Language of document : ECLI:EU:C:2012:340

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PEDRO CRUZ VILLALÓN

vom 12. Juni 2012(1)

Rechtssache C‑617/10

Åklagaren

gegen

Hans Åkerberg Fransson

(Vorabentscheidungsersuchen des Haparanda tingsrätt [Schweden])

„Anwendungsbereich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 51 der Charta – Anwendung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten – Nationale Sanktionsregelungen für Verstöße gegen Mehrwertsteuerbestimmungen – Art. 50 der Charta –Verbot der Doppelbestrafung als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts – Zusammentreffen verwaltungsrechtlicher und strafrechtlicher Sanktionen – Definition ‚desselben Sachverhalts‘ – Auslegung der Charta im Licht der Europäischen Menschenrechtskonvention – Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Menschenrechtskonvention – Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – Bestimmung der Grundrechte der Union anhand der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“






Inhaltsverzeichnis


I – Einleitung

II – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrechtlicher Rahmen

B – Europäische Menschenrechtskonvention

C – Nationaler Rechtsrahmen

III – Sachverhalt und Ausgangsverfahren

IV – Das Verfahren vor dem Gerichtshof

V – Zuständigkeit des Gerichtshofs

A – Allgemeiner Lösungsansatz

1. Eine abstrakte „Situation“: die „Anwendung“ des Rechts der Union durch die Mitgliedstaaten

2. Ein Vorschlag zum Verständnis: eine Regel-Ausnahme-Beziehung

3. Ein Fundament: ein spezifisches Interesse der Union

4. Eine Argumentationsweise: der Ort der Kategorien und der Ort der Kasuistik

B – Die Antwort auf das Problem der Zuständigkeit im vorliegenden Fall

1. Das in Rede stehende Grundrecht

2. Ein besonderer Bereich für die Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben: die Strafgewalt

3. Der Umfang der Verlagerung der Gewährleistung des Verbots der Doppelbestrafung von den Staaten zur Union

4. Schlussfolgerung: ein von der „Durchführung des Rechts der Union“ nicht umfasster Sachverhalt

VI – Die Vorlagefragen

A – Die zweite, die dritte, die vierte und die fünfte Vorlagefrage

1. Umformulierung und Zulässigkeit

2. Prüfung der zweiten, der dritten und der vierten Vorlagefrage

a) Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK und die hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR

i) Unterzeichnung und Ratifizierung von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK

ii) Die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK

b) Das Verbot der Doppelbestrafung im Unionsrecht: Art. 50 der Charta und seine Auslegung im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK

i) Eine teilautonome Auslegung von Art. 50 der Charta: Grenzen einer Auslegung ausschließlich im Licht der EMRK

ii) Art. 50 der Charta und die zweifache verwaltungsrechtliche und strafrechtliche Ahndung

c) Anwendung von Art. 50 der Charta auf den vorliegenden Fall

B – Die erste Vorlagefrage

1. Die „klare Stütze“ als Kriterium der Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention durch das nationale Gericht

2. Die „klare Stütze“ als Kriterium zur Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch das nationale Gericht

VII – Ergebnis


I –    Einleitung

1.        Obwohl der vorliegende Fall, in dem es um die Bestrafung eines im Bottnischen Meerbusen tätigen Fischers wegen eines Verstoßes gegen steuerliche Pflichten geht, einfach gelagert zu sein scheint, stellt uns das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen vor zwei besonders heikle Probleme und macht uns relativ ratlos.

2.        Das erste Problem betrifft die Zulässigkeit, denn angesichts des zweifellos innerstaatlichen Charakters des Falls muss, um die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung einer Frage, die Grundrechte betrifft, bejahen zu können, die Rechtssache als Fall einer Anwendung des Unionsrechts durch den Mitgliedstaat im Sinne des heutigen Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) eingeordnet werden.

3.        Das andere Problem ist materiell-rechtlicher Art und betrifft die Funktionsweise des Verbots der Doppelbestrafung im Fall des Zusammentreffen des verwaltungsrechtlichen und des strafrechtlichen ius puniendi des Mitgliedstaats bei der Bekämpfung desselben Verhaltens, was uns aus heutiger Sicht letztendlich wieder zu Art. 50 der Charta führt.

4.        Die Ratlosigkeit geht auf die erste Frage des vorlegenden Gerichts zurück, bei der die Problematik, als solche betrachtet, vergleichsweise einfacher gelagert zu sein scheint als bei den zuvor dargestellten. Sie betrifft den Anwendungsbereich des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts gegenüber einem vom letztinstanzlichen nationalen Gericht aufgestellten Erfordernis einer „klaren“ Stütze bzw. eines „klaren“ Anhaltspunkts zur Verdrängung des nationalen Rechts. Die Ratlosigkeit geht auf eine Situation zurück, in der einerseits die verlangte „klare Stütze“ zwar in der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) fest verankert zu sein scheint, die Antwort hinsichtlich des Geltungsbereichs des Verbots der Doppelbestrafung im Unionsrecht durch diese Entwicklung aber nicht nur nicht vereinfacht, sondern eher erschwert wird.

5.        Hinsichtlich der Zulässigkeit werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, sich für unzuständig zu erklären, da der Mitgliedstaat nicht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta das Recht der Union durchführt. Ich bin, wie ich im Folgenden darlegen werde, der Auffassung, dass eine aufmerksame Prüfung der Umstände des Einzelfalls zu diesem Ergebnis führen muss. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass der Gerichtshof hierzu einige der Ansätze, die ich zur Lösung dieser vexata quaestio vorschlage, übernehmen muss. Ich muss einräumen, dass diese Lösungsansätze nicht der bisherigen Rechtsprechung folgen.

6.        Hilfsweise und für den Fall, dass der Gerichtshof der Auffassung sein sollte, dass er für eine Entscheidung in der Sache zuständig ist, werde ich ihm eine autonome Auslegung des Verbots der Doppelbestrafung im Recht der Union vorschlagen. Ich werde darzulegen versuchen, dass die Regel des Art. 52 Abs. 3 der Charta, nach der die Rechte, die die Charta enthält, den entsprechenden Rechten in der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK) „gleich“ sind, im Hinblick auf den Grundsatz, mit dem wir befasst sind, zu ganz besonderen Schwierigkeiten führt.

7.        Schließlich werde ich hinsichtlich des Erfordernisses einer „klaren Stütze“ in der EMRK und im Recht der Union eine Auslegung vorschlagen, die mit dem Grundsatz des Vorrangs vereinbar ist.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrechtlicher Rahmen

8.        Das Verbot der Doppelbestrafung ist heute in Art. 50 der Charta verankert, der folgenden Wortlaut hat:

„Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“

9.        Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(2) bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

…“

B –    Europäische Menschenrechtskonvention

10.      Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bestimmt unter der Überschrift „Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden“:

„1. Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.

2. Artikel 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.

3. Von diesem Artikel darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden.“

C –    Nationaler Rechtsrahmen

11.      In Kapitel 5 §§ 1 und 4 Taxeringslagen (Besteuerungsgesetz) (1990:324) sind die Grundregeln für die Steuerzuschläge in Schweden niedergelegt:

„§ 1

„Macht der Steuerpflichtige in einem Besteuerungsverfahren in anderer Weise als mündlich unrichtige Angaben im Hinblick auf seine Besteuerung, so wird eine besondere Abgabe (Steuerzuschlag) erhoben. Dies gilt auch, wenn der Steuerpflichtige derartige Angaben in einem gerichtlichen Verfahren zur Überprüfung eines Steuerbescheids macht und diese Angaben nach Prüfung des Sachverhalts nicht akzeptiert werden.

Angaben sind unrichtig, wenn klar erkennbar ist, dass die Angaben, die der Steuerpflichtige macht, falsch sind oder dass der Steuerpflichtige es unterlassen hat, im Besteuerungsverfahren Angaben zu machen, zu denen er verpflichtet ist. Angaben sind jedoch nicht unrichtig, wenn sie zusammen mit anderen gemachten Angaben ausreichen, um einen richtigen Bescheid zu erlassen. Angaben sind auch dann nicht als unrichtig anzusehen, wenn sie so ungereimt sind, dass sie einem Bescheid offensichtlich nicht zu Grunde gelegt werden können.

