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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 19. November 2020(1)(i)

Rechtssache C505/19

WS

gegen

Bundesrepublik Deutschland

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Wiesbaden [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Red Notice der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) – Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Ne bis in idem – Art. 21 AEUV – Freier Personenverkehr – Richtlinie (EU) 2016/680 – Verarbeitung personenbezogener Daten“






I.      Einleitung

1.        Die vorliegende Rechtssache wirft zwei neue Fragen dazu auf, welche Folgen die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem innerhalb des Schengen-Raums für Taten hat, für die die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (im Folgenden: Interpol) auf Ersuchen eines Drittstaats eine Red Notice ausgestellt hat. Red Notices werden gegen Personen ausgestellt, nach denen entweder zur Strafverfolgung oder zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe gesucht wird. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Ersuchen an Strafverfolgungsbehörden weltweit, den Aufenthaltsort gesuchter Personen zu ermitteln und, soweit möglich, ihre Bewegungsfreiheit bis zum Ergehen eines Auslieferungsersuchens vorläufig einzuschränken.

2.        Erstens: Dürfen die Mitgliedstaaten der Union die Red Notice umsetzen und damit die Bewegungsfreiheit der gesuchten Person einschränken, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Union Interpol und damit auch allen anderen Interpol-Mitgliedern mitgeteilt hat, dass diese Notice Taten zum Gegenstand hat, für die möglicherweise der Grundsatz ne bis in idem gilt? Zweitens: Dürfen die Mitgliedstaaten der Union, soweit der Grundsatz ne bis in idem tatsächlich gilt, die in der Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten der gesuchten Person weiterverarbeiten?

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Völkerrecht

3.        Nach Art. 2 Abs. 1 der Statuten von Interpol (Interpol’s Constitution), die 1956 angenommen und 2008 zuletzt geändert wurden, ist eines der Ziele von Interpol, eine

„möglichst umfassende gegenseitige Unterstützung aller kriminalpolizeilichen Behörden im Rahmen der in den einzelnen Ländern geltenden Gesetze und im Geiste der ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘ sicherzustellen und weiterzuentwickeln“.

4.        Art. 31 der Statuten von Interpol bestimmt: „Zur Erreichung ihrer Ziele ist [Interpol] auf die ständige und aktive Mitarbeit ihrer Mitglieder angewiesen, die in Übereinstimmung mit der Gesetzgebung ihres Landes alles in ihrer Macht stehende tun sollten, um sich mit der erforderlichen Sorgfalt an der Tätigkeit der Organisation zu beteiligen.“

5.        Nach Art. 73 Abs. 1 der Datenverarbeitungsvorschriften von Interpol (Interpol’s Rules on the Processing of Data), die 2011 angenommen und 2019 zuletzt geändert wurden, besteht das System der Notices von Interpol aus einer Reihe von farbcodierten Ausschreibungen (im Folgenden: Notices), die für bestimmte Zwecke ausgestellt werden, und aus Sonderausschreibungen (im Folgenden: Special Notices). Red Notices werden normalerweise auf Ersuchen eines National Central Bureau (Nationales Zentralbüro; im Folgenden: NCB) ausgestellt, um „den Aufenthaltsort einer gesuchten Person zu ermitteln und ihre Festnahme, Verhaftung oder die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit zum Zweck der Auslieferung, Übergabe oder ähnlicher rechtmäßiger Handlungen zu erwirken“ (Art. 82 der Datenverarbeitungsvorschriften von Interpol). Nach Art. 87 der Datenverarbeitungsvorschriften von Interpol hat, wenn der Aufenthaltsort einer Person, gegen die eine Red Notice ausgestellt wurde, ermittelt wurde, das Land, in dem die Person aufgefunden wurde, „(i) das ersuchende [NCB] oder eine internationale Einrichtung und das Generalsekretariat, vorbehaltlich der Beschränkungen, die sich aus dem innerstaatlichen Recht und den anwendbaren internationalen Verträgen ergeben, unverzüglich, über die Tatsache zu unterrichten, dass die Person aufgefunden wurde“, sowie „(ii) alle sonstigen, nach nationalem Recht und den anwendbaren internationalen Verträgen zulässigen Maßnahmen zu ergreifen, wie die vorläufige Festnahme der gesuchten Person oder die Überwachung oder Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit.“

B.      Unionsrecht

6.        Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen(2) (im Folgenden: SDÜ), der in Kapitel 3 („Verbot der Doppelbestrafung“) steht, bestimmt:

„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

7.        Art. 57 Abs. 1 und 2 SDÜ lautet:

„(1)      Ist eine Person im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei wegen einer Straftat angeschuldigt und haben die zuständigen Behörden dieser Vertragspartei Grund zu der Annahme, dass die Anschuldigung dieselbe Tat betrifft, derentwegen der Betreffende im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei bereits rechtskräftig abgeurteilt wurde, so ersuchen sie, sofern sie es für erforderlich halten, die zuständigen Behörden der Vertragspartei, in deren Hoheitsgebiet die Entscheidung ergangen ist, um sachdienliche Auskünfte.

(2)      Die erbetenen Auskünfte werden so bald wie möglich erteilt und sind bei der Entscheidung über eine Fortsetzung des Verfahrens zu berücksichtigen.“

8.        Nach dem 25. Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates(3) sind alle Mitgliedstaaten Mitglied von Interpol und „[sollte daher] die Zusammenarbeit zwischen der Union und Interpol gestärkt werden, indem ein effizienter Austausch personenbezogener Daten gefördert und zugleich die Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten hinsichtlich der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten gewährleistet wird“.

9.        Nach der Begriffsbestimmung in Art. 3 der Richtlinie 2016/680 bezeichnet „Verarbeitung“ „jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung“.

10.      Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 müssen personenbezogene Daten u. a. „auf rechtmäßige Weise und nach Treu und Glauben verarbeitet werden“, „für festgelegte, eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise verarbeitet werden“ und „dem Verarbeitungszweck entsprechen, maßgeblich und in Bezug auf die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, nicht übermäßig“ sein.

11.      Nach Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie „[sehen d]ie Mitgliedstaaten … vor, dass die Verarbeitung nur dann rechtmäßig ist, wenn und soweit diese Verarbeitung für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde zu den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken wahrgenommenen wird, und auf Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts der Mitgliedstaaten erfolgt“.

12.      Nach Art. 16 der Richtlinie 2016/680 müssen betroffene Personen ein „Recht auf Berichtigung oder Löschung personenbezogener Daten und Einschränkung der Verarbeitung“ haben.

13.      Kapitel V („Übermittlung personenbezogener Daten an Drittländer oder internationale Organisationen“) der Richtlinie 2016/680 (bestehend aus den Art. 35 bis 40) regelt u. a. die Bedingungen, unter denen personenbezogene Daten an ein Drittland oder eine internationale Organisation übermittelt werden dürfen.

C.      Nationales Recht

14.      Nach § 153a Abs. 1 der deutschen Strafprozessordnung (im Folgenden: StPO) kann bei Straftaten, die mit Geldstrafe oder im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr bedroht sind, die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts und des Beschuldigten vorläufig von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen und zugleich dem Beschuldigten Auflagen und Weisungen, wie etwa die Zahlung eines Geldbetrags zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse, erteilen, wenn diese geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht. Erfüllt der Beschuldigte die Auflagen und Weisungen, kann das betreffende Verhalten nicht mehr als Straftat verfolgt werden.

15.      Nach § 3 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundeskriminalamt (im Folgenden: BKA) und die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in kriminalpolizeilichen Angelegenheiten (im Folgenden: BKA-Gesetz) vom 1. Juni 2017(4) ist das BKA das [NCB] der Bundesrepublik Deutschland für die Zusammenarbeit mit Interpol.

III. Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorabentscheidungsfragen

16.      Interpol stellte 2012 auf Ersuchen der zuständigen Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika eine Red Notice an alle NCB gegen einen deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Deutschland (im Folgenden: Kläger) mit dem Ziel aus, zu Zwecken der Auslieferung seinen Aufenthaltsort zu ermitteln, ihn festzunehmen oder seine Bewegungsfreiheit einzuschränken. Die Red Notice wurde auf einen Haftbefehl der Behörden der Vereinigten Staaten gestützt, der u. a. wegen Vorwürfen der Korruption, der Geldwäsche und des Betrugs erlassen worden war.

17.      Dem vorlegenden Gericht zufolge hatte die Staatsanwaltschaft München (Deutschland) bereits ein Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wegen derselben Taten eingeleitet, die auch Gegenstand der Red Notice waren. Dieses Verfahren wurde 2009 eingestellt, nachdem der Kläger nach § 153a Abs. 1 StPO einen bestimmten Geldbetrag gezahlt hatte.

18.      Auf Antrag des BKA wurde 2013 nach einem Austausch mit dem Kläger von Interpol ein Addendum zu der betreffenden Red Notice mit dem Hinweis ausgestellt, dass nach Ansicht des BKA für die Vorwürfe, derentwegen diese Notice ausgestellt worden war, der Grundsatz ne bis in idem gelte. Außerdem forderten die deutschen Behörden die US-Behörden, wenngleich erfolglos, auf, die Red Notice zu löschen.

19.      Der Kläger erhob 2017 Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das BKA, vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden (Deutschland). Er beantragte, die Beklagte zu verpflichten, die notwendigen Maßnahmen zur Löschung der Red Notice zu ergreifen. Der Kläger hat vorgebracht, er könne in keinen Vertragsstaat des Schengener Übereinkommens reisen, ohne Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden. Diese Staaten hätten ihn nämlich wegen der Red Notice auf ihre Fahndungslisten gesetzt. Diese Situation verstoße gegen Art. 54 SDÜ und Art. 21 AEUV. Zudem verstoße die Weiterverarbeitung seiner in der Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten durch die Behörden der Mitgliedstaaten gegen die Bestimmungen der Richtlinie 2016/680.

20.      Vor diesem Hintergrund und aufgrund von Zweifeln im Hinblick auf die richtige Auslegung der relevanten Bestimmungen des Unionsrechts hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden am 27. Juni 2019 beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 54 SDÜ in Verbindung mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [im Folgenden: Charta] dahin gehend auszulegen, dass bereits die Einleitung eines Strafverfahrens wegen derselben Tat in allen Vertragsstaaten des Übereinkommens von Schengen untersagt ist, wenn eine deutsche Staatsanwaltschaft ein eingeleitetes Strafverfahren einstellt, nachdem der Beschuldigte bestimmte Auflagen erfüllt und insbesondere einen bestimmten, von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrag entrichtet hat?

2.      Folgt aus Art. 21 Abs. 1 AEUV ein Verbot an die Mitgliedstaaten, Festnahmeersuchen von Drittstaaten im Rahmen einer internationalen Organisation wie Interpol umzusetzen, wenn der von dem Festnahmeersuchen Betroffene Unionsbürger ist und der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, Bedenken an der Vereinbarkeit des Festnahmeersuchens mit dem Verbot der Doppelbestrafung der internationalen Organisation und damit auch den übrigen Mitgliedstaaten mitgeteilt hat?

3.      Steht Art. 21 Abs. 1 AEUV bereits der Einleitung von Strafverfahren und einer vorübergehenden Festnahme in den Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit der Betroffene nicht besitzt, entgegen, wenn diese im Widerspruch zum Verbot der Doppelbestrafung steht?

4.      Sind Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten zum Erlass von Rechtsvorschriften verpflichtet sind, die sicherstellen, dass im Falle eines zum Strafklageverbrauch führenden Verfahrens in allen Vertragsstaaten des Übereinkommens von Schengen eine weitere Verarbeitung von Red Notices von Interpol, die zu einem weiteren Strafverfahren führen sollen, untersagt ist?

5.      Verfügt eine internationale Organisation wie Interpol über ein angemessenes Datenschutzniveau, wenn ein Angemessenheitsbeschluss nach Art. 36 der Richtlinie 2016/680 und/oder geeignete Garantien nach Art. 37 der Richtlinie 2016/680 nicht gegeben sind?

6.      Dürfen die Mitgliedstaaten Daten, die bei Interpol in einem Fahndungszirkular („Red Notice“) von Drittstaaten eingetragen worden sind, nur dann weiterverarbeiten, wenn ein Drittstaat mit dem Fahndungszirkular ein Festnahme- und Auslieferungsersuchen verbreitet und eine Festnahme beantragt hat, die nicht gegen Europäisches Recht, insbesondere das Verbot der Doppelbestrafung, verstößt?

21.      Das vorlegende Gericht hat beantragt, die Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Mit Beschluss vom 12. Juli 2019 hat der Gerichtshof beschlossen, dass es nicht notwendig sei, diesem Antrag stattzugeben.

