SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
NIILO JÄÄSKINEN
vom 10. September 2015(1)
Rechtssache C‑471/14
Seattle Genetics Inc.
(Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Wien [Österreich])
„Gewerbliches Eigentum – Patentrecht – Verordnung (EG) Nr. 469/2009 – Art. 13 Abs. 1 – Ergänzendes Schutzzertifikat für Arzneimittel – Gültigkeitsdauer des Zertifikats – Begriff ‚Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Gemeinschaft‘ – Autonomer Begriff – Berücksichtigung des Zeitpunkts, zu dem die Genehmigung erteilt wurde, oder des Zeitpunkts, zu dem dieser Beschluss seinem Adressaten bekannt gegeben wurde“
I – Einleitung
1. Das vom Oberlandesgericht Wien (Österreich) vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen geht auf einen Rekurs der Seattle Genetics Inc. (im Folgenden: Seattle Genetics) gegen einen Beschluss des österreichischen Patentamts zurück. Der Rekurs zielte auf die Berichtigung des Zeitpunkts, auf den in diesem Beschluss der Ablauf der Laufzeit eines ergänzenden Schutzzertifikats (im Folgenden: ESZ) festgelegt war, das dieser Gesellschaft für ein Humanarzneimittel erteilt wurde, das auf der Grundlage eines Patents, deren Inhaber sie ist, entwickelt worden war.
2. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 469/2009(2), insbesondere des in diesem Artikel enthaltenen Begriffs „Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen [im Folgenden: Zulassung] in der Gemeinschaft“, nach dem sich der Ablauf der Gültigkeitsdauer eines ergänzenden Schutzzertifikats bestimmt.
3. Der Gerichtshof wird zunächst gefragt, ob dieser Begriff nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten oder dem Unionsrecht zu bestimmen ist, sodann, ob in letzterem Fall als insoweit maßgebliches Kriterium der Zeitpunkt des Beschlusses über die Gewährung der ersten Zulassung oder der Zeitpunkt, zu dem dieser Beschluss seinem Adressaten mitgeteilt wurde, zugrunde zu legen ist.
II – Rechtlicher Rahmen
4. In den Erwägungsgründen 4, 8 und 9 der Verordnung Nr. 469/2009 heißt es:
„(4) Derzeit wird durch den Zeitraum zwischen der Einreichung einer Patentanmeldung für ein neues Arzneimittel und der [Zulassung] desselben Arzneimittels der tatsächliche Patentschutz auf eine Laufzeit verringert, die für die Amortisierung der in der Forschung vorgenommenen Investitionen unzureichend ist.
…
(8) Es ist deshalb notwendig, ein [ESZ] für Arzneimittel, deren Vermarktung genehmigt ist, vorzusehen, das der Inhaber eines nationalen oder europäischen Patents unter denselben Voraussetzungen in jedem Mitgliedstaat erhalten kann. Die Verordnung ist deshalb die geeignetste Rechtsform.
(9) Die Dauer des durch das Zertifikat gewährten Schutzes sollte so festgelegt werden, dass dadurch ein ausreichender tatsächlicher Schutz erreicht wird. Hierzu müssen demjenigen, der gleichzeitig Inhaber eines Patents und eines Zertifikats ist, insgesamt höchstens fünfzehn Jahre Ausschließlichkeit ab der ersten [Zulassung] des betreffenden Arzneimittels in der Gemeinschaft eingeräumt werden.“
5. Art. 3 („Bedingungen für die Erteilung des Zertifikats“) der Verordnung Nr. 469/2009 sieht vor, dass „[d]as Zertifikat … erteilt [wird], wenn in dem Mitgliedstaat, in dem die Anmeldung nach Artikel 7 eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung
a) das Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist;
b) für das Erzeugnis als Arzneimittel eine gültige [Zulassung] gemäß der Richtlinie 2001/83/EG[(3)] bzw. der Richtlinie 2001/82/EG[(4)] erteilt wurde[(5)];
c) für das Erzeugnis nicht bereits ein Zertifikat erteilt wurde;
d) die unter Buchstabe b erwähnte [Zulassung] die erste [Zulassung] dieses Erzeugnisses als Arzneimittel ist“.
6. Nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung „[muss] [d]ie Anmeldung des Zertifikats … innerhalb einer Frist von sechs Monaten, gerechnet ab dem Zeitpunkt, zu dem für das Erzeugnis als Arzneimittel die [Zulassung] nach Artikel 3 Buchstabe b erteilt wurde, eingereicht werden“.
