Language of document : ECLI:EU:C:2015:400

Rechtssache C‑62/14

Peter Gauweiler u. a.

gegen

Deutscher Bundestag

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverfassungsgerichts)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wirtschafts- und Währungspolitik – Beschlüsse des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB) zu einer Reihe technischer Merkmale der geldpolitischen Outright-Geschäfte des Eurosystems an den Sekundärmärkten für Staatsanleihen – Art. 119 AEUV und 127 AEUV – Befugnisse der EZB und des Europäischen Systems der Zentralbanken – Geldpolitischer Transmissionsmechanismus – Gewährleistung der Preisstabilität – Verhältnismäßigkeit – Art. 123 AEUV – Verbot der monetären Finanzierung der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. Juni 2015

1.        Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Grenzen – Zuständigkeit des nationalen Gerichts – Erforderlichkeit einer Vorlage und Erheblichkeit der gestellten Fragen – Beurteilung durch das nationale Gericht

(Art. 267 AEUV)

2.        Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Urteil des Gerichtshofs – Wirkungen

(Art. 267 AEUV)

3.        Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Grenzen – Offensichtlich unerhebliche Fragen und hypothetische Fragen, die in einem eine zweckdienliche Antwort ausschließenden Zusammenhang gestellt werden – Zuständigkeit für die Beantwortung von Fragen, die im Rahmen eines Verfahrens vorgelegt werden, das durch einen nach dem nationalen Recht zulässigen Antrag auf Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes eingeleitet wurde

(Art. 267 AEUV)

4.        Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Grenzen – Ersuchen um Auslegung einer Unionshandlung mit allgemeiner Geltung, die nicht Gegenstand von Durchführungsmaßnahmen im nationalen Recht war – Zulässigkeit des bei dem nationalen Gericht eingelegten Rechtsbehelfs – Einbeziehung

(Art. 267 AEUV)

5.        Wirtschafts- und Währungspolitik – Währungspolitik – Anwendungsbereich – Programm für den Ankauf von Staatsanleihen durch das Europäische System der Zentralbanken an den Sekundärmärkten – Einbeziehung – Programm mit günstigen Auswirkungen auf die Erreichung wirtschaftspolitischer Ziele – Keine Relevanz für die Einstufung als währungspolitische Maßnahme

(Art. 119 Abs. 2 AEUV, 127 Abs. 1 AEUV und 282 Abs. 2 AEUV; Protokoll Nr. 4 des EU-Vertrags und des AEU-Vertrags, Art. 18 Abs. 1)

6.        Wirtschafts- und Währungspolitik – Währungspolitik – Verwirklichung – Ermessen des Europäischen Systems der Zentralbanken – Gerichtliche Nachprüfung – Grenzen – Begründungspflicht – Umfang

(Art. 5 Abs. 4 EUV; Art. 119 Abs. 2 AEUV und 127 Abs. 1 AEUV)

7.        Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Beurteilung der Begründungspflicht anhand der Umstände des Einzelfalls

(Art. 296 Abs. 2 AEUV)

8.        Wirtschafts- und Währungspolitik – Währungspolitik – Verwirklichung – Programm für den Ankauf von Staatsanleihen durch das Europäische System der Zentralbanken an den Sekundärmärkten – Keine Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

(Art. 5 Abs. 4 EUV; Art. 119 Abs. 2 AEUV und 127 Abs. 1 AEU)

9.        Wirtschafts- und Währungspolitik – Währungspolitik – Verbot der monetären Finanzierung – Anwendungsbereich – Programm für den Ankauf von Staatsanleihen durch das Europäische System der Zentralbanken an den Sekundärmärkten – Nichteinbeziehung – Voraussetzungen

(Art. 123 Abs. 1 AEUV; Protokoll Nr. 4 des EU-Vertrags und des AEU-Vertrags, Art. 18 Abs. 1 und 33, Verordnung Nr. 3603/93 des Rates, 7. Erwägungsgrund)