22.      Die Red Notice gegen den Kläger wurde am 5. September 2019 auf Ersuchen der US-Behörden von Interpol gelöscht.

23.      In seiner Antwort vom 11. November 2019 auf eine Anfrage des Gerichtshofs zu den sich aus diesem Ereignis ergebenden Folgen für das vorliegende Verfahren hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, das Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten zu wollen. Das vorlegende Gericht hat erklärt, dass der Kläger eine Änderung des Streitgegenstands der Klage des Ausgangsverfahrens beantragt habe. Der Kläger beantragt beim vorlegenden Gericht nunmehr, die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, i) alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass Interpol eine neue Red Notice wegen derselben Taten erlässt, und, falls dies geschehen sollte, ii) alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die neue Red Notice zu löschen. Das vorlegende Gericht erklärt, dass nach nationalem Recht die Möglichkeit bestehe, das Klagebegehren in ein Fortsetzungsfeststellungsbegehren zu ändern, und es sich hierbei um eine Fortführung des früheren Verfahrens handele (im Folgenden: Fortsetzungsfeststellungsklage). Das vorlegende Gericht ist daher der Auffassung, dass die aufgeworfenen Fragen für die Entscheidung über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit weiterhin relevant sind.

24.      Schriftliche Erklärungen sind im vorliegenden Verfahren vom Kläger, vom BKA, von der belgischen, der tschechischen, der dänischen, der deutschen, der griechischen, der französischen, der kroatischen, der niederländischen, der polnischen und der rumänischen Regierung sowie von der britischen Regierung und der Europäischen Kommission eingereicht worden. Der Kläger, das BKA, die belgische, die tschechische, die dänische, die deutsche, die spanische, die französische, die niederländische und die finnische Regierung sowie die Kommission haben in der Sitzung vom 14. Juli 2020 auch mündliche Ausführungen gemacht.

IV.    Würdigung

25.      Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob den Mitgliedstaaten, wenn auf Ersuchen eines Drittstaats von Interpol eine Red Notice ausgestellt wird und diese Taten zum Gegenstand hat, für die möglicherweise der Grundsatz ne bis in idem gilt, nach dem Unionsrecht verwehrt ist, i) diese Notice umzusetzen, indem sie die Freizügigkeit der gesuchten Person einschränken, und ii) deren in der Notice enthaltene personenbezogene Daten weiterzuverarbeiten.

26.      Zunächst ist vielleicht sachdienlich, kurz zu erläutern, was eine Red Notice ist. Nach Art. 82 der Datenverarbeitungsvorschriften von Interpol werden Red Notices auf Ersuchen nationaler oder internationaler Behörden mit Ermittlungs- und Strafverfolgungsbefugnissen in Strafsachen ausgestellt, um „den Aufenthaltsort einer gesuchten Person zu ermitteln und ihre Festnahme, Verhaftung oder die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit zum Zweck der Auslieferung, Übergabe oder ähnlicher rechtmäßiger Handlungen zu erwirken“. Nach Art. 87 der Datenverarbeitungsvorschriften von Interpol haben, wenn der Aufenthalt einer Person, gegen die eine Red Notice ausgestellt wurde, ermittelt wurde, die Behörden des Landes, in dem die Person aufgefunden wurde, die ersuchenden Behörden und Interpol, unverzüglich über die Tatsache zu unterrichten, dass die Person aufgefunden wurde, und „alle anderen nach innerstaatlichem Recht und den anwendbaren internationalen Verträgen zulässigen Maßnahmen zu ergreifen, wie die vorläufige Festnahme der gesuchten Person oder die Überwachung oder Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit“.

27.      Die Ausstellung einer Red Notice durch Interpol stellt daher lediglich ein Hilfeersuchen eines Interpol-Mitglieds an die anderen Mitglieder dar, den Aufenthaltsort einer gesuchten Person zu ermitteln und, soweit möglich, ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken. Eine Red Notice stellt weder ein Auslieferungsersuchen dar, noch löst sie automatisch ein solches aus; dieses muss vielmehr gegebenenfalls gesondert gestellt werden. Eine Red Notice wird gleichwohl eindeutig zum Zweck der Durchführung eines Auslieferungs- oder ähnlichen Verfahrens ausgestellt.

28.      Nach dieser Klarstellung und vor Prüfung der materiellen Fragestellungen, die die vorliegende Rechtssache aufwirft, ist noch auf eine Reihe von Verfahrensfragen einzugehen.

A.      Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens und fortbestehende Notwendigkeit seiner Beantwortung

29.      Zunächst haben das BKA sowie die belgische, die tschechische, die deutsche, die griechische und die niederländische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs Zweifel an der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens von Anfang an geäußert. Ihr Vorbringen hierzu lässt sich in vier Kategorien einordnen, mit denen im Wesentlichen vorgebracht wird, dass i) das Vorabentscheidungsersuchen keine hinreichenden Einzelheiten zum einschlägigen Sachverhalt enthalte, ii) der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende Sachverhalt auf Deutschland begrenzt sei und keinen tatsächlichen grenzüberschreitenden Bezug aufweise, iii) die Klage vor dem vorlegenden Gericht unzulässig und/oder jedenfalls unbegründet sei, iv) diese Klage missbräuchlich sei, da sie sich gegen die Zuständigkeit anderer Mitgliedstaaten als Deutschland für die Umsetzung einer Red Notice richte.

30.      Ich halte diese Einwände für nicht überzeugend.

31.      Erstens ist der Vorlagebeschluss zwar besonders knapp. Aus diesem Beschluss und den ergänzenden Stellungnahmen der Beteiligten kann der Gerichtshof sich jedoch durchaus Kenntnis davon verschaffen, was das vorlegende Gericht fragt und warum. Daher liegen dem Gerichtshof die für eine sachdienliche Beantwortung erforderlichen tatsächlichen und rechtlichen Angaben vor.

32.      Zweitens handelt es sich bei dem dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalt keineswegs um einen rein innerstaatlichen, auf Deutschland beschränkten Sachverhalt. Zum einen betrifft der Rechtsstreit zwar in der Tat einen deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Deutschland, der sich gegen das Handeln der deutschen Behörden wendet. Der Grund dieser Anfechtung liegt jedoch in der angeblichen Beschränkung seiner Freizügigkeit in der gesamten Union, die in Art. 21 AEUV verankert ist. Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die die Rechte auf Freizügigkeit gewährenden Bestimmungen, einschließlich Art. 21 AEUV, weit auszulegen sind(5). Dass ein Unionsbürger von seinen Rechten (noch) keinen Gebrauch gemacht haben mag, bedeutet nicht, dass es sich um einen rein innerstaatlichen Sachverhalt handelt(6). Art. 21 AEUV kann meines Erachtens von einem Einzelnen geltend gemacht werden, der tatsächlich und wirklich von dieser Freiheit Gebrauch zu machen begehrt(7). Dies ist sicherlich beim Kläger der Fall: Seine Tätigkeiten vor und während des Ausgangsverfahrens, insbesondere sein Austausch mit dem BKA und den Behörden mehrerer anderer Mitgliedstaaten, zeigen deutlich, dass seine Absicht, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen, nicht rein hypothetisch ist oder instrumentell geltend gemacht wird(8).

33.      Auf der anderen Seite ist die Geltung der Richtlinie 2016/680 nicht auf grenzüberschreitende Sachverhalte beschränkt. Dies gilt in der Tat sowohl für Art. 50 der Charta als auch für Art. 54 SDÜ: Beide Vorschriften können eindeutig auch in Fällen Anwendung finden, in denen ein Staatsangehöriger den Behörden seines eigenen Mitgliedstaats gegenübersteht.

34.      Drittens ist es nicht Sache des Gerichtshofs, die Zulässigkeit, geschweige denn die Begründetheit, der Klage im Ausgangsverfahren zu beurteilen. Nach ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen, die ein nationales Gericht zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen vorlegt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat(9). Diese Vermutung kann nicht allein dadurch widerlegt werden, dass eine der Parteien des Ausgangsverfahrens bestimmte Tatsachen bestreitet, deren Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu überprüfen hat und die den Streitgegenstand bestimmen(10). Diese Vermutung wird auch nicht dadurch widerlegt, dass der Kläger möglicherweise im Ausgangsverfahren vor dem nationalen Gericht letztlich erfolglos bleiben könnte, insbesondere wenn vom Gerichtshof eine bestimmte Auslegung des in Rede stehenden Unionsrechts vertreten wird. Die Zulässigkeit wegen der etwaigen, in der Sache negativen Antwort abzulehnen, liefe nämlich darauf hinaus, den Karren vor die Pferde zu spannen.

35.      Schließlich sei darauf hingewiesen, dass das Ausgangsverfahren gegen die deutschen Behörden – als im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht Beklagte – gerichtet ist und jede Entscheidung dieses Gerichts in diesem Verfahren selbstverständlich nur gegenüber diesen Behörden Rechtswirkungen entfaltet. Dass der Gerichtshof, um dem vorlegenden Gericht sachdienliche Hinweise zu geben, die sich aus den betreffenden Unionsvorschriften auch für andere Mitgliedstaaten als Deutschland ergebenden Verpflichtungen zu klären haben wird, kann die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens nicht in Frage stellen. Zwar hat der Gerichtshof eine Entscheidung in erfundenen Rechtssachen abgelehnt, die lediglich zu dem Zweck anhängig gemacht wurden, eine Entscheidung des Gerichtshofs über Verpflichtungen von Mitgliedstaaten in einem Unionskontext herbeizuführen, bei denen es sich um andere als denjenigen des vorlegenden Gerichts handelte(11). In der vorliegenden Rechtssache sind jedoch keine Informationen ersichtlich, die darauf hindeuten, dass der Rechtsstreit vor dem vorlegenden Gericht künstlich konstruiert wäre, um den Gerichtshof zu einer Stellungnahme zu bestimmten Auslegungsproblemen zu veranlassen, die in Wirklichkeit keinem für die Entscheidung über diesen Rechtsstreit unabdingbaren objektiven Erfordernis dienen. Dass die vom Gerichtshof zu den Rechten oder Pflichten eines Mitgliedstaats gegebene Antwort (horizontale) Auswirkungen auf die anderen Mitgliedstaaten haben wird, ist ferner schlicht untrennbar mit Fragestellungen der Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten und den damit zusammenhängenden Aspekten der gegenseitigen Anerkennung zwischen ihnen verbunden.

36.      Zweitens wird vom BKA, von der belgischen, der tschechischen, der deutschen, der spanischen und der finnischen Regierung sowie von der Regierung des Vereinigten Königreichs auch vorgetragen, dass die vorgelegten Fragen inzwischen hypothetisch geworden seien. Nachdem die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Red Notice im September 2019 von Interpol gelöscht worden sei, sei eine Antwort auf die vorgelegten Fragen für das vorlegende Gericht nicht mehr erforderlich, um über die bei ihm anhängige Rechtssache zu entscheiden.

37.      Wie oben in Nr. 23 erwähnt, hat das vorlegende Gericht auf die hierzu konkret gestellte Anfrage des Gerichtshofs jedoch erklärt, dass der Kläger nach nationalem Recht berechtigt sei, seinen Klageantrag zu ändern, und dass er von diesem Recht tatsächlich Gebrauch gemacht habe. Die Klage vor dem vorlegenden Gericht ist somit derzeit (noch) anhängig, und nach Ansicht dieses Gerichts hängt ihr Ausgang (noch) von der Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts ab, die Gegenstand der vorgelegten Fragen sind.

38.      Außerdem könnte nach Auffassung des vorlegenden Gerichts, der weder das BKA noch einer der anderen Beteiligten, die Stellungnahmen eingereicht haben, entgegengetreten ist, die in Rede stehende Red Notice jederzeit auf weiteren Antrag der zuständigen US-Behörden erneut in das Interpol-System eingegeben werden.

39.      Aufgrund der vorstehenden Ausführungen und in Anbetracht der für Vorabentscheidungsersuchen geltenden Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen meines Erachtens trotz der Rücknahme der Red Notice nicht gegenstandslos geworden.

B.      Begründetheit

40.      Die vorliegenden Schlussanträge sind wie folgt aufgebaut. Ich beginne mit der ersten, der zweiten und der dritten Frage, die sich alle auf die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem in der vorliegenden Rechtssache und, soweit diese zu bejahen ist, auf die Folgen beziehen, die sich für die anderen Mitgliedstaaten im Hinblick darauf ergeben, ob und inwieweit sie die von Interpol ausgestellte Red Notice umsetzen können (1). Sodann werde ich auf die vierte, die fünfte und die sechste Frage eingehen, in denen es um die Folgen geht, die sich aus der Geltung des Grundsatzes ne bis in idem für die Verarbeitung der in der Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten der gesuchten Person ergeben. Ich werde jedoch nur die in der vierten und der sechsten Frage aufgeworfenen Fragestellungen behandeln (2), da ich die fünfte Frage für unzulässig halte (3).

1.      Erste, zweite und dritte Frage

41.      Mit der ersten, der zweiten und der dritten Frage, die am besten zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob den Mitgliedstaaten nach Art. 54 SDÜ in Verbindung mit Art. 50 der Charta und Art. 21 Abs. 1 AEUV verwehrt ist, eine von Interpol auf Ersuchen eines Drittstaats ausgestellte Red Notice umzusetzen und damit die Freizügigkeit eines Unionsbürgers einzuschränken, wenn ein anderer Mitgliedstaat Interpol (und damit auch den anderen Interpol-Mitgliedern) mitgeteilt hat, dass diese Notice Taten zum Gegenstand hat, für die möglicherweise der Grundsatz ne bis in idem gilt.