§ 4

Sind unrichtige Angaben gemacht worden, beträgt der Steuerzuschlag vierzig Prozent der in Kapitel 1 § 1 Abs. 1 bis 5 genannten Steuern, die, wenn die unrichtigen Angaben akzeptiert worden wären, dem Steuerpflichtigen oder dessen Ehegatten nicht auferlegt worden wären. Bei der Mehrwertsteuer beträgt der Steuerzuschlag zwanzig Prozent der Steuer, die dem Steuerpflichtigen zu Unrecht gutgeschrieben worden wäre. Der Steuerzuschlag beträgt zehn Prozent bzw. bei der Mehrwertsteuer fünf Prozent, wenn die unrichtigen Angaben berichtigt worden sind oder mit Hilfe von Kontrollmitteilungen, die dem Skatteverk [schwedische Steuerverwaltung] normalerweise zugänglich sind und die ihm vor Ende November des fraglichen Steuerjahrs tatsächlich zugänglich waren, hätten berichtigt werden können …“

12.      Die §§ 2 und 4 Skattebrottslagen (Gesetz über Steuerstraftaten) enthalten die strafrechtlichen Bestimmungen zur Ahndung des Steuerbetrugs:

„§ 2

Wer in anderer Weise als mündlich vorsätzlich falsche Angaben gegenüber einer Behörde macht oder es unterlässt, eine Steuererklärung, eine Kontrollmitteilung oder eine andere vorgeschriebene Mitteilung bei einer Behörde einzureichen und dadurch die Gefahr besteht, dass dem Fiskus Steuereinnahmen entgehen oder dem Täter oder einem Dritten Steuern zu Unrecht gutgeschrieben oder erstattet werden, wird wegen Steuerhinterziehung mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.

§ 4

In schweren Fällen wird die Steuerhinterziehung nach § 2 als Steuervergehen in einem schweren Fall mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu sechs Jahren bestraft.

Bei der Beurteilung, ob ein schwerer Fall vorliegt, ist insbesondere zu berücksichtigen, ob es um sehr hohe Beträge geht, ob der Täter falsche Belege verwendet oder eine irreführende Buchhaltung führt oder ob die Tat als Teil eines fortgesetzten kriminellen Handelns begangen worden ist, das planmäßig oder von erheblichem Umfang oder sonst besonders gefährlich gewesen ist.“

III – Sachverhalt und Ausgangsverfahren

13.      Herr Fransson widmet sich als Selbständiger vornehmlich dem Fang und Verkauf von weißem Fisch (coregonus albula). Er geht dem Fischfang im Fluss Kalix nach und verkauft seine Fänge in Schweden und Finnland.

14.      Die schwedische Steuerverwaltung beschuldigt Herrn Fransson, in den Steuerjahren 2004 und 2005 seinen steuerlichen Mitteilungspflichten nicht nachgekommen zu sein; dies habe zum Verlust von Einnahmen aus mehreren Steuern geführt. Die schwedischen Behörden gehen davon aus, dass dem Fiskus durch seine falschen Angaben in den Mehrwertsteueranmeldungen für die genannten Steuerjahre im Steuerjahr 2004 Einnahmen in Höhe von 60 000 SEK und im Steuerjahr 2005 von 87 550 SEK entgingen.

15.      Das Skatteverk erlegte Herrn Fransson in Anwendung der schwedischen Steuersanktionsregelung am 24. Mai 2007 für die im Steuerjahr 2004 begangenen Steuerstraftaten eine Geldbuße in Form von Steuerzuschlägen auf, von der 4 872 SEK auf den Verstoß hinsichtlich der Mehrwertsteuer entfielen. Für das Steuerjahr 2005 wurde ihm vom Skatteverk eine weitere Geldbuße auferlegt, von der 3 255 SEK auf den Verstoß hinsichtlich der Mehrwertsteuer entfielen. Weder die Sanktion für das Steuerjahr 2004 noch die Sanktion für das Steuerjahr 2005 wurde angefochten, so dass sie am 31. Dezember 2010 bzw. am 31. Dezember 2011 bestandskräftig wurden.

16.      Am 9. Juni 2009 wurde Herr Fransson auf Antrag der Staatsanwaltschaft vor dem Haparanda tingsrätt angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wirft Herrn Fransson ein Steuervergehen in einem schweren Fall vor, das in den Steuerjahren 2004 und 2005 begangen worden sei. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft sind dem Fiskus durch den Verstoß gegen die steuerlichen Mitteilungspflichten, einschließlich derjenigen betreffend die Mehrwertsteuer, erhebliche Einnahmen entgangen, was die Einleitung eines Strafverfahrens rechtfertige. In den §§ 2 und 4 Skattebrottslagen ist die Herrn Fransson vorgeworfene Straftat mit Freiheitsstrafe von bis zu sechs Jahren bedroht.

17.      Der Sachverhalt, auf den die Staatsanwaltschaft ihre Anklage stützt, ist nach den Angaben des vorlegenden Gerichts derselbe, auf dessen Grundlage das Skatteverk am 24. Mai 2007 die verwaltungsrechtliche Sanktion verhängte.

18.      Am 23. Dezember 2010 hat das Haparanda tingsrätt das Strafverfahren gegen Herrn Fransson ausgesetzt, nachdem es einen Bezug zum Unionsrecht, konkret zu Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in dem das Verbot der Doppelbestrafung verankert ist, festgestellt hatte.

IV – Das Verfahren vor dem Gerichtshof

19.      Am 27. Dezember 2010 ist beim Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen des Haparanda tingsrätt mit den wie folgt formulierten Fragen eingegangen:

1.      Nach schwedischem Recht muss eine klare Stütze in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK) oder in der Rechtsprechung des EGMR vorhanden sein, damit ein nationales Gericht nationale Bestimmungen unangewendet lassen kann, von denen zu befürchten ist, dass sie gegen das Verbot der Doppelbestrafung nach Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK und damit auch gegen Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 (Grundrechtecharta) verstoßen. Ist eine solche Bedingung im nationalen Recht, um nationale Bestimmungen unangewendet zu lassen, mit dem Unionsrecht vereinbar, insbesondere mit dessen allgemeinen Rechtsgrundsätzen, u. a. denen des Vorrangs und der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts?

2.      Verstößt die Prüfung der Zulassung der Anklage wegen eines Steuervergehens gegen das Verbot der Doppelbestrafung gemäß Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK und Art. 50 der Grundrechtecharta, wenn in einem früheren Verwaltungsverfahren gegen den Angeklagten wegen derselben von ihm gemachten unrichtigen Angaben eine wirtschaftliche Sanktion (Steuerzuschlag) festgesetzt worden ist?

3.      Ist es für die Beantwortung der zweiten Vorlagefrage von Bedeutung, dass diese Sanktionen in der Weise aufeinander abzustimmen sind, dass das ordentliche Gericht die Strafe im Strafverfahren unter Berücksichtigung der Tatsache herabsetzen kann, dass gegen den Angeklagten wegen derselben von ihm gemachten unrichtigen Angaben auch ein Steuerzuschlag festgesetzt wurde?

4.      Im Rahmen des in der zweiten Vorlagefrage genannten Verbots der Doppelbestrafung kann es unter bestimmten Umständen zulässig sein, in einem neuen Verfahren wegen derselben Handlung, die schon untersucht worden ist und zu Sanktionen gegen den Einzelnen geführt hat, weitere Sanktionen zu verhängen. Sind für den Fall, dass die zweite Frage bejaht wird, die Bedingungen nach dem Verbot der Doppelbestrafung für die Festsetzung mehrerer Sanktionen in getrennten Verfahren erfüllt, wenn in dem späteren Verfahren eine gegenüber dem früheren Verfahren neuerliche und selbständige Untersuchung des Sachverhalts erfolgt?

5.      Das schwedische System der Festsetzung von Steuerzuschlägen und der Prüfung der Verantwortlichkeit für Steuervergehen in getrennten Verfahren wird mit einer Reihe von im Allgemeininteresse liegenden Gründen gerechtfertigt, die unten näher dargelegt sind. Ist für den Fall, dass die zweite Frage bejaht wird, ein System wie das schwedische mit dem Verbot der Doppelbestrafung vereinbar, wenn es möglich wäre, ein System einzuführen, das vom Verbot der Doppelbestrafung nicht erfasst würde, ohne dass auf die Festsetzung von Steuerzuschlägen und die Prüfung der Verantwortlichkeit für Steuervergehen verzichtet werden müsste, indem in den Fällen, in denen es um die Verantwortlichkeit für Steuervergehen geht, die Entscheidung über die Festsetzung eines Steuerzuschlags vom Skatteverk oder gegebenenfalls dem Verwaltungsgericht auf das ordentliche Gericht übertragen wird, das diese Entscheidung im Zusammenhang mit seiner Prüfung der Zulassung der Anklage wegen eines Steuervergehens trifft?