7. Art. 11 Abs. 1 Buchst. d und e der Verordnung Nr. 469/2009 sieht vor, dass ein Hinweis auf die Erteilung des ESZ von der zuständigen Behörde bekannt zu machen ist und der Hinweis zumindest die in diesem Absatz aufgezählten Angaben enthalten muss, u. a.:
„d) Nummer und Zeitpunkt der in Artikel 3 Buchstabe b genannten [Zulassung] sowie das durch die [Zulassung] identifizierte Erzeugnis;
e) gegebenenfalls Nummer und Zeitpunkt der ersten [Zulassung] in der Gemeinschaft …“
8. Art. 13 („Laufzeit des Zertifikats“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 sieht vor, dass „[d]as Zertifikat … ab Ablauf der gesetzlichen Laufzeit des Grundpatents für eine Dauer [gilt], die dem Zeitraum zwischen der Einreichung der Anmeldung für das Grundpatent und dem Zeitpunkt der ersten [Zulassung] in der Gemeinschaft entspricht, abzüglich eines Zeitraums von fünf Jahren“(6). Gemäß Art. 13 Abs. 2 beträgt „[u]ngeachtet des Absatzes 1 … die Laufzeit des Zertifikats höchstens fünf Jahre vom Zeitpunkt seines Wirksamwerdens an“.
III – Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof
9. Aus den zu den Akten genommenen Unterlagen ergibt sich, dass Seattle Genetics, eine Gesellschaft mit Sitz in den Vereinigten Staaten, Inhaberin eines europäischen Grundpatents(7) ist, dessen Anmeldung am 31. Juli 2003 eingereicht und das am 20. Juli 2011 erteilt wurde.
10. Am 31. Mai 2011 beantragte die Takeda Global Research and Development Centre (Europe) Ltd (im Folgenden: Takeda Global), eine Gesellschaft mit Sitz im Vereinigten Königreich, gemäß der Verordnung Nr. 726/2004 eine bedingte Zulassung für einen auf der Grundlage dieses Patents entwickelten neuen Wirkstoff mit dem internationalen Freinamen „Brentuximab Vedotin“ und dem Handelsnamen „Adcetris“.
11. Die Europäische Kommission erteilte ihr die Zulassung für das Arzneimittel Adcetris(8) mit Beschluss vom 25. Oktober 2012, dessen Art. 4 vorsieht, dass „[d]ie Geltungsdauer der Zulassung … ein Jahr ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe dieses Beschlusses [beträgt]“(9). Die damit erteilte Zulassung wurde Takeda Global am 30. Oktober 2012 bekannt gegeben und gemäß Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 726/2004 im Amtsblatt der Europäischen Union vom 30. November 2012(10) veröffentlicht.
12. Am 2. November 2012 beantragte Seattle Genetics beim österreichischen Patentamt die Erteilung eines ESZ auf der Grundlage des Grundpatents(11). Das Patentamt gab dem Antrag statt und stellte fest, dass das ESZ ab Ablauf des Grundpatents wirksam werde und am 25. Oktober 2027(12) ablaufe, womit es davon ausging, dass der „Zeitpunkt der ersten [Zulassung] in der Gemeinschaft“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 der Zeitpunkt des von der Kommission am 25. Oktober 2012 erlassenen Beschlusses über die Zulassung sei.
13. Im Oktober 2013 trat Takeda Global die Zulassung an die von Seattle Genetics lizenzierte Takeda Pharma A/S ab.
14. Am 22. April 2014 erhob Seattle Genetics beim Oberlandesgericht Wien Klage auf Berichtigung des Beschlusses des österreichischen Patentamts dahin, dass das ESZ erst am 30. Oktober 2027, also fünf Tage später als in dem Beschluss angegeben, ablaufe. Zur Begründung machte sie geltend, der „Zeitpunkt der ersten [Zulassung]“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 sei in Wirklichkeit derjenige, zu dem der Beschluss über die Genehmigung von Adcetris seinem Adressaten mitgeteilt worden sei, somit der 30. Oktober 2012.
15. Am 22. August 2014 erneuerte die Kommission die Zulassung mit einem Beschluss, nach dessen Art. 3 „[d]ie Geltungsdauer der erneuerten Genehmigung … ein Jahr ab dem 30. Oktober 2014 [beträgt]“(13).