42.      Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst zu prüfen, ob eine Maßnahme, wie diejenige, die die Staatsanwaltschaft München mit Zustimmung des zuständigen Gerichts 2009 gegen den Kläger erlassen hat, per se dazu führen kann, dass der Grundsatz ne bis in idem greift (a). Weiterhin werde ich, wenn der Grundsatz ne bis in idem tatsächlich greifen sollte, prüfen, ob dieser Grundsatz ein Hindernis für die Auslieferung an einen Drittstaat darstellen könnte und somit restriktive, diesem Zweck dienende Maßnahmen ausschließt (b). Ich werde mich sodann der konkreten Fallgestaltung der vorliegenden Rechtssache zuwenden, in der offenbar die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem im konkreten Einzelfall noch nicht festgestellt worden ist (c und d).

a)      Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem auf andere Formen des Abschlusses von Strafverfahren als Gerichtsurteile

43.      Zunächst ist zu prüfen, ob eine Maßnahme, wie sie die Staatsanwaltschaft 2009 gegen den Kläger erlassen hat, überhaupt dazu führen kann, dass der Grundsatz ne bis in idem greift. Die Anwendbarkeit von Art. 54 SDÜ setzt voraus, dass eine Person „durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt“ worden ist, was dann eine spätere Strafverfolgung wegen derselben Tat in den anderen Mitgliedstaaten ausschließt.

44.      Meines Erachtens fällt eine Entscheidung, mit der eine Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des zuständigen Gerichts das Strafverfahren endgültig einstellt und durch die nach Erfüllung bestimmter Auflagen durch den Beschuldigten jede weitere Strafverfolgung nach nationalem Recht ausgeschlossen ist, in den Anwendungsbereich von Art. 54 SDÜ. Es gibt in der Tat auch bereits eine gefestigte Rechtsprechung hierzu.

45.      Im Urteil Gözütok und Brügge befasste sich der Gerichtshof erstmals mit dieser Frage und stellte fest, dass das in Art. 54 SDÜ aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung „auch für zum Strafklageverbrauch führende Verfahren der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art gilt, in denen die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats ohne Mitwirkung eines Gerichts ein in diesem Mitgliedstaat eingeleitetes Strafverfahren einstellt, nachdem der Beschuldigte bestimmte Auflagen erfüllt und insbesondere einen bestimmten, von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrag entrichtet hat“(12).

46.      Diese Feststellungen sind in der späteren Rechtsprechung zu Art. 54 SDÜ bestätigt und präzisiert worden. Im Urteil M betonte der Gerichtshof, dass die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem in erster Linie voraussetzt, dass die Strafklage endgültig verbraucht ist(13). Im Urteil Spasic hob der Gerichtshof den Stellenwert der Erfüllung der „Vollstreckungsbedingung“ hervor, nach der im Falle der Verhängung einer Sanktion diese Sanktion „bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nicht mehr vollstreckt werden kann“, damit in einem Mitgliedstaat der Union rechtskräftig Verurteilte der Strafe entgehen können(14).

47.      Dagegen entschied der Gerichtshof im Urteil Miraglia, dass Art. 54 SDÜ keine Anwendung auf eine Entscheidung der Gerichte eines Mitgliedstaats findet, mit der ein Verfahren für beendet erklärt wird, nachdem die Staatsanwaltschaft beschlossen hat, die Strafverfolgung nur deshalb nicht fortzusetzen, weil in einem anderen Mitgliedstaat Strafverfolgungsmaßnahmen gegen denselben Beschuldigten wegen derselben Tat eingeleitet worden sind, und ohne dass eine Prüfung in der Sache erfolgt ist(15). Ebenso entschied der Gerichtshof im Urteil Turanský, dass Art. 54 SDÜ auf eine Entscheidung der Polizeibehörden keine Anwendung finden kann, mit der nach sachlicher Prüfung des Sachverhalts in einem Stadium, zu dem gegen einen einer Straftat Verdächtigen noch keine Beschuldigung erhoben worden ist, die Strafverfolgung eingestellt wird, wenn diese Einstellungsentscheidung nach dem nationalen Recht die Strafklage nicht endgültig verbraucht und damit in diesem Staat kein Hindernis für eine erneute Strafverfolgung wegen derselben Tat bildet(16).

48.      Im Urteil Kossowski stellte der Gerichtshof klar, dass eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft, mit der das Ermittlungsverfahren gegen eine Person vorbehaltlich der Wiedereröffnung des Strafverfahrens oder der Aufhebung des Beschlusses ohne die Auferlegung von Sanktionen eingestellt wird, nicht als rechtskräftige Entscheidung eingestuft werden kann, wenn aus der Begründung dieses Beschlusses hervorgeht, dass dieses Verfahren eingestellt wurde, ohne dass eingehende Ermittlungen durchgeführt worden wären(17).

49.      Zusammenfassend gibt es einerseits rechtskräftige Entscheidungen wegen einer Straftat (über die Erfüllung oder Nichterfüllung ihrer Tatbestandsmerkmale oder sonstige besondere Formen von Entscheidungen, die eine solche Aussage nicht enthalten, jedoch zu einer wirksamen Beendigung der Rechtssache führen), die nach nationalem Recht jede spätere Strafverfolgung wegen derselben Tat im selben Mitgliedstaat und somit auch in anderen Mitgliedstaaten ausschließen. Andererseits gibt es andere Formen der Einstellung oder Nichteröffnung von Strafverfahren, die typischerweise von den Polizeibehörden auf nationaler Ebene vorgenommen werden und die nicht zu diesen Folgen führen. Diese Abgrenzung ist recht einleuchtend, lässt sich aber angesichts der verschiedenen Regelungen und Verfahren in den Mitgliedstaaten schwer abschließend fassen. Der Grundsatz ne bis in idem kann nur dann wirksam greifen, wenn es eine rechtskräftige Erklärung eines Mitgliedstaats gibt, die den Umfang des idem verbindlich definiert, das ab diesem Zeitpunkt das ne bis ausschließen kann. Wenn, bildlich gesprochen, dieser Raum offen bleibt, sind die anderen Mitgliedstaaten durch nichts daran gehindert, selbst zu ermitteln und die Strafverfolgung durchzuführen.

50.      Somit ist die erste Frage des vorlegenden Gerichts in der Tat zu bejahen: Abstrakt betrachtet fällt eine Entscheidung einer Staatsanwaltschaft, mit der nach Prüfung des Falls in der Sache und mit Zustimmung des zuständigen Gerichts das Strafverfahren nach Erfüllung bestimmter Auflagen durch den Beschuldigten endgültig eingestellt wird, unter Art. 54 SDÜ.

51.      Dass eine solche Form einer nationalen Entscheidung unter Art. 54 SDÜ fällt und somit möglicherweise damit gleichzustellen ist, dass die Person durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, ist jedoch mehrere Schritte von den möglichen Auswirkungen entfernt, nach denen sich das vorlegende Gericht in seiner zweiten und seiner dritten Frage erkundigt. Was offenbar insbesondere fehlt, ist der nächste notwendige logische Schritt dafür, dass sich überhaupt Fragestellungen im Rahmen von Art. 21 AEUV stellen können: eine rechtskräftige, verbindliche Feststellung der zuständigen Stelle eines Mitgliedstaats, die die Bezeichnung der in Rede stehenden Taten bestätigt (das idem) und somit das ne bis für eben diese Taten in der gesamten Union greifen lässt, das dann potenziell auch bestimmte Wirkungen auf Auslieferungsersuchen von Drittstaaten haben könnte.

52.      Angesichts des Vorbringens der Beteiligten und der Erörterung, die darüber in der mündlichen Verhandlung stattfand, werde ich gleichwohl zunächst ebenfalls von den tatsächlichen und rechtlichen Annahmen ausgehen, die der zweiten und der dritten Frage des vorlegenden Gerichts untrennbar zugrunde liegen. Würde, insbesondere in Beantwortung der dritten Frage, Art. 21 Abs. 1 AEUV neben dem Verbot einer späteren Strafverfolgung in anderen Mitgliedstaaten auch die vorübergehende Festnahme in den anderen Mitgliedstaaten zum Zweck einer möglichen künftigen Auslieferung an einen Drittstaat ausschließen, wenn Art. 54 SDÜ im vorliegenden Fall anwendbar wäre?

53.      Meines Erachtens ja.

b)      Der Grundsatz ne bis in idem als Hindernis für eine Auslieferung (oder eine Festnahme zum Zweck der Auslieferung)

54.      Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen dem Grundsatz ne bis in idem und dem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV. Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass „Art. 54 SDÜ verhindern soll, dass eine Person deshalb, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat im Gebiet mehrerer Vertragsstaaten verfolgt wird … Diese Vorschrift gewährleistet Personen, die nach Strafverfolgung rechtskräftig abgeurteilt worden sind, ihren Bürgerfrieden. Diese müssen von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen können, ohne neuerliche Strafverfolgung wegen derselben Tat in einem anderen Vertragsstaat befürchten zu müssen.“(18)

55.      Für mich ist die Anwendung solcher Aussagen auf etwaige Auslieferungsersuchen von Drittstaaten kompromisslos einfach. Der Grundgedanke muss derjenige einer Sperre sein. Eine Entscheidung, mit der jede weitere Strafverfolgung wegen derselben Tat in einem Mitgliedstaat ausgeschlossen wird, muss andernorts in ein und demselben Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts dieselben Wirkungen haben, wie sie sie in ein und derselben innerstaatlichen Rechtsordnung hätte.

56.      Wenn ferner dieser eine Raum im Inneren existiert, muss dies auch nach außen hin Folgen haben. Ein Mitgliedstaat kann also eine Person, gegen die von Interpol eine Red Notice ausgestellt worden ist, nicht verhaften, vorübergehend festnehmen oder irgendeine andere, ihre Freizügigkeit einschränkende Maßnahme ergreifen, wenn verbindlich festgestellt worden ist, dass diese Person wegen derselben Taten in einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist. Eine solche Maßnahme würde gegen Art. 54 SDÜ verstoßen, da sie das durch Art. 21 AEUV gewährte Recht erheblich einschränken würde. Ein Rechtsraum heißt ein Rechtsraum, sowohl nach innen als auch nach außen.

57.      Einige Regierungen, die im vorliegenden Verfahren Stellungnahmen eingereicht haben, sind jedoch mit einem solchen Ergebnis nicht einverstanden und haben drei Einwände dagegen vorgebracht. Erstens stütze sich dieses Ergebnis auf eine zu weite Auslegung von Art. 54 SDÜ. Diese Bestimmung habe einen engeren Anwendungsbereich und erfasse lediglich eine Strafverfolgung, die von einem Mitgliedstaat selbst durchgeführt werde, nicht aber eine Festnahme zum Zweck der Auslieferung, die eine spätere Strafverfolgung in einem Drittland ermögliche (1). Ferner liefe eine solche Auslegung auf eine extraterritoriale Anwendung des Schengener Übereinkommens hinaus (2) und stehe somit in einem Spannungsverhältnis zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und der Union im Rahmen bilateraler Auslieferungsabkommen, insbesondere der mit den Vereinigten Staaten von Amerika geschlossenen Abkommen (3).

58.      Auf diese Argumente werde ich im Folgenden nacheinander eingehen.

1)      Begriff der „Verfolgung“

59.      Erstens bringen einige der Regierungen, die Stellungnahmen eingereicht haben, vor, dass der Grundsatz ne bis in idem zwar ausschließe, dass eine Person „verfolgt“ werde, nicht jedoch, dass gegen sie Maßnahmen der im Vorabentscheidungsersuchen genannten Art ergriffen würden. Diese Maßnahmen seien nicht als „Verfolgung“, sondern als „Sicherungsmaßnahmen“ anzusehen, mit denen einem anderen Staat, in dem die Strafverfolgung stattfinden werde, Hilfe geleistet werden solle.

60.      Diese Auslegung von Art. 54 SDÜ erscheint etwas formalistisch. Ich kann keinen textlichen, kontextuellen oder teleologischen Gesichtspunkt erkennen, der für die Ansicht spricht, dass unter den Begriff „Verfolgung“ nur Strafverfahren fallen, die „von der Wiege bis zur Bahre“ in ein und demselben Staat stattfinden und vollständig in diesem Staat durchgeführt werden müssen.

61.      Der Wortlaut von Art. 54 SDÜ verlangt nicht, dass die nachfolgende Strafverfolgung, die ausgeschlossen ist, von einer anderen Vertragspartei durchgeführt werden muss. Er schließt jede Strafverfolgung in einer anderen Vertragspartei aus und bezieht somit dem Wortlaut nach das Verbot einer territorialen Beteiligung an Strafverfolgungshandlungen, die in diesem Mitgliedstaat oder für andere Staaten durchgeführt werden, mit ein.