20.      Das Königreich Schweden, das Königreich der Niederlande, das Königreich Dänemark, die Tschechische Republik, die Republik Österreich und Irland sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

21.      Die mündliche Verhandlung vor dem Gerichtshof fand am 24. Januar 2012 statt. Die Vertreter von Herrn Fransson und die Bevollmächtigten der Tschechischen Republik, des Königreichs Dänemark, der Bundesrepublik Deutschland, Irlands, der Hellenischen Republik, der Französischen Republik und des Königreichs der Niederlande sowie der Europäischen Kommission haben mündliche Ausführungen gemacht.

V –    Zuständigkeit des Gerichtshofs

22.      Sowohl die Staaten, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben (mit Ausnahme Österreichs), und diejenigen, die nur mündliche Ausführungen gemacht haben (Deutschland und Frankreich), als auch die Kommission haben, ebenso wie die Staatsanwaltschaft im Ausgangsverfahren, die Ansicht vertreten, dass die Antwort auf die Problematik, die die Gewährleistung des Verbots der Doppelbestrafung hervorruft, nicht im Unionsrecht zu suchen ist und dass der Gerichtshof nicht um eine solche Antwort ersucht werden kann. Konkreter ausgedrückt: Die streitige Frage ist nicht anhand von Art. 50 der Charta zu beantworten. Aufgrund dessen ist die Diskussion über das grundlegende Problem, also das Problem des Inhalts und der Tragweite dieses Grundsatzes im Recht der Union, häufig übergangen worden und dadurch verarmt.

23.      Die vorrangig diskutierte Frage betrifft zweifellos die Zuständigkeit des Gerichtshofs unter den genannten Voraussetzungen. Damit sieht sich der Gerichtshof erneut vor eine Problematik gestellt, bei der das Ersuchen um klare Kriterien für die Bestimmung der Tragweite des Ausdrucks „Anwendung des Rechts der Union durch die Mitgliedstaaten“ nur in der Schwierigkeit, ihm nachzukommen, eine Parallele findet(3). 

24.      Im Folgenden will ich dem Gerichtshof lediglich einige Lösungsansätze zur Erörterung vorlegen, die die unterschiedlichen und mannigfaltigen Ansätze ergänzen, die insbesondere die Generalanwälte in der letzten Zeit vorgeschlagen haben(4). Ich bin der Meinung, dass die vorliegende Rechtssache die Möglichkeit bietet, einige Argumente einzuführen, die zur Entwicklung der Rechtsprechung, die nicht von heute auf morgen abgeschlossen sein wird, beitragen können.

A –    Allgemeiner Lösungsansatz

1.      Eine abstrakte „Situation“: die „Anwendung“ des Rechts der Union durch die Mitgliedstaaten

25.      Wie ich bereits ausgeführt habe, besteht das grundlegende Argument, das von allen Prozessbeteiligten übereinstimmend vertreten wird, darin, dass der bzw. die in Art. 51 der Charta kategorisch vorgesehene Umstand bzw. Voraussetzung, wonach diese für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt, nicht gegeben ist. Das Bindeglied zwischen dieser Bestimmung und der sich bis dahin ausschließlich aus der Rechtsprechung ergebenden Grundlage für diese Regel wird an der entsprechenden Erläuterung der Charta deutlich(5). Die Erläuterungen deuten, soweit sie beachtlich sind, im Hinblick auf die Beziehung zwischen dieser Rechtsprechung und ihrer Ausprägung in der Charta mithin eher auf eine Kontinuität als auf eine Konfrontation hin. Dies ist meiner Meinung nach mit gewissen Nuancierungen zutreffend.

26.      Unabhängig davon gab es seit der ursprünglichen Verkündung der Charta in Nizza eine Vielzahl von Überlegungen, die auf ein Spannungsverhältnis zwischen dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs, sei es auf dem Stand von 2000 oder auf dem Stand von 2007(6), und der zitierten Bestimmung verwiesen. Die „Durchführung“ (als Kategorie nach der Charta) und der „Anwendungsbereich“ (als Rechtsprechungskategorie) sind als die Begriffe genannt worden, in denen das genannte Spannungsverhältnis zum Ausdruck komme(7). 

27.      An diesem Punkt angekommen sollten die verschiedenen als nicht qualitativ unterschiedliche Begriffe verwendeten Formulierungen untersucht werden. Selbstverständlich sind Nuancen zwischen ihnen erkennbar. Die Umrisse sind jedoch immer ungenau. Insbesondere betreffen die beiden zitierten Formulierungen nach meinem Verständnis eine Situation, in der – wobei die Staaten immer einen Wertungsspielraum haben, so dass eine mögliche Rechtsverletzung nicht in begründeter Weise der Union zugerechnet werden kann – die Präsenz des Rechts der Union nachhaltig genug ist, um die Prüfung ihrer Vereinbarkeit mit dem Recht der Union und mithin durch den Gerichtshof rechtfertigen zu können.

28.      Damit soll vor allem zum Ausdruck gebracht werden, dass die Rechtmäßigkeit der Kontrolle beim Fehlen eines Ermessensspielraums (damit wir uns richtig verstehen: der Bosphorus-Fall)(8) selbstverständlich nicht in Rede steht. Es handelt sich hier eher um Fälle der Wiedergabe als der Durchführung.

29.      Jedenfalls begründet die „Durchführung“ für sich genommen im Hinblick auf die Verteilung der Zuständigkeiten im Rahmen der Gewährleistung der Grundrechte einen Horizont, der im Wesentlichen fließend ist. Nachdem der Grundsatz festgestellt ist, dass in gewissen Fällen die mehr oder weniger autonomen Ausdrucksformen der öffentlichen Gewalt der Mitgliedstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten, wie sie in der Union gelten, durch die höchste zu ihrer Auslegung berufene Instanz – den Gerichtshof – geprüft werden müssen, stellt sich sogleich die Frage nach der Tragweite dieses Grundsatzes.

30.      Meiner Ansicht nach hat der Gerichtshof die Frage, in welchen Fällen eine „zentralisierte“ Kontrolle des Handelns der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Grundrechte vorzunehmen ist, anfänglich einzelfallbezogen beantwortet. Dadurch konnte eine geringe Zahl von „Konstellationen“ identifiziert werden, die allgemein bekannt sind sowie wiederholt kommentiert und unterschiedlich bewertet wurden(9). 

31.      Jedenfalls gab es, möglicherweise aufgrund dieses punktuellen Ursprungs der Rechtsprechung, nie eine wirklich starke Begründung in dem Sinne, dass sie hinreichend abstrakt war. Dafür kann es unterschiedliche Gründe geben, und dies ist nicht der Zeitpunkt, um auf sie einzugehen.

32.      Auch im Urteil ERT, das als Drehachse zwischen der Identifizierung eines mehr oder weniger definierten „Falls“ (Aufhebung von Freiheiten) und dem Schritt zu sich verfestigenden Fallgruppen des Unionsrechts („Bereich“, „Anwendungsbereich“, „Anwendung“) erscheint, erfolgte keine nähere Erklärung.

33.      Eine abstrakte Beschreibung des Phänomens, mit dem wir befasst sind, veranlasst mich zu der Feststellung, dass ein gemeinsames Merkmal der unterschiedlichen Formulierungen in dem Erfordernis einer Präsenz des Rechts der Union im Ursprung der Ausübung öffentlicher Gewalt liegt; eine Präsenz – muss man hinzufügen – im Sinne eines Rechts, also mit der Fähigkeit, mehr oder weniger den Inhalt dieser Ausdrucksformen öffentlicher Gewalt im Mitgliedstaat zu bestimmen oder zu beeinflussen. „Präsenz“ entspricht jedoch niemals „Prädetermination“, da Letztere unproblematisch sein dürfte(10). 

34.      Zusammenfassend ist keine der genannten Formulierungen („Bereich“, „Anwendungsbereich“, „Anwendung“) für sich geeignet, die Tragweite dieser grundsätzlichen Feststellung zu beeinträchtigen. So gesehen haben sie wenig mit dem Gedanken der lex stricta zu tun, wenn dieses Erfordernis für sie gilt. Im Gegenteil weisen sie sämtliche Vor- und Nachteile einer im Wesentlichen offenen Formulierung auf. Das in Rede stehende Partikel „ausschließlich“ in Art. 51 Abs. 1 der Charta führt auch nicht besonders weit: Möglicherweise dient es einer gewissen Prävention gegenüber einem in die Zukunft gerichteten Verständnis, möglicherweise kommt in ihm eine optimistische Vorstellung hinsichtlich der semantischen Fähigkeiten des Verbs „durchführen“ zum Ausdruck.