10.      Wirtschafts- und Währungspolitik – Währungspolitik – Verbot der monetären Finanzierung – Zweck – Anhalten der Mitgliedstaaten zur Befolgung einer gesunden Haushaltspolitik

(Art. 119 Abs. 2 AEUV, 123 AEUV, 127 Abs. 1 AEUV und 282 Abs. 2 AEUV)

11.      Europäische Zentralbank – Befugnisse des Europäischen Systems der Zentralbanken – Beschluss über ein Programm für den Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten – Einbeziehung

(Art. 119 AEUV, 123 Abs. 1 AEUV und 127 Abs. 1 und 2 AEUV; Protokoll Nr. 4 des EU-Vertrags und des AEU-Vertrags, Art. 17 bis 24)

1.        Im Vorabentscheidungsverfahren ist der Gerichtshof für die Entscheidung nicht zuständig, wenn das vorlegende Gericht nicht an die Auslegung des Gerichtshofs gebunden ist. Denn der Gerichtshof ist nicht dafür zuständig, Antworten zu geben, die eine bloß beratende Bedeutung haben. Demgemäß ist der Gerichtshof nicht für die Auslegung eines mit dem Unionsrecht in Zusammenhang stehenden Rechtsakts zuständig, um dem vorlegenden Gericht eine Entscheidung über die Anwendung des nationalen Rechts in einem Fall zu ermöglichen, in dem das nationale Recht keine unmittelbare und unbedingte Verweisung auf das Unionsrecht enthält, sondern sich darauf beschränkt, einen dem Unionsrecht unterliegenden Rechtsakt als Muster heranzuziehen, und dessen Wortlaut nur teilweise wiedergibt. Anders verhält es sich jedoch, wenn das Vorabentscheidungsersuchen unmittelbar die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zum Gegenstand hat, was bedeutet, dass das Urteil des Gerichtshofs konkrete Konsequenzen für die Entscheidung in dem Ausgangsverfahren hat.

Insoweit sieht Art. 267 AEUV ein Verfahren des unmittelbaren Zusammenwirkens des Gerichtshofs und der Gerichte der Mitgliedstaaten vor. Im Rahmen dieses Verfahrens, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, fällt jede Beurteilung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts, das im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat, während der Gerichtshof nur befugt ist, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung betreffen

Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.

(vgl. Rn. 12-15, 24, 25)

2.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 16)

3.        Was eine Vorlage zur Vorabentscheidung über die Gültigkeit von Beschlüssen des Rates der Europäischen Zentralbank angeht, die ein Programm des Ankaufs von Staatsanleihen zum Gegenstand haben, so lässt der Umstand, dass dieses Programm nicht durchgeführt worden ist und erst nach Erlass weiterer Rechtsakte durchgeführt werden kann, den im Ausgangsverfahren eingelegten Rechtsbehelf nicht gegenstandslos werden, wenn das fragliche nationale Recht in einer solchen Situation unter bestimmten Voraussetzungen die Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes ermöglicht. Auch wenn sich der im Ausgangsverfahren eingelegte Rechtsbehelf, mit dem eine Verletzung bedrohter Rechte abgewendet werden soll, zwangsläufig auf Prognosen stützen muss, die ihrem Wesen nach ungewiss sind, ist er doch nach dem nationalen Recht zulässig. Folglich kann, da im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens die Auslegung des nationalen Rechts ausschließlich Sache des vorlegenden Gerichts ist, nicht unter Verweis darauf, dass die streitigen Beschlüsse nicht durchgeführt worden seien und erst nach Erlass weiterer Rechtsakte durchgeführt werden könnten, in Abrede gestellt werden, dass das Vorabentscheidungsersuchen zur Entscheidung des Rechtsstreits, mit dem das vorlegende Gericht befasst ist, objektiv erforderlich ist.