62.      Weiterhin besteht kein Zweifel daran, dass Maßnahmen wie eine Verhaftung oder vorübergehende Festnahme – neben der Prima-facie-Erfüllung der sogenannten „Engel-Kriterien“(19), wonach sie „strafrechtlichen Charakter“ haben müssen – die Verfolgung der gesuchten Person in einem Drittstaat ermöglichen. Mit anderen Worten sind diese Maßnahmen Bestandteil eines Kontinuums möglicherweise in verschiedenen Staaten erlassener Rechtsakte, durch die die gesuchte Person einem Gerichtsverfahren wegen einer strafrechtlichen Anklage unterworfen wird.

63.      Ein Mitgliedstaat der Union, der die Red Notice umsetzt, fungiert als longa manus des verfolgenden Staates. Dieser Mitgliedstaat handelt faktisch für und im Namen der Strafverfolgung eines anderen Staates und ermöglicht damit letztlich, dass die gesuchte Person der (Strafverfolgungs‑)Gewalt eines Drittlands unterstellt werden kann. Unter diesen Umständen die Ansicht zu vertreten, dass ein solches Handeln nicht Bestandteil der (typischerweise bereits laufenden) Strafverfolgung durch ein Drittland sei, käme der Behauptung gleich – ich bitte, diese finstere, aber dennoch treffende Analogie im materiellen Strafrecht zu entschuldigen – dass das Fesseln und die Übergabe einer Person an einen Dritten zu dem Zweck, von diesem erstochen zu werden, kein (entweder in Form der Beihilfe oder der Mittäterschaft begangener) Mord sei, sondern lediglich eine „Sicherungsmaßnahme“, mit der der anderen Person, die das Messer hält, Hilfe geleistet werden solle.

64.      Auf der teleologischen Ebene wäre, soweit mit Art. 54 SDÜ u. a. die Freizügigkeit der Unionsbürger geschützt werden soll(20), jede andere Auslegung mit diesem Ziel sowie mit dem Grundrechtskontext, in dem diese Bestimmung ebenso wie Art. 50 der Charta steht, kaum vereinbar. Einer Person, die zum Zweck ihrer Auslieferung verhaftet oder vorübergehend festgenommen wird, obwohl sie sich auf den Grundsatz ne bis in idem berufen kann, wird – um die Formulierung des Gerichtshofs zu bemühen – „ihr Bürgerfrieden“ nicht gewährt oder könnte nicht innerhalb der Union „von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen“.

65.      Dies wird auch durch die Auslegung dieses in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes durch den Gerichtshof bestätigt. In Bezug auf diese Bestimmung hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass „der Grundsatz ne bis in idem … eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat [verbietet]“(21). Dementsprechend ist auch allein schon die Durchführung von Verfahrenshandlungen, die mit der Verfolgung einer Person in Verbindung stehen, nach Art. 54 SDÜ verboten.

2)      Anwendung „außerhalb von Schengen“

66.      Zweitens soll nach Ansicht einiger Regierungen Art. 54 SDÜ nur „innerhalb von Schengen“ gelten und nicht für Fälle, in denen eine Person in einem Drittstaat vor Gericht gestellt wurde oder werden könnte. Mit anderen Worten binde Art. 54 SDÜ die Vertragsparteien nur in ihrem gegenseitigen Verhältnis, nicht aber in ihrem Verhältnis zu Drittstaaten (das dem nationalen und internationalen Recht unterliege). Für diese Ansicht spreche weiter, dass das Auslieferungsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten(22) keinen absoluten Ablehnungsgrund für Fälle vorsehe, in denen der Grundsatz ne bis in idem gelte. Mangels einer ausdrücklichen Bestimmung hierüber falle der Streitgegenstand in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, denen es somit freistehen sollte, ihn nach eigenem Ermessen zu regeln, insbesondere im Wege bilateraler Abkommen.

67.      Einer Reihe von Einzelansichten, die dieses Vorbringen beinhaltet, kann ich nur zustimmen. In Verbindung miteinander und was das aus ihnen gefolgerte Ergebnis angeht, kann ich ihm jedoch gewiss nicht zustimmen.

68.      Zunächst einmal ist allerdings richtig, dass das Schengener Abkommen nicht für Drittstaaten gilt. Es gilt jedoch sicherlich für Maßnahmen, die seine Vertragsparteien in ihrem eigenen Hoheitsgebiet für Drittstaaten ergreifen. Im Übrigen weist das Vorbringen weitgehende Überschneidungen mit dem im vorangegangenen Abschnitt dargestellten Vorbringen auf: In einem anderen Mitgliedstaat nicht erneut verfolgt zu werden, ist weiter, als in und von jenem Mitgliedstaat nicht verfolgt zu werden. Dies gilt auf der Ebene des Wortlauts sowie auf der systematischen und logischen Ebene, soweit die Durchführung von Verfolgungshandlungen einer dritten Partei in einer Vertragspartei ermöglicht wird.

69.      Dies wird durch eine Auslegung von Art. 54 SDÜ im Licht der Charta weiter erhärtet. Art. 50 der Charta erhebt den Grundsatz ne bis in idem zu einem Grundrecht und bestimmt, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf].“(23) Es dürfte einiges dafür sprechen, dass „niemand“, ohne jegliche räumliche Beschränkung, „niemand“ bedeutet und nicht „niemand außer Einzelpersonen, die außerhalb der Union verfolgt werden“.

70.      Schließlich wäre es ein eher seltsames Verständnis von Art. 50 der Charta, wenn die Bedeutung und Reichweite dieses Grundrechts für die Behörden der Mitgliedstaaten an der Außengrenze der Union enden würden. Dies wäre nicht nur gefährlich für den wirksamen Schutz der Grundrechte, da es zu einer Umgehung einlädt. Es ergäbe auch im Hinblick auf die Souveränität der Mitgliedstaaten und ihr ius puniendi kaum Sinn: Wenn der Grundsatz ne bis in idem ausreicht, um einen Mitgliedstaat daran zu hindern, seine strafrechtliche Zuständigkeit unmittelbar (d. h. durch die eigene Strafverfolgung) auszuüben, warum sollte er dann nicht ausreichen, um denselben Mitgliedstaat daran zu hindern, im Namen der strafrechtlichen Zuständigkeit eines Drittstaats zu handeln? Warum sollte das ius puniendi von Drittstaaten stärker geschützt werden als das von Mitgliedstaaten?

71.      In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof in den Urteilen Petruhhin(24) und Pisciotti(25) festgestellt hat, dass die Situation eines Unionsbürgers, gegen den ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats gerichtet ist und der von seinem Recht auf Freizügigkeit in der Union Gebrauch gemacht hat, unter Art. 21 AEUV und damit in den Anwendungsbereich des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta fällt. Dasselbe muss für einen Unionsbürger gelten, der tatsächlich und wirklich von dieser Freiheit Gebrauch zu machen begehrt(26). Wenn somit die Situation des Klägers aufgrund der Behinderung seiner Freizügigkeit in den Anwendungsbereich der Charta fällt, muss auf diese Situation auch das Recht nach Art. 50 der Charta Anwendung finden.

72.      Insbesondere ähnelt der Fall des Klägers, der wegen der Gefahr, verhaftet und möglicherweise anschließend an einen Drittstaat ausgeliefert zu werden, nicht von Deutschland in andere Mitgliedstaaten der Union reisen kann, dem vom Gerichtshof bereits in der Rechtssache Schotthöfer geprüften Fall(27). In jener Rechtssache war eine Auslieferung an einen Drittstaat (die Vereinigten Arabischen Emirate) ausgeschlossen, da der betreffenden Person die Todesstrafe drohte. In der vorliegenden Rechtssache dürfte einiges dafür sprechen, dass eine Verhaftung oder ähnliche Maßnahme zum Zweck einer späteren Auslieferung an einen Drittstaat (die Vereinigten Staaten) aufgrund des Grundsatzes ne bis in idem ausgeschlossen sein muss.

73.      Abschließend möchte ich lediglich hinzufügen, dass Art. 50 nicht die einzige Bestimmung der Charta ist, die in einem Fall wie dem vorliegenden relevant ist. Insbesondere könnte eine restriktive Auslegung von Art. 54 SDÜ u. a. auch Fragestellungen in Bezug auf Art. 6 (Freiheit und Sicherheit) und Art. 45 (Freizügigkeit) der Charta aufwerfen. Diese Bestimmungen dürften, auch wenn sie vom vorlegenden Gericht nicht erwähnt werden, in der vorliegenden Rechtssache ebenfalls relevant sein. Meines Erachtens kann nicht offensichtlich davon ausgegangen werden, dass der Eingriff in die in diesen Bestimmungen verankerten Rechte, der durch restriktive Maßnahmen zur Umsetzung einer Red Notice herbeigeführt wird, den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta genügt, wenn die betreffende Person beispielsweise bereits von bestimmten strafrechtlichen Vorwürfen freigesprochen wurde oder die gegen sie verhängte Strafe vollständig verbüßt hat.

3)      Bilaterale völkerrechtliche Verpflichtungen der Union und der Mitgliedstaaten

74.      Drittens erkenne ich an, dass das Argument einiger Streithelfer, wonach der Grundsatz ne bis in idem nach dem Abkommen EU-USA keinen absoluten Ablehnungsgrund darstelle, zumindest auf den ersten Blick nicht unbeachtlich ist. Es erscheint nicht fernliegend, anzunehmen, dass dann, wenn der Unionsgesetzgeber den Grundsatz ne bis in idem mit einer Reichweite auch „außerhalb von Schengen“ hätte versehen wollen, möglicherweise ein Ad-hoc-Ablehnungsgrund in das Abkommen hätte aufgenommen werden müssen.

75.      Bei näherer Betrachtung ist dieses Argument jedoch keineswegs maßgebend. Zunächst bedarf es kaum einer Erwähnung, dass es verschiedene Gründe haben kann, dass eine konkrete Bestimmung zu dieser Frage fehlt, etwa dass die US-Behörden sie nicht akzeptieren wollten(28). Vor allem aber ist auf Art. 17 Abs. 2 des Abkommens EU-USA hinzuweisen, wonach „[i]n den Fällen, in denen die Verfassungsgrundsätze des ersuchten Staates oder die für diesen verbindlichen endgültigen richterlichen Entscheidungen ein Hindernis für die Erfüllung seiner Auslieferungspflicht darstellen können und dieses Abkommen oder der geltende bilaterale Vertrag keine Regelung dieser Angelegenheit vorsehen, … sich der ersuchte und der ersuchende Staat [konsultieren]“.

76.      Dieser Bestimmung ist zu entnehmen, dass die Vertragsparteien die Möglichkeit anerkennen, dass bestimmte Verfassungsgrundsätze oder endgültige richterliche Entscheidungen innerhalb ihrer jeweiligen Rechtsordnungen „ein Hindernis für die Erfüllung [ihrer] Auslieferungspflicht darstellen können“, auch wenn die Parteien nicht vorgesehen haben, dass sich daraus ein absoluter Ablehnungsgrund ergibt(29). Dass ein solcher Grundsatz oder eine solche Entscheidung der Auslieferung nicht automatisch entgegensteht, sondern die Behörden verpflichtet, das im Abkommen vorgesehene Konsultationsverfahren einzuleiten, ändert nichts daran, dass das rechtliche Hindernis besteht (und verbindlich ist).

77.      Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, dass, wie von mehreren Regierungen vorgetragen, das Abkommen EU-USA die Auslieferung in Fällen, in denen möglicherweise der Grundsatz ne bis in idem gilt, nicht regelt und diese Frage somit nach derzeitiger Rechtslage ausschließlich durch das nationale Recht geregelt ist. In diesem Zusammenhang ist die deutsche Regierung weiter der Ansicht, dass eine weite Auslegung von Art. 54 SDÜ sich negativ auf die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten der Union und Drittstaaten auswirken würde, weil sie ihnen die Erfüllung völkerrechtlicher Verträge, denen sie als Vertragspartei angehörten (und somit des Grundsatzes pacta sunt servanda), erschweren, wenn nicht unmöglich machen könnte.

78.      Richtig ist, dass mangels einer unionsrechtlichen Regelung der Frage die Regelungen über die Auslieferung in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen(30). Soweit Situationen jedoch unionsrechtlich geregelt sind, sind die betreffenden nationalen Regelungen im Einklang mit dem Unionsrecht, insbesondere mit den durch Art. 21 AEUV garantierten Freiheiten, anzuwenden(31).

79.      Bereits 1981 hat der Gerichtshof festgestellt, dass „für die Strafgesetzgebung und die Strafverfahrensvorschriften … grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig [bleiben]. Das Gemeinschaftsrecht [setzt] jedoch auch auf diesem Gebiet hinsichtlich derjenigen Kontrollmaßnahmen Schranken, deren Aufrechterhaltung den Mitgliedstaaten … im Rahmen des freien Waren- und Personenverkehrs gestattet ist.“(32) Dies muss erst recht 40 Jahre später gelten, nachdem sich die Mitgliedstaaten verpflichtet haben, ihren Bürgerinnen und Bürgern „einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts [im Folgenden: RFSR] ohne Binnengrenzen [zu bieten], in dem … der freie Personenverkehr gewährleistet ist“(33).