2.      Ein Vorschlag zum Verständnis: eine Regel-Ausnahme-Beziehung

35.      Nach meiner Auffassung ist bei einem zutreffenden Verständnis der grundlegenden Verfassungsstruktur des von der Union und den Staaten gebildeten Komplexes, der als europäischer „Verfassungsverbund“ bezeichnet wurde(11), die Kontrolle von Handlungen der öffentlichen Gewalt der Mitgliedstaaten, bei denen ein Wertungsspielraum besteht, regelmäßig Sache der Staaten im Kontext ihrer verfassungsmäßigen Ordnung und ihrer internationalen Verpflichtungen.

36.      Von dieser Regel besteht jedoch eine unbestreitbar bedeutsam gewordene Ausnahme, nämlich die Fälle, in denen die nationale öffentliche Gewalt das europäische Recht anwendet, so wie es heute in der Charta formuliert ist. Die Wahrnehmung der dialektischen Beziehung zwischen beiden Szenarien im Sinne einer Regel-Ausnahme-Beziehung ist meiner Meinung nach auch heute gerechtfertigt.

37.      Die Folge besteht darin, dass die Übernahme der Gewährleistung der Grundrechte bei der Ausübung der öffentlichen Gewalt der Staaten durch die Union in diesen Fällen als Verlagerung im Sinne einer Übertragung der ursprünglichen Verantwortung der Staaten für diese Gewährleistung auf die Union zu prüfen ist.

38.      Zweifellos wandelt sich der Inhalt des Unionsrechts im Laufe der Zeit, und diese Wandlung determiniert unerbittlich und legitim den Umfang der Ausnahme. Doch bildet der Grundsatz als solcher, solange der Begriff Verfassungsverbund Sinn hat, um die Union verfassungsrechtlich zu beschreiben, eine Ausnahme von der Regel. Ein Verständnis dieser Ausnahme, das die potenzielle Möglichkeit umfasst, dass sie zur Regel werden kann, entspricht meiner Ansicht nach nicht dem soeben dargestellten Grundgedanken.

39.      Infolgedessen bin ich der Auffassung, dass der grundlegende, aber unbestimmte Gedanke, dass die Charta für die Mitgliedstaaten „bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt, derzeit einer ergänzenden Rationalisierungsbemühung der Unionsgerichte bedarf. Diese Bemühung wird seit jeher gefordert, und es mangelt insoweit nicht an Vorschlägen seitens der Lehre(12). 

3.      Ein Fundament: ein spezifisches Interesse der Union

40.      Ich bin der Auffassung, dass die Zuständigkeit der Union für die Gewährleistung der Grundrechte im Hinblick auf die Ausübung öffentlicher Gewalt durch die Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Unionsrecht mit einem spezifischen Interesse der Union daran zu erklären ist, dass sie mit dem Grundrechtsverständnis der Union im Einklang steht. Der bloße Umstand, dass sie letztlich auf das Unionsrecht zurückgeht, reicht für sich nicht für die Annahme eines Falls der „Durchführung“ aus.

41.      Ich glaube letztlich, dass es legitim ist, dass in Situationen, die schwer vorab genau beschrieben werden können, das Interesse der Union zählt, ihr Gepräge und ihre Grundrechtsvorstellungen vorrangig gegenüber den einzelnen Mitgliedstaaten durchzusetzen. Dieses Interesse der Union findet seine Stütze vor allem in der Präsenz oder sogar dem Protagonismus des Unionsrechts im nationalen Recht in der jeweiligen Fallkonstellation. Letztendlich handelt es sich um Sachverhalte, in denen die Legitimität der europäischen res publica auf dem Spiel stehen kann, und diese Überlegung erfordert eine angemessene Antwort.

4.      Eine Argumentationsweise: der Ort der Kategorien und der Ort der Kasuistik

42.      Im Wesentlichen kommt dem Gerichtshof die Aufgabe zu, eine Begründung zu liefern und insbesondere Regeln vorzuschlagen, die der Legitimität der Rechtsprechungstätigkeit dienen.

43.      Mit anderen Worten: Die Kategorie „Durchführung des Rechts der Union“ als Grundlage für das Ansichziehen der Grundrechtskontrolle hinsichtlich der Tätigkeit der nationalen Behörden erfordert meiner Meinung nach eine Rechtsprechung, die eine Aussage mit wandelbarem Charakter ? so wie die, mit der wir hier befasst sind ? ergänzt und letztendlich ordnet.

44.      Konkreter: Wenn die Berufung auf eine bestimmte Rechtslage im Sinne einer „Durchführung des Rechts der Union“ bzw. ihre bloße Feststellung unbefriedigend erscheint, liegt dies daran, dass hinter ihr das Fehlen eines Gesichtspunkts oder eines Faktors erkennbar wird, der eine derart identifizierte Situation qualifiziert. Zusammenfassend kommt die vorstehende Erwägung einer Aufforderung zu einer ausdrücklichen Begründung in Fällen, in denen die Verlagerung der Funktion und der Verantwortlichkeit bei der Gewährleistung der Grundrechte von den Staaten zur Union erfolgen muss, gleich, die jedenfalls weitreichender sein muss als die bislang erfolgte.

45.      Gleichzeitig, und obwohl es widersinnig erscheinen mag, halte ich es für erforderlich, parallel hierzu die Prüfung der Besonderheiten des Falls, letztendlich der richtig verstandenen Kasuistik, zu vertiefen. Konkret dürfte die Feststellung, ob ein bestimmter Fall als Fall der Durchführung des Unionsrechts verstanden werden muss, häufig das Ergebnis der Abwägung einer Reihe den Fall gestaltender Faktoren sein. Je geringfügiger die richterliche Tatbestandsbildung der Fälle einer Verlagerung der Verantwortlichkeit ist, desto mehr Aufmerksamkeit muss das Gericht den Besonderheiten des Falls widmen.

46.      Zusammenfassend bin ich der Ansicht, dass der Sinn einer Klausel wie Art. 51 Abs. 1 der Charta, die sich durch ihre Offenheit charakterisiert, einer grundlegenden Bestimmung bedarf. Dazu sind zunächst die unterschiedlichen Fälle zu bestimmen, in denen die Verlagerung der Gewährleistung der Grundrechte von den Staaten zur Union grundsätzlich gerechtfertigt sein kann. Sodann sollte eine Abwägung der konkreten Umstände des Einzelfalls die Bildung eines endgültigen und abschließenden Urteils hinsichtlich der Zuweisung der Verantwortlichkeit für die Gewährleistung an die Union bzw. die Staaten ermöglichen.

B –    Die Antwort auf das Problem der Zuständigkeit im vorliegenden Fall

47.      Beim Versuch, die vorstehenden Vorschläge auf den vorliegenden Fall zu übertragen, sollte zuerst das betroffene Grundrecht der Union und das in seinem Licht zu prüfende Handeln der staatlichen Behörden betrachtet werden, bevor auf den Grad des Zusammenhangs zwischen ihnen eingegangen wird.

1.      Das in Rede stehende Grundrecht

48.      An dieser Stelle sollte die Aufmerksamkeit auf eine Erwägung gerichtet werden, die zwar systematisch, aber geeignet ist, dem Gedankengang eine Richtung zu geben. Es muss berücksichtigt werden, dass der Grundsatz des Verbots der Doppelbestrafung heutzutage in der Charta, konkret in Art. 50, verankert ist. Die Kodifizierung der Grundrechte der Union, so sehr sie auch neben den anderen Elementen des Art. 6 EUV besteht, hat einzigartige Konsequenzen. Insbesondere werden anhand der Charta Sinnzusammenhänge sichtbar, die in einem vorherrschend durch die Rechtsprechung geprägten Rechtssystem bis zu einem gewissen Grad im Dunkeln bleiben.

49.      Das System der Charta, um noch konkreter zu werden, erschwert eine ungleiche Behandlung der in Art. 50 verankerten Garantie gegenüber den übrigen zahlreichen materiellen und formellen Garantien, die in den Artikeln des Titels VI der Charta niedergelegt sind, d. h. den Art. 47 bis 50 mit den Überschriften „Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“ (Art. 47), „Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte“ (Art. 48) und „Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen“ (Art. 49), erheblich.

2.      Ein besonderer Bereich für die Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben: die Strafgewalt

50.      Als Ausgangspunkt ist festzustellen, dass der so häufig als solcher anerkannte Bereich der Wahrnehmung der Strafgewalt der Mitgliedstaaten mit einer wirksamen causa im Unionsrecht auf Rechtstitel zurückgeht, die im Hinblick auf das Interesse der Union nicht ohne Weiteres in Frage gestellt werden können.