(Rn. 27, 28)

4.        Wenn nach dem nationalen Recht die Beteiligten eines Rechtsstreits, mit dem der Gerichtshof zum Zweck der Vorabentscheidung befasst ist, ein Klageverfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Absicht oder der Verpflichtung der Regierung des betreffenden Mitgliedstaats zur Umsetzung einer Handlung der Union durchführen können, so hängt die Möglichkeit für den Einzelnen, sich vor den nationalen Gerichten auf die Ungültigkeit einer Unionshandlung allgemeiner Geltung zu berufen, nicht davon ab, dass diese Handlung tatsächlich bereits Gegenstand von Durchführungsmaßnahmen gewesen ist, die aufgrund des nationalen Rechts ergangen sind. Insoweit genügt es, dass das nationale Gericht mit einem tatsächlichen Rechtsstreit befasst ist, in dem sich inzident die Frage der Gültigkeit einer solchen Handlung stellt.

(vgl. Rn. 29)

5.        Für die Entscheidung über die Frage, ob eine Maßnahme zur Währungspolitik gehört, ist hauptsächlich auf die Ziele dieser Maßnahme abzustellen. Die Mittel, die die Maßnahme zur Erreichung dieser Ziele einsetzt, sind ebenfalls erheblich.

Zum Bereich der Währungspolitik gehört ein Programm für den Ankauf von Staatsanleihen durch das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) an den Sekundärmärkten, das zugleich eine ordnungsgemäße geldpolitische Transmission und die Einheitlichkeit der Geldpolitik sicherstellen soll. Erstens trägt das Ziel, die Einheitlichkeit der Geldpolitik zu gewährleisten, zum einen zur Erreichung der Ziele dieser Politik bei, da diese nach Art. 119 Abs. 2 AEUV einheitlich sein muss. Zum anderen ist das Ziel der Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Transmission der Geldpolitik zugleich geeignet, die Einheitlichkeit dieser Politik zu gewährleisten und zu deren vorrangigem Ziel beizutragen, das in der Gewährleistung der Preisstabilität besteht. Diese Beurteilung kann nicht durch den Umstand in Frage gestellt werden, dass ein solches Programm möglicherweise geeignet ist, auch zur Stabilität des Euro-Währungsgebiets beizutragen, die zur Wirtschaftspolitik gehört. Eine währungspolitische Maßnahme kann nämlich nicht allein deshalb einer wirtschaftspolitischen Maßnahme gleichgestellt werden, weil sie mittelbare Auswirkungen auf die Stabilität des Euro-Währungsgebiets haben kann.

Zweitens geht aus Art. 18 Abs. 1 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, der zu dessen Kapitel IV gehört, eindeutig hervor, dass die Bank und die nationalen Zentralbanken zur Erreichung der Ziele des ESZB und zur Erfüllung seiner Aufgaben, wie sie sich aus dem Primärrecht ergeben, grundsätzlich auf den Finanzmärkten tätig werden können, indem sie auf Euro lautende börsengängige Wertpapiere endgültig kaufen und verkaufen. Was die Selektivität des Programms für den Ankauf von Staatsanleihen angeht, so kann, da dieses Programm Störungen des geldpolitischen Transmissionsmechanismus beheben soll, die durch die besondere Situation der Staatsanleihen bestimmter Mitgliedstaaten hervorgerufen werden, die alleinige Tatsache, dass sich das fragliche Programm spezifisch auf diese Staatsanleihen beschränkt, nicht als solche bedeuten, dass die vom ESZB verwendeten Instrumente nicht zur Währungspolitik gehören. Überdies schreibt keine Bestimmung des AEU-Vertrags dem ESZB vor, auf den Finanzmärkten durch allgemeine Maßnahmen zu intervenieren, die notwendigerweise sämtliche Staaten des Euro-Währungsgebiets betreffen.