80.      Dementsprechend steht es den Mitgliedstaaten der Union in der Tat weiterhin frei, den Bereich zu regeln und bilaterale (oder multilaterale) Abkommen mit Drittstaaten abzuschließen. Dies ist jedoch nur insoweit zulässig, als sie keine Verpflichtung eingehen, die mit den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verpflichtungen nicht im Einklang steht. Grundsätzlich dürfen die Mitgliedstaaten selbst in Bereichen, die in die nationale Zuständigkeit fallen, außerhalb des besonderen Kontexts von Art. 351 AEUV ihre unionsrechtlichen Verpflichtungen nicht im Wege von mit Drittländern geschlossenen Übereinkünften umgehen oder davon abweichen. Dies würde, grundsätzlich betrachtet, den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts in Frage stellen(34).

81.      Diesen Gesichtspunkten kommt in der vorliegenden Rechtssache, die ein in der Charta geregeltes Recht betrifft, besondere Bedeutung zu. Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Befugnisse der Union unter Beachtung des Völkerrechts auszuüben sind und die Auslegung eines aufgrund dieser Befugnisse erlassenen Rechtsakts und – gegebenenfalls – die Festlegung seines Anwendungsbereichs im Licht des einschlägigen Völkerrechts zu erfolgen haben(35). Der Gerichtshof hat jedoch ebenso klargestellt, dass dieser Vorrang des Völkerrechts vor Bestimmungen des Unionsrechts sich nicht auf das Primärrecht der Union und insbesondere die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, zu denen die Grundrechte gehören, erstreckt(36). Dementsprechend könnten weder die Union noch die Mitgliedstaaten (sofern sie innerhalb des Rahmens der Unionsverträge handeln) einen möglichen Verstoß gegen die Grundrechte mit einer ihnen obliegenden Verpflichtung zur Einhaltung eines oder mehrerer völkerrechtlicher Verträge oder Rechtsakte rechtfertigen.

82.      Jedenfalls dürfte das Argument, wonach die hier vertretene Auslegung von Art. 54 SDÜ den Mitgliedstaaten die Einhaltung des Grundsatzes pacta sunt servanda erschweren, wenn nicht unmöglich machen würde, zumindest was die Statuten von Interpol angeht, nicht zutreffen. Durch eine von Interpol ausgestellte Red Notice sind ihre Mitglieder nicht verpflichtet, die gesuchte Person unter allen Umständen zu verhaften oder Maßnahmen zur Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit zu ergreifen. Sie müssen Interpol und den ersuchenden Staat unterrichten, wenn eine gesuchte Person in ihrem Hoheitsgebiet aufgefunden wurde; alle sonstigen Maßnahmen, einschließlich solcher zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit dieser Person, sind jedoch nach Art. 87 der Datenverarbeitungsvorschriften von Interpol nur insoweit zu ergreifen, als dies „nach nationalem Recht und geltenden völkerrechtlichen Verträgen zulässig ist“(37). Diese Bestimmung nennt nämlich als eine mögliche Alternative zu Maßnahmen, mit denen die Bewegungsfreiheit dieser Person eingeschränkt wird, auch die „Überwachung“ der gesuchten Person. Wie im Übrigen in Nr. 27 oben erwähnt, ist ein Staat durch eine Red Notice keineswegs zur Auslieferung der Person, gegen die diese ausgestellt wird, verpflichtet. Hierzu ist ein besonderes Ersuchen erforderlich, das nicht in den Bestimmungen von Interpol geregelt ist.

83.      Dementsprechend kann meines Erachtens Art. 54 SDÜ auf Fälle Anwendung finden, in denen eine Person in einem Drittstaat vor Gericht gestellt wurde oder werden könnte. Wenn die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem auf horizontaler Ebene von einem Mitgliedstaat verbindlich festgestellt worden ist, ist die betreffende Person durch diesen Grundsatz vor einer Auslieferung wegen derselben Tat durch jeden anderen Mitgliedstaat geschützt. Dieses ist der Rahmen, in dem der Grundsatz ne bis in idem und die gegenseitige Anerkennung Anwendung finden: Ein zweiter (oder dritter oder sogar vierter) Mitgliedstaat ist verpflichtet, anzuerkennen und zu akzeptieren, dass der erste Mitgliedstaat das Auslieferungsersuchen geprüft hat, zu seiner Überzeugung festgestellt hat, dass in der Tat eine Übereinstimmung zwischen einer früheren Verurteilung in der Union und der/den Tat(en), dere(n)twegen um Auslieferung ersucht wird, besteht, zu dem Schluss gekommen ist, dass für diese Taten der Grundsatz ne bis in idem greift, und das Auslieferungsersuchen auf dieser Grundlage abgelehnt hat(38).

84.      So betrachtet kann eine bereits abgeschlossene Prüfung des Bestehens eines Auslieferungshindernisses nach dem Grundsatz ne bis in idem durch den ersten, mit dem Ersuchen befassten Mitgliedstaat schließlich für alle anderen Mitgliedstaaten, die mit einem nachfolgenden Auslieferungsersuchen gegen dieselbe Person befasst werden, verbindlich sein. In diesem Rahmen gibt es jedoch entgegen einer Reihe in diesem Abschnitt vorgetragener, auf das Völkerrecht und politische Erwägungen abhebender Argumente mehrerer Streithelfer (mit Sicherheit) keine (unmittelbare) Einschränkung für bilaterale Abkommen oder völkerrechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten. Diese können sicherlich zur Anwendung kommen, wenn der Mitgliedstaat tatsächlich der erste Staat ist, der mit der Sache befasst ist. Erforderlich ist lediglich, die Entscheidung zu akzeptieren, die in derselben Sache bereits von einem anderen Mitgliedstaat innerhalb der Union getroffen wurde. Sobald diese Entscheidung getroffen ist und ein Auslieferungsersuchen abgelehnt wurde, genießt ein Unionsbürger einen gewissen „Schutzschirm“ innerhalb der Union, womit er sich innerhalb der Union frei bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, wegen derselben Tat(en) strafrechtlich verfolgt zu werden.

c)      Fall der fehlenden Feststellung der tatsächlichen Geltung des Grundsatzes ne bis in idem im konkreten Einzelfall

85.      Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass Art. 54 SDÜ impliziert, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Vertragsstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder von ihnen die Anwendung des in den anderen Vertragsstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Durchführung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde. Dieses gegenseitige Vertrauen erfordert, dass die betreffenden zuständigen Behörden des zweiten Vertragsstaats eine im Hoheitsgebiet des ersten Vertragsstaats erlassene rechtskräftige Entscheidung so akzeptieren, wie sie ihnen mitgeteilt worden ist(39).

86.      Der Gerichtshof hat jedoch klargestellt, dass das gegenseitige Vertrauen nur gedeihen kann, wenn der zweite Vertragsstaat in der Lage ist, sich auf der Grundlage der vom ersten Vertragsstaat übermittelten Unterlagen zu vergewissern, dass die betreffende Entscheidung der zuständigen Behörden des ersten Vertragsstaats tatsächlich eine rechtskräftige Entscheidung darstellt, die eine Prüfung in der Sache enthält(40).

87.      Diese Grundsätze sind in der vorliegenden Rechtssache von besonderer Bedeutung. Aus den Akten, nebst den ergänzenden hilfreichen Klarstellungen des BKA und der deutschen Regierung, geht nämlich hervor, dass bisher noch keine rechtskräftige Entscheidung, geschweige denn eine gerichtliche Entscheidung, darüber ergangen ist, ob die Vorwürfe, derentwegen Interpol die Red Notice gegen den Kläger ausgestellt hat, sich auf dieselben Taten beziehen, derentwegen er in seinem Strafverfahren in München rechtskräftig abgeurteilt wurde. Es liegt somit keine verbindliche Entscheidung vor, dass der Grundsatz ne bis in idem im Fall des Klägers des Ausgangsverfahrens tatsächlich Anwendung findet.

88.      Wie das BKA in seiner Stellungnahme erläutert hat, bedurfte dies im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Angesichts der Staatsangehörigkeit des Klägers hat das BKA zu keinem Zeitpunkt Maßnahmen ergriffen, um die Red Notice im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland in Kraft zu setzen. Ich gehe davon aus, dass dies angesichts des Verbots der Auslieferung deutscher Staatsangehöriger gemäß Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 in geänderter Fassung (im Folgenden: GG) die allgemeine Vorgehensweise des BKA in allen Fällen ist, in denen eine Red Notice einen deutschen Staatsangehörigen betrifft, der jedenfalls und unabhängig von der möglichen Geltung des Grundsatzes ne bis in idem nicht an einen Staat außerhalb der Union ausgeliefert werden könnte.

89.      Daher fragt das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage danach, ob die Mitgliedstaaten eine Red Notice umsetzen können, wenn ein anderer Mitgliedstaat Interpol und damit auch den anderen Interpol-Mitgliedern seine „Bedenken“ hinsichtlich der Geltung des Grundsatzes ne bis in idem mitgeteilt hat. Der Wortlaut des Addendums zu der 2013 von Interpol ausgestellten Red Notice bringt diese Rechtslage zum Ausdruck. Er lautet: „Das [NCB] Wiesbaden geht von der Anwendung des Verbots der Doppelbestrafung auf den der Ausschreibung zugrunde liegenden Sachverhalt aus, da die Vorwürfe, auf denen diese beruht, mit einer Straftat identisch sind, wegen der die Staatsanwaltschaft München ein Verfahren gegen den Beschuldigten eingeleitet hat, das eingestellt wurde.“(41)

90.      Dass außer einem von einem nationalen Polizeibeamten in die Interpol-Datenbank eingefügten „e-sticker“ zu keinem Zeitpunkt eine rechtskräftige verbindliche Entscheidung über die Bezeichnung der Tat oder über die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem für diese Taten getroffen wurde, wird auch aus der zeitlichen Abfolge der Ereignisse deutlich: Die in Rede stehende Entscheidung der Staatsanwaltschaft datiert von 2009, die Red Notice wurde von Interpol 2012 ausgestellt, und der Kläger hat 2017 beim vorlegenden Gericht Klage erhoben. In den Akten findet sich kein Anhaltspunkt für irgendein Verfahren in Deutschland oder einem anderen Mitgliedstaat der Union(42), in dem die Frage der möglichen Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem aufgeworfen und darüber entschieden worden wäre.

91.      Auch wenn daher – wie oben erläutert – Art. 54 SDÜ abstrakt auf einen Sachverhalt wie denjenigen des Ausgangsverfahrens anwendbar sein dürfte, ist über die Frage, ob die beiden in Rede stehenden Verfahren tatsächlich dieselbe Tat betreffen, von den zuständigen Behörden Deutschlands oder eines anderen Mitgliedstaats der Union offenbar (noch) nicht, geschweige denn rechtskräftig, entschieden worden. Folglich gibt es, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt, keine Entscheidung, die andere Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens als ihren eigenen Entscheidungen gleichgestellt anerkennen und akzeptieren könnten und sollten.

92.      Unter diesen Umständen dürften meines Erachtens andere Mitgliedstaaten als Deutschland nicht daran gehindert sein, eine von Interpol gegen den Kläger ausgestellte Red Notice umzusetzen. Bloße Bedenken, die von den Polizeibehörden eines Mitgliedstaats dahin geäußert werden, dass der Grundsatz ne bis in idem anwendbar sein könnte, können im Sinne von Art. 54 SDÜ mit einer rechtskräftigen Entscheidung, dass dieser Grundsatz tatsächlich anwendbar ist, nicht gleichgesetzt werden.

93.      Mir ist die beunruhigende Situation des Klägers durchaus bewusst. Die im vorstehenden Abschnitt skizzierten und vom Kläger begehrten Rechtsfolgen können jedoch nur an eine entsprechende, in diesem Sinne ergangene Entscheidung geknüpft werden. Schutz und Straffreiheit müssen miteinander korrespondieren. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass Art. 54 SDÜ „nicht … das Ziel [verfolgt], einen Verdächtigen dagegen zu schützen, dass er möglicherweise wegen derselben Tat in mehreren Vertragsstaaten aufeinanderfolgenden Ermittlungen ausgesetzt ist“(43). Diese Bestimmung ist nämlich „im Licht nicht nur der Notwendigkeit, die Personenfreizügigkeit zu gewährleisten, sondern auch im Licht der Notwendigkeit [auszulegen], die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität im [RFSR] zu fördern“(44). In den Urteilen Petruhhin und Pisciotti hat der Gerichtshof betont, dass die im RFSR erlassenen Unionsmaßnahmen das Gebot des freien Personenverkehrs mit der Notwendigkeit des Erlasses geeigneter Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität in Einklang bringen müssen. Insbesondere müssen die Unionsmaßnahmen auch darauf abzielen, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen, die eine Straftat begangen haben, straflos bleiben(45).

94.      Diese Aspekte spiegeln sich im Verfahren wider. Es gibt eine konkrete Bestimmung des SDÜ für den Fall, dass Zweifel bestehen, ob eine Person, die in einem Vertragsstaat verfolgt werden kann, insoweit tatsächlich den Schutz des Grundsatzes ne bis in idem genießt. Art. 57 SDÜ lautet: „Ist eine Person im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei wegen einer Straftat angeschuldigt und haben die zuständigen Behörden dieser Vertragspartei Grund zu der Annahme, dass die Anschuldigung dieselbe Tat betrifft, derentwegen der Betreffende im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei bereits rechtskräftig abgeurteilt wurde, so ersuchen sie, sofern sie es für erforderlich halten, die zuständigen Behörden der Vertragspartei, in deren Hoheitsgebiet die Entscheidung ergangen ist, um sachdienliche Auskünfte. Die erbetenen Auskünfte werden sobald wie möglich erteilt und sind bei der Entscheidung über eine Fortsetzung des Verfahrens zu berücksichtigen.“ Diese Vorschrift ist insoweit Ausdruck des in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit.

95.      Wenn es also Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Grundsatz ne bis in idem auf die Anschuldigungen anwendbar sein könnte, derentwegen Interpol eine Red Notice gegen einen Unionsbürger ausgestellt hat, wird von den Behörden anderer Mitgliedstaaten – sollten sie die Person in ihrem Hoheitsgebiet auffinden – aufgrund von Art. 57 SDÜ erwartet, dass sie i) unverzüglich handeln, um eine Klärung der Situation herbeizuführen, und ii) die von dem anderen Mitgliedstaat übermittelten Informationen gebührend berücksichtigen. Wie oben in Nr. 85 erwähnt, hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben müssen, sich anhand der von dem Mitgliedstaat, in dem die Person vor Gericht gestellt wurde, vorgelegten Unterlagen davon zu überzeugen, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem erfüllt sind.

96.      Solange die Behörden des zuständigen Mitgliedstaats nicht überprüfen konnten, ob der Grundsatz ne bis in idem gilt, muss es ihnen selbstverständlich gestattet sein, die Red Notice umzusetzen und gegebenenfalls und soweit erforderlich, die Freizügigkeit der gesuchten Person einzuschränken. Tatsächlich gibt es im Unionsrecht keine Grundlage, wonach sie daran gehindert sein könnten, ihren nationalen Regelungen oder gegebenenfalls anwendbaren völkerrechtlichen Verträgen nachzukommen. Sobald diese Entscheidung jedoch von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats gegebenenfalls dahin getroffen wurde, dass der Grundsatz ne bis in idem für eine bestimmte Red Notice wirksam greift, sind alle anderen Mitgliedstaaten an diese konkrete rechtskräftige Feststellung gebunden.

d)      Zwischenergebnis (und interne Analogie)

97.      Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist es den Mitgliedstaaten meines Erachtens nach Art. 54 SDÜ in Verbindung mit Art. 50 der Charta und Art. 21 Abs. 1 AEUV verwehrt, eine von Interpol auf Ersuchen eines Drittstaats ausgestellte Red Notice umzusetzen und damit die Freizügigkeit einer Person einzuschränken, wenn eine rechtskräftige Entscheidung der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats über die tatsächliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem für die konkreten Vorwürfe, derentwegen diese Notice ausgestellt wurde, ergangen ist.

98.      Abschließend anmerken möchte ich zu dieser vorgeschlagenen Antwort noch, dass eine solche Lösung auch mit ähnliche Fragen regelnden internen Instrumenten der Union systematisch im Einklang stünde, wie etwa der Richtlinie 2014/41/EU über die Europäische Ermittlungsanordnung (im Folgenden: EEA) in Strafsachen(46) oder dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl (im Folgenden: EHB)(47).

99.      Nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2014/41 stellt der Grundsatz ne bis in idem einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung einer EEA dar. In diesem Kontext sollte nicht übersehen werden, dass EEA auch vor der tatsächlichen Einleitung eines Strafverfahrens(48) und ebenso in Verfahren, die im nationalen Recht nicht förmlich als „Straf-“Verfahren bezeichnet werden, erlassen werden können(49). Ein weiteres Instrument mit denjenigen der Richtlinie 2014/41 ähnlichen Bestimmungen ist der Rahmenbeschluss 2002/584. Diesen Bestimmungen ist zu entnehmen, dass Art. 54 SDÜ nicht eng auszulegen ist: Der Grundsatz ne bis in idem wird vom Unionsgesetzgeber nicht lediglich als Verbot dahin verstanden, dass ein Bürger nicht zweimal in einem Gerichtssaal stehen darf. Er geht darüber eindeutig hinaus. Nach diesem Grundsatz müssen zumindest Maßnahmen verboten sein, die unabhängig von ihrer Bezeichnung nach nationalem Recht die Freiheiten einer Person erheblich einschränken (wie eine Verhaftung oder vorübergehende Festnahme) und deren Ergehen in einem logischen, funktionellen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Strafverfahren steht, auch wenn dieses in einem Drittstaat stattfindet(50).

100. Zweitens bestätigen diese beiden Instrumente auch, dass das Eintreten der Sperrwirkung des Grundsatzes ne bis in idem eine rechtskräftige Entscheidung über die tatsächliche Geltung dieses Grundsatzes für den konkreten Einzelfall voraussetzt. Einen ähnlichen Ansatz hat der Unionsgesetzgeber in der Tat auch bei der Vollstreckung einer EEA verfolgt. Nach dem 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/41 können die Behörden der Mitgliedstaaten die Vollstreckung einer EEA versagen, wenn ihre Vollstreckung dem Grundsatz ne bis in idem zuwiderläuft. Jedoch „[sollte i]n Anbetracht der Vorläufigkeit des der EEA zugrunde liegenden Verfahrens … die Vollstreckung einer solchen Anordnung nicht versagt werden, wenn festgestellt werden soll, ob sie möglicherweise mit dem Grundsatz ‚ne bis in idem‘ kollidiert“(51). Selbstverständlich ist eine EEA weniger belastend als eine Maßnahme, die die Freizügigkeit eines Bürgers einschränkt, das grundlegende Prinzip erscheint aber auf die von den Art. 54 und 57 SDÜ geregelten Fälle übertragbar. Ebenso bildet nach Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem einen der Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist. Solange jedoch die vollstreckende Justizbehörde keine Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, einschließlich der möglichen Anwendung von Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses, getroffen hat, kann die betreffende Person nach den Art. 11 und 12 des Rahmenbeschlusses festgenommen und in Haft behalten werden(52).

2.      Vierte und sechste Frage

101. Mit seiner vierten und seiner sechsten Frage, die zusammen geprüft werden können, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen geklärt wissen, ob die Bestimmungen der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta der Weiterverarbeitung personenbezogener Daten, die in einer von Interpol ausgestellten Red Notice enthalten sind, entgegenstehen, wenn für die Vorwürfe, derentwegen die Notice ausgestellt wurde, der Grundsatz ne bis in idem gilt.

102. Das vorlegende Gericht erwägt, ob die Mitgliedstaaten unter Umständen der in Rede stehenden Art, sobald die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem festgestellt worden ist, nicht verpflichtet sein müssten, die in der Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten der gesuchten Person zu löschen und von jeder weiteren Verarbeitung dieser Daten abzusehen. Es verweist insoweit auf Art. 4 Abs. 1, Art. 7 Abs. 3, Art. 8 Abs. 1 und Art. 16 der Richtlinie 2016/680.

103. Zunächst möchte ich vorab feststellen, dass aus den oben in den Nrn. 85 bis 92 erläuterten Gründen unklar ist, ob der Grundsatz ne bis in idem in der vorliegenden Rechtssache tatsächlich gilt. Eine verbindliche Entscheidung in diesem Sinne ist in der vorliegenden Rechtssache offenbar nicht getroffen worden. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ließe sich in der Tat vertreten, dass die an die Annahme, dass der Grundsatz ne bis in idem tatsächlich gilt, anschließende Frage danach, was das für die Datenverarbeitung bedeuten würde, zum jetzigen Zeitpunkt hypothetisch ist. Sollte dieser Grundsatz jedoch anwendbar sein, würde ich dem vorlegenden Gericht die folgende Antwort vorschlagen.

104. Zunächst einmal fällt ein Fall wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/680, wie er sich aus deren Art. 1 Abs. 1 ergibt. Die Verarbeitung personenbezogener Daten, die in von Interpol ausgestellten Red Notices enthalten sind, durch die Behörden der Mitgliedstaaten, bezieht sich auf eine identifizierbare natürliche Person (die gesuchte Person) und dient der strafrechtlichen Verfolgung dieser Person oder der Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen (mit Blick auf den Zweck der Red Notices nach Art. 82 der Datenverarbeitungsvorschriften von Interpol).

105. Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 müssen die Mitgliedstaaten u. a. sicherstellen, dass personenbezogene Daten „auf rechtmäßige Weise und nach Treu und Glauben verarbeitet werden“ (Buchst. a), „für … rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise verarbeitet werden“ (Buchst. b) und „sachlich richtig und erforderlichenfalls auf dem neuesten Stand sind“ (Buchst. d). In Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie heißt es wiederum: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Verarbeitung nur dann rechtmäßig ist, wenn und soweit diese Verarbeitung für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde zu den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken wahrgenommenen wird, und auf Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts der Mitgliedstaaten erfolgt.“

106. Es ist unstreitig, dass die Voraussetzungen nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 im Allgemeinen erfüllt sind, wenn die Behörden der Mitgliedstaaten die in einer Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten zum Zweck ihrer Durchführung verarbeiten. Es ist ebenfalls unbestritten, dass die Behörden der Mitgliedstaaten dabei auf der Grundlage sowohl des Unionsrechts als auch des nationalen Rechts handeln. Wie im 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 klargestellt, „[sind a]lle Mitgliedstaaten … Mitglied [von Interpol]. Interpol erhält, speichert und übermittelt für die Erfüllung ihres Auftrags personenbezogene Daten, um die zuständigen Behörden dabei zu unterstützen, internationale Kriminalität zu verhüten und zu bekämpfen. Daher sollte die Zusammenarbeit zwischen der Union und Interpol gestärkt werden, indem ein effizienter Austausch personenbezogener Daten gefördert und zugleich die Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten hinsichtlich der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten gewährleistet wird. Wenn personenbezogene Daten aus der Union an Interpol und die Staaten, die Mitglieder zu Interpol abgestellt haben, übermittelt werden, sollte diese Richtlinie, insbesondere die Bestimmungen über grenzüberschreitende Datenübermittlungen, zur Anwendung kommen.“(53)

107. Ferner ist ebenso klar, dass die Verarbeitung in einer Red Notice enthaltener Daten für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von einer zuständigen Behörde zwecks Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder zur Strafvollstreckung durchgeführt wird. Die von Interpol festgelegten Regelungen zu den farbcodierten Notices stellen eine der Säulen des Systems der gegenseitigen Unterstützung zwischen den Kriminalpolizeikräften dar, für die Interpol gegründet wurde. Soweit mit ihnen ermöglicht wird, flüchtige Straftäter schneller und wirksamer aufzufinden und möglicherweise strafrechtlich zu verfolgen, leisten Red Notices einen erheblichen Beitrag zum Ziel der Union, ihren Bürgern einen RFSR zu bieten, in dem angemessene Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Straftaten ergriffen werden.

108. Es kann daher kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einer von Interpol ausgestellten Red Notice enthalten sind, durch die Behörden der Mitgliedstaaten (oder auch der Europäischen Union) grundsätzlich rechtmäßig ist.

109. Die vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Kernfrage ist indes, ob dies auch dann zutrifft, wenn festgestellt würde, dass eine gegen eine Einzelperson ausgestellte Red Notice Taten betrifft, für die diese Person innerhalb der Union den Schutz des Grundsatzes ne bis in idem genießt. Genauer gesagt: Ergibt sich in diesem Fall aus der Richtlinie 2016/680, dass i) die Behörden der Mitgliedstaaten zur Löschung der personenbezogenen Daten des Betroffenen verpflichtet sind, und ii) schließt sie jede weitere Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Behörden der Mitgliedstaaten aus?

110. Meines Erachtens sind beide Fragen zu verneinen.

111. Erstens sieht Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2016/680 zwar vor, dass dann, wenn festgestellt wird, dass unrichtige personenbezogene Daten übermittelt worden sind oder die personenbezogenen Daten unrechtmäßig übermittelt worden sind, dies dem Empfänger unverzüglich mitzuteilen ist. In diesem Fall muss nach Art. 16 dieser Richtlinie eine Berichtigung oder Löschung oder die Einschränkung der Verarbeitung der personenbezogenen Daten erfolgen.