51.      Wir bewegen uns im Kontext der „Strafgewalt“ der Staaten, die ihren Ursprung letztendlich im Recht der Union hat, ein Fall, in dem die Rechtsprechung nicht eben wenige Regeln zur Verfügung stellt, wie in der mündlichen Verhandlung wieder einmal deutlich wurde. So hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass bei der Wahrnehmung der Strafgewalt durch die Staaten die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts zu beachten sind, deren Tragweite logischerweise durch ihn auszulegen ist(13). Es liegt auf der Hand, dass zu diesen Grundsätzen heutzutage die Grundrechte, so wie sie heute in der Charta niedergelegt sind, zählen.

3.      Der Umfang der Verlagerung der Gewährleistung des Verbots der Doppelbestrafung von den Staaten zur Union

52.      Vor diesem Hintergrund lautet die Frage: Ist die Forderung nach Beachtung dieser Grundsätze bei der Wahrnehmung der Strafgewalt als Forderung nach einer allgemeinen Verlagerung sämtlicher oben genannter Garantien, die gemeinsam mit dem Verbot der Doppelbestrafung den Titel VI der Charta bilden, zu den Unionsgerichten zu verstehen?

53.      Meiner Ansicht nach legitimiert die Strafgewalt der Staaten mit Ursprung im Unionsrecht die Verlagerung der Verantwortlichkeit für die Gewährleistung der Rechte. Auch wenn die Sanktionierung von individuellen Verhaltensweisen, die gegen das Unionsrecht verstoßen, häufig in den Händen der Mitgliedstaaten verblieben ist, kann nicht behauptet werden, der Union fehle es an jeglichem Interesse daran, dass die Wahrnehmung dieser Strafgewalt unter Beachtung der Grundprinzipien einer Rechtsgemeinschaft wie der Union erfolge.

54.      Angesichts dessen ist die Ergänzung und Vervollständigung des Legitimationsprinzips um eine Reihe von Argumenten, die sich aus den Umständen des Einzelfalls ergeben, unumgänglich. Mit anderen Worten: Ich bin der Ansicht, dass die reine Feststellung, dass eine bestimmte Wahrnehmung staatlicher Strafgewalt letztendlich auf eine unionsrechtliche Bestimmung zurückgeht, für sich nicht ausreicht, um die Kontrolle sämtlicher verfassungsrechtlicher Garantien, die bei der Wahrnehmung der Strafgewalt in den Staaten zu beachten sind, auf die Union verlagern zu können.

55.      Die vorstehenden Erwägungen veranlassen mich zu der Feststellung, dass die Bestimmung der Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Feststellung, ob das Verbot der Doppelbestrafung im vorliegenden Fall hinreichend beachtet wird, von einer Betrachtung der in Rede stehenden Materie ausgehen muss, also der staatlichen Verfolgungstätigkeit mit Ursprung im Unionsrecht, die nur anfänglich und grundsätzlich für eine bejahende Antwort sprechen würde. Dessen ungeachtet kann die Frage nur anhand einer aufmerksamen Prüfung sowohl des geltend gemachten Grundrechts als auch der Umstände des Einzelfalls abschließend beantwortet werden.

4.      Schlussfolgerung: ein von der „Durchführung des Rechts der Union“ nicht umfasster Sachverhalt

56.      Die Darstellung und die Begründung der Vorlagefrage durch das vorlegende Gericht sind zumindest irritierend. Als einschlägige Bestimmungen des Unionsrechts werden im Vorlagebeschluss lediglich Art. 6 EUV und Art. 50 der Charta angeführt, ohne dass überhaupt der Versuch unternommen wird, das Unionsrecht zu identifizieren, um dessen „Durchführung“ durch den Staat es letztendlich geht. Noch irritierender ist es, wenn das vorlegende Gericht feststellt, das schwedische Recht sei nicht zur Umsetzung von Unionsrecht erlassen worden oder die Antwort könne jedenfalls in anderen Fällen nützlich sein, so dass es von Vorteil sei, schon vorab über eine Antwort des Gerichtshofs zu verfügen(14). 

57.      Neben den Zweifeln des vorlegenden Gerichts besteht die grundlegende Frage, die zu prüfen ist, in der Verbindung zwischen dem Unionsrecht ? in diesem Fall zweifelsohne der Mehrwertsteuerrichtlinie ? und der Situation, die in dem Mitgliedstaat infolge der dort vorherrschenden Auffassung hinsichtlich der Tragweite des Verbots der Doppelbestrafung geschaffen wurde. Es darf nicht übersehen werden, dass der Grad des Zusammenhangs zwischen dem grundsätzlich „angewendeten“ Unionsrecht und der Ausübung hoheitlicher Befugnisse des Staats die Prämisse für die Feststellung eines Interesses der Union, das Grundrecht im konkreten Fall zu gewährleisten, darstellt. Dieser Zusammenhang ist meiner Ansicht nach äußerst schwach und reicht keineswegs aus, um ein eindeutig feststellbares Interesse der Union an der Gewährleistung dieses konkreten Grundrechts gegenüber der Union zu begründen.

58.      Aus der Richtlinie 2006/112 ergibt sich lediglich die Verpflichtung zu einer effizienten Mehrwertsteuererhebung(15). Es liegt auf der Hand, dass in unseren Gesellschaften die Bekämpfung von Verstößen gegen steuerliche Pflichten eine unumgängliche Voraussetzung für eine effiziente Wahrnehmung der Besteuerungsbefugnis darstellt. Als logische Folge muss der Mitgliedstaat sein allgemeines Steuersystem einschließlich der Sanktionsregeln in den Dienst der Mehrwertsteuererhebung stellen, wie er auch seine eigene Steuerverwaltung in ihren Dienst stellen muss.

59.      Die gesetzlichen Bestimmungen, auf die sich sowohl die Sanktionsgewalt der Verwaltung wie das ius puniendi im eigentlichen Sinne stützen, fügen sich klar in diese Logik ein: In diesem Fall wird allgemein die Unrichtigkeit der Angaben der Steuerpflichtigen gegenüber der Finanzverwaltung bekämpft, und zwar als wesentliche Prämisse der Sanktionsregelung. Es ist dieser Bestandteil des schwedischen Steuersystems, der in den Dienst der Mehrwertsteuererhebung gestellt wird.

60.      Derart formuliert geht die Frage dahin, ob das Phänomen einer unmittelbar durch das Unionsrecht motivierten staatlichen Rechtsetzungstätigkeit dem hier vorliegenden Phänomen gleichgestellt werden kann, dass das staatliche Recht in den Dienst der vom Unionsrecht vorgegebenen Ziele gestellt wird, ob also beide Fälle aus der Sicht des qualifizierten Interesses der Union an der unmittelbaren und zentralisierten Übernahme der Gewährleistung dieses Rechts gleichgestellt werden können.

61.      Ich bin der Ansicht, dass bei der Untersuchung dieser delikaten Materie der Unterschied zwischen der mehr oder weniger nahen causa und der reinen occasio erkennbar sein muss. Das Problem bei der Konzeption der Reichweite des Verbots der Doppelbestrafung im schwedischen Recht ist, soweit es besteht, ein allgemeines Problem der Architektur seines Sanktionsrechts, das als solches völlig unabhängig von der Mehrwertsteuererhebung besteht und bei dem sich der vorliegende Fall der Bekämpfung eines Verhaltens, das in falschen Angaben besteht, als eine einfache occasio darstellt.

62.      Angesichts dessen besteht die Frage darin, ob diese occasio zur Folge hat, dass letztendlich der Gerichtshof mit unvermeidbar allgemeinen Folgen über die Reichweite des Verbots der Doppelbestrafung in der schwedischen Rechtsordnung mit Vorrang gegenüber dem, was sich aus ihren verfassungsrechtlichen Strukturen und ihren internationalen Verpflichtungen ergibt, entscheiden muss.

63.      Meiner Ansicht nach wäre es unverhältnismäßig, aus dieser occasio eine Verlagerung der Verteilung der Verantwortlichkeit für die Gewährleistung der Grundrechte zwischen der Union und den Staaten herzuleiten. Genauso, wie es mir unverhältnismäßig erscheinen würde, wenn Fragen wie die nach einer angemessenen Verteidigung, dem ausreichenden Beweiswert oder andere in Titel VI der Charta enthaltene Fragen vorgelegt worden wären. Letztendlich halte ich die Feststellung für gefährlich, dass durch eine Norm wie Art. 273 der Richtlinie 2006/112 eine vollständige Verlagerung der verfassungsrechtlichen Garantien, die der Ausübung der Strafgewalt der Staaten zugrunde liegen, vorweggenommen wird, wenn es um die Mehrwertsteuererhebung der Staaten der Union geht.

64.      Ich bin daher der Ansicht, dass die Frage, die das vorlegende Gericht nach Abwägung sämtlicher Umstände des Falls dem Gerichtshof vorlegt, nicht als Fall der Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta einzustufen ist. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, sich für die Beantwortung der Frage für unzuständig zu erklären.