16. Unter diesen Umständen und in Anbetracht der in anderen Mitgliedstaaten offensichtlich uneinheitlichen Praktiken zur Bestimmung der Laufzeit eines ESZ nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009(14) hat das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 2. Oktober 2014, der am 15. Oktober 2014 beim Gerichtshof eingegangen ist, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist der Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Gemeinschaft nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 nach Unionsrecht bestimmt, oder verweist diese Regelung auf den Zeitpunkt, zu dem die Genehmigung nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats wirksam wird?
2. Für den Fall, dass der Gerichtshof der Europäischen Union eine Bestimmung des Zeitpunkts nach Frage 1 durch Unionsrecht bejaht: Auf welchen Zeitpunkt ist dabei abzustellen – auf jenen der Genehmigung oder auf jenen der Mitteilung?
17. Seattle Genetics sowie die griechische, die italienische, die lettische und die litauische Regierung und die Europäische Kommission haben beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht. Eine mündliche Verhandlung hat nicht stattgefunden.
IV – Rechtliche Würdigung
A – Zur Frage, ob der Begriff „Zeitpunkt der ersten [Zulassung] in der Gemeinschaft“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 autonom zu bestimmen ist (erste Frage)
18. Vorab erinnere ich daran, dass es die Zielsetzung des auf Gemeinschaftsebene errichteten Systems des ESZ ist, Unzulänglichkeiten der nationalen Patentregelungen im Hinblick auf die pharmazeutische Forschung zu beseitigen und einer Entwicklung zu großer Unterschiede zwischen den einzelnen Regelungen vorzubeugen, die geeignet wäre, den freien Verkehr von Arzneimitteln zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern und dadurch das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu beeinträchtigen(15).
19. Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der „Zeitpunkt der ersten [Zulassung] in der Gemeinschaft“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 nach Maßgabe des Unionsrechts oder der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten und insbesondere desjenigen Mitgliedstaats zu bestimmen ist, in dem die betreffende Zulassung als Grundlage für die Erteilung eines ESZ diente.
20. Zur Begründung seines Vorabentscheidungsersuchens führt das Oberlandesgericht Wien aus, dass aus Art. 13 der Verordnung nicht klar hervorgehe, ob die Regelung für die Berechnung der sich aus dem ESZ ergebenden Ausschließlichkeitsfrist ergänzend auf das Verfahrensrecht des betreffenden Mitgliedstaats verweise(16) oder abschließend festlege, wie diese Frist zu bestimmen sei. Im deutschen Schrifttum würden bezüglich des maßgebenden Zeitpunkts unterschiedliche Auffassungen vertreten, und es habe den Anschein, dass die Lösung je nach den Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausfalle(17).
21. Wie alle Beteiligten, die beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht haben, mit Ausnahme der italienischen Regierung, bin ich der Ansicht, dass der Begriff „Zeitpunkt der ersten [Zulassung] in der Gemeinschaft“ in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 allein nach dem Unionsrecht zu bestimmen ist. Dieser Ansatz basiert erstens auf den für die Auslegung des Unionsrechts geltenden allgemeinen Grundsätzen, zweitens auf der Rechtsnatur und der Zielsetzung der betreffenden Verordnung, drittens auf den Abgrenzungen des fraglichen Begriffs, wie sie teilweise in der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorgenommen worden sind, und schließlich auf praktischen Erwägungen.
22. Es entspricht nämlich ständiger Rechtsprechung, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die, wie Art. 13 Abs. 1 der Verordnung, für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, eine in der gesamten Union geltende autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des mit der Regelung verfolgten Zwecks zu erfolgen hat. Daher ist es für die Zwecke der Auslegung dieses Artikels unerheblich, wie der fragliche Zeitpunkt nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zu bestimmen ist(18). In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen, soweit es sich auf die in Art. 13 der Verordnung Nr. 469/2009 geregelte Laufzeit des ESZ bezieht, Fragen aufwirft, die meines Erachtens materiell-rechtlicher und nicht prozessualer Natur sind(19). Ich bin daher entgegen dem Vorbringen der italienischen Regierung der Ansicht, dass die aufgeworfene Problematik nicht unter die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten fällt(20).
23. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber dadurch, dass er das Rechtsinstrument der Verordnung gewählt hat, um ein „Standardsystem“ des ESZ auf Gemeinschaftsebene zu schaffen, offensichtlich seinen Willen zum Ausdruck gebracht, in diesem Bereich gemeinsame Vorschriften zu erlassen, um Hindernisse für den freien Verkehr von Arzneimitteln zu beseitigen und Wettbewerbsverzerrungen innerhalb des Binnenmarkts zu verhindern(21), und seine Absicht, dass alle Mitgliedstaaten die Vorschriften zur Verlängerung des Patentschutzes gleichzeitig einführen(22). Dieser Wille, eine „einheitliche Lösung“ und somit ein einheitliches ESZ-Modell zu haben, das insbesondere bezüglich der Voraussetzungen seiner Erteilung und bezüglich seiner Laufzeit in allen Mitgliedstaaten gilt, ist in der Präambel der Verordnung Nr. 1768/92 zum Ausdruck gekommen und noch klarer in der Präambel der Verordnung Nr. 469/2009, mit der die Verordnung Nr. 1768/92 kodifiziert wurde, wiederholt worden(23).
24. Was insbesondere den Begriff „erste [Zulassung] in der Gemeinschaft“ in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 betrifft, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass dieser eine einheitliche Auslegung erhalten muss, die nicht von der Bestimmung der Verordnung Nr. 469/2009 abhängen kann, in der er sich findet(24). Der Gerichtshof hat auch zur ersten Zulassung in der Gemeinschaft darauf hingewiesen, dass das mit der Verordnung Nr. 1768/92 eingeführte System die Erteilung von Zertifikaten mit je nach Mitgliedstaat unterschiedlicher Gültigkeitsdauer verhindern sollte(25). Insoweit erinnere ich daran, dass eine von der Kommission nach der Verordnung Nr. 726/2004 erteilte Zulassung gleichzeitig „für die gesamte Gemeinschaft gültig“ ist(26).
25. Würde zugelassen, dass der Zeitpunkt des Wirksamwerdens einer Zulassung und somit der sich aus diesem ersten Kriterium ergebende Zeitpunkt des Ablaufs eines ESZ nach nationalem Recht zu bestimmen sind, wären sowohl die Ziele als auch die Systematik, wenn nicht die praktische Wirksamkeit der Verordnung Nr. 469/2009 beeinträchtigt, da hieraus folgte, dass für ein und dasselbe Arzneimittel die Laufzeit des ESZ von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich ausfallen könnte. Die Kommission hebt zu Recht hervor, dass unterschiedliche Zeitpunkte des Erlöschens der ESZ in der Praxis das Entstehen eines unerwünschten innergemeinschaftlichen Parallelhandels zwischen Mitgliedstaaten, in denen die ESZ bereits erloschen sind, und solchen, in denen sie noch gültig sind, zur Folge haben könnten. Abgesehen davon, dass eine Differenzierung beim Schutz für ein und dasselbe Arzneimittel zu einer Aufspaltung des Marktes führen würde, während der Gemeinschaftsgesetzgeber dies gerade hat verhindern wollen(27), bin ich der Ansicht, dass eine nach den Umständen unterschiedliche Einstufung überdies einen für die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer nachteiligen Faktor der Rechtsunsicherheit darstellen würde.
26. Daher schlage ich vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass der Begriff „Zeitpunkt der ersten [Zulassung] in der Gemeinschaft“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 eine einheitliche und autonome Auslegung auf der Grundlage des Unionsrechts erhalten muss und daher nicht von den Regelungen abhängen darf, die in den Mitgliedstaaten und insbesondere in dem Mitgliedstaat, in dem die Zulassung wirksam geworden ist, gelten.
B – Zur Gleichsetzung des „Zeitpunkts der ersten [Zulassung] in der Gemeinschaft“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 mit dem Zeitpunkt, zu dem der Beschluss über die Zulassung ergeht, oder dem Zeitpunkt der Mitteilung dieses Beschlusses (zweite Frage).
1. Zum Gegenstand der zweiten Vorlagefrage
27. Mit seiner zweiten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen, zu entscheiden, ob in dem Fall, dass Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 auf der Grundlage des Unionsrechts auszulegen sein sollte, der bei der Bestimmung der Laufzeit eines ESZ zu berücksichtigende „Zeitpunkt der ersten [Zulassung] in der Gemeinschaft“, der in dieser Vorschrift vorgesehen ist, als derjenige Zeitpunkt zu verstehen ist, zu dem die Zulassung erteilt wurde, oder aber derjenige, zu dem der die Zulassung enthaltende Beschluss seinem Adressaten mitgeteilt wurde.
28. Unter Anführung mehrerer Urteile des Gerichtshofs(28), hält es das Oberlandesgericht Wien für möglich, aus diesen herzuleiten, dass insoweit nicht der Zeitpunkt der Mitteilung der Zulassung entscheidend sei, sondern – im Sinne einer einheitlichen Auslegung – der Zeitpunkt der Erteilung der Genehmigung als solcher. Während die griechische, die lettische und die litauische Regierung die Ansicht des Oberlandesgerichts teilen, sind Seattle Genetics und die Kommission sowie hilfsweise die italienische Regierung(29) demgegenüber der Ansicht, dass auf den Zeitpunkt der Mitteilung des Beschlusses über die Genehmigung abzustellen sei.
29. Der letztgenannten Ansicht bin auch ich. Sie ist durch Kriterien untermauert, die sich dem Primärrecht der Union ergeben, das bestimmt, von welchem Punkt an ein von der Kommission erlassener Beschluss Rechtswirkungen entfaltet(30). Der Unionsgesetzgeber könnte zwar meines Erachtens von diesen Bestimmungen abweichen, da es sich um Einzelbeschlüsse zur Durchführung eines Rechtsakts handelt(31). Ich bin jedoch der Meinung, dass Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 unter Berücksichtigung der gebräuchlichen Auslegungskriterien insoweit keine Anhaltspunkte enthält(32). Auf die letztgenannten Kriterien werde ich an erster Stelle eingehen.
2. Zu den Auslegungskriterien aus der Verordnung Nr. 469/2009
30. Was den Wortlaut der Vorschrift angeht, um deren Auslegung gebeten wird, erlaubt dieser meiner Ansicht nach nicht, ohne Weiteres auf die Vorlagefrage zu antworten. Der Ausdruck „Zeitpunkt der ersten [Zulassung] in der Gemeinschaft“, der in den verschiedenen Sprachfassungen der Verordnung Nr. 469/2009 keine entscheidenden Unterschiede aufweist(33), ist als solcher nämlich nicht hinreichend klar, dass aus ihm hervorginge, ob mit diesem Zeitpunkt derjenige des Beschlusses der Kommission über die Erteilung der Zulassung gemeint ist, wie die griechische, die lettische und die litauische Regierung dies vertreten(34).
31. Diese Lösung scheint zwar auf den ersten Blick den Vorzug der Einfachheit aufzuweisen, da dieser Zeitpunkt auf dem Deckblatt dieses Beschlusses steht. Doch ist dieser Vorteil, wie die Kommission betont, nur gering, denn im Rahmen des zentralisierten Zulassungsverfahrens ist der Zeitpunkt, zu dem der Beschluss seinem Adressaten mitgeteilt wird, ebenso leicht festzustellen, da, wie im vorliegenden Fall tatsächlich geschehen(35), auch dieser stets im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wird(36). Die Entscheidung zwischen den beiden Zeitpunkten bleibt also offen.
32. Bezüglich der Systematik, in die sich Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 einfügt, kann darauf hingewiesen werden, dass sich andere Vorschriften dieser Verordnung ebenfalls auf den „Zeitpunkt der ersten [Zulassung]“ oder den „Zeitpunkt der [Zulassung]“ beziehen(37), aber ohne dass sie in Bezug auf deren Definition tatsächlich größere Bestimmtheit aufwiesen. Dagegen sind einzelne Vorschriften dieser Verordnung insofern etwas präziser, als danach der Zeitpunkt, zu dem die Zulassung oder die erste Zulassung „erlangt“ wurde, zu berücksichtigen ist(38).
33. In dieser Hinsicht berufen sich die lettische und die litauische Regierung auf Urteile des Gerichtshofs, aus denen hervorgehe, dass als Zeitpunkt der „Erlangung“ der ersten Zulassung im Sinne der Verordnung Nr. 469/2009 der Zeitpunkt zu verstehen sei, zu dem der Beschluss über die Zulassung ergangen sei. Diese Urteile enthalten jedoch meines Erachtens keine ausschlaggebenden Kriterien für die Beantwortung der in der vorliegenden Rechtssache gestellten Frage. Der Gerichtshof hat sich zwar im Urteil Merck Sharp & Dohme zur Auslegung von Art. 13 der Verordnung Nr. 1768/92 auf den Zeitpunkt der „Erteilung der ersten [Zulassung]“ bezogen(39) und im Urteil Kirin Amgen in Bezug auf die Auslegung anderer Vorschriften dieser Verordnung ausgeführt, dass „die Erlangung einer Genehmigung … zum Zeitpunkt ihrer Erteilung [erfolgt]“(40). Dies ändert jedoch nichts daran, dass mangels genauerer Angaben in der Rechtsprechung der Begriff „Erlangung“ ebenso gut, meiner Ansicht nach sogar eher, auf den Zeitpunkt verweisen kann, zu dem die erteilte Zulassung vom Adressaten dieses Beschlusses zur Kenntnis genommen werden konnte und somit konkret ihre rechtlichen Wirkungen entfalten konnte.
34. Was die mit der fraglichen Vorschrift verfolgten Ziele betrifft, so steht fest, dass das mit der Verordnung Nr. 1768/92 eingeführte und sodann durch die Verordnung Nr. 469/2009 kodifizierte ESZ für Arzneimittel die Dauer der Ausschließlichkeit, die einem Erfinder aufgrund des Grundpatents zugutekommt, verlängert(41), indem es dessen Wirkungen über die gesetzliche Laufzeit hinaus ausdehnt(42). Mit dieser Regelung soll dem Phänomen der Erosion entgegengewirkt werden, die sich daraus ergibt, dass zwischen der Einreichung einer Patentanmeldung, die oft schon mit der Durchführung klinischer Prüfungen erfolgt, und der Erlangung der Zulassung des betreffenden Arzneimittels eine lange Zeit vergehen kann(43). Diese Zeitspanne, die die Laufzeit des durch das Patent gewährten Ausschließlichkeitsrechts entsprechend verkürzt, kann die Amortisierung der teilweise kostspieligen Investitionen beeinträchtigen, die die pharmazeutische Forschung erfordert, während diese zu einer ständigen Verbesserung der Volksgesundheit beiträgt(44).
35. Daher hat der Gerichtshof wiederholt darauf hingewiesen, dass mit dem ESZ „die Wiederherstellung einer ausreichenden Dauer des wirksamen Grundpatentschutzes angestrebt wird, indem dem Inhaber nach Ablauf dieses Patents eine zusätzliche Ausschließlichkeitsfrist eingeräumt wird, die zumindest zum Teil den Rückstand in der wirtschaftlichen Verwertung seiner Erfindung ausgleichen soll, der aufgrund der Zeitspanne von der Einreichung der Patentanmeldung bis zur Erteilung der ersten [Zulassung] in der Union eingetreten ist“(45).
36. Außerdem hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass das ESZ somit darauf abzielt, „dem abzuhelfen, dass … die Laufzeit des tatsächlichen Patentschutzes für die Amortisierung der in [der pharmazeutischen] Forschung vorgenommenen Investitionen unzureichend war“(46). Dieses Bestreben, dem Inhaber eines Arzneimittelpatents zu ermöglichen, einen Großteil der Gelder wiederzuerlangen, die er in die Forschung investiert hat, die als „besonders vital für die pharmazeutische Industrie selbst und für die Gesellschaft im Allgemeinen“ gilt, war eindeutig die Leitlinie des Handelns des Gemeinschaftsgesetzgebers in diesem Bereich(47).
37. Darüber hinaus wurde sowohl in den Gesetzestexten(48) als auch in der Rechtsprechung(49) wiederholt der Wille betont, mit dem im Unionsrecht vorgesehenen ESZ die Wirksamkeit des sich aus einem solchen Patent ergebenden Schutzes, insbesondere was die Schutzfrist anbelangt, zu gewährleisten.
38. Das Recht zur Verwertung eines neuen Arzneimittels durch dessen Vermarktung und somit die Möglichkeit, mit der Amortisierung der mit seiner Erfindung verbundenen Investitionen zu beginnen, bestehen jedoch erst ab dem Zeitpunkt tatsächlich, zu dem der Inhaber dieses Rechts von der Tatsache Kenntnis erlangen konnte, dass ihm die Genehmigung erteilt wurde, das Arzneimittel in Verkehr zu bringen. Folglich ist meines Erachtens als „Zeitpunkt der ersten [Zulassung] in der Gemeinschaft“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 der Zeitpunkt anzusehen, zu dem diese Entscheidung ihrem Adressaten mitgeteilt und somit wirksam wird.
39. Sollte der Gerichtshof entgegen dieser Ansicht auf den Zeitpunkt der Entscheidung, mit der die Zulassung erteilt wird, abstellen, verkürzte eine solche Auslegung den Gültigkeitszeitraum des ESZ in einer Weise, die nicht mit den grundlegenden Zielen der Verordnung vereinbar wäre. Wie die Kommission hervorhebt, kann es nicht sein, dass der vom Gesetzgeber gerade für die Verlängerung der Möglichkeit einer Vermarktung des betreffenden Arzneimittels gewährte ergänzende Schutzzeitraum durch verfahrenstechnische Abläufe verkürzt wird, die zwischen dem Zulassungsbeschluss und seiner Mitteilung erfolgen und auf deren Dauer derjenige, der das ESZ beantragt, keinen Einfluss hat.
3. Zu den Auslegungskriterien aus dem Primärrecht
40. Für die von mir vorgeschlagene Auslegung des Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009, wonach der maßgebliche Zeitpunkt derjenige der Mitteilung des Beschlusses über die Zulassung ist, sprechen Erwägungen allgemeinerer Art als die vorstehend dargelegten Erwägungen zu der Verordnung.
41. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Zulassung des im Ausgangsrechtsstreit fraglichen Humanarzneimittels im Gegensatz zu den Zulassungen, die von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten auf der Grundlage der Richtlinie 2001/83 auf nationaler Ebene erteilt werden können, durch einen Beschluss der Kommission gewährt wurde, der in Anwendung des in der Verordnung Nr. 726/2004 vorgesehenen zentralisierten Verfahrens erlassen wurde.
42. Eine Entscheidung dieser Art gehört zur Kategorie der von Art. 288 Abs. 4 AEUV erfassten Rechtsakte der Unionsorgane(50). Folglich ist, wie Seattle Genetics geltend macht, Art. 297 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV zu berücksichtigen, aus dem sich ergibt, dass ein Beschluss, der an einen bestimmten Adressaten gerichtet ist, diesem bekannt gemacht werden muss, um Gültigkeit zu erlangen, und erst mit dieser Bekanntgabe wirksam wird. Diese Bestimmung besiegelt einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, wonach jeder individuelle Rechtsakt, insbesondere verwaltungsrechtlicher Natur, seinem Adressaten bekannt zu geben ist, so dass diesem die sich aus dem Rechtsakt ergebenden Rechte und Pflichten nur entgegengehalten werden können, wenn ihm der Rechtsakt ordnungsgemäß zur Kenntnis gebracht wurde(51).
43. Auch die Kommission ist nach ihren Erklärungen der Ansicht, dass, da eine Abweichung von diesem Grundsatz zu einer Verkürzung der Gültigkeitsdauer des ESZ führe und deshalb für dessen Begünstigten nachteilig sei, auf den Zeitpunkt abzustellen sei, zu dem der Beschluss über die Zulassung mitgeteilt worden sei.
44. Der hier vorgeschlagene Ansatz entspricht der Praxis, die die Kommission nicht nur im vorliegenden Fall(52), sondern, wie verschiedene öffentliche Stellungnahmen zeigen(53), systematisch bei den ESZ für Arzneimittel, für die eine gemeinschaftliche Zulassung erteilt wurde, verfolgt hat. Auch die Europäische Arzneimittel-Agentur stellt auf den Zeitpunkt der Mitteilung der Zulassung als maßgebliches Kriterium für die Berechnung des in den unionsrechtlichen Vorschriften über die Vermarktung von Arzneimitteln vorgesehenen Schutzzeitraums ab(54).
45. Infolgedessen schlage ich vor, auf die zweite Frage zu antworten, dass der „Zeitpunkt der ersten [Zulassung] in der Gemeinschaft“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 nicht dem Zeitpunkt entspricht, zu dem der Beschluss über die Zulassung erlassen wird, sondern dem Zeitpunkt, zu dem dieser Beschluss seinem Adressaten bekannt gegeben wird.
V – Ergebnis
46. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Oberlandesgerichts Wien (Österreich) wie folgt zu antworten:
1. Der Begriff „Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Gemeinschaft“ in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts.
2. Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 ist dahin auszulegen, dass der „Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Gemeinschaft“ derjenige der Mitteilung des Genehmigungsbeschlusses an seinen Adressaten ist.