112. Jedoch führt, ganz entgegen dem, wovon das vorlegende Gericht offenbar ausgeht, der Umstand, dass eine Einzelperson den Schutz des Grundsatzes ne bis in idem für die Vorwürfe genießt, derentwegen eine Red Notice ausgestellt wurde, nicht dazu, dass die in dieser Mitteilung enthaltenen Daten unrechtmäßig übermittelt wurden. Der Grundsatz ne bis in idem kann die Richtigkeit und Genauigkeit von Daten wie beispielsweise der personenbezogenen Informationen, des Umstands, dass diese Person in einem Drittstaat wegen des Vorwurfs oder eines Schuldspruchs wegen bestimmter Straftaten gesucht wird und dass gegen sie in diesem Staat ein Haftbefehl erlassen worden ist, nicht in Frage stellen. Auch die ursprüngliche Übermittlung dieser Daten war aus den oben erläuterten Gründen nicht unrechtmäßig.

113. Aus der Geltung des Grundsatzes ne bis in idem ergibt sich daher für die betroffene Person nicht das Recht, nach Art. 16 der Richtlinie 2016/680 die Löschung ihrer personenbezogenen Daten zu verlangen.

114. Zweitens kann vernünftigerweise nicht die Ansicht vertreten werden, dass, wenn der Grundsatz ne bis in idem anwendbar wäre, jede weitere Verarbeitung der personenbezogenen Daten ausgeschlossen sein muss.

115. In Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie ist „Verarbeitung“ sehr weit definiert als „jede[r] mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren [ausgeführte] Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, de[r] Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung“. Das Vorbringen des Klägers – dem das vorlegende Gericht offenbar zu folgen geneigt ist – würde darauf hinauslaufen, dass ab dem Zeitpunkt, zu dem die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem festgestellt wird, keiner dieser Vorgänge (mit Ausnahme der Löschung) mehr möglich wäre.

116. Dafür kann ich indes in der Richtlinie 2016/680 keine Grundlage erkennen. Eine etwaige „unrechtmäßige Strafverfolgung“ kann nicht einfach mit „unrechtmäßiger Datenverarbeitung“ nach der Richtlinie 2016/680 gleichgesetzt werden. Im Wortlaut, und gewiss in der Systematik und im Zweck, dieser Richtlinie deutet nichts darauf hin, dass der Grundgedanke von Art. 54 SDÜ auf das in der Richtlinie 2016/680 geregelte System des Datenschutzes übertragen werden und das vorlegende Gericht auf dieser Grundlage über die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung entscheiden könnte. Diese Instrumente haben einen anderen Sinn und Zweck, verfolgen eine andere Zielsetzung und schaffen damit eine andere Art von Rechtsrahmen.

117. Tatsächlich dürfte das Gegenteil von dem der Fall sein, wovon das vorlegende Gericht insoweit ausgeht: Die Bestimmungen dieser Richtlinie führen zu dem Schluss, dass eine Weiterverarbeitung personenbezogener Daten nicht nur rechtmäßig, sondern aufgrund des Zwecks der Verarbeitung sogar erforderlich ist.

118. Einige Verarbeitungsvorgänge können in der Tat erforderlich – und somit nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 zulässig – sein, um zu gewährleisten, dass die Aufgabe, für die sie erhoben wurden (zur Umsetzung der Red Notice), u. a. „rechtmäßig und nach Treu und Glauben“ wahrgenommen wird.

119. Wie von der Kommission und mehreren Regierungen vorgetragen, kann eine gewisse Weiterverarbeitung der Daten (wie etwa eine Abfrage, Anpassung, Offenlegung oder Verbreitung) erforderlich sein, um eine Situation zu vermeiden, in der die Person, gegen die die Red Notice ausgestellt wurde, zu Unrecht strafrechtlichen Maßnahmen in den Mitgliedstaaten ausgesetzt ist, oder, falls solche Maßnahmen ergriffen wurden, um eine rasche Aufhebung dieser Maßnahmen zu gewährleisten.

120. Ebenso kann eine gewisse Anpassung und Speicherung der Daten erforderlich sein, um eine Situation zu vermeiden, in der eine Person künftig (erneut) etwaigen rechtswidrigen Maßnahmen wegen Taten ausgesetzt ist, für die der Grundsatz ne bis in idem gilt. Beispielsweise kann, wie oben in Nr. 38 erwähnt, in der vorliegenden Rechtssache nicht ausgeschlossen werden, dass die Vereinigten Staaten Interpol künftig ersuchen könnten, wegen derselben Taten erneut eine Red Notice auszustellen. Hinzugefügt sei, dass bei bestimmten Straftaten zudem nicht undenkbar ist, dass auf Ersuchen mehrerer Staaten eine Red Notice wegen derselben Taten ausgestellt werden könnte.

121. Es ist daher gerade die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem im konkreten Einzelfall, die eine gewisse Weiterverarbeitung der in der Red Notice enthaltenen personenbezogenen Daten erforderlich machen kann. Zu bedenken ist, dass die Weiterverarbeitung nicht nur im Interesse der Behörden der Mitgliedstaaten erfolgt, sondern auch oder vielleicht sogar gerade auch im Interesse der Person, gegen die die Red Notice ausgestellt wurde. Andernfalls, wenn also sämtliche Daten sofort gelöscht werden müssten, sobald der Grundsatz ne bis in idem greift, hätte dies eher seltsame Folgen: Das rechtlich vorgesehene Gedächtnis der nationalen Polizeibehörden würde zu demjenigen von Dory, dem Fisch (der immer noch nach Nemo sucht(54)), so dass die gesuchte Person letztendlich in einer wenig glücklichen Wiederholung von Bill Murrays Murmeltiertag(55) für die betreffenden strafrechtlichen Vorwürfe wieder und wieder den Schutz nach dem Grundsatz ne bis in idem geltend machen und darlegen müsste.

122. Außerdem kann eine gewisse weitere Datenverarbeitung auch nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2016/680 zulässig sein, einer Bestimmung, die im Vorabentscheidungsersuchen nicht erwähnt wird. Nach dieser Bestimmung ist unter bestimmten Umständen eine Verarbeitung personenbezogener Daten „für einen anderen der in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecke als den, für den die personenbezogenen Daten erhoben werden“, erlaubt(56). Das heißt, dass die zur Umsetzung der Red Notice erhobenen Daten, unter bestimmten Voraussetzungen, auch verarbeitet (beispielsweise organisiert, gespeichert oder archiviert) werden können, soweit dies zur Verfolgung anderer Zwecke, die nach der Richtlinie zulässig sind, erforderlich ist(57).

123. Daher sprechen sowohl der Wortlaut als auch der Grundgedanke der Richtlinie 2016/680 nicht für eine Auslegung, nach der jegliche Weiterverarbeitung per se verboten ist. Dennoch muss die Weiterverarbeitung personenbezogener Daten selbstverständlich weiterhin in Übereinstimmung mit den Anforderungen der Richtlinie 2016/680 erfolgen, die weiterhin in vollem Umfang auf die Situation anwendbar sind.

124. Ich stimme insbesondere mit der deutschen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs darin überein, dass es entscheidend darauf ankommen wird, ob die Weiterverarbeitung angesichts der besonderen Umstände als „erforderlich“ im Sinne von Art. 4 und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 angesehen werden kann. Die Frage, die sich stellt, ist, einfach ausgedrückt, ob ein bestimmter Verarbeitungsvorgang im Hinblick darauf, dass die Person den Schutz des Grundsatzes ne bis in idem genießt, erforderlich sein kann.

125. So kann beispielsweise die weitere Speicherung der Daten mit der Angabe, dass die Person wegen dieser Taten aufgrund des Grundsatzes ne bis in idem nicht strafrechtlich verfolgt werden kann, wahrscheinlich als „erforderlich“ angesehen werden, während eine weitere Verbreitung der Information an die Polizeikräfte, dass diese Person aufgrund einer Red Notice gesucht wird, möglicherweise nicht erforderlich ist. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Beurteilung nur auf Einzelfallbasis und unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände vorgenommen werden kann.

126. In diesem Zusammenhang mag vielleicht der Hinweis darauf lohnenswert sein, dass nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2016/680 der Verantwortliche die Einhaltung des Kriteriums der Notwendigkeit nachweisen muss. Es ist auch daran zu erinnern, dass eine betroffene Person bestimmte Rechte nach den Art. 12 bis 18 der Richtlinie genießt.

127. Ich kann mir z. B. vorstellen, dass der Person, gegen die eine Red Notice ausgestellt wurde, ein Recht darauf zustehen könnte, die Behörden der Mitgliedstaaten zu ersuchen, die in einer Red Notice enthaltenen Daten in ihren Datenbanken zu vervollständigen oder zu aktualisieren, gegebenenfalls ergänzt um einen Hinweis darauf, dass sie in der Union bereits wegen dieser Taten vor Gericht gestellt und freigesprochen oder verurteilt wurde. Nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2016/680 müssen die Mitgliedstaaten nämlich vorsehen, dass personenbezogene Daten u. a. „sachlich richtig und erforderlichenfalls auf dem neuesten Stand sind“. Hierzu gewährt Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie betroffenen Personen u. a. „das Recht …, die Vervollständigung unvollständiger personenbezogener Daten … zu verlangen“. Einmal mehr ist diese Fallgestaltung jedoch im Kontext der vorliegenden Rechtssache noch eher hypothetisch angesichts dessen, dass die Anwendbarkeit des Grundsatzes ne bis in idem auf die Situation des Klägers offenbar noch von keiner zuständigen Stelle des Mitgliedstaats festgestellt wurde.

128. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen stehen meines Erachtens die Bestimmungen der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta der Weiterverarbeitung personenbezogener Daten, die in einer von Interpol ausgestellten Red Notice enthalten sind, nicht entgegen, auch wenn für die Vorwürfe, derentwegen die Notice ausgestellt wurde, der Grundsatz ne bis in idem gelten sollte, sofern die Verarbeitung nach den in dieser Richtlinie festgelegten Regelungen erfolgt.

3.      Fünfte Frage

129. Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine internationale Organisation wie Interpol über ein angemessenes Datenschutzniveau im Sinne der Richtlinie 2016/680 verfügt, wenn ein Angemessenheitsbeschluss nach Art. 36 dieser Richtlinie und/oder geeignete Garantien nach Art. 37 dieser Richtlinie nicht gegeben sind.

130. Die Antwort auf diese Frage wäre angesichts ihrer Formulierung recht einfach. Die Bestimmungen der Richtlinie 2016/680 sind insoweit klar: Eine internationale Organisation verfügt nicht über ein angemessenes Datenschutzniveau im Sinne der Richtlinie 2016/680, wenn weder ein Angemessenheitsbeschluss nach Art. 36 dieser Richtlinie noch geeignete Garantien im Sinne von Art. 37 dieser Richtlinie gegeben sind, es sei denn, eine der Ausnahmen in Art. 38 der Richtlinie findet Anwendung.

131. Ich nehme allerdings an, dass eine derart abstrakte und allgemeine Antwort, die das vorlegende Gericht lediglich auf das Verhältnis zwischen den verschiedenen Bestimmungen von Kapitel V der Richtlinie 2016/680 verweist, nicht die Antwort ist, nach der das vorlegende Gericht sucht.

132. Dieser Eindruck wird durch das Vorabentscheidungsersuchen bestätigt. Das vorlegende Gericht führt aus, dass dann, wenn Interpol in einem Sachverhalt wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht gewährleiste, dass personenbezogene Daten, die in einer Red Notice enthalten seien, wegen der Geltung des Grundsatzes ne bis in idem ordnungsgemäß gelöscht oder berichtigt würden, Zweifel an der Angemessenheit der Datenschutzvorschriften von Interpol im Sinne der Richtlinie 2016/680 entstehen könnten. Dies würde – nach Auffassung des vorlegenden Gerichts – letztlich zu der Frage führen, ob die Mitgliedstaaten nicht auf eine Zusammenarbeit mit Interpol verzichten müssten.

133. Das vorlegende Gericht erwähnt in diesem Zusammenhang den 64. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680, wonach „[d]as … unionsweit gewährleistete Schutzniveau für natürliche Personen … bei der Übermittlung personenbezogener Daten aus der Union an Verantwortliche, Auftragsverarbeiter oder andere Empfänger in Drittländern oder an internationale Organisationen nicht untergraben werden [sollte]“. Der umgekehrte Fall der Datenübermittlung aus einem Drittland oder von einer internationalen Organisation an die Mitgliedstaaten der Union sei in der Richtlinie 2016/680 nicht ausdrücklich geregelt. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts sollten jedoch die gleichen Grundsätze gelten.

134. Diese Aussagen machen mich etwas ratlos. Es scheint, dass das vorlegende Gericht mit seiner fünften Frage in Wirklichkeit vom Gerichtshof die Bestätigung seiner Auffassung begehrt, dass Interpol nicht über ein angemessenes Datenschutzniveau nach der Richtlinie 2016/680 verfüge, weil kein Angemessenheitsbeschluss und keine geeigneten Garantien gegeben seien.

135. Ich bin jedoch nicht nur von der Prämisse, auf der diese Frage beruht, nicht überzeugt, sondern, was noch wichtiger ist, mir ist auch nicht klar, warum diese Frage im Kontext des vorliegenden Verfahrens überhaupt gestellt wird.

136. Erstens ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass die Richtlinie 2016/680 insofern eine Lücke enthalte, als sie die (eingehende) Übermittlung personenbezogener Daten von internationalen Organisationen an die Union und die Mitgliedstaaten nicht regele. Dass es eine solche Lücke gibt, ist meines Erachtens jedoch keineswegs offensichtlich. Der Unionsgesetzgeber hat die Übermittlung personenbezogener Daten aus der Union an Dritte (sei es eine internationale Organisation oder ein Drittstaat) geregelt, um sicherzustellen, dass diese Daten, sobald sie den „virtuellen Raum“ der Union verlassen, weiterhin nach gleichwertigen Standards behandelt werden. Die Situation, dass personenbezogene Daten von einem Dritten an die Union übermittelt werden, ist jedoch natürlich etwas anderes. Sobald diese Daten in den „virtuellen Raum“ der Union gelangt sind, muss jede Verarbeitung mit allen relevanten Unionsvorschriften im Einklang stehen. In diesen Situationen kann es dementsprechend keinen Bedarf für Regelungen der in den Art. 36 bis 38 der Richtlinie 2016/680 vorgesehenen Art geben. Die Union hat auch nicht das Interesse (geschweige denn die Befugnis), von Dritten zu verlangen, dass sie personenbezogene Daten, die nicht aus der Union stammen, nach Vorschriften verarbeiten, die ihren eigenen gleichwertig sind.

137. Zweitens kann ich, was noch wichtiger ist, auch nicht erkennen, inwieweit eine Beantwortung dieser Frage durch den Gerichtshof für das vorlegende Gericht erforderlich sein sollte, um über die bei ihm anhängige Rechtssache zu entscheiden. Die vorliegende Rechtssache betrifft nicht die Übermittlung von Daten aus Mitgliedstaaten der Union an Interpol, sondern die umgekehrte Situation. Die Frage, die sich in der vorliegenden Rechtssache stellt, ist im Kern, was die Mitgliedstaaten der Union nach der Richtlinie 2016/680 tun können und was nicht, wenn sie von Interpol Daten über eine Person erhalten, auf die der Grundsatz ne bis in idem anwendbar sein könnte.

138. Daher bliebe jede Folge, die sich aus einer (hypothetischen) Feststellung des Gerichtshofs zur Unangemessenheit der Datenschutzvorschriften von Interpol ergeben würde, ohne Einfluss auf die konkrete Situation des Klägers. Dies führt mich zu der Ansicht, die von vielen Streithelfern, die im vorliegenden Verfahren Stellungnahmen eingereicht haben, geteilt wird, dass die fünfte Frage offensichtlich unzulässig ist.

V.      Ergebnis

139. Ich schlage dem Gerichtshof vor, die vom Verwaltungsgericht Wiesbaden (Deutschland) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

–        Den Mitgliedstaaten ist nach Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen in Verbindung mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 21 Abs. 1 AEUV verwehrt, eine von Interpol auf Ersuchen eines Drittstaats ausgestellte Red Notice umzusetzen und damit die Freizügigkeit einer Person einzuschränken, wenn eine rechtskräftige Entscheidung der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats über die tatsächliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem für die konkreten Vorwürfe, derentwegen diese Notice ausgestellt wurde, ergangen ist.

–        Die Bestimmungen der Richtlinie 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates in Verbindung mit Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta stehen der Weiterverarbeitung personenbezogener Daten, die in einer von Interpol ausgestellten Red Notice enthalten sind, nicht entgegen, auch wenn für die Vorwürfe, derentwegen die Notice ausgestellt wurde, der Grundsatz ne bis in idem gelten sollte, sofern die Verarbeitung nach den in dieser Richtlinie festgelegten Regelungen erfolgt.

–        Die fünfte Frage ist unzulässig.


1      Originalsprache: Englisch.


i      Die vorliegende Sprachfassung ist in den Nrn. 42, 82 und den Untertiteln c und d gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.


2      ABl. 2000, L 239, S. 19.


3      ABl. 2016, L 119, S. 89. Fußnoten in den Bestimmungen der Richtlinie nicht wiedergegeben.


4      BGBl. I S. 1354.


5      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen (C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 31).


6      Jüngst mit weiteren Nachweisen Schlussanträge des Generalanwalts Hogan in der Rechtssache Generalstaatsanwaltschaft Berlin (C‑398/19, EU:C:2020:748, Nrn. 73 bis 76).


7      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 1991, Antonissen (C‑292/89, EU:C:1991:80, Rn. 8 bis 14), und Beschluss vom 6. September 2017, Peter Schotthöfer & Florian Steiner (C‑473/15, EU:C:2017:633, Rn. 19 bis 21).


8      Im Gegensatz z. B. zum Urteil vom 29. Mai 1997, Kremzow (C‑299/95, EU:C:1997:254, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).


9      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny zastępowany przez Prokuraturę Krajową (Disziplinarordnung für Richter) (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


10      Vgl. u. a. Urteil vom 24. Oktober 2019, État belge (C‑35/19, EU:C:2019:894, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).


11      Vgl. Urteile vom 11. März 1980, Foglia (104/79, EU:C:1980:73), und vom 16. Dezember 1981, Foglia (244/80, EU:C:1981:302).


12      Urteil vom 11. Februar 2003 (C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2003:87, Rn. 48).


13      Urteil vom 5. Juni 2014 (C‑398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 31).


14      Urteil vom 27. Mai 2014 (C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 63 und 64).


15      Urteil vom 10. März 2005 (C‑469/03, EU:C:2005:156, Rn. 34 und 35).


16      Urteil vom 22. Dezember 2008 (C‑491/07, EU:C:2008:768, Rn. 40 und 45).


17      Urteil vom 29. Juni 2016 (C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 54).


18      Vgl. Urteil vom 28. September 2006, Gasparini u. a. (C‑467/04, EU:C:2006:610, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). Hervorhebung nur hier.


19      Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) vom 8. Juni 1976, Engel u. a./Niederlande (CE:ECHR:1976:0608JUD000510071, Rn. 80 bis 82). Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR sind die „Engel-Kriterien“ für die Feststellung heranzuziehen, ob eine „strafrechtliche Anklage“ im Sinne von Art. 4 („Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden“) des Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte vorlag oder nicht. Vgl. u. a. Urteile vom 10. Februar 2009, Sergey Zolotukhin/Russland (CE:ECHR:2009:0210JUD001493903, Rn. 53), und vom 15. November 2016, A und B/Norwegen (CE:ECHR:2016:1115JUD002413011, Rn. 105 bis 107).


20      Siehe oben, Nr. 54 der vorliegenden Schlussanträge.


21      Vgl. z. B. Urteil vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). Hervorhebung nur hier.


22      Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung vom 25. Juni 2003 (ABl. 2003, L 181, S. 27) (im Folgenden: Abkommen EU-USA). Dieses Abkommen ist auf die vorliegende Rechtssache nicht anwendbar.


23      Hervorhebung nur hier.


24      Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630).


25      Urteil vom 10. April 2018, Pisciotti (C‑191/16, EU:C:2018:222).


26      Siehe oben, Nr. 32 der vorliegenden Schlussanträge.


27      Vgl. Beschluss vom 6. September 2017, Peter Schotthöfer & Florian Steiner (C‑473/15, EU:C:2017:633).


28      In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass sich aus einer der Erklärungen, die die Vereinigten Staaten zur Ratifizierung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte 1992 abgegeben haben, ein eher restriktiver Ansatz zum Grundsatz ne bis in idem ergeben dürfte: „Die Vereinigten Staaten gehen davon aus, dass das Verbot der Doppelbestrafung in [Art. 14] Abs. 7 nur gilt, wenn das freisprechende Urteil von einem Gericht derselben staatlichen Einheit, sei es die Bundesebene oder eine Teileinheit, ergangen ist, die aus demselben Grund ein neues Verfahren einleiten will.“


29      Vgl. zu dieser Bestimmung Urteil vom 10. April 2018, Pisciotti (C‑191/16, EU:C:2018:222, Rn. 39 bis 41).


30      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 26).


31      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. November 2018, Raugevicius (C‑247/17, EU:C:2018:898, Rn. 45), und vom 2. April 2020, I. N. (C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 48).


32      Urteil vom 11. November 1981, Casati (203/80, EU:C:1981:261, Rn. 27).


33      Art. 3 Abs. 2 EUV.


34      Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 21. Januar 2010, Kommission/Deutschland (C‑546/07, EU:C:2010:25, Rn. 42).


35      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission (C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 291 und die dort angeführte Rechtsprechung).


36      Ebd., Rn. 307 und 308.


37      Diese Bestimmung steht im Einklang mit Art. 31 der Statuten von Interpol, wonach die Interpol-Mitglieder „in Übereinstimmung mit der Gesetzgebung ihres Landes alles in ihrer Macht stehende tun sollten, um sich mit der erforderlichen Sorgfalt an der Tätigkeit der Organisation zu beteiligen“.


38      Vgl. in diesem Sinne auch den kürzlich ergangenen Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 19. Mai 2020 (2 AuslA 3/20, ECLI:DE:OLGHE:2020:0519.2AUSLA3.20.00; oder NStZ-RR 2020, 288), mit dem jenes Gericht den nationalen Auslieferungshaftbefehl aufgehoben hat (und die Auslieferung an die USA gemäß einem bilateralen deutsch-US-amerikanischen Abkommen abgelehnt hat), weil die gesuchte Person, ein italienischer Staatsangehöriger, bereits wegen derselben Taten, die auch Gegenstand des Auslieferungsersuchens der USA an Italien waren, verfolgt worden sei, woraus sich nach Ansicht des OLG Frankfurt ergab, dass nach dem Grundsatz ne bis in idem auch in anderen Mitgliedstaaten, einschließlich Deutschlands, ein Auslieferungsverbot griff und den letzteren Mitgliedstaat an einer Auslieferung gemäß dem bilateralen Abkommen hinderte.


39      Vgl. Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 50 und 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).


40      Ebd., Rn. 52.


41      Hervorhebung nur hier.


42      Eine solche Entscheidung hätte z. B. von den Justizbehörden eines Mitgliedstaats (der nicht Wohnsitzstaat des Klägers ist) getroffen werden können, in dem der Kläger aufgefunden worden wäre. Je nach den Umständen hätten diese Behörden veranlasst sein können, die von den Polizeibehörden oder der Staatsanwaltschaft beantragten oder verhängten restriktiven Maßnahmen zu erlassen, zu bestätigen, abzuändern oder aufzuheben, wie dies z. B. in dem oben in Fn. 38 genannten Sachverhalt der Fall war.


43      Vgl. Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). Hervorhebung nur hier.


44      Ebd., Rn. 47.


45      Urteile vom 6. September 2016, Petruhhin (C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 36 und 37), bzw. vom 10. April 2018, Pisciotti (C‑191/16, EU:C:2018:222, Rn. 47). Hervorhebung nur hier.


46      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 (ABl. 2014, L 130, S. 1).


47      Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in geänderter Fassung.


48      Vgl. Art. 4 Buchst. a der Richtlinie 2014/41.


49      Vgl. Art. 4 Buchst. b bis d der Richtlinie 2014/41.


50      Um in diesem Rahmen die im Wesentlichen erst recht geltenden, bereits in Nr. 70 der vorliegenden Schlussanträge angeführten systematischen Argumente erneut ins Feld zu führen, wäre es in der Tat etwas frappierend, zu dem praktischen Ergebnis zu gelangen, dass im RFSR, in dem die Zusammenarbeit in Strafsachen erleichtert und nahtlos gestaltet werden soll, vielmehr viel strengere und einschränkendere Regeln gelten würden, wohingegen alles möglich wäre, sobald ein Drittstaat beteiligt wäre.


51      Hervorhebung nur hier.


52      Interessanterweise hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 16. November 2010, Mantello (C‑261/09, EU:C:2010:683, Rn. 40), festgestellt, dass Art. 54 SDÜ und Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 angesichts ihrer gemeinsamen Zielsetzung, zu vermeiden, dass eine Person wegen derselben Tat bzw. Handlung erneut strafrechtlich verfolgt oder verurteilt wird, einheitlich auszulegen sind.


53      Hervorhebung nur hier. Meiner Kenntnis nach findet in Deutschland die Durchführung einer Red Notice ihre Grundlage u. a. in den Bestimmungen des Bundeskriminalamtgesetzes.


54      Findet Nemo (2003), Regie: Andrew Stanton und Lee Unkrich (Pixar und Walt Disney).


55      Und täglich grüßt das Murmeltier (1993), Regie: Harold Ramis (Columbia Pictures).


56      Hervorhebung nur hier.


57      Ferner kann nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2016/680 die Verarbeitung auch „die Archivierung im öffentlichen Interesse und die wissenschaftliche, statistische oder historische Verwendung für die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecke umfassen, sofern geeignete Garantien für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen vorhanden sind“.