65.      Sollte der Gerichtshof hingegen der Auffassung sein, dass er für eine Entscheidung in der Sache zuständig ist, schlage ich im Folgenden subsidiär Antworten auf die Vorlagefragen des Haparanda tingsrätt vor.

VI – Die Vorlagefragen

66.      Die fünf Vorlagefragen des nationalen Gerichts können auf zwei reduziert werden. Im Folgenden wird dargelegt, dass die zweite, die dritte, die vierte und die fünfte Frage sich auf die Anwendung des in Art. 50 der Charta niedergelegten Verbots der Doppelbestrafung auf Fälle einer gleichzeitigen verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Ahndung durch die Mitgliedstaaten konzentrieren. Die erste Vorlagefrage, die zuletzt zu beantworten ist, betrifft die vom Obersten Gerichtshof Schwedens geforderten Voraussetzungen für die Anwendung der EMRK und der Charta durch die schwedischen Gerichte.

A –    Die zweite, die dritte, die vierte und die fünfte Vorlagefrage

1.      Umformulierung und Zulässigkeit

67.      Wie soeben ausgeführt wurde, betreffen die zweite, die dritte, die vierte und die fünfte Vorlagefrage des Haparanda tingsrätt die Auslegung von Art. 50 der Charta. Insbesondere wird in der zweiten Frage Bezug genommen auf die Subsumtion desselben Sachverhalts im Hinblick auf das Verbot der Doppelbestrafung, d. h. die Feststellung, dass über dasselbe Verhalten erneut entschieden wird. Die dritte und die vierte Frage konzentrieren sich auf den prozessualen Aspekt des Verbots der Doppelbestrafung, der im Verbot von zwei Prozessen besteht. Die fünfte Frage ist eher hypothetisch formuliert, denn sie nimmt als Bezugsparameter auf eine gegenüber der in Schweden geltenden alternative Regelung Bezug.

68.      Ich bin der Ansicht, dass die zweite, die dritte und die vierte Vorlagefrage gemeinsam beantwortet werden können. Die drei Fragen beziehen sich auf verschiedene Aspekte desselben Grundrechts, auf die ich im Folgenden eingehen werde, jedoch nur soweit sie integrierender Bestandteil des Verbots der Doppelbestrafung sind. Letztendlich möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es mit diesem Grundsatz, so wie er in Art. 50 der Charta niedergelegt ist, vereinbar ist, dass ein Mitgliedstaat bei der Anwendung von Unionsrecht aufgrund desselben Sachverhalts sowohl eine verwaltungsrechtliche als auch eine strafrechtliche Sanktion verhängt.

69.      Die fünfte Frage ist hingegen unzulässig. Das vorlegende Gericht fragt, ob die schwedische Regelung mit Art. 50 der Charta im Hinblick auf eine hypothetische alternative Regelung einer strafrechtlichen Vorfrage (die es zurzeit in Schweden nicht gibt) vereinbar ist. Die Beantwortung dieser Frage würde dazu führen, dass der Gerichtshof indirekt zu einer in der schwedischen Rechtsordnung nicht existierenden nationalen Maßnahme Stellung nehmen müsste. Der hypothetische Charakter der Frage würde zu einer Entscheidung des Gerichtshofs führen, die eher einem Rat gleichkommt als einer Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen, also etwas, das die Rechtsprechung mehrfach abgelehnt hat(16). Ich schlage dem Gerichtshof deshalb vor, die fünfte Frage für unzulässig zu erklären.

2.      Prüfung der zweiten, der dritten und der vierten Vorlagefrage

70.      Die Frage des Haparanda tingsrätt ist äußerst komplex und nicht weniger heikel als die soeben behandelte Frage. Auf der einen Seite handelt es sich bei der gleichzeitigen verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Ahndung um eine in den Mitgliedstaaten verbreitete Praxis, insbesondere in Bereichen wie dem Steuerrecht, den Umweltschutzpolitiken und der öffentlichen Sicherheit. Allerdings ist die Art und Weise der Zusammenziehung der Sanktionen zwischen den Rechtsordnungen sehr unterschiedlich und weist in jedem Mitgliedstaat spezifische und ihm eigene Besonderheiten auf. In den meisten Fällen werden diese Besonderheiten eingeführt, um die Folgen einer zweifachen Bestrafung durch die öffentliche Gewalt zu mildern. Auf der anderen Seite hat, wie wir sogleich sehen werden, der EGMR erst neulich hierzu Stellung genommen und bestätigt, dass solche Praktiken entgegen dem ersten Anschein gegen das in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 der EMRK niedergelegte Verbot der Doppelbestrafung verstoßen. Allerdings haben nicht alle Mitgliedstaaten diese Bestimmung ratifiziert bzw. Vorbehalte oder Auslegungserklärungen abgegeben. Im Ergebnis dieser Situation wird die Pflicht zur Auslegung der Charta im Licht der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR (Art. 52 Abs. 3 der Charta) in gewisser Weise asymmetrisch und stellt ihre Anwendung auf den Fall vor erhebliche Probleme.

a)      Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK und die hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR

i)      Unterzeichnung und Ratifizierung von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK

71.      Das Verbot der Doppelbestrafung war nicht von Anfang an ausdrücklich in der EMRK geregelt. Es wurde durch das Protokoll Nr. 7, das am 22. November 1984 zur Unterzeichnung aufgelegt wurde und am 1. November 1988 in Kraft trat, in die EMRK aufgenommen. Neben anderen Rechten regelt Art. 4 das Verbot der Doppelbestrafung mit dem sich aus den Erläuterungen des Europarats zum Protokoll ergebenden Ziel, dem Grundsatz zum Ausdruck zu verhelfen, nach dem niemand wegen einer Straftat, wegen der er bereits rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut abgeurteilt werden darf.

72.      Im Gegensatz zu anderen in der EMRK niedergelegten Rechten ist das in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK vorgesehene Recht von den Unterzeichnerstaaten der Konvention u. a. von mehreren Mitgliedstaaten der Union nicht einstimmig angenommen worden. Zum Zeitpunkt der Verlesung dieser Schlussanträge ist das Protokoll Nr. 7 von Deutschland, Belgien, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich noch nicht ratifiziert worden. Von den Staaten, die es ratifiziert haben, hat Frankreich einen Vorbehalt zu Art. 4 des Protokolls erklärt und seine Anwendbarkeit auf Straftaten beschränkt(17). Ebenso haben bei der Unterzeichnung Deutschland, Österreich, Italien und Portugal Erklärungen abgegeben, die auf denselben Umstand zielen: die beschränkte Tragweite von Art. 4 des Protokolls Nr. 7, dessen Schutz ausschließlich eine doppelte „strafrechtliche“ Sanktion im Sinne des innerstaatlichen Rechts umfasst(18). 

73.      Die vorstehenden Ausführungen zeigen klar und deutlich, dass zwischen den Mitgliedstaaten der Union erhebliche Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Probleme infolge einer zweifachen verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Ahndung bestehen. Der problematische Charakter des Gesamtbilds wird bestärkt, wenn wir die Verhandlungen über den zukünftigen Beitritt der Union zur EMRK betrachten, in deren Rahmen die Staaten und die Union beschlossen haben, vorläufig die Protokolle zur EMRK einschließlich des hier in Rede stehenden auszuschließen(19).

74.      Dieser fehlende Konsens kann in seinem Ursprung auf die Bedeutung der verwaltungsrechtlichen Instrumente zur Ahndung von Verstößen sowie auf die herausragende Bedeutung, die in diesen Mitgliedstaaten dem Strafprozess und den strafrechtlichen Sanktionen gleichzeitig verliehen wurde, zurückgeführt werden. Auf der einen Seite wollen die Staaten nicht auf die Effizienz verzichten, die die verwaltungsrechtlichen Sanktionen charakterisiert, insbesondere in Bereichen, in denen die öffentliche Gewalt an der Sicherstellung einer gewissenhaften Befolgung des Rechts interessiert ist, wie im Steuerrecht oder dem Recht der öffentlichen Sicherheit. Auf der anderen Seite sind die Staaten aufgrund des außerordentlichen Charakters strafrechtlichen Eingreifens sowie der Garantien, die der Angeklagte während des Prozesses genießt, geneigt, sich einen Ermessensspielraum hinsichtlich der strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen vorzubehalten. Dieses doppelte Interesse an der Aufrechterhaltung einer dualen verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Strafgewalt erklärt, dass zur Zeit eine große Zahl von Mitgliedstaaten es auf die eine oder andere Weise ablehnt, sich der Rechtsprechung des EGMR zu unterwerfen, die sich, wie ich im Folgenden untersuchen werde, in eine Richtung entwickelt hat, die diese Dualität praktisch ausschließt.

ii)    Die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK

75.      Die Behandlung von Fällen zweifacher verwaltungsrechtlicher und strafrechtlicher Sanktionen im EMRK-System hat seit dem Inkrafttreten des Protokolls Nr. 7 eine bedeutende Entwicklung erfahren und besteht aus drei Elementen, die ich an dieser Stelle untersuchen werde: die Definition des Strafverfahrens, die Identität tatbestandsmäßiger Verhaltensweisen und die doppelte Anklage.