Im Übrigen vermag der Umstand, dass die Durchführung eines Programms für den Ankauf von Staatsanleihen von der vollständigen Einhaltung makroökonomischer Anpassungsprogramme abhängig ist, an dieser Feststellung nichts zu ändern. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass ein Programm für den Ankauf von Staatsanleihen, das ein solches Merkmal aufweist, geeignet ist, inzident den Anreiz zur Einhaltung solcher Anpassungsprogramme zu stärken, und damit in gewissem Maße die Erreichung der mit diesen verfolgten wirtschaftspolitischen Ziele begünstigen kann. Solche mittelbaren Auswirkungen können jedoch nicht bedeuten, dass ein solches Programm als eine wirtschaftspolitische Maßnahme einzustufen wäre, da sich aus Art. 119 Abs. 2 AEUV, Art. 127 Abs. 1 AEUV und Art. 282 Abs. 2 AEUV ergibt, dass das ESZB ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unterstützt.

(vgl. Rn. 46-49, 51, 52, 54-59)

6.        Aus Art. 119 Abs. 2 AEUV und Art. 127 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 5 Abs. 4 EUV geht hervor, dass ein zur Währungspolitik gehörendes Programm für den Ankauf von Anleihen nur in gültiger Weise beschlossen und durchgeführt werden kann, wenn die von ihm umfassten Maßnahmen in Anbetracht der Ziele dieser Politik verhältnismäßig sind. Was die gerichtliche Nachprüfung der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit anbelangt, ist dem Europäischen System der Zentralbanken (ESZB), da es bei der Ausarbeitung und Durchführung eines Programms für Offenmarktgeschäfte Entscheidungen technischer Natur treffen und komplexe Prognosen und Beurteilungen vornehmen muss, in diesem Rahmen ein weites Ermessen einzuräumen.

Indessen kommt in Fällen, in denen ein Unionsorgan über ein weites Ermessen verfügt, der Kontrolle der Einhaltung bestimmter verfahrensrechtlicher Garantien wesentliche Bedeutung zu. Zu diesen Garantien gehört die Verpflichtung des ESZB, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen und seine Entscheidungen hinreichend zu begründen. Insoweit kann der Umstand, dass gegen eine mit einer Begründung versehene Analyse der Wirtschaftslage des Euro-Währungsgebiets Einwände erhoben wurden, als solcher nicht genügen, um die Schlussfolgerung des Gerichtshofs, dass kein offensichtlicher Beurteilungsfehler vorliegt, in Frage zu stellen, da vom ESZB mit Rücksicht darauf, dass geldpolitische Fragen gewöhnlich umstritten sind und es über ein weites Ermessen verfügt, nicht mehr als der Einsatz seines wirtschaftlichen Sachverstands und der ihm zur Verfügung stehenden notwendigen technischen Mittel verlangt werden kann, um diese Analyse mit aller Sorgfalt und Genauigkeit durchzuführen.

(vgl. Rn. 66, 68, 69, 74, 75)

7.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 70)

8.        Dass das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) an den Sekundärmärkten Staatsanleihen von Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets ankauft, deren Zinssätze eine hohe Volatilität und extreme Unterschiede vor allem infolge überhöhter Risikoaufschläge aufweisen, mit denen der Gefahr eines Auseinanderbrechens des Euro-Währungsgebiets begegnet werden soll, ist geeignet, die Senkung dieser Zinssätze zu befördern, indem unbegründete Befürchtungen eines Auseinanderbrechens des Euro-Währungsgebiets zerstreut werden, und so zu dem Rückgang oder sogar Wegfallen dieser Risikozuschläge beizutragen.

In diesem Zusammenhang ist das ESZB zu der Annahme berechtigt, dass eine solche Entwicklung der Zinssätze geeignet ist, die geldpolitische Transmission des ESZB zu begünstigen und die Einheitlichkeit der Geldpolitik zu wahren. Das ESZB konnte daher rechtmäßig zu der Beurteilung gelangen, dass ein solches Programm geeignet ist, zu den vom ESZB verfolgten Zielen und damit zur Gewährleistung der Preisstabilität beizutragen. Ein solches Programm geht nicht offensichtlich über das hinaus, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist, da es insbesondere den Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten nur in dem Umfang gestattet, in dem er zur Erreichung der Ziele dieses Programms erforderlich ist, und diese Ankäufe beendet werden, sobald diese Ziele erreicht sein werden.

