Herr Berthelot habe einen Bericht auf der Grundlage von Vermerken zusammengestellt. Die Behauptung, dass er ihn nicht selbst geschrieben habe, sei verleumderisch. Hinsichtlich der Dienstreiseaufträge verweist Frau Cresson auf den von der belgischen Staatsanwaltschaft festgestellten Sachverhalt.

58.      Nach Ansicht von Frau Cresson ist die Akte Riedinger leer. Jeder der drei Verträge, die ihm angeboten worden seien, seien im allgemeinen Interesse gewesen, und Herr Riedinger habe seinen Beitrag erbracht, ohne irgendeine Vergütung zu erhalten. Der Vorwurf mangelnder Ehrenhaftigkeit sei zum ersten Mal in der Klageschrift der Kommission erhoben worden und unbegründet. Frau Cresson werde offenbar mangelnde Ehrenhaftigkeit vorgeworfen, weil sie den Abschluss zweier Verträge vorgeschlagen habe, die weder zu einem Bericht noch zu einer Studie geführt hätten und für die Herr Riedinger keine Bezahlung erhalten habe.

59.      Weiter hilfsweise macht Frau Cresson eine Reihe schwerer Verfahrensfehler geltend.

60.      Frau Cresson ist zunächst der Auffassung, dass die behördlichen Ermittlungen zu Unrecht vom Generaldirektor für Personal und Verwaltung als Anstellungsbehörde auf der Grundlage des IDOC‑Berichts eingeleitet worden seien, da sie vom Kollegium der Kommissionsmitglieder hätte eingeleitet werden müssen.

61.      Weiter rügt Frau Cresson in diesem Zusammenhang, dass die Kommission in dem Verfahren, das zur vorliegenden Klage geführt habe, gegen Grundrechte und fundamentale Prinzipien verstoßen habe. Erstens sei es angesichts der Tatsache, dass die Berichte, auf die sich die Kommission stütze, seit langem verfügbar seien und der Fall nicht kompliziert sei, nicht akzeptabel, das Verfahren erst im Jahr 2003, also sieben Jahre, nachdem sich der Sachverhalt zugetragen habe, einzuleiten. Zweitens nehme die Kommission, auch wenn sie (zu Unrecht) behaupte, nicht die Disziplinarbehörde zu sein, verschiedene Verfahrensrollen wahr, die getrennt bleiben müssten. Drittens habe sich die Kommission dem Druck gebeugt, der vor allem vom Europäischen Parlament ausgegangen sei, und könne daher nicht als unparteiisch angesehen werden. Viertens seien bei der Durchführung des internen Verfahrens mehrere Verfahrensfehler begangen worden, die u. a. die Rolle des IDOC, die Tatsache, dass sich die Verfahren in Bezug auf den Vorgang Riedinger überschnitten hätten, sowie die Festsetzung unverhältnismäßiger Fristen beträfen.

62.      Das schwerwiegendste Verfahrensproblem sei jedoch, dass es Frau Cresson im Gegensatz zu Beamten und sonstigen Bediensteten der Gemeinschaft nicht möglich sei, Rechtsmittel einzulegen, wenn der Gerichtshof gegen sie entscheide und ihr eine Sanktion auferlege. Bei Disziplinarverfahren erhielten Mitglieder der Kommission weniger Garantien und gerichtlichen Rechtsschutz als Beamte der Gemeinschaft. Dadurch sieht sich Frau Cresson in ihren Grundrechten verletzt. Die Verteidigungsrechte von Ministern in den Mitgliedstaaten seien insoweit besser geschützt.

63.      Frau Cresson betont die erheblichen Unterschiede, die im Rahmen von Disziplinarverfahren zwischen der Behandlung von Beamten und Mitgliedern der Kommission bestünden. Letztere erhielten weniger Garantien und keinen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz. Sie sieht darin eine Verletzung ihrer Grundrechte.

64.      Frau Cresson räumt ein, dass eine Schadensersatzforderung nicht im Wege der Widerklage geltend gemacht werden könne. Sie möchte jedoch den Schaden herausstellen, den sie durch die schikanöse und übertriebene Vorgehensweise der Kommission erlitten habe. Sie beantragt, dass die Kommission zur Tragung der Kosten verurteilt wird.

C –    Der Standpunkt der Französischen Republik

65.      Die Französische Republik stimmt mit Frau Cresson darin überein, dass Artikel 213 Absatz 2 EG sowohl in inhaltlicher als auch in zeitlicher Hinsicht nicht als Grundlage für die gegen Frau Cresson gerichtete Klage geeignet sei. Dieses Verfahren gehe über den Mechanismus der kollektiven politischen Verantwortung der Kommission hinaus, der mit dem Rücktritt der Santer-Kommission bereits ausgelöst worden sei. Mit ihrem kollektiven Rücktritt habe die Kommission zum Ausdruck gebracht, dass sie für die damals festgestellten Fälle von Amtsmissbrauch kollektiv verantwortlich sei. Dementsprechend seien keine Maßnahmen gegen einzelne Mitglieder ergriffen worden.

66.      Die Französische Republik teilt Frau Cressons Ansicht, dass die Entscheidung, das Strafverfahren in Belgien nicht fortzusetzen, der Disziplinarklage die Grundlage entziehe, und verweist in diesem Zusammenhang auf die Feststellungen der Staatsanwältin in diesem Verfahren. Der Standpunkt der Kommission, dass es in dem belgischen Verfahren nicht um Günstlingswirtschaft gegangen sei, sei unklar. Meine sie, dass die rechtliche Einordnung eine andere sei, oder sei der Sachverhalt selbst ein anderer? Jedenfalls sei das belgische Gericht eindeutig zu dem Ergebnis gelangt, dass der Sachverhalt nicht erwiesen sei oder Frau Cresson nicht zugerechnet werden könne. Es habe ebenfalls festgestellt, dass die Einstellung von Herrn Berthelot nicht den Gemeinschaftsvorschriften widersprochen habe. Die von der Kommission behauptete Günstlingswirtschaft stehe im Widerspruch zu den Tatsachenfeststellungen des belgischen Gerichts.

67.      Unter diesen Umständen vertritt die französische Regierung die Ansicht, dass die Verhängung einer Sanktion auf der Grundlage von Artikel 213 Absatz 2 EG unverhältnismäßig wäre. Eine solche Sanktion setzte eine schwerwiegende Pflichtverletzung voraus. Was Beamte der Gemeinschaft angehe, so sei die Sanktion der Aberkennung von Ruhegehaltsansprüchen innerhalb eines Zeitraums von fünfzig Jahren nur ein einziges Mal verhängt worden, sie habe eine Verminderung um 35 % betroffen, und es sei um einen Fall von Korruption gegangen(7). Eine Sanktion wäre auch angesichts der Tatsache unverhältnismäßig, dass acht Jahre vergangen seien, seit sich der maßgebliche Sachverhalt zugetragen habe. In diesem Zusammenhang wird auf die Schnelligkeit verwiesen, mit der gegen das ehemalige Kommissionsmitglied Bangemann vorgegangen worden sei. Der Fall von Frau Cresson dürfe nicht isoliert von den zur damaligen Zeit innerhalb der Kommission bestehenden Praktiken betrachtet werden. Die Kommission sei nicht gegen sie vorgegangen, solange sie im Amt gewesen sei. Es wäre unverhältnismäßig, sie für Vorgänge zu bestrafen, die der Kommission als Ganzes vorgeworfen worden seien.

VI – Allgemeine Bemerkungen zu Artikel 213 Absatz 2 EG

68.      Auch wenn sich die Argumente in der vorliegenden Rechtssache offensichtlich auf die Vorwürfe gegen Frau Cresson und die genaue Bedeutung und Funktion von Artikel 213 Absatz 2 EG konzentrieren, wirft diese Rechtssache Fragen auf, die von weiter gehender verfassungsrechtlicher Bedeutung für die Europäische Union und ihre Organe sind. Es geht um Vorgaben, an die sich Inhaber von mit Machtbefugnissen ausgestatteten Ämtern halten müssen, und um die Art und Weise, in der sie für die Nichteinhaltung der Vorgaben zur Rechenschaft gezogen werden. Für das einwandfreie Funktionieren der Gemeinschaftsorgane ist es unerlässlich, dass Inhaber hoher Ämter nicht nur in beruflicher Hinsicht als kompetent angesehen werden, sondern dass sie auch in dem Ruf stehen, sich untadelig zu verhalten. Die persönlichen Eigenschaften dieser Personen beeinflussen unmittelbar das Vertrauen, das die Allgemeinheit den Organen der Gemeinschaft entgegenbringt, deren Glaubwürdigkeit und damit deren Wirksamkeit. Wie der Ausschuss unabhängiger Sachverständiger in seinem Bericht vom 15. März 1999 zutreffend hervorhebt, wird es nur durch die Einhaltung grundlegender Vorgaben für korrektes Verhalten „für Inhaber hoher Ämter möglich sein, über die Autorität und Glaubwürdigkeit zu verfügen, die sie befähigt, die von ihnen erwartete Führung anzubieten“(8).

69.      Um die Funktion von Artikel 213 Absatz 2 EG innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens der Gemeinschaft zu beurteilen und auch das vorliegende Verfahren in seine zutreffende Perspektive einzuordnen, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es parallele Vorschriften für die anderen Organe und Einrichtungen der Gemeinschaften gibt, die die ihnen übertragenen Aufgaben in voller Unabhängigkeit und Unparteilichkeit wahrnehmen müssen. Ich verweise insoweit auf Artikel 195 Absatz 2 EG in Bezug auf den Europäischen Bürgerbeauftragten, Artikel 247 Absatz 7 EG in Bezug auf den Rechnungshof, Artikel 11 Absatz 4 der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank in Bezug auf das Direktorium der Europäischen Zentralbank sowie die Artikel 6 und 47 der Satzung des Gerichtshofes in Bezug auf den Gerichtshof und das Gericht erster Instanz.

70.      Was die Kommission und diese Organe und Einrichtungen gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass sie – mit der offensichtlichen Ausnahme des Europäischen Bürgerbeauftragten – als Kollegialorgane handeln und dass die einzelnen Mitglieder nicht aus Gründen abberufen werden können, die im Zusammenhang mit der Ausübung der Funktionen dieser Kollegialorgane stehen. Da die Mitglieder der genannten Organe die höchsten Ämter in ihren jeweiligen Bereichen innehaben und keiner hierarchischen Kontrolle unterliegen, sind besondere Regelungen notwendig, um zu gewährleisten, dass jeder Missbrauch von Befugnissen in angemessener Weise geahndet wird. Es gehört untrennbar zu dieser Funktion, dass die Befugnis zur Verhängung von Sanktionen entweder in dem Organ angesiedelt ist, dessen Mitglied die betroffene Person ist, oder in einem anderen Organ mit gleichwertigem Status innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens(9).

71.      Indem sie sicherstellen, dass Inhaber öffentlicher Ämter nicht aufgrund ihres Amtes vor jeglicher Strafe geschützt sind, wenn sie die erforderlichen Vorgaben für persönliches Verhalten nicht erfüllen, schaffen Verfahren dieser Art grundlegende Garantien, dass die betroffenen Organe im Einklang mit ihren verfassungsmäßigen Aufgaben handeln. Bereits die Existenz solcher Regelungen dient insoweit auch einem präventiven Zweck.

72.      Außerdem ist hervorzuheben, dass die Anwendung solcher verfassungsrechtlicher Regelungen die Anwendung anderer Strafmechanismen im Hinblick auf dasselbe Verhalten von Inhabern öffentlicher Ämter nicht ausschließt. Die Anwendung anderer Mechanismen stellt auch kein Hindernis für die Anwendung des verfassungsrechtlichen Verfahrens dar. Ich nehme insbesondere Bezug auf die Mechanismen der politischen Verantwortlichkeit und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Was den ersten Aspekt betrifft, so ist die Kommission dem Europäischen Parlament nach den Artikel 197 and 201 EG nur als Kollegialorgan verantwortlich. Das Parlament hat keine Möglichkeit, das Verhalten einzelner Mitglieder der Kommission zu missbilligen. Jedoch verpflichtet Artikel 217 Absatz 4 EG in der durch den Vertrag von Nizza geänderten Fassung einzelne Mitglieder zum Rücktritt, wenn der Präsident der Kommission sie nach Billigung durch das Kollegium der Kommissionsmitglieder dazu auffordert. Was den zweiten Aspekt betrifft, so kann der Inhaber eines öffentlichen Amtes, wenn das fragliche Verhalten nach nationalem Recht eine Straftat darstellt, in einem der Mitgliedstaaten möglicherweise strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. In diesem Fall muss die Immunität des Kommissionsmitglieds gemäß Artikel 20 in Verbindung mit Artikel 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 aufgehoben werden. Welcher Mechanismus zur Anwendung kommt, hängt von der Natur des betreffenden Verstoßes und der Art der betroffenen Vorgaben ab. All diese Mechanismen dienen unterschiedlichen Zwecken und schließen sich daher nicht gegenseitig aus.

73.      Im Fall der Kommission gibt es einen unmittelbaren funktionellen Zusammenhang zwischen der Vorgabe, wie sich ihre Mitglieder zu verhalten haben, und ihrer Rolle im institutionellen Rahmen der Gemeinschaft. Insoweit ist es wichtig, zu unterstreichen, dass die Kommission abgesehen davon, dass sie das Exekutivorgan der Gemeinschaft ist, eine wichtige vermittelnde Rolle beim Ausgleich der Interessen der Mitgliedstaaten, des Handels und der Industrie sowie der Gemeinschaftsbürger im Prozess der Festlegung der Gemeinschaftspolitiken und des Vorschlagens von Gemeinschaftsvorschriften wahrnimmt. In bestimmten Bereichen übt sie außerdem eine gerichtsähnliche Rolle aus, wie im Bereich des Wettbewerbs oder wenn sie nach den Artikeln 226 und 228 EG gegenüber den Mitgliedstaaten gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen durchsetzt. Die Kommission kann diese Aufgaben nur dann erfolgreich erfüllen, wenn sie und ihre einzelnen Mitglieder in dem Ruf stehen, ihre Aufgaben vollkommen unparteiisch und in voller Unabhängigkeit wahrzunehmen. Nur dann wird sie über die Autorität verfügen können, um das Vertrauen der anderen Organe der Gemeinschaft, der Mitgliedstaaten und der Allgemeinheit zu gewinnen.

74.      Es gehört daher zur Funktion und zu den Aufgaben der Kommission, dass die einzelnen Kommissare jederzeit die strengsten Vorgaben für das Verhalten erfüllen, um ihre Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Ehrenhaftigkeit zu gewährleisten. Dies gilt nicht nur für ihre äußerlich wahrnehmbaren Tätigkeiten, sondern auch für die Art und Weise, in der sie bei der Leitung der Dienststellen in ihrem Verantwortungsbereich und im Rahmen der Beziehungen zu anderen internen Dienststellen der Kommission handeln. Die interne Arbeitskultur innerhalb der Kommission ist selbst ein bestimmender Faktor für die Gewährleistung der Wirksamkeit des Handelns der Kommission.

75.      Jede Verfehlung dieser Vorgaben durch einzelne Mitglieder der Kommission kann beträchtlichen Schaden für das öffentliche Ansehen dieses Organs zur Folge haben und das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wird, untergraben, was wiederum seine Wirksamkeit verringern wird. Dass dies nicht lediglich eine hypothetische Betrachtung ist, zeigen die Auswirkungen der Ereignisse, die 1999 zum geschlossenen Rücktritt der Santer-Kommission geführt haben.

76.      Die Pflichten, die den Mitgliedern der Kommission obliegen, werden in Artikel 213 Absatz 2 EG allgemein beschrieben. Aus dieser Vorschrift ergibt sich, dass die Mitglieder ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit und zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft ausüben müssen. Sie haben jede Handlung zu unterlassen, die mit ihren Aufgaben unvereinbar ist. Bei der Aufnahme ihrer Tätigkeit müssen die Mitglieder der Kommission die feierliche Verpflichtung übernehmen, sowohl während der Ausübung als auch nach Ablauf ihrer Amtstätigkeit „die sich aus ihrem Amt ergebenden Pflichten zu erfüllen, insbesondere die Pflicht, bei der Annahme gewisser Tätigkeiten oder Vorteile nach Ablauf dieser Tätigkeit ehrenhaft und zurückhaltend zu sein“.

77.      Was genau die in Artikel 213 Absatz 2 EG erwähnten Pflichten mit sich bringen, ist eine Frage der Auslegung und in der Tat die zentrale Frage in der vorliegenden Rechtssache. Zu der Zeit, als sich die Frau Cresson zur Last gelegten Ereignisse zugetragen haben, gab es keinen Verhaltenskodex für Kommissionsmitglieder, der die einzuhaltenden Vorgaben festlegte. Inzwischen ist ein solcher Verhaltenskodex erstellt und in Kraft gesetzt worden(10). Der Verhaltenskodex enthält verschiedene Leitlinien zu ethischen Fragen in Bezug auf die Unabhängigkeit und Ehrenhaftigkeit der Funktion eines Kommissionsmitglieds sowie hinsichtlich der Treuepflicht, des Vertrauens und der Transparenz bei der internen Arbeit der Kommission. Er enthält jedoch offenbar keine Leitlinien oder Grundsätze, die sich auf die Umstände beziehen, die der vorliegenden Rechtssache zugrunde liegen. Wie dem auch sei, es gehört untrennbar zum Amt eines Mitglieds der Kommission und zur Wirksamkeit der Arbeitsweise dieses Organs, dass bestimmte ethische Vorgaben eingehalten werden. Insoweit kann darauf hingewiesen werden, dass Vorgaben für Beamte der Gemeinschaft in den Artikeln 10 bis 12a des Beamtenstatuts festgelegt sind. Auch wenn diese Vorschriften nicht für Kommissionsmitglieder gelten, so kann doch angenommen werden, dass sie absolute Mindestvorgaben darstellen, die von diesen zu beachten sind.

78.      Es ist nicht ohne weiteres möglich und auch nicht zweckmäßig, zu versuchen, Vorgaben für korrektes Verhalten in einem öffentlichen Amt erschöpfend festzulegen. Es wird immer einen Vorgang geben, bei dem nicht angegeben werden kann, gegen welche Vorgabe verstoßen worden ist, es aber möglich ist, festzustellen, dass das Verhalten gleichwohl dem allgemeinen Wohl zuwiderläuft. Dies ähnelt gewissermaßen der Art und Weise, in der Kenneth Clark einst das Phänomen „Zivilisation“ beschrieben hat: „Was ist Zivilisation? Ich weiß nicht. Ich kann sie nicht abstrakt definieren – noch nicht. Aber ich glaube, ich kann sie erkennen, wenn ich sie sehe …“(11)

79.      Der Ausschuss unabhängiger Sachverständiger weist insoweit auf einen „gemeinsamen Bestand an Mindestvorgaben“ hin, den er als Handeln im allgemeinen Interesse der Gemeinschaft und in völliger Unabhängigkeit definiert. Dies erfordere, dass Entscheidungen einzig und allein im öffentlichen Interesse auf der Grundlage objektiver Kriterien und nicht unter dem Einfluss eigener oder sonstiger privater Interessen getroffen würden. Mit einbegriffen sei außerdem ein ehrenhaftes und zurückhaltendes Verhalten, das in Einklang stehen sollte mit den Grundsätzen der Rechenschaftspflicht und Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit. Letzteres impliziere u. a., dass alle persönlichen gegensätzlichen Interessen wahrhaft und öffentlich zugegeben würden(12).

80.      Wenn man versucht, Vorgaben festzulegen, die von Inhabern öffentlicher Ämter einzuhalten sind, und somit den vom Ausschuss unabhängiger Experten erwähnten „gemeinsamen Bestand“ zu präzisieren, ist es nützlich, auf die so genannten sieben Grundsätze für das öffentliche Leben zurückzugreifen, die vom Nolan Committee on Standards in Public Life in the United Kingdom aufgestellt worden sind. Diese Grundsätze sind: Uneigennützigkeit, Ehrenhaftigkeit, Objektivität, Rechenschaftspflicht, Transparenz, Wahrhaftigkeit und Führungskraft. Der erste dieser Grundsätze, Uneigennützigkeit, wird wie folgt näher definiert: „Inhaber öffentlicher Ämter sollten nur im Sinne des öffentlichen Interesses handeln. Sie sollten nicht handeln, um finanzielle oder sonstige Vergünstigungen für sich selbst, ihre Familie oder ihre Freunde zu erlangen.“

81.      Schließlich sollte beachtet werden, dass die Bedeutung, die ich der Notwendigkeit, dass Kommissionsmitglieder während ihrer gesamten Amtszeit ihre vollkommene Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleisten können, als einer Voraussetzung dafür beimesse, dass die Kommission die ihr übertragenen Aufgaben erfüllen kann, nicht das Ergebnis neuer Erkenntnisse oder geänderter Werte ist. Auf der konstituierenden Sitzung der Kommission vom 16. Januar 1958 in Val Duchesse beschrieb ihr Präsident Walter Hallstein unter Bezugnahme auf den von den Kommissionsmitgliedern bei der Amtsübernahme zu leistenden Eid, wie er in Artikel 213 Absatz 2 EG niedergelegt ist, den Wesensgehalt der Pflichten der Kommissionsmitglieder mit folgenden Worten:

„En prononçant solennellement ces paroles, en notre nom à tous ainsi que l'exigent les termes du Traité, nous reconnaissons l'essentiel des obligations qui nous sont désormais communes.

Nous entendons par ,l’essentiel‘ que nos travaux servent l’Europe – l’Europe et non quelconques intérêts particuliers qu'ils soient d'ordre national, professionnel, économique ou personnel.

C'est en cela que réside la difficulté de nôtre tâche, mais c'est aussi ce qui lui confère une insigne dignité“(13).

Einen klareren Beleg für die Richtigkeit der vorstehenden Bemerkungen kann es nicht geben.

VII – Analyse

82.      Die Klage der Kommission wirft eine Vielzahl rechtlicher Fragen auf, die sich folgenden vier Kategorien zuordnen lassen: Zulässigkeit, Verfahrensfragen, entscheidungserheblicher Sachverhalt und Möglichkeit der Verhängung einer Sanktion.

A –    Zulässigkeit

83.      Frau Cresson macht in erster Linie geltend, dass die Klage der Kommission unzulässig sei, weil Artikel 213 EG für diese keine geeignete Grundlage sei, dass die vorliegende Klage im Anschluss an die Entscheidung der Chambre du conseil am Tribunal de première instance Brüssel, das Strafverfahren gegen sie nicht fortzusetzen, gegenstandslos geworden sei und dass angesichts der vergleichsweise geringen Beträge, um die es gehe, der Grundsatz de minimis non curat praetor Anwendung finden sollte.

84.      Artikel 213 Absatz 2 EG als solcher enthält keine besonderen Erfordernisse für die Zulässigkeit einer auf diese Vorschrift gestützten Klage der Kommission oder des Rates. Die von Frau Cresson aufgeworfenen Verfahrensfragen sind jedoch von Bedeutung und erfordern eine Untersuchung der Funktion und der Tragweite dieser Vorschrift sowie ihres Verhältnisses zu anderen sich auf dieselben Vorwürfe beziehenden Verfahren.

1.      Artikel 213 Absatz 2 EG als Grundlage für die vorliegende Klage

85.      Frau Cresson unterscheidet zwischen den in Artikel 213 Absatz 2 letzter Satz EG vorgesehenen Sanktionen. Die Sanktion der Amtsenthebung könne verhängt werden, wenn ein Kommissionsmitglied während seiner Amtszeit seiner Pflicht nicht nachgekommen sei, seine Aufgaben zum allgemeinen Wohl auszuüben. Dies sei der Fall, der in Artikel 216 EG, auf den Artikel 213 Absatz 2 EG verweise, vorgesehen sei. Hingegen könne die Sanktion, einem Kommissionsmitglied seine Ruhegehaltsansprüche oder andere Vergünstigungen abzuerkennen, nur verhängt werden, nachdem das Kommissionsmitglied aus dem Amt ausgeschieden sei. Zudem könne diese Maßnahme nur ergriffen werden, wenn sich das betreffende Kommissionsmitglied nach seiner Amtszeit hinsichtlich der Annahme gewisser Tätigkeiten oder Vorteile nicht hinreichend ehrenhaft und zurückhaltend gezeigt habe. Da sich die gegen sie erhobenen Vorwürfe nicht auf die letztgenannte Art von Zuwiderhandlung bezögen, könne die Klage der Kommission nicht auf Artikel 213 Absatz 2 EG gestützt werden.

86.      Die Kommission hingegen vertritt die Auffassung, dass jede der in Artikel 213 Absatz 2 EG vorgesehenen Sanktionen gegen ein amtierendes oder ein ehemaliges Kommissionsmitglied verhängt werden könne, wenn nachgewiesen sei, dass dieses die sich aus seinem Amt ergebenden Pflichten nicht erfüllt habe. Günstlingswirtschaft, die sich in der Einstellung von Personen bei der Kommission zeige, könne als eine Verletzung dieser Pflichten angesehen werden.

87.      Diese Diskussion bezieht sich im Wesentlichen auf drei Aspekte der Tragweite von Artikel 213 Absatz 2 EG. Erstens, darf bezüglich der Anwendbarkeit der Sanktionen der Amtsenthebung und der Aberkennung der Ruhegehaltsansprüche danach unterschieden werden, ob das betreffende Kommissionsmitglied noch im Amt ist? Zweitens, darf die Sanktion, die darin besteht, einem Kommissionsmitglied seine Ruhegehaltsansprüche abzuerkennen, bei einem Verstoß gegen alle sich aus dem Amt als Kommissionsmitglied ergebenden Pflichten verhängt werden oder nur dann, wenn es um die Pflichten in Bezug auf externe Tätigkeiten geht? Drittens, welche Pflichten werden von Artikel 213 Absatz 2 EG erfasst?

88.      Was die erste dieser Fragen betrifft, so genügt es, sich den eindeutigen Wortlaut von Artikel 213 Absatz 2 EG anzusehen, der in seinem letzten Satz bestimmt, dass eine der beiden Sanktionen bei einer Verletzung der Pflichten des Kommissionsmitglieds verhängt werden kann. Dieser Begriff der „Pflichten“ kann sich nur auf denselben Begriff im vorhergehenden Satz beziehen, der die feierliche Verpflichtung der Kommissionsmitglieder zum Gegenstand hat, während der Ausübung und nach Ablauf ihrer Amtstätigkeit die sich aus ihrem Amt ergebenden Pflichten zu erfüllen. Mit anderen Worten: Die einschlägigen Pflichten müssen von den Kommissionsmitgliedern zu jeder Zeit erfüllt werden, und es wird nicht danach unterschieden, ob der Antrag beim Gerichtshof während oder nach Ablauf der Amtszeit des Kommissionsmitglieds gestellt wird. Es ist deshalb theoretisch möglich, dass gegenüber einem noch amtierenden Kommissionsmitglied, anstatt seine Amtsenthebung zu beantragen, Artikel 213 Absatz 2 EG geltend gemacht wird, damit ihm seine Ruhegehaltsansprüche oder andere Vergünstigungen aberkannt werden.

89.      Es gibt daher keine Grundlage für die von Frau Cresson vorgenommene Unterscheidung bei der Anwendung von Artikel 213 EG auf amtierende und ehemalige Kommissionsmitglieder. In ihrem Fall besteht die Möglichkeit der Verhängung einer finanziellen Sanktion angesichts der Tatsache, dass sie nicht nach Artikel 216 EG ihres Amtes enthoben wurde. Sie ist stattdessen zusammen mit den übrigen Mitgliedern der Santer-Kommission freiwillig zurückgetreten.

90.      Das zweite Argument, wonach die zweite in Artikel 213 Absatz 2 EG vorgesehene Sanktion nur verfügbar sein soll, wenn das betreffende Kommissionsmitglied bei der Annahme von Tätigkeiten oder Vorteilen nach Ablauf seiner Amtszeit nicht ehrenhaft und zurückhaltend gewesen sei, stützt sich auf eine zu restriktive Auslegung dieser Vorschrift. Diese spezifische Bestimmung ist als eine besondere Ausprägung der allgemeinen Pflichten, die von den Kommissionsmitgliedern zu erfüllen sind, anzusehen, was sich aus der Verwendung des ihr vorausgehenden Wortes „insbesondere“ ergibt. Angesichts ihres grundlegenden Charakters hatte es diese Pflicht verdient, in dieser Vorschrift ausdrücklich erwähnt zu werden.

91.      Der dritte die Tragweite von Artikel 213 Absatz 2 EG betreffende Aspekt ist bereits im Zusammenhang mit meinen allgemeinen einleitenden Bemerkungen erörtert worden. Jedes Verhalten, das voraussichtlich Zweifel an der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit eines einzelnen Kommissionsmitglieds begründet, muss als eine Pflichtverletzung im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden, die Anlass zu den vorgesehenen Sanktionen geben kann. Entgegen dem Vorbringen von Frau Cresson, dass Artikel 213 Absatz 2 EG angesichts der schwerwiegenden Konsequenzen, die eine Pflichtverletzung haben könne, eng ausgelegt werden müsse, spricht alles dafür, die Tragweite dieser Vorschrift weit auszulegen, um ihre Wirksamkeit bei der Abschreckung vor Verhaltensweisen zu gewährleisten, die schädliche Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit der Kommission als Ganzes haben können.

92.      Artikel 213 Absatz 2 EG kann deshalb bei jeder Verletzung einer der Pflichten, die einem Kommissionsmitglied obliegen, unabhängig davon herangezogen werden, ob sich das Mitglied noch im Amt befindet oder seine Amtszeit abgelaufen ist. Die Gegenargumente von Frau Cresson sind zurückzuweisen.

2.      Die Auswirkungen der Entscheidung des belgischen Strafgerichts

93.      Frau Cresson macht im Wesentlichen geltend, dass es, da das Strafverfahren gegen sie in Belgien deshalb nicht fortgesetzt worden sei, weil der Untersuchungsrichter zu dem Ergebnis gekommen sei, dass der Sachverhalt der Urkundenfälschung und des Betrugs ihr nicht zugerechnet werden könne, und die Kommission gegen diese Entscheidung kein Rechtsmittel eingelegt habe, keine Grundlage für eine Klage nach Artikel 213 Absatz 2 EG in Bezug auf denselben Sachverhalt gebe. Zur Stützung ihres Arguments beruft sie sich auf den Grundsatz „le pénal tient le disciplinaire en l’état“, wonach eine Disziplinarbehörde an die Tatsachenfeststellungen eines Strafgerichts gebunden sei. Die Kommission stellt demgegenüber in Abrede, dass der Sachverhalt in beiden Rechtssachen identisch sei. Während das Verfahren in Belgien mutmaßliche Urkundenfälschungen und mutmaßlichen Betrug betroffen habe, gehe es hier um Günstlingswirtschaft. Die Entscheidung, das Strafverfahren nicht fortzusetzen, sei außerdem aus rechtlichen und nicht aus tatsächlichen Gründen getroffen worden.

94.      Zunächst ist es erforderlich, die spezielle Natur des in Artikel 213 Absatz 2 EG vorgesehenen Verfahrens hervorzuheben, das zwar von beiden an diesem Verfahren beteiligten Parteien häufig als Disziplinarverfahren bezeichnet worden ist, tatsächlich aber im Hinblick darauf, auf welcher Stufe das betreffende öffentliche Amt angesiedelt ist, von einem solchen Verfahren unterschieden werden muss. Da ein direkter Zusammenhang besteht zwischen dem Verhalten eines Kommissionsmitglieds und dem öffentlichen Ansehen und der Funktionsfähigkeit des Organs, bei dem das Mitglied sein Amt innehat, hat das Verfahren nach Artikel 213 Absatz 2 EG verfassungsrechtlichen Charakter. Dies zeigt sich darin, dass die in diesem Verfahren zu treffenden Entscheidungen nicht innerhalb des Organs selbst, sondern von einem anderen Organ, dem unparteiischen Rechtsprechungsorgan der Gemeinschaft, getroffen wird.

95.      In diesem Kontext hat der Gerichtshof ein Rechtsprechungsmonopol, das von Gerichtsentscheidungen auf nationaler Ebene nicht beeinflusst werden kann. Da der Gerichtshof die Behörde ist, die letztlich auf Antrag entweder der Kommission oder des Rates eine Sanktion verhängen muss, muss sie auch in der Lage sein, festzustellen, ob das einem Kommissionsmitglied zur Last gelegte Verhalten eine Pflichtverletzung im Sinne von Artikel 213 EG darstellt. Obwohl der Gerichtshof zu diesem Zweck die Tatsachenfeststellungen eines nationalen Rechtsprechungsorgans berücksichtigen kann, besitzt er in diesem Kontext eine eigene Zuständigkeit, die in keiner Weise beschränkt werden kann. Hat daher ein nationales Gericht in einem nationalen Strafverfahren gegen ein (ehemaliges) Kommissionsmitglied festgestellt, dass bestimmte Tatsachen nicht erwiesen sind oder erwiesen sind, aber keine Strafbarkeit begründen, so kann dies nicht die Befugnis des Gerichtshofes einschränken, dieselben Tatsachen in dem anderen, besonderen Kontext des Verfahrens nach Artikel 213 Absatz 2 EG, das im Gemeinschaftsrecht geregelt ist, festzustellen und rechtlich einzuordnen.

96.      Aus diesen Gründen meine ich, dass der als „le pénal tient le disciplinaire en l’état“ bekannte Grundsatz für den Gerichtshof im Zusammenhang mit Verfahren nach Artikel 213 Absatz 2 EG nicht gelten kann.

97.      Selbst wenn davon ausgegangen würde, dass der Grundsatz unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache gilt, stimme ich mit der Kommission darin überein, dass der beim Untersuchungsrichter in Belgien geprüfte Sachverhalt und der in der vorliegenden Rechtssache geprüfte nicht völlig identisch sind. In dem früheren Verfahren in Bezug auf Frau Cresson ging es u. a. darum, ob Beweise dafür vorlagen, dass bei der Erstellung der Dienstreiseaufträge für Herrn Berthelot und der Erstellung seines Abschlussberichts am Ende der Laufzeit seines ersten Vertrages Urkundenfälschung und Betrug im Spiel waren. Der Gegenstand der vorliegenden Rechtssache hingegen ist der Vorwurf, dass Frau Cresson bei der Einstellung und Behandlung von Herrn Berthelot und den Vertragsangeboten an Herrn Riedinger eine Günstlingswirtschaft befördernde Einstellung gezeigt habe. Dies ist eine ganz andere Frage. Die Tatsachen, um die es in dem Strafverfahren gegangen ist, waren lediglich Nebenprodukte oder Äußerungen der Vorzugsbehandlung, die den beiden Herren, wie behauptet wird, auf Veranlassung von Frau Cresson zuteil wurde. Sie dürfen nicht mit der ihnen zugrunde liegenden Einstellung, Günstlingswirtschaft zu befördern, selbst verwechselt werden, die zudem eine Frage darstellt, die außerhalb des Bereichs des Strafrechts liegt.

98.      Als weiteren Punkt möchte ich erneut anführen, dass nichts dagegen spricht, dass ein nationales Strafverfahren und ein Verfahren nach Artikel 213 Absatz 2 EG parallel durchgeführt werden. Diese beiden Arten von Verfahren dienen in der nationalen Rechtsordnung beziehungsweise in der Gemeinschaftsrechtsordnung verschiedenen Zwecken. Während die erste Art von Verfahren darauf abzielt, Normen durchzusetzen, die für das Gesellschaftsgefüge auf nationaler Ebene unentbehrlich sind, ist letztere dazu bestimmt, das ordnungsgemäße Funktionieren der Gemeinschaftsorgane mit Blick auf die Verwirklichung der Ziele der Verträge zu gewährleisten. Selbst wenn das nationale Strafverfahren fortgesetzt worden wäre und zu einer Bestrafung geführt hätte, bliebe noch Raum für die Verhängung der in Artikel 213 Absatz 2 EG vorgesehenen Sanktionen.

99.      Folglich ist das Argument von Frau Cresson, dass die Entscheidung der Chambre du conseil am Tribunal de première instance Brüssel vom 30. Juni 2004, das gegen sie eingeleitete Strafverfahren, nicht fortzusetzen, den Antrag der Kommission völlig gegenstandslos mache und das vorliegende Verfahren demzufolge unzulässig sei, zurückzuweisen.

3.      De minimis non curat praetor

100. Frau Cresson macht geltend, dass die Klage der Kommission in Anbetracht des geringen Geldbetrags, um den es im Zusammenhang mit den Dienstreiseaufträgen für Herrn Berthelot gehe, als unzulässig abgewiesen werden müsse. Die Kommission tritt diesem Argument damit entgegen, dass es, wenn es überhaupt zutreffend sei, die Begründetheit der Klage und nicht deren Zulässigkeit betreffe.

101. Artikel 213 Absatz 2 EG enthält keine Erfordernisse in Bezug auf den Schweregrad der Pflichtverletzung, die einem (ehemaligen) Kommissionsmitglied zur Last gelegt wird, als ein Kriterium für die Kommission oder den Rat, beim Gerichtshof Klage zu erheben. Die Entscheidung über die Einleitung eines Verfahrens nach dieser Vertragsbestimmung steht allein im Ermessen des betroffenen Organs. Jede Entscheidung, ein Verfahren nach dieser Vorschrift gegen ein (ehemaliges) Kommissionsmitglied einzuleiten, wird vom Kollegium der Kommissionsmitglieder gemeinsam getroffen. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine solche Entscheidung nicht leichtfertig getroffen wird.

102. Zudem ist der Umstand, dass der materielle Schaden für die Interessen der Gemeinschaft möglicherweise gering ist, kein Maßstab für die Schwere der zugrunde liegenden Pflichtverletzung durch das betreffende Kommissionsmitglied. Entscheidend ist, ob das betreffende Verhalten geeignet war, der Autorität und der Glaubwürdigkeit der Kommission und dem Vertrauen zu schaden, das andere Organe, die Mitgliedstaaten und die Allgemeinheit der Kommission entgegenbringen. In der vorliegenden Rechtssache ist offensichtlich, dass das Verhalten von Frau Cresson einen solchen Schaden zur Folge hatte.

103. Die Tatsache, dass der Betrag, um den es bei der Begünstigung von Herrn Berthelot ging, vergleichsweise gering war, hat daher keine Auswirkungen auf die Zulässigkeit der Klage der Kommission. Wie die Kommission zutreffend bemerkt, ist dies allenfalls ein Aspekt, der bei der Beurteilung des Sachverhalts berücksichtigt werden kann.

4.      Ergebnis zur Zulässigkeit

104. Im Licht der obigen Erwägungen komme ich zu dem Ergebnis, dass das Vorbringen von Frau Cresson, wonach die Klage der Kommission unzulässig sein soll, nicht stichhaltig ist.

B –    Verfahrensfragen

105. Frau Cresson erhebt eine Reihe von Einwendungen gegen die Art und Weise, in der das Verfahren bei der Kommission vor der Klage beim Gerichtshof geführt worden sei, und sie kritisiert das Fehlen von Verfahrensgarantien bei der Anwendung von Artikel 213 Absatz 2 EG selbst. Auch wenn diese Rügen, die in den vorstehenden Nummern 51 und 60 bis 62 zusammengefasst sind, nur hilfsweise vorgebracht werden, ist es aus systematischer Sicht angebracht, sie zu erörtern, bevor auf die Begründetheit der Rechtssache eingegangen wird.

106. Wie Frau Cresson zutreffend vorträgt, gibt es keinen klaren Verfahrensrahmen für die Vorbereitung der Entscheidung der Kommission, beim Gerichtshof nach Artikel 213 Absatz 2 EG Klage zu erheben, wenn ihrer Meinung nach eines ihrer Mitglieder oder ehemaligen Mitglieder die sich aus dem Amt als Kommissar ergebenden Pflichten verletzt hat. Angesichts der schwerwiegenden persönlichen Folgen, die eine solche Entscheidung haben kann, obliegt es der Kommission, sowohl bei der Feststellung und der Beurteilung des Sachverhalts als auch bei der Mitteilung ihres Standpunkts an den Betroffenen mit der gebotenen Sorgfalt vorzugehen und ihn zu ihren Ansichten zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen anzuhören. Diese Pflicht, mit Bedacht vorzugehen und die Rechte der Verteidigung in vollem Umfang zu berücksichtigen, besteht in besonderem Maße, wenn es keine Präzedenzfälle und kein gerichtlich gebilligtes Verfahren gibt. In allgemeiner Hinsicht ist die Kommission bei der Vorbereitung des Verfahrens allerdings mit Bedacht vorgegangen, indem sie eine Mitteilung der Beschwerdepunkte vorbereitet, an Frau Cresson übermittelt und ihr Gelegenheit gegeben hat, schriftlich und mündlich darauf zu antworten. Ich halte es für wichtig, diesen allgemeinen Punkt hervorzuheben, bevor ich auf die einzelnen Rügen von Frau Cresson eingehe.

107. Die erste Rüge von Frau Cresson, dass das Kollegium der Kommissionsmitglieder die behördlichen Ermittlungen gegen sie hätte einleiten müssen, da dem Generaldirektor für Personal die Befugnis hierfür gefehlt habe, kann nicht akzeptiert werden. Abgesehen davon, dass es keine geschriebene oder ungeschriebene Regel gibt, dass die Entscheidung über Ermittlungen in Bezug auf einen mutmaßlichen Amtsmissbrauch eines Kommissionsmitglieds nur von Personen, die diesem im Rang gleichstehen, getroffen werden kann, wird ein Generaldirektor unter der unmittelbaren Verantwortung eines Kommissionsmitglieds tätig. Wie noch einmal hervorzuheben ist, kommt es darauf an, dass die Kommission mit der Entscheidung über die Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 213 Absatz 2 EG die volle Verantwortung für den Sachverhalt, auf den sie ihre Vorwürfe stützt, übernommen hat.

108. Im Rahmen der von ihr gerügten Verletzung ihrer Grundrechte macht Frau Cresson zunächst geltend, dass ein Zeitraum von sieben Jahren zwischen dem ihr zur Last gelegten Sachverhalt und der Einleitung des gegen sie gerichteten Verfahrens im Jahr 2003 nicht akzeptabel sei. Was diese Rüge betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 213 Absatz 2 EG keine Frist vorsieht, in der ein Verfahren gegen ein (ehemaliges) Kommissionsmitglied eingeleitet werden muss. In der vorliegenden Rechtssache war die Entscheidung, das Verfahren gegen Frau Cresson einzuleiten, der Höhepunkt eines Prozesses von Ermittlungen und internen Reformen innerhalb der Kommission, von dem Frau Cresson Kenntnis gehabt haben muss. Auch wenn angenommen werden kann, dass ein Zeitraum von sieben Jahren bis zur Einleitung eines auf Verhängung einer finanziellen Sanktion gerichteten Verfahrens als erheblich anzusehen ist, beeinträchtigt dies nicht die Befugnis der Kommission, den Gerichtshof nach Artikel 213 Absatz 2 EG anzurufen. Wenn der Zeitablauf zur Unzulässigkeit führen würde, so könnte dies, wie die Kommission bemerkt hat, sie oder den Rat an der Klageerhebung in Fällen hindern, in denen der Sachverhalt erst wesentlich später festgestellt wird, als er sich zugetragen hat. Allerdings bin ich der Auffassung, dass die zwischen dem für die Rechtssache grundlegenden Tatsachen und der Entscheidung über die Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 213 Absatz 2 EG verstrichene Zeit ein Gesichtspunkt sein kann, der bei der Entscheidung über eine mögliche Sanktion berücksichtigt werden kann. Ich werde weiter unten darauf zurückkommen.

109. Der nächste Aspekt eines angeblichen Verstoßes gegen die Grundrechte der Verteidigung ist, dass Frau Cresson ein faires Verfahren insoweit verweigert worden sei, als die Kommission während des gesamten Verfahrens aufgrund ihrer Beteiligung an dem Strafverfahren in Belgien und der Einleitung mehrerer behördlicher Ermittlungsverfahren die Rolle eines Untersuchungsrichters und später durch die Klageerhebung beim Gerichtshof nach Artikel 213 Absatz 2 EG die Rolle eines Anklägers übernommen habe. Außerdem habe sie dadurch gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens verstoßen, dass sie sich geweigert habe, Frau Cresson Zugang zum Protokoll ihrer Zusammenkunft zu gewähren, bei der die Entscheidung über die Einleitung des vorliegenden Verfahrens getroffen worden sei. Was den ersten Punkt betrifft, so möchte ich darauf hinweisen, dass die Kommission während des gesamten Verfahrens sowohl bei der Durchführung der Ermittlungen als auch bei der Entscheidung über die Anrufung des Gerichtshofes ihre Befugnisse nach dem Vertrag ordnungsgemäß ausgeübt hat. Es ist irreführend, die Maßnahmen der Kommission in diesem Zusammenhang mit Rollen gleichzusetzen, mit denen sie nichts zu tun hat. Was den zweiten Punkt betrifft, so wurde Frau Cresson angesichts der Tatsache, dass sie in vollem Umfang über die gegen sie erhobenen Vorwürfe, wie sie in der Mitteilung der Beschwerdepunkte niedergelegt waren, informiert war, durch die Weigerung, ihr Zugang zum Protokoll der Zusammenkunft der Kommission vom 19. Juli 2004 zu gewähren, nicht in ihrem Recht auf ein faires Verfahren verletzt.

110. Weiter rügt Frau Cresson in diesem Rahmen, dass die Kommission bei ihrer Entscheidung über die Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 213 Absatz 2 EG nicht unparteiisch gewesen sei, da sie unter dem politischen Druck des Europäischen Parlaments gehandelt habe. Hier ist erneut zu betonen, dass die Kommission zwar in eigener Verantwortung entscheidet, ob sie nach dieser Vorschrift Klage beim Gerichtshof erhebt, dass aber letztlich der Gerichtshof entscheidet, ob die Voraussetzungen für die Verhängung einer Sanktion gegeben sind und welche Sanktion den Umständen nach angemessen ist. Die Frage, ob die Kommission bei der Klageerhebung unparteiisch gehandelt hat, ist irrelevant. Auch diese Rüge ist daher zurückzuweisen.

111. Schließlich macht Frau Cresson geltend, dass es zu einer Reihe von Verfahrensfehlern in Bezug auf die behördlichen Ermittlungen gekommen sei. Es ist zweckdienlich, darauf hinzuweisen, dass die verschiedenen behördlichen Ermittlungen, die wegen mutmaßlicher Fälle von Günstlingswirtschaft bei Frau Cresson durchgeführt wurden, die unmittelbare Folge allgemeinerer Vorwürfe von Amtsmissbrauch innerhalb der Kommission waren, die zur damaligen Zeit erhoben wurden. Sie sollten als solche nicht der Vorbereitung zur Eröffnung eines Verfahrens nach Artikel 213 Absatz 2 EG dienen. Sie erhielten diese Funktion erst nachträglich am 21. Januar 2003, als die Kommission beschloss, ihre Mitteilung der Beschwerdepunkte an Frau Cresson zu richten. Die Verantwortung für die Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens nach Artikel 213 Absatz 2 EG liegt allein bei der Kommission, die insoweit als Kollegialorgan handelt, und mit dieser Entscheidung übernimmt sie auch die volle Verantwortung für die Tatsachen, auf die sie ihren Antrag stützt. Anschließend obliegt es dem Gerichtshof, den Fall auf der Grundlage dieses Tatsachenvorbringens zu beurteilen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet können die verschiedenen formalen – und meines Erachtens äußerst belanglosen – Unregelmäßigkeiten, die sich in der Vorbereitungsphase angeblich ereignet haben, selbst wenn sie geschehen sind, die Richtigkeit oder die Stichhaltigkeit der Tatsachen, die die Kommission dem Gerichtshof unterbreitet hat, nicht beeinträchtigen.

112. Der Haupteinwand von Frau Cresson im Hinblick auf die Rechte der Verteidigung ist, dass sie im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nicht das Recht hat, ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Gerichtshofes einzulegen. Zum Vergleich verweist sie auf die Situation in Rechtsstreitigkeiten, die Gemeinschaftsbeamte betreffen, und auf die Situation in Belgien in Bezug auf Regierungsmitglieder, wo für Entscheidungen über Fälle von Amtsmissbrauch zwei Instanzen zur Verfügung stünden. Auch wenn der Gerichtshof in Verfahren nach Artikel 213 Absatz 2 EG tatsächlich in erster und letzter Instanz tätig wird, so stellt sich doch die Frage, ob dies auf einen Verstoß gegen die Grundrechte der Verteidigung hinausläuft. Insoweit möchte ich noch einmal auf die besondere Natur des Verfahrens nach Artikel 213 Absatz 2 EG hinweisen, das nicht ohne Weiteres mit einem gegen einen Beamten der Gemeinschaft geführten Disziplinarverfahren verglichen werden kann. Dieses Verfahren ist vielmehr verfassungsrechtlicher Natur und wird in dem allgemeinen Interesse eingeleitet, das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Kommission wiederherzustellen. Da es um eine Form der verfassungsrechtlichen Katharsis geht, ist es sachgerecht, dass solche Rechtssachen in einer einzigen Instanz von dem höchsten Gericht der Gemeinschaftsrechtsordnung entschieden werden und nicht länger als für diesen Zweck erforderlich bei Gericht anhängig bleiben. Das Verfahren vor dem Gerichtshof sieht außerdem hinreichende Garantien für den Schutz der Interessen des betroffenen Kommissionsmitglieds vor. Neben den in der Satzung des Gerichtshofes und der Verfahrensordnung niedergelegten Garantien liegt eine zusätzliche Garantie darin, dass Rechtssachen dieser Art vor dem Plenum des Gerichtshofes verhandelt werden (Artikel 16 Absatz 4 der Satzung). Angesichts der besonderen Natur und Funktion des in Artikel 213 Absatz 2 EG vorgesehenen Verfahrens sehe ich im Fehlen der Möglichkeit, gegen das Urteil des Gerichtshofes Rechtsmittel einzulegen, keine Verletzung der Grundrechte der Beklagten.