76.      Erstens hat der EGMR den Begriff „Strafverfahren“ frühzeitig unter Rückgriff auf die sogenannten Engel-Kriterien ausgelegt, um die Garantien der Art. 6 und 7 EMRK auf Sanktionen der öffentlichen Gewalt auszuweiten, die formell als verwaltungsrechtlich eingestuft waren(20). Bekanntermaßen verwendet der EGMR seit dem Urteil Engel drei Kriterien für die Feststellung, ob eine bestimmte Sanktion strafrechtlichen Charakter im Sinne der Art. 6 und 7 EMRK hat: die Einstufung des Verstoßes im nationalen Recht, die Natur des Verstoßes und die Intensität der Sanktion, die den Rechtsbrecher trifft(21). Diese Voraussetzungen wurden auf Steuerzuschläge einschließlich des hier in Rede stehenden Zuschlags nach schwedischem Recht(22) angewendet, und der EGMR hat bestätigt, dass diese Art von Maßnahmen als „strafrechtliche“ Sanktion im Sinne der Art. 6 und 7 EMRK und im weiteren Sinne des Art. 4 ihres Protokolls Nr. 7 zu verstehen sind(23).

77.      Zweitens, und bereits im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Verbot der Doppelbestrafung, hat der EGMR nach anfänglicher Unentschlossenheit bestätigt, dass dieses Verbot sich auf Strafen bezieht, die denselben Sachverhalt betreffen, und nicht auf ein Verhalten, das von den Bestimmungen, die die Verstöße definieren, in gleicher Weise qualifiziert ist. Während dieser zweite Standpunkt, der eindeutig formalistisch ist und den Anwendungsbereich von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK einschränkt, in mehreren Urteilen erkennbar ist, die nach seinem Inkrafttreten ergangen sind(24), hat die Große Kammer des EGMR im Jahr 2009 den ersten Ansatz in dem Urteil in der Rechtssache Zolotukhin/Russland bestätigt(25). In dieser Rechtssache hat der EGMR ohne Umschweife festgestellt, dass Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK dahin auszulegen ist, dass er einer Anklage aufgrund eines zweiten Verstoßes entgegensteht, wenn sie auf denselben oder einen im Wesentlichen identischen Sachverhalt gestützt wird, der einem anderen Verstoß zugrunde liegt(26). Auf diese Weise übernimmt der EGMR eine Auffassung vom doppelten Vorwurf, wie sie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu Art. 54 des Schengener Übereinkommens entwickelt hat(27). 

78.      Drittens und abschließend stellt der EGMR im Hinblick auf die prozessuale Dimension des Verbots der Doppelbestrafung, das auch als Verbot des ne bis in idem bezeichnet wird, fest, dass nach der Feststellung des Bestehens einer Sanktion aufgrund desselben Sachverhalts ein neues Verfahren verboten ist, wenn die erste Sanktion rechtskräftig geworden ist(28). Diese Schlussfolgerung findet in denjenigen Fällen Anwendung, in denen die erste Sanktion verwaltungsrechtlichen und die zweite strafrechtlichen Charakter hat(29), aber auch in Fällen, in denen sich die Ereignisse umgekehrt abspielen(30). Schließlich hat der EGMR nach dem Eingang des vorliegenden Vorabentscheidungersuchens festgestellt, dass es unerheblich ist, wenn die erste Sanktion von der zweiten Sanktion in Abzug gebracht wird, um eine Doppelbestrafung zu mildern(31). 

79.      Im Sinne einer kurzen Wiederholung: Die Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR zeigt, dass Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK derzeit Maßnahmen zur doppelten verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Ahndung, die aufgrund desselben Sachverhalts erfolgt sind, nicht zulässt und so einer Einleitung eines zweiten Verfahrens, sei es verwaltungsrechtlichen, sei es strafrechtlichen, entgegensteht, wenn die erste Sanktion bereits rechtskräftig geworden ist. Der derzeitige Stand der Rechtsprechung, insbesondere nach den Urteilen des EGMR seit dem Urteil Zolotukhin/Russland, bestätigt das Bestehen einer schlüssigen Rechtsprechung in Straßburg. Grundsätzlich sollte diese Rechtsprechung dem vorlegenden Gericht genügend Hinweise aus der Sicht des EGMR geben, um in dem Rechtsstreit zwischen Herrn Fransson und dem schwedischen Staat entscheiden zu können.

80.      Die Probleme des vorliegend zu erörternden Falls enden hier jedoch nicht, sondern sie beginnen eher. Die vom vorlegenden Gericht offensichtlich vorgenommene Gleichsetzung von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK mit der Charta führt nämlich, wie gesagt, zu erheblichen Problemen.

b)      Das Verbot der Doppelbestrafung im Unionsrecht: Art. 50 der Charta und seine Auslegung im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK

i)      Eine teilautonome Auslegung von Art. 50 der Charta: Grenzen einer Auslegung ausschließlich im Licht der EMRK

81.      Art. 52 Abs. 3 der Charta bestimmt, dass die Rechte, die sie enthält, soweit sie den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, „die gleiche Bedeutung und Tragweite [haben], wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird“.

82.      Die vorliegende Rechtssache wirft eine neue Frage auf, die sowohl die Tragweite von Art. 52 Abs. 3 der Charta als auch die Proklamation der Rechte nach der EMRK als allgemeine Rechtsgrundsätze der Union konditioniert. Zwar ist in Art. 50 der Charta ein Recht verankert, das dem Recht entspricht, das in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK niedergelegt ist(32), doch ist der Aspekt des Verbots der Doppelbestrafung, um den es in diesem Verfahren geht, in den Unterzeichnerstaaten der EMRK alles andere als verbreitet und konsolidiert. In Nr. 72 dieser Schlussanträge habe ich bereits dargestellt, dass eine bedeutende Zahl von Mitgliedstaaten das Protokoll Nr. 7 zur EMRK nicht ratifiziert bzw. Vorbehalte erhoben oder spezifische Erklärungen zu Art. 4 abgegeben hat, um zu verhindern, dass er auf verwaltungsrechtliche Sanktionen anwendbar ist.

83.      Wie bereits ausgeführt, regeln alle Staaten der Union, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, die Befugnis der Verwaltung, Sanktionen zu verhängen. In vielen Mitgliedstaaten ist diese Befugnis mit dem ius puniendi vereinbar und kann eine zweifache verwaltungsrechtliche und strafrechtliche Ahndung zur Folge haben. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass die Mitgliedstaaten, in denen eine Doppelbestrafung möglich ist, dabei ein uneingeschränktes Ermessen haben. Im Gegenteil sehen die Staaten, die über Instrumente zur Doppelbestrafung verfügen, in den meisten Fällen eine Formel zur Vermeidung einer übermäßigen Bestrafung vor(33). So hat in Frankreich der Conseil Constitutionnel entschieden, dass die Summe der beiden Sanktionen die höchste Sanktion, die für die jeweiligen Verstöße vorgesehen ist, nicht überschreiten darf(34). Die deutschen Gerichte wenden ein einzelfallbezogenes Verhältnismäßigkeitskriterium an, um zu verhindern, dass die Summe der Sanktionen übermäßig wird(35). Andere Staaten haben eine strafrechtliche Vorfrage eingeführt, die die Verwaltungsgerichtsbarkeit dazu verpflichtet, das Verfahren bis zu einer abschließenden strafrechtlichen Entscheidung auszusetzen(36). Das Recht der Union sieht ebenfalls eine derartige Lösung vor, z. B. in Art. 6 der Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Union(37). In anderen Rechtsordnungen wie offenbar auch der schwedischen kann das Strafgericht, das in dem zweiten Verfahren entscheidet, die verwaltungsrechtliche Sanktion von der Höhe der strafrechtlichen Sanktion abziehen.

