Language of document : ECLI:EU:F:2015:61

URTEIL DES GERICHTS FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST
DER EUROPÄISCHEN UNION
(Erste Kammer)

18. Juni 2015

Rechtssache F‑5/14

CX

gegen

Europäische Kommission

„Öffentlicher Dienst – Beamte – Disziplinarstrafe – Entfernung aus dem Dienst – Keine Anhörung des betroffenen Beamten durch die Anstellungsbehörde – Nichtbeachtung des Rechts auf Anhörung“

Gegenstand:      Klage nach Art. 270 AEUV, der gemäß Art. 106a EA auch für den EAG-Vertrag gilt, zum einen auf Aufhebung der Entscheidung vom 16. Oktober 2013, mit der die Europäische Kommission gegen den Kläger die Strafe der Entfernung aus dem Dienst ohne zeitweilige Kürzung des Ruhegehalts verhängt hat, und zum anderen auf Verurteilung der Kommission zum Ersatz des Schadens, der ihm entstanden sein soll

Entscheidung:      Die Entscheidung vom 16. Oktober 2013, mit der die Europäische Kommission gegen CX die Strafe der Entfernung aus dem Dienst ohne zeitweilige Kürzung des Ruhegehalts verhängt hat, wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten und wird zur Tragung der CX entstandenen Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes in der Rechtssache F‑5/14 R verurteilt.

Leitsätze

1.      Beamte – Disziplinarordnung – Disziplinarverfahren – Entscheidung der Anstellungsbehörde, mit der eine Disziplinarstrafe ohne vorherige Anhörung des Betroffenen verhängt wird – Dem Betroffenen zuzurechnendes Fehlen der vorherigen Anhörung – Rechtmäßigkeit – Verstoß gegen das Recht auf Anhörung – Fehlen – Gerichtliche Überprüfung

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 Abs. 2 Buchst. a, Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1; Beamtenstatut, Anhang IX Art. 4 und Art. 22 Abs. 1)

2.      Beamte – Disziplinarordnung – Verfahren vor dem Disziplinarrat – Ärztlich festgestellte Unmöglichkeit der Anhörung des Beamten durch den Disziplinarrat – Verpflichtung des Betroffenen, ein ärztliches Attest über die fragliche Unfähigkeit vorzulegen – Fehlen

(Beamtenstatut, Anhang IX)

3.      Beamte – Disziplinarordnung – Verfahren vor dem Disziplinarrat – Ärztlich festgestellte Unmöglichkeit der Anhörung des Beamten durch den Disziplinarrat – Antrag auf Vertagung der Anhörung – Rechtfertigung der Weigerung, die Anhörung zu vertagen

(Beamtenstatut, Anhang IX)

1.      Gemäß Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte der Europäischen Union steht jeder Person das Recht zu, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird. Im Rahmen des im Statut geregelten Disziplinarverfahrens wird das Recht auf Anhörung zum einen insbesondere durch Art. 22 Abs. 1 des Anhangs IX des Statuts und zum anderen durch Art. 4 dieses Anhangs im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchgeführt. Im Disziplinarbereich ist die Verpflichtung der Anstellungsbehörde, den Betroffenen anzuhören, insbesondere wegen der Schwere der Strafen, zu denen ein Disziplinarverfahren führen kann, strikt zu verstehen.

Jedoch führt die Tatsache, dass der Betroffene nicht gemäß Art. 22 Abs. 1 des Anhangs IX des Statuts angehört worden ist, nicht zur Aufhebung der Entscheidung, mit der gegen ihn eine Disziplinarstrafe verhängt wurde, wenn die Nichtanhörung dem Betroffenen selbst zuzurechnen ist. Die Anstellungsbehörde ist nämlich nicht verpflichtet, das Datum der letzten Anhörung auf unbestimmte Zeit zu verschieben, bis der Betroffene daran teilnehmen kann. Im Gegenteil darf der Erlass einer das Disziplinarverfahren abschließenden Entscheidung im Interesse sowohl des Beamten als auch der Verwaltung nicht ohne Rechtfertigung verzögert werden. Dies wird im Übrigen mit der in Art. 22 Abs. 1 des Anhangs IX des Statuts vorgesehenen zweimonatigen Frist bezweckt, die nämlich eine Regel ordnungsgemäßer Verwaltung darstellt.

Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Anstellungsbehörde, eine Disziplinarstrafe zu verhängen, ohne den Betroffenen anzuhören, wenn dieser ein ärztliches Attest vorgelegt hat, mit dem seine Abwesenheit ordnungsgemäß gerechtfertigt werden kann, ist es außerdem Sache des Unionsrichters, zu prüfen, ob die dazu von der Verwaltung vorgelegten Beweise belegen, dass die fehlende Anhörung dem Betroffenen zuzurechnen ist.

(vgl. Rn. 61 bis 65)

Verweisung auf:

Gerichtshof: Urteile Van Eick/Kommission, 35/67, EU:C:1968:39, und Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 42

Gericht erster Instanz: Urteil Stevens/Kommission, T‑277/01, EU:T:2002:302, Rn. 41 und 42 und die dort angeführte Rechtsprechung

Gericht für den öffentlichen Dienst: Urteil de Brito Sequeira Carvalho/Kommission, F‑107/13, EU:F:2014:232, Rn. 100 und 111

2.      Keine Bestimmung des Statuts und insbesondere ihres Anhangs IX verpflichtet den Beamten, der zu einer Disziplinaranhörung vor der Anstellungsbehörde geladen ist, auf einem etwaigen ärztlichen Attest, das bescheinigt, dass er an der Anhörung nicht teilnehmen kann, ausdrücklich vermerken zu lassen, dass er das Haus nicht verlassen darf oder sich nicht fortbewegen kann. Daher kann aus dem Fehlen eines solchen Vermerks als solchem nicht geschlossen werden, dass der Gesundheitszustand des betroffenen Beamten so ist, dass er vor dieser Behörde erscheinen kann, um die Verteidigung seiner Rechte im Rahmen des gegen ihn eingeleiteten Disziplinarverfahrens sicherzustellen.

(vgl. Rn. 74)

3.      Wenn ein Beamter die Anstellungsbehörde mittels eines ärztlichen Attests gebührend und ordnungsgemäß darüber informiert hat, dass es ihm unmöglich ist, vor dieser Behörde in ihrer Zusammensetzung als Dreiergremium zu erscheinen und schriftliche Erklärungen abzugeben, obliegt es der Anstellungsbehörde, mittels eines anderen ärztlichen Gutachtens oder eines Bündels belastbarer und übereinstimmender Indizien nachzuweisen, dass der erkrankte Beamte vielmehr an dieser Anhörung teilnehmen und seine Sache wirksam verteidigen konnte.

(vgl. Rn. 75 und 76)

Verweisung auf:

Gericht für den öffentlichen Dienst: Urteil de Brito Sequeira Carvalho/Kommission, EU:F:2014:232, Rn. 111