113. Dementsprechend sind die verschiedenen Einwendungen, die Frau Cresson gegen das von der Kommission vor der Erhebung der vorliegenden Klage durchgeführte Verfahren und gegen das Verfahren des Artikels 213 Absatz 2 EG als solches erhoben hat, als unbegründet zurückzuweisen.

C –    Begründetheit

114. Als nächstes ist die Frage zu prüfen, ob der Sachverhalt, der Frau Cresson von der Kommission zur Last gelegt wird, eine Verletzung der sich aus dem Amt als Kommissionsmitglied ergebenden Pflichten im Sinne von Artikel 213 Absatz 2 EG darstellt. Frau Cresson bestreitet die sich auf Herrn Berthelot und Herrn Riedinger beziehenden Tatsachen als solche nicht. Sie macht jedoch im Wesentlichen geltend, dass in beiden Fällen die anwendbaren Gemeinschaftsvorschriften beachtet worden seien.

115. Wie oben in Kapitel VI dieser Schlussanträge ausgeführt, erfordert das Amt eines Kommissionsmitglieds von seinen Inhabern, dass sie sowohl in ihren Außenbeziehungen als auch bei ihren Handlungen innerhalb der Kommission die strengsten Vorgaben in Bezug auf Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Ehrenhaftigkeit erfüllen.

116. Im vorliegenden Fall ist, was den Vorgang Berthelot betrifft, unbestritten, dass Frau Cresson den Wunsch geäußert hat, ihren persönlichen Freund, Herrn Berthelot, als ihren persönlichen Berater einzustellen. Es steht ebenfalls fest, dass sich Frau Cresson trotz der Warnungen ihres Kabinettschefs, dass er keine Möglichkeit sehe, diesen bei der Kommission zu beschäftigen, an eine der Dienststellen wandte, für die sie verantwortlich war, an die GD XII, um einen Weg für seine Einstellung zu finden. Anschließend wurde Herrn Berthelot auf Vorschlag dieser Dienststelle ein Einjahresvertrag als Gastwissenschaftler angeboten. Seine Aufgabe bestand, wie aus den Verfahrensakten hervorgeht, darin, „in enger Zusammenarbeit mit dem Kabinett von Frau Cresson an der Vorbereitung des Fünften Rahmenprogramms und spezieller Programme im Bereich der Biowissenschaften mitzuwirken [und] Verbindungen zur nationalen Forschungsgemeinschaft, insbesondere der französischen, sicherzustellen“. Sowohl im Hinblick auf seine atypischen wissenschaftlichen Befähigungsnachweise als auch darauf, dass sein Arbeitsplatz bei Frau Cresson anstatt in der GD XII war, ist klar, dass dies ein unübliches Arrangement war, um eine Beschäftigung von Herrn Berthelot in der zuvor von Frau Cresson angegebenen Weise zu ermöglichen.

117. Es wird auch weder ernsthaft bestritten, dass Herr Berthelot Erstattungen in Höhe von 6 930 Euro für Dienstreisen nach Châtellerault erhalten hat, noch dass die Dauer seiner Verträge die vorgeschriebenen Höchstgrenzen überschritten hat, noch dass Frau Cresson versucht hat, die Vertragsbeziehungen mit Herrn Berthelot zu verlängern, nachdem dieser aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden war.

118. Was den Vorgang Riedinger betrifft, so steht ebenfalls fest, dass Frau Cresson einem weiteren persönlichen Freund mindestens zwei Verträge über die Durchführung von Studien zu Themen angeboten hat, die für die Politikbereiche, für die Frau Cresson die Verantwortung trug, nicht gänzlich relevant zu sein scheinen. Auch wenn diese Verträge weder durchgeführt wurden noch irgendwelche Ausgaben aus dem Haushalt der Gemeinschaft nach sich zogen, so kann dennoch nicht davon ausgegangen werden, dass dieses Ergebnis zum Zeitpunkt der Vertragsangebote vorhersehbar war.

119. Für die Bewertung dieser verschiedenen Tatsachen ist es wichtig, sie nicht isoliert von dem allgemeinen Zusammenhang zu betrachten, in dem sie sich ereignet haben. Frau Cresson macht in ihrer Klagebeantwortung geltend, dass die Gemeinschaftsvorschriften z. B. bei der Einstellung von Herrn Berthelot beachtet worden seien und dass ihr andere Vorgänge, wie die Dienstreiseaufträge für Herrn Berthelot nach Châtellerault, nicht zuzurechnen seien. Entscheidend ist jedoch, dass diese verschiedenen Tatsachen für eine Grundeinstellung bezeichnend sind, die erkennen lässt, dass Frau Cresson während ihrer Amtszeit als Mitglied der Kommission gewillt war, dieses Amt dazu zu gebrauchen, persönlichen Freunden zu Lasten des Haushalts der Gemeinschaft Vergünstigungen zu gewähren. Anders ausgedrückt: Es ist undenkbar, dass Herr Berthelot von der Kommission zu denselben Bedingungen beschäftigt worden wäre und die gleiche Vorzugsbehandlung erhalten hätte, wenn Frau Cresson nicht das Amt eines Mitglieds der Kommission innegehabt hätte.

120. Auf der Grundlage der dem Gerichtshof sowohl von der Kommission als auch von Frau Cresson unterbreiteten Tatsachen bin ich der Auffassung, dass Frau Cresson von der Kommission zu Recht Günstlingswirtschaft zur Last gelegt worden ist, was auch zuvor vom Ausschuss unabhängiger Experten in seinem Bericht vom 15. März 1999 festgestellt wurde, und dass es nicht erforderlich ist, zu prüfen, ob dieses Verhalten auch eine grobe Fahrlässigkeit darstellt. Selbst wenn diese Haltung nur in den zwei Vorgängen ihren Ausdruck gefunden hat, die die Grundlage für das vorliegende Verfahren bilden, so genügt die bloße Bereitschaft, ein solches Verhalten in einem hohen Amt an den Tag zu legen, um allgemein Zweifel an der Ehrenhaftigkeit und Unparteilichkeit von Frau Cresson bei ihrer Tätigkeit als Kommissionsmitglied zu begründen. Der bloße Anflug von Parteilichkeit reicht aus, um solche Zweifel aufkommen zu lassen. Dies hat sich zwangsläufig auf ihre Rolle bei der kollegialen Entscheidungsfindung durch die Kommission ausgewirkt, da sie nicht länger in der Lage war, zu gewährleisten, die notwendigen Voraussetzungen zu erfüllen, um diese Aufgabe wahrzunehmen. Ihre Haltung wiederum war geeignet, das Vertrauen der Außenwelt in die Unabhängigkeit der Kommission zu gefährden. Wie sich herausgestellt hat, hat sich diese Gefahr tatsächlich verwirklicht, wobei das öffentliche Ansehen der Kommission schweren Schaden genommen hat.

121. Ich komme daher zu dem Schluss, dass Frau Cresson dadurch gegen die sich aus dem Amt eines Mitglieds der Kommission ergebenden Pflichten im Sinne von Artikel 213 Absatz 2 EG verstoßen hat, dass sie eine Günstlingswirtschaft befördernde Einstellung, d. h. die Bereitschaft gezeigt hat, ihr Amt als Mitglied der Kommission dazu zu benutzen, Personen aus ihrem persönlichen Bekanntenkreis Vergünstigungen zu gewähren.