84.      Unter diesen Voraussetzungen bin ich der Ansicht, dass Art. 52 Abs. 3 der Charta notwendigerweise ein eigenständiges Profil annimmt, wenn er auf das Verbot der Doppelbestrafung angewendet wird. Um die Formulierung in Art. 6 Abs. 3 EUV zu verwenden: Die EMRK „gewährleistet“ nicht wirksam das Verbot der Doppelbestrafung in derselben Weise, wie sie den Kerninhalt der EMRK gewährleistet, der sämtliche Staaten bindet, die Partei der EMRK sind. Ich bin der Ansicht, dass es sich bei der EMRK, auf die das Primärrecht der Union verweist, um die Konvention als solche handelt, d. h. in ihrer Kombination aus zwingenden Inhalten und Inhalten, die bis zu einem gewissen Punkt vom Zufall abhängig sind. Bei der Auslegung von Verweisen auf die EMRK im Primärrecht der Union darf dieser Umstand nicht außer Acht gelassen werden.

85.      In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen bin ich der Ansicht, dass die Pflicht zur Auslegung der Charta im Licht der EMRK nuanciert werden muss, wenn das in Rede stehende Grundrecht oder einer seiner Aspekte (wie die Anwendbarkeit von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK auf die zweifache verwaltungsrechtliche und strafrechtliche Ahndung) von den Mitgliedstaaten nicht vollständig übernommen worden ist. Und obgleich unter diesen Umständen das Recht und die Rechtsprechung des EGMR zu diesem Grundrecht einen Wert darstellen, der dem Unionsrecht zugrunde liegt, bin ich der Auffassung, dass die Pflicht, das Schutzniveau der Charta dem der EMRK gleichzustellen, derselben Wirksamkeit entbehrt.

86.      Zusammenfassend wird anhand der vorliegenden Rechtssache deutlich, was passiert, wenn ein fehlender Konsens bezüglich eines Rechts des Systems der Konvention mit der breiten Präsenz und Verwurzelung der Systeme der zweifachen verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Ahndung in den Mitgliedstaaten kollidiert. Eine Präsenz und Verwurzelung im Fall der zweifachen verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Ahndung, die in ihrer Tragweite sogar als gemeinsame Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten betrachtet werden kann.

87.      Vor diesem Hintergrund bin ich der Auffassung, dass Art. 50 der Charta autonom auszulegen ist(38). Offenkundig ist der aktuelle Stand der Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen, doch muss das Schutzniveau, das der Gerichtshof beachten muss, das Ergebnis einer unabhängigen und ausschließlich auf dem Wortlaut und der Tragweite von Art. 50 der Charta beruhenden Auslegung sein.

ii)    Art. 50 der Charta und die zweifache verwaltungsrechtliche und strafrechtliche Ahndung

88.      Das Verbot der Doppelbestrafung ist im Recht der Union tief verwurzelt. Bevor das Schengener Übereinkommen und der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl es als Grenze für die Geltendmachung des Strafanspruchs der Mitgliedstaaten festlegten, und sogar noch vor dem Inkrafttreten des Protokolls Nr. 7 zur EMRK, wendete der Gerichtshof den Grundsatz bereits auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts und in seiner Rechtsprechung zum öffentlichen Dienst der Union an(39). In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Gözütok und Brügge hat Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer detaillierte Ausführungen zu dem Grundsatz in der historischen Entwicklung des Unionsrechts gemacht(40), ebenso wie kürzlich Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Toshiba(41). Ich halte mich mit dieser Frage nicht auf und beschränke mich auf eine Verweisung auf die beiden Texte.

89.      Beim aktuellen Stand der Rechtsprechung wendet der Gerichtshof das Verbot der Doppelbestrafung eher einheitlich mit einigen Vorbehalten, auf die ich sogleich eingehen werde, an(42).

90.      Als Ausgangspunkt hat die Rechtsprechung auf der Linie mit dem zuvor angeführten Urteil Engel des EGMR einen weiten Begriff der „Sanktion“ gewählt, um diese Rechtsprechung auf die Sanktionen, die die Kommission im Bereich des Wettbewerbs verhängt, anwenden zu können(43). Aus dieser Perspektive und auf der Linie mit der Rechtsprechung des EGMR ist ein Steuerzuschlag zur Sicherstellung der Durchführung des Unionsrechts materiell-rechtlich als „strafrechtliche“ Sanktion anzusehen.

91.      Der Gerichtshof hat, wenn auch mit Ausnahmen, eine sehr schützende Auslegung vorgenommen, als er die Umstände definierte, die eine zweifache Ahndung stützen. Bei der Auslegung von Art. 54 des Schengener Übereinkommens sowie des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl hat der Gerichtshof entschieden, dass sich die Identität, die das Verbot der Doppelbestrafung voraussetzt, auf denselben „Sachverhalt“ und nicht auf dieselben Verbotstatbestände oder dieselben geschützten Rechtsgüter bezieht(44). Die vorliegende Rechtssache ist im Kontext der Durchführung des Unionsrechts auf nationaler Ebene angesiedelt, also der Dimension, in der die weiteste Konzeption des Verbots der Doppelbestrafung zur Anwendung kommt. Ich bin daher der Auffassung, dass auch ein Fall wie der vorliegende diese Behandlung verdient, die wiederum derjenigen entspricht, die der EGMR seit dem bereits angeführten Urteil Zolotukhin vertritt.

92.      Die einzige Frage, die noch zu beantworten ist, geht dahin, ob ein bereits mit einer rechtskräftigen Verurteilung abgeschlossenes Verwaltungsverfahren die Einleitung eines Strafverfahrens sowie eine mögliche strafrechtliche Verurteilung durch die Mitgliedstaaten präkludiert.

93.      Nach dieser Vereinfachung der Frage und unter Hinzufügung einer wesentlichen Klarstellung bin ich der Auffassung, dass Art. 50 der Charta derzeit nicht bedeutet, dass eine bereits rechtskräftige verwaltungsrechtliche Sanktion einer Einleitung eines Verfahrens vor den Strafgerichten, das möglicherweise zu einer Verurteilung führt, definitiv entgegensteht. Die Klarstellung, die ich vornehme, besteht darin, dass der Grundsatz des Willkürverbots, der vom Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 EUV) untrennbar ist, die Verpflichtung für die nationale Rechtsordnung begründet, es dem Strafrichter zu ermöglichen, auf die eine oder andere Weise zu berücksichtigen, dass bereits eine verwaltungsgerichtliche Sanktion verhängt wurde, um die strafrechtliche Sanktion herabzusetzen.

94.      Einerseits enthält Art. 50 der Charta für sich betrachtet nichts, was zu dem Schluss veranlassen könnte, dass jeder Fall eines Zusammentreffens der Sanktionsgewalt der Verwaltung und der Strafgerichtsbarkeit wegen derselben Handlung unter das Verbot fallen sollte. Insofern ist darauf hinzuweisen, dass im Wortlaut des Art. 50 der Charta, im Gegensatz zum Wortlaut von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK, das Adjektiv „strafrechtlich“ besonderes Gewicht hat. So erscheint es sowohl im Titel der jeweiligen Vorschriften als auch in der Bezeichnung der Endentscheidung, die in der erstgenannten, nicht aber in der letztgenannten der beiden Bestimmungen als „strafrechtlich“ eingestuft wird. Dieser Unterschied kann als nicht unerheblich eingestuft werden, da es sich um eine Vorschrift – der Charta – handelt, die mehrere Jahre nach dem genannten Protokoll abgefasst wurde.

95.      Andererseits hindern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und jedenfalls der Grundsatz des Willkürverbots, wie er in der Rechtsstaatsklausel in ihrer Ausprägung durch die gemeinsamen Verfassungstraditionen zum Ausdruck kommt(45), an der Ausübung einer Strafgerichtsbarkeit, die den Umstand völlig außer Acht lässt, dass der Sachverhalt, über den sie zu entscheiden hat, bereits Gegenstand einer verwaltungsrechtlichen Sanktion war.

96.      Ich bin daher der Auffassung, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten nicht an der Einleitung eines Verfahrens vor der Strafgerichtsbarkeit wegen desselben, bereits rechtskräftig auf dem Verwaltungsweg geahndeten Sachverhalts gehindert sind, sofern das Strafgericht die Möglichkeit hat, eine vorherige verwaltungsrechtliche Sanktion zu berücksichtigen, um die von ihm zu verhängende Strafe herabzusetzen.

c)      Anwendung von Art. 50 der Charta auf den vorliegenden Fall

97.      An diesem Punkt angekommen, und im Einklang mit meinen bisherigen Erwägungen, bleibt meines Erachtens beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nur noch zu prüfen, ob das nationale Recht dem Strafrichter erlaubt, die bereits erfolgte bestandskräftige Verhängung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion zu berücksichtigen, um nicht am Ende zu einem unverhältnismäßigen Ergebnis zu gelangen, das jedenfalls mit dem – dem Rechtsstaat wesenseigenen – Grundsatz des Willkürverbots unvereinbar wäