Language of document : ECLI:EU:C:2019:338

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 30. April 2019(1)

Rechtssache C509/18

Minister for Justice and Equality

gegen

P.F.

(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court [Oberster Gerichtshof, Irland])

„Ersuchen um Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 6 Abs. 1 – Europäischer Haftbefehl – Begriff ‚Justizbehörde‘ – Staatsanwaltschaft – Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive“






1.        Am heutigen Tag stelle ich auch meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen C‑508/18 und C‑82/19 PPU(2), in denen der Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) bzw. der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt haben. In beiden Rechtssachen wird gefragt, ob die deutsche Staatsanwaltschaft eine „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI(3) ist.

2.        In jenen Schlussanträgen schlage ich dem Gerichtshof vor, den vorlegenden Gerichten zu antworten, dass die deutsche Staatsanwaltschaft keine „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ist

3.        In der vorliegenden Rechtssache C‑509/18, die ebenfalls auf eine Vorlage des Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) zurückgeht, betrifft der Zweifel die Befugnis der Generalstaatsanwaltschaft Litauens zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls (im Folgenden: EHB). Im Einklang mit jenen Schlussanträgen werde ich in Bezug auf die Generalstaatsanwaltschaft Litauens denselben Vorschlag unterbreiten, ungeachtet deren Unabhängigkeit von der Exekutive (die sie von der deutschen Staatsanwaltschaft unterscheidet).

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

4.        Ich nehme Bezug auf die Wiedergabe der Erwägungsgründe 5, 6 und 10 sowie der Art. 1 und 6 des Rahmenbeschlusses in den Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen C‑508/18 und C‑82/19 PPU.

B.      Nationales Recht

5.        Gemäß Art. 109 der Verfassung Litauens wird die Rechtsprechung nur von den Gerichten ausgeübt.

6.        Nach Art. 118 der Verfassung Litauens ist es Aufgabe der Staatsanwaltschaft, vorgerichtliche Ermittlungen durchzuführen und zu leiten und Straftaten zu verfolgen. Die Staatsanwaltschaft nimmt ihre Aufgaben unabhängig von den Vertretern sämtlicher Gewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) und frei von politischer Einflussnahme oder politischem Druck wahr und ist nur an das Gesetz gebunden.

7.        Gemäß Art. 3 des Lietuvos Respublikos prokuratūros įstatymas (Gesetz über die Staatsanwaltschaft der Republik Litauen)(4) trifft die Staatsanwaltschaft ihre Entscheidungen unabhängig und souverän, nach dem Gesetz und dem Vernunftprinzip unter Beachtung der Rechte und Freiheiten des Einzelnen, und beachtet die Unschuldsvermutung und den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz.

II.    Sachverhalt und Vorlagefrage

8.        Am 18. April 2014 stellte die Generalstaatsanwaltschaft der Republik Litauen (im Folgenden: Generalstaatsanwaltschaft) einen EHB aus, mit dem sie um die Übergabe von P.F. zur Verfolgung einer mutmaßlich 2012 begangenen Straftat eines Diebstahls mit Waffen ersucht.

9.        P.F. widersprach seiner Übergabe vor dem High Court (Hohes Gericht, Irland), und brachte neben anderen Gründen vor, dass der Generalstaatsanwalt keine „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses sei.

10.      Der High Court (Hoher Gerichtshof) stellte in seinem Urteil vom 27. Februar 2017 angesichts der von der Generalstaatsanwaltschaft erteilten Auskünfte fest, dass sie im Sinne des Rahmenbeschlusses an der Rechtspflege mitwirke. Er ordnete infolgedessen die Übergabe von P.F. an.

11.      Die Entscheidung vom 27. Februar 2017 wurde in der Berufungsinstanz vom Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) am 20. Oktober 2017 bestätigt.

12.      Nachdem bei ihm ein Rechtsmittel eingelegt wurde, legt der Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen vor:

1.      Bestehen die Kriterien, nach denen sich beurteilt, ob es sich bei einem als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmten Staatsanwalt um eine Justizbehörde im Sinne der autonomen Auslegung dieses in Art. 6 Abs. 1 verwendeten Begriffs handelt, darin, dass der Staatsanwalt erstens von der Exekutive unabhängig ist und zweitens in der für ihn maßgeblichen Rechtsordnung an der Rechtspflege mitwirkt oder zur Mitwirkung an der Rechtspflege berufen ist?

2.      Wenn nein, nach welchen Kriterien soll ein nationales Gericht dann beurteilen, ob es sich bei einem Staatsanwalt, der als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt ist, um eine Justizbehörde im Sinne von Art. 6 Abs. 1 handelt?

3.      Soweit zu diesen Kriterien gehört, dass der Staatsanwalt an der Rechtspflege mitwirkt oder zur Mitwirkung an der Rechtspflege berufen ist, ist dies anhand der Stellung, die er in seiner Rechtsordnung einnimmt, oder anhand bestimmter objektiver Kriterien festzustellen? Falls objektive Kriterien maßgeblich sind, was sind dann diese Kriterien?

4.      Ist der Generalstaatsanwalt von Litauen eine Justizbehörde im Sinne der autonomen Auslegung dieses in Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verwendeten Begriffs?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

13.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 6. August 2018 beim Gerichtshof eingegangen.

14.      P.F., der Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichstellung), die deutsche, die österreichische, die französische, die ungarische, die litauische, die niederländische und die polnische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der gemeinsam mit den verbundenen Rechtssachen C‑508/18 und C‑82/19 PPU durchgeführten mündlichen Verhandlung am 26. März 2019 sind neben den Parteien, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben – mit Ausnahme der ungarischen und der polnischen Regierung –, die dänische und die italienische Regierung erschienen.

IV.    Analyse

15.      Die Fragen des Supreme Court (Oberster Gerichtshof) lassen sich in seiner vierten Frage zusammenfassen, nämlich, ob die litauische Generalstaatsanwaltschaft eine „Justizbehörde“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ist.

16.      Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen,

–      ob bei der Beantwortung seiner Fragen darauf abzustellen ist, dass die Staatsanwaltschaft von der Exekutive unabhängig ist und „an der Rechtspflege mitwirkt oder zur Mitwirkung an der Rechtspflege berufen ist“ (erste Frage);

–      ob, sollte auf letztgenanntes Kriterium abzustellen sein, dies anhand der Stellung der Staatsanwaltschaft nach nationalem Recht oder anhand anderer objektiver Kriterien festzustellen ist (dritte Frage);

–      welche Kriterien relevant sind, wenn die erste Frage verneint wird (zweite Frage).

17.      Wie ich vorweggeschickt habe, vertrete ich in den Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen C‑508/18 und C‑82/19 PPU die Auffassung, dass die Staatsanwaltschaft nicht als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses eingestuft werden kann.

18.      Zur Vermeidung von Wiederholungen verweise ich auf die in jenen Schlussanträgen dargelegten Gründe, die sich in dem Gedanken zusammenfassen lassen, dass ein Freiheitsentzug, wie er im Verfahren nach dem Rahmenbeschluss zulässig ist, nur von einem Gericht im engen Sinne angeordnet werden kann, also von der „einzige[n] Behörde, die in der Lage ist, den durch Art. 47 der Charta verbürgten effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu gewähren“(5).

19.      In jenen Schlussanträgen gehe ich auch auf den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit als für den Begriff der „Justizbehörde“ entscheidendes Kriterium ein(6). Dieser Grundsatz steht im Mittelpunkt der in diesem Verfahren gestellten Frage, so dass ich meine Prüfung ihm widmen werde.

20.      Ich halte es für angebracht, erneut darauf hinzuweisen, dass, ebenso wie es eine enge Entsprechung zwischen der Natur einer justiziellen Entscheidung und der Stellung der sie erlassenden Behörde gibt, „auch die Unabhängigkeit einer Behörde und der Status ihrer Entscheidungen eng miteinander verbunden [sind]. Mit anderen Worten hängt die Gerichtseigenschaft einer Behörde von der Art und dem Umfang ihrer Unabhängigkeit ab.“(7)

21.      Da die Staatsanwaltschaft kein Recht spricht, verfügt sie grundsätzlich nicht über die Unabhängigkeit, die die Rechtsprechungstätigkeit kennzeichnet.

22.      Gewiss kann der Staatsanwaltschaft im nationalen Recht der Status eines unabhängigen Organs verliehen werden. Da sie aber keine Rechtsprechungstätigkeit ausübt, kann die ihr verliehene Unabhängigkeit nicht die „richterliche Unabhängigkeit“ sein.

23.      Nach den Informationen, die sich aus der Akte ergeben, bestimmt die litauische Verfassung (Art. 118), dass die Staatsanwaltschaft von den Vertretern der Legislative, der Exekutive und der Judikative unabhängig ist. Allerdings wird ihr diese Unabhängigkeit „bei der Wahrnehmung ihrer Funktionen“ eingeräumt. Und diese Funktionen bestehen in der Organisation und Leitung der Ermittlungen sowie der Gewährleistung, dass Straftaten verfolgt werden. Es handelt sich eindeutig um außergerichtliche Funktionen, denn gerichtliche Funktionen bestehen streng genommen darin, das Recht in unwiderruflicher Weise zur Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten anzuwenden(8).

24.      Ein Richter, der Recht spricht, hat kein anderes Interesse als die Gewährleistung der Integrität der Rechtsordnung. Zur Wahrung dieses Interesses wird ihm eine Unabhängigkeit verliehen, die sicherstellt, dass er ausschließlich dem Gesetz unterworfen ist; das heißt, dass er an kein anderes besonderes Interesse einschließlich anderer öffentlicher Interessen wie die Förderung der Verfolgung von Straftaten gebunden ist.

25.      Behörden, die wie die Staatsanwaltschaft öffentliche Aufgaben im Rahmen der Rechtsordnung wahrnehmen, vertrauen darauf, dass deren Integrität durch die Gerichte gewährleistet wird. Gerade wegen dieses Vertrauens können diese Behörden sich der Verwirklichung des spezifischen Interesses widmen, auf das die ihnen zugewiesenen Funktionen gerichtet sind.

26.      Die litauische Staatsanwaltschaft ist nach den erhaltenen Auskünften bei der Organisation und Leitung der strafrechtlichen Ermittlungen sowie der Strafverfolgung unabhängig, nicht aber bei der Gewährleistung der Unversehrtheit der Rechtsordnung als solcher. Ihre Unabhängigkeit steht im Dienst der ihr übertragenen Aufgabe, die sie im Rahmen der Rechtsordnung unter Einsatz der Mittel, die ihr von dieser zur Verfügung gestellt werden, wahrnehmen muss. Die Rechtsordnung ist für sie also ein Mittel zur Erreichung eines Zwecks.

27.      Hingegen wird dem Richter die Unabhängigkeit zur Ausübung der Rechtsprechungsgewalt verliehen, also dazu, unwiderruflich Recht im Einzelfall zu sprechen. Seine Aufgabe besteht darin, das letzte Wort zu sprechen, in dem die Anwendung der Rechtsordnung zum Ausdruck kommt, so dass die Antwort, die in Rechtskraft erwächst, rechtmäßig und insoweit gültig ist. Aus dieser Perspektive ergibt seine Unabhängigkeit Sinn, da ihm die Befugnis, Streitigkeiten beizulegen (nach Maßgabe der Normsetzungsverfahren und Entscheidungsprozesse, aus denen die Rechtsordnung besteht), anvertraut wird, um die Richtigkeit dieses letzten Wortes, das er frei von jeglicher Einflussnahme sprechen muss, für alle zu gewährleisten.

28.      Man könnte daher sagen, dass die Rechtsordnung für den Richter kein Mittel, sondern ein Zweck in sich ist. Genauer, der einzige Zweck, dem er verpflichtet ist, und zu dessen Erreichung ihm eine qualitativ andere Unabhängigkeit verliehen wird als die, die der Staatsanwaltschaft eingeräumt werden kann oder die in der für Verwaltungsbehörden charakteristischen Verpflichtung zu Objektivität und Unparteilichkeit zum Ausdruck kommen kann.

29.      Eine Einstufung der Staatsanwaltschaft als unabhängige Einrichtung macht sie ebenso wenig den Gerichten gleichwertig wie die sogenannten unabhängigen Behörden, die im Bereich der Regulierung verschiedener Wirtschaftssektoren entstanden sind. Konkret kann die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft weder vom Grund noch vom Umfang her der des Richters gleichgestellt werden, denn sie nehmen unterschiedliche Aufgaben wahr.

30.      Die Autonomie des Begriffs „Justizbehörde“, den Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses(9) verwendet, folgt aus der Notwendigkeit einer einheitlichen Definition seines Sinnes und seines Umfangs in der gesamten Union. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten nicht befugt sind, Einrichtungen als „ausstellende Justizbehörde“ zu betrachten, die, obwohl sie nicht Recht sprechen, im nationalen Recht als unabhängig eingestuft werden können(10).

31.      Diese Feststellung ist letztlich auf die Prämisse gestützt, dass die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft nicht mit der richterlichen Unabhängigkeit verwechselt werden darf. Hinzu kommen im Kontext des Rahmenbeschlusses die Nachteile, die es mit sich bringen würde, anderen Einrichtungen als den Gerichten den Status einer ausstellenden Justizbehörde zuzuerkennen.

32.      Während es bei den Gerichten für alle Mitgliedstaaten offenkundig ist, dass es sich um unabhängige Behörden handelt – daher das Vertrauen, das sie bei der gegenseitigen Anerkennung ihrer Entscheidungen in diese haben können –, ist dies bei der Staatsanwaltschaft nicht der Fall, wie das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen und die verbundenen Rechtssachen C‑508/18 und C‑82/19 PPU belegen.

33.      Tatsächlich ist eine Abstufung des Grades der Autonomie der Staatsanwaltschaft in den verschiedenen Mitgliedstaaten feststellbar, die aus konzeptionellen Gründen niemals die der richterlichen Unabhängigkeit erreichen kann und von der Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats in jedem einzelnen Fall anhand der im Ausstellungsmitgliedstaat für die Staatsanwaltschaft geltenden Vorschriften zu prüfen ist.

34.      Diese Prüfung könnte die Fristen des Übergabeverfahrens ausdehnen und Auskunftsersuchen oder Anfechtungen seitens der betroffenen Person zur Folge haben. Beides würde zwangsläufig das Verfahren und damit die gegebenenfalls angeordneten freiheitsentziehenden Maßnahmen verlängern.

35.      Im Interesse der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens, und damit des Rechts auf Freiheit, muss jeder Zweifel hinsichtlich des Status der Behörde, die einen EHB ausgestellt hat, von vornherein ausgeräumt und seine Ausstellung infolgedessen einem (unabhängigen) Organ der Rechtspflege vorbehalten sein.

36.      Abschließend möchte ich auch daran erinnern, dass ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Özçelik(11) darauf hingewiesen habe, dass die Vorgeschichte von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses zu bestätigen scheint, dass der Gesetzgeber die Staatsanwaltschaft von den Justizbehörden im Sinne dieser Vorschrift ausnehmen wollte.

37.      In Art. 3 des ursprünglichen Vorschlags für den Rahmenbeschluss(12) war die Staatsanwaltschaft ausdrücklich von der Definition der (den EHB ausstellenden oder vollstreckenden) „Justizbehörde“ umfasst(13).

38.      Wie in den Schlussanträgen in der Rechtssache Özçelik(14) ausgeführt, hieß es „[i]n der Begründung hierzu …, der Begriff ‚Justizbehörde‘ entspreche demjenigen im Europäischen Auslieferungsübereinkommen von 1957, das als Justizbehörden ‚die Justizbehörden im eigentlichen Sinne und die Staatsanwaltschaft mit Ausnahme der Polizeibehörden‘ anerkannte“(15).

39.      Der Vorschlag wurde jedoch fallen gelassen und die Bezugnahme auf die Staatsanwaltschaft nicht in die endgültige Fassung der Art. 1 und 6 übernommen.

40.      Diese Streichung hat zu einer gewissen Unsicherheit geführt, und es gibt durchaus Stimmen, die die Ansicht vertreten, dass dabei davon ausgegangen wurde, dass die Staatsanwaltschaft für die Zwecke des EHB Teil der Justizbehörden der Mitgliedstaaten sei, ohne namentlich genannt werden zu müssen(16).

41.      Einige Mitgliedstaaten teilten gemäß Art. 6 Abs. 3 dem Generalsekretariat des Rates mit, zu den für die Ausstellung oder Vollstreckung von EHB „nach ihrem Recht zuständigen Justizbehörden“ gehörten auch ihre jeweiligen Staatsanwaltschaften. Diese Staaten gingen davon aus, dass die Streichung der namentlichen Bezugnahme auf die Staatsanwaltschaft nicht ihren Ausschluss bedeutete.

42.      Allerdings wird durch diese Mitteilungen „die Vereinbarkeit der von dem betreffenden Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen mit dem Rahmenbeschluss streng rechtlich gesehen weder präjudiziert noch beeinflusst. Die Bestimmung gibt den Mitgliedstaaten die Befugnis, unter ihren Justizbehörden diejenigen zu benennen oder auszuwählen, die dafür zuständig sind, EHB entgegenzunehmen oder auszustellen; sie gestattet ihnen dagegen nicht, den Begriff der Justizbehörde auszudehnen, indem sie ihn auf Organe erstrecken, denen dieser Status nicht zukommt.“(17)

43.      Meines Erachtens ist die Streichung der Bezugnahme auf die Staatsanwaltschaft dahin auszulegen, dass der Gesetzgeber sie von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ausnehmen wollte. Wäre es der Wille des Gesetzgebers gewesen, der Staatsanwaltschaft im Kontext dieser Vorschrift den Status einer Justizbehörde beizumessen, hätte er, da es sich um eine sehr umstrittene Frage handelte, diesen Willen wie in seinem ursprünglichen Vorschlag ausdrücklich erklärt.

44.      Nach der Gegenansicht war die Streichung der Erwähnung der Staatsanwaltschaft im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zur Vermeidung einer Redundanz gerechtfertigt. Ich glaube jedoch nicht, dass dies der Fall war, wie gerade die entstandene Ungewissheit zeigt.

45.      Eine wesentlich einfachere Lösung scheint es mir zu sein, dass, wenn mit dem ursprünglichen Vorschlag der Streit über die Rechtsnatur der Staatsanwaltschaft beigelegt werden sollte, indem sie ausdrücklich genannt wurde, ihre spätere Streichung nicht nur keinen Anlass dafür bietet, den Streit wieder aufzunehmen, sondern im Gegenteil dafür spricht, ihn im Ergebnis verneinend beizulegen.

46.      Aufgrund des Vorstehenden sowie aus den konzeptionellen und prinzipiellen Gründen und den Gründen der Verfahrenssicherheit und ‑vereinfachung, die ich sowohl in den vorliegenden Schlussanträgen als auch in den Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen C‑508/18 und C‑82/19 PPU vertreten habe, bin ich der Meinung, dass die Auslegung, wonach der Staatsanwaltschaft nicht der Status einer „ausstellenden Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses zukommt, mit dem durch den Rahmenbeschluss eingeführten System am ehesten im Einklang steht.

V.      Ergebnis

47.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) wie folgt zu antworten:

Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Staatsanwaltschaft nicht unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ fällt.


1      Originalsprache: Spanisch.


2      Minister for Justice and Equality.


3      Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).


4      Lietuvos Respublikos Teisės Aktų Registras (TAR), 0921010KONSRG 922324.


5      Der Gerichtshof hat im Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 53), hervorgehoben, dass zur Gewährleistung dieses Schutzes „die Wahrung der Unabhängigkeit [der Gerichte] von grundlegender Bedeutung [ist], wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf der Zugang zu einem ‚unabhängigen‘ Gericht gehört (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 41)“.


6      Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen C‑508/18 und C‑82/19 PPU, Nrn. 24 und 79 bis 99.


7      Ebd. (Nr. 81).


8      Ich nehme insoweit auf die Nrn. 66 und 67 meiner Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen C‑508/18 und C‑82/19 PPU Bezug.


9      Bestätigt durch das Urteil des Gerichtshofs vom 10. November 2016, Poltorak (C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 32).


10      Ich möchte betonen, dass dies in Bezug auf Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses und nicht unbedingt im Kontext seines Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Fall ist. Insoweit nehme ich auf die Nrn. 45 bis 50 meiner Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen C‑508/18 und C‑82/19 PPU Bezug.


11      Rechtssache C‑453/16 PPU (EU:C:2016:783, Nrn. 39 bis 42).


12      KOM(2001) 522 endg.


13      „Zum Zweck dieses Rahmenbeschlusses gelten folgende Begriffsbestimmungen: a) ,Europäischer Haftbefehl‘ bedeutet ein von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats an einen anderen Mitgliedstaat gerichtetes Ersuchen um Unterstützung bei der Fahndung nach, Festnahme, Haft und Übergabe einer Person, gegen die ein Urteil oder eine gerichtliche Entscheidung nach Artikel 2 gefällt wurde; b) ‚ausstellende Justizbehörde‘ bedeutet die Richter- und Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats, die einen Europäischen Haftbefehl erlassen hat; c) ‚vollstreckende Justizbehörde‘ bedeutet einen Richter oder Staatsanwalt eines Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich die gesuchte Person aufhält, der über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls entscheidet …“.


14      Rechtssache C-453/16 PPU (EU:C:2016:783, Nr. 40).


15      In der Begründung zu Art. 3 des Vorschlags heißt es: „Das Verfahren des Europäischen Haftbefehls beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen. Die Beziehungen von Staat zu Staat werden damit also weitgehend durch Beziehungen von Justizbehörde zu Justizbehörde ersetzt. Der Begriff ‚Justizbehörde umfasst wie im Übereinkommen von 1957 (siehe erläuternder Bericht Artikel 1) die Justizbehörden im eigentlichen Sinne und die Staatsanwaltschaft mit Ausnahme der Polizeibehörden“ (Hervorhebung nur hier).


16      Eine hervorragende Darstellung der in dieser Diskussion vertretenen Standpunkte findet sich in den zustimmenden und abweichenden Voten des Urteils des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) vom 30. Mai 2012 in der Rechtssache Assange/The Swedish Prosecution Authority, (2012) UKSC 22.


17      Schlussanträge in der Rechtssache Özçelik (C‑453/16 PPU, EU:C:2016:783, Nr. 43).