D –    Sanktion

122. Die Kommission beantragt für den Fall, dass der Gerichtshof gegen Frau Cresson entscheidet, ihr ihre Ruhegehaltsansprüche und/oder alle sonstigen damit verbundenen Vergünstigungen oder andere an ihrer Stelle gewährte Vergünstigungen ganz oder teilweise abzuerkennen. Auch wenn die Kommission die Festlegung der Art und des Umfangs einer solchen Sanktion in das Ermessen des Gerichtshofes stellt, so weist sie doch darauf hin, dass jede Sanktion unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verhängt werden müsse. Sie schlägt außerdem vor, dass den für die Festsetzung von Strafen in Disziplinarverfahren gegen Beamte der Gemeinschaft geltenden Gesichtspunkten, die in Artikel 10 des Anhangs IX des Beamtenstatuts aufgeführt sind, insoweit Indizwert beigemessen werden könne.

123. Die wichtigste Erwägung bei der Entscheidung über die Verhängung einer finanziellen Sanktion auf der Grundlage von Artikel 213 Absatz 2 EG und ihren Umfang ist die, wie schwer die Pflichtverletzung sowohl im Hinblick auf die Art des Fehlverhaltens als auch im Hinblick auf den der Kommission als Organ entstandenen Schaden wiegt. Bei meinen Ausführungen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt habe ich bereits darauf hingewiesen, dass sich eine Günstlingswirtschaft befördernde Einstellung seitens eines Mitglieds der Kommission unmittelbar darauf auswirkt, wie die Tätigkeit der betreffenden Person bei der kollegialen Entscheidungsfindung der Kommission empfunden wird. Sie wirkt sich auch auf das Bild und den Ruf der Kommission in der Öffentlichkeit aus, die in diesem Fall tatsächlich schwer beschädigt worden sind. Und es kann hinzugefügt werden, dass es unverhältnismäßig lange dauert, das Ansehen und die Legitimität, die sich ein solches Organ im Lauf der Jahre erworben hat, wiederherzustellen. Der entstandene Schaden ist daher beträchtlich und von Dauer.

124. Im Licht dieser Erwägungen habe ich keine Schwierigkeiten, zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die von Frau Cresson begangene Pflichtverletzung eine finanzielle Sanktion verdient, wie sie in Artikel 213 Absatz 2 EG vorgesehen ist. Insbesondere bin ich der Auffassung, dass diese Verletzung hinreichend schwer wiegt, um eine vollständige Aberkennung der Ruhegehaltsansprüche und der damit verbundenen Vergünstigungen zu rechtfertigen. Es gibt jedoch eine Reihe von Gesichtspunkten, die dafür sprechen, diese Ansprüche und Vergünstigungen nur teilweise abzuerkennen.

125. Der erste dieser Gesichtspunkte ist, wie Frau Cresson zutreffend vorträgt, die erhebliche Länge der Zeit, die zwischen den ersten behördlichen Ermittlungen und der Entscheidung, gegen sie ein Verfahren nach Artikel 213 Absatz 2 EG einzuleiten, verstrichen ist. Erst ab diesem Zeitpunkt konnte sie ernsthaft mit der Möglichkeit rechnen, dass ihr ihre Ruhegehaltsansprüche ganz oder teilweise aberkannt werden. Zusätzlich könnte die Tatsache berücksichtigt werden, dass der Ruf von Frau Cresson aufgrund der Berichterstattung in den Medien bereits beträchtlichen Schaden erlitten hat. Weiterhin mag der Tatsache einiges Gewicht zukommen, dass die Haltung von Frau Cresson offensichtlich einen gewissen Rückhalt in den Verwaltungsgepflogenheiten gefunden hat, die damals innerhalb der Kommission herrschten(14). Schließlich kann berücksichtigt werden, dass dies das erste Mal ist, dass eine Klage nach Artikel 213 Absatz 2 EG zu einem Urteil des Gerichtshofes führen wird.

126. Da ich andererseits der Auffassung bin, dass die Pflichtverletzungen von Frau Cresson eine glaubwürdige Antwort erfordern, gelange ich zu dem Ergebnis, dass eine Herabsetzung ihrer Ruhegehaltsansprüche und der damit verbundenen Vergünstigungen um 50 % ab dem Zeitpunkt, zu dem der Gerichtshof sein Urteil in der vorliegenden Rechtssache verkündet, eine angemessene Sanktion wäre. Angesichts der Tatsache, dass ihr ihre vollen Ruhegehaltsansprüche seit ihrem Rücktritt im Jahr 1999 zugute gekommen sind, sehe ich keinen Grund, diese Sanktion zeitlich zu begrenzen.

VIII – Kosten

127. Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission beantragt hat, Frau Cresson zur Tragung der Kosten zu verurteilen, und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen. Gemäß Artikel 69 § 4 hat die Französische Republik, die dem Rechtsstreit als Streithelferin zur Unterstützung von Frau Cresson beigetreten ist, ihre eigenen Kosten zu tragen.

IX – Ergebnis

128. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

–        die Klage der Kommission für zulässig zu erklären;

–        festzustellen, dass Frau Cresson dadurch gegen die sich aus dem Amt eines Mitglieds der Kommission ergebenden Pflichten im Sinne von Artikel 213 Absatz 2 EG und Artikel 126 Absatz 2 EA verstoßen hat, dass sie eine Günstlingswirtschaft befördernde Haltung, d. h. eine Bereitschaft gezeigt hat, ihr Amt als Mitglied der Kommission dazu zu benutzen, Personen aus ihrem persönlichen Bekanntenkreis Vergünstigungen zu gewähren;

–        Frau Cresson 50 % ihrer Ruhegehaltsansprüche und der damit verbundenen Vergünstigungen ab dem Zeitpunkt der Verkündung des Urteils in dieser Rechtssache abzuerkennen;

–        Frau Cresson zur Tragung der Kosten zu verurteilen;

–        der Französischen Republik ihre eigenen Kosten aufzulegen.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – Da diese beiden Vorschriften identisch sind, ist im weiteren Verlauf dieses Textes nur von Artikel 213 Absatz 2 EG die Rede.


3 – Rechtssache C‑290/99 (Rat/Bangemann) im Register des Gerichtshofes gestrichen mit Beschluss vom 3. Februar 2000 (ABl. C 122, S. 17).


4 – Ausschuss unabhängiger Sachverständiger, Erster Bericht über Anschuldigungen betreffend Betrug, Missmanagement und Nepotismus in der Europäischen Kommission.


5 – In Abschnitt 8.1.35 des Berichts.


6 – Urteil vom 10. Juni 2004 in der Rechtssache T‑307/01 (François/Kommission, Slg. 2004, II‑1669).


7 – Urteil vom 30. Mai 2002 in der Rechtssache T‑197/00 (Onidi/Kommission, Slg. ÖD 2002, II‑325).


8 – In Abschnitt 1.5.4 des Berichts.


9 – Ähnliche verfassungsrechtliche Regelungen gibt es in den Mitgliedstaaten für Inhaber hoher öffentlicher Ämter, die wegen Entscheidungen, die sie in Ausübung ihrer Aufgaben getroffen haben, nicht abberufen werden können, wie es u. a. bei den Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland (Artikel 61 Absatz 2 des Grundgesetzes), der Französischen Republik (Artikel 68 der Constitution de la République Française) und der Italienischen Republik (Artikel 90 der Costituzione della Repubblica Italiana) der Fall ist. Vgl. auch das in Artikel II, Section 4 der Constitution of the United States vorgesehene Amtsenthebungsverfahren.


10 – Die jüngste Version ist in dem Dokument SEK (2004) 1487/2 enthalten.


11 – Zitat aus der ersten Folge der berühmten Fernsehdokumentation der BBC „Civilisation“ aus dem Jahr 1968.


12 – In Abschnitt 1.5.4 des Berichts.


13 –      „Mit dieser feierlichen Erklärung in unser aller Namen, wie sie der Vertrag verlangt, erkennen wir den Wesensgehalt der Pflichten an, die uns nunmehr gemeinsam sind. Unter ,Wesensgehalt‘ verstehen wir, dass unsere Arbeit Europa dient – und nicht irgendwelchen Einzelinteressen, seien sie nationaler, beruflicher, wirtschaftlicher oder persönlicher Natur. Darin liegt die Schwierigkeit unserer Aufgabe, aber auch das, was ihr eine ganz besondere Würde verleiht.“ (COM[58] PV 1 final vom 18. April 1958, auch unter www.ena.lu zu finden).


14 – In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass ihr erster Kabinettschef sie zwar vor einer Einstellung von Herrn Berthelot gewarnt hat, andere Dienststellen sich jedoch gewillter zeigten, ihrem Wunsch nachzukommen.