Ein solches Programm betrifft letztlich nur einen begrenzten Teil der von den Staaten des Euro-Währungsgebiets begebenen Staatsanleihen, so dass die Verpflichtungen, die die Europäische Zentralbank mit der Durchführung eines solchen Programms voraussichtlich eingeht, tatsächlich eingegrenzt und beschränkt sind. Unter diesen Umständen kann ein Programm, dessen Volumen in dieser Weise beschränkt ist, vom ESZB in gültiger Weise beschlossen werden, ohne vor seiner Durchführung eine quantitative Beschränkung festzulegen, zumal eine solche geeignet erschiene, die Wirksamkeit dieses Programms zu schwächen. Es muss zudem festgestellt werden, dass ein solches Programm die Mitgliedstaaten, deren Anleihen erworben werden können, auf der Grundlage von Kriterien identifiziert, die an die verfolgten Ziele geknüpft sind, und nicht im Wege einer willkürlichen Auswahl.

Im Übrigen wird dadurch, dass das ESZB die verschiedenen beteiligten Interessen gegeneinander abwägt, tatsächlich vermieden, dass sich bei der Durchführung des fraglichen Programms Nachteile ergeben, die offensichtlich außer Verhältnis zu dessen Zielen stehen. Unter diesen Umständen verstößt ein solches Programm nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

(vgl. Rn. 72, 76, 77, 80-82, 87, 88, 90-92)

9.        Aus dem Wortlaut von Art. 123 Abs. 1 AEUV geht hervor, dass diese Bestimmung jede finanzielle Unterstützung des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) zugunsten eines Mitgliedstaats verbietet, ohne indessen in allgemeiner Weise die für das ESZB bestehende Möglichkeit auszuschließen, von Gläubigern eines solchen Staates Schuldtitel zu erwerben, die dieser Staat zuvor ausgegeben hat. So gestattet Art. 18 Abs. 1 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank dem ESZB, zur Erreichung seiner Ziele und zur Erfüllung seiner Aufgaben auf den Finanzmärkten tätig zu werden, indem es u. a. börsengängige Wertpapiere, zu denen Staatsanleihen gehören, endgültig kauft und verkauft, ohne dass diese Ermächtigung an besondere Bedingungen geknüpft ist, sofern nicht der Charakter von Offenmarktgeschäften als solcher missachtet wird

Gleichwohl kann das ESZB nicht rechtmäßig Staatsanleihen an den Sekundärmärkten unter Voraussetzungen erwerben, die seinem Tätigwerden in der Praxis die gleiche Wirkung wie ein unmittelbarer Erwerb von Staatsanleihen von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen der Mitgliedstaaten verleihen, und auf diese Weise die Wirksamkeit des in Art. 123 Abs. 1 AEUV festgelegten Verbots in Frage stellen. Ankäufe an dem Sekundärmarkt dürfen nicht eingesetzt werden, um das mit Art. 123 AEUV verfolgte Ziel zu umgehen, wie im siebten Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 3603/93 des Rates zur Festlegung der Begriffsbestimmungen für die Anwendung der in [Art. 123 AEUV] und Art. [125 Abs. 1 AEUV] vorgesehenen Verbote bekräftigt worden ist. Folglich muss die Bank, wenn sie Staatsanleihen an den Sekundärmärkten erwirbt, ihr Tätigwerden mit hinreichenden Garantien versehen, um sicherzustellen, dass es mit dem in Art. 123 Abs. 1 AEUV festgelegten Verbot der monetären Finanzierung in Einklang steht.

Zwar bleibt im Fall eines Programms für den Ankauf von Staatsanleihen durch das ESZB an den Sekundärmärkten trotz des Bestehens von Garantien, durch die sich verhindern lässt, dass die Emissionsbedingungen für diese Anleihen durch die Gewissheit verfälscht werden, dass sie nach ihrer Ausgabe durch das ESZB erworben werden, das Tätigwerden des ESZB geeignet, einen gewissen Einfluss auf die Funktionsweise des Primärmarkts und der Sekundärmärkte für Staatsanleihen auszuüben. Dieser Umstand ist aber nicht entscheidend, weil dieser Einfluss eine Wirkung ist, die den vom AEU-Vertrag erlaubten Ankäufen an den Sekundärmärkten inhärent ist. Im Übrigen ist diese Wirkung unerlässlich, um solche Ankäufe im Rahmen der Geldpolitik wirksam einsetzen zu können.

Überdies werden dadurch, dass ein solches Ankaufprogramm – wenn dies als zutreffend unterstellt wird – die Bank einem erheblichen Verlustrisiko aussetzen könnte, in keiner Weise die Garantien geschwächt, mit denen dieses Programm versehen ist, um zu vermeiden, dass den Mitgliedstaaten der Anreiz genommen wird, eine gesunde Haushaltspolitik zu verfolgen. Im Übrigen ist eine Zentralbank wie die Europäische Zentralbank verpflichtet, Entscheidungen zu treffen, die, wie Offenmarktgeschäfte, unvermeidlich ein Verlustrisiko für sie mit sich bringen. Insoweit enthält Art. 33 des Protokolls über das ESZB und die EZB gerade eine Regelung dafür, wie die Verluste der Bank aufzuteilen sind, ohne in besonderer Weise die Risiken einzugrenzen, die die Bank zur Verwirklichung ihrer währungspolitischen Ziele eingehen darf. Auch wenn im Übrigen der Verzicht auf eine privilegierte Gläubigerstellung die Bank möglicherweise einer Verlustquote aussetzt, über die die übrigen Gläubiger des betreffenden Mitgliedstaats entscheiden, ist festzustellen, dass es sich hierbei um ein Risiko handelt, das jedem Anleihekauf an den Sekundärmärkten innewohnt, der von den Verfassern der Verträge gleichwohl zugelassen wurde, ohne vorauszusetzen, dass der Bank eine privilegierte Gläubigerstellung eingeräumt wird.

(vgl. Rn. 94-97, 101, 102, 107, 108, 123, 125, 126)

10.      Art. 123 AEUV soll die Mitgliedstaaten dazu anhalten, eine gesunde Haushaltspolitik zu befolgen, indem vermieden wird, dass eine monetäre Finanzierung öffentlicher Defizite oder Privilegien der öffentlichen Hand auf den Finanzmärkten zu einer übermäßigen Verschuldung oder überhöhten Defiziten der Mitgliedstaaten führen. Dieses Ziel würde umgangen, wenn das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) ein Programm durchführen würde, das geeignet wäre, den betreffenden Mitgliedstaaten den Anreiz zu nehmen, eine gesunde Haushaltspolitik zu verfolgen. Da nämlich aus Art. 119 Abs. 2 AEUV, Art. 127 Abs. 1 AEUV und Art. 282 Abs. 2 AEUV hervorgeht, dass das ESZB ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unterstützt, darf die Tätigkeit des ESZB auf der Grundlage von Art. 123 AEUV nicht dergestalt sein, dass sie der Wirksamkeit dieser Politik zuwiderläuft, indem den Mitgliedstaaten der Anreiz genommen wird, eine gesunde Haushaltspolitik zu verfolgen.

Im Übrigen beinhaltet die Geldpolitik fortlaufend, dass auf die Zinssätze und die Refinanzierungsbedingungen der Banken eingewirkt wird, was zwangsläufig Konsequenzen für die Finanzierungsbedingungen des Haushaltsdefizits der Mitgliedstaaten hat.

(vgl. Rn. 100, 109, 110)

11.      Art. 119 AEUV, Art. 123 Abs. 1 AEUV und Art. 127 Abs. 1 und 2 AEUV sowie die Art. 17 bis 24 des Protokolls über die Satzung des Europäischen System der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank sind dahin auszulegen, dass sie das Europäische System der Zentralbanken dazu ermächtigen, ein Programm für den Ankauf von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten zu beschließen.

(Rn. 127 und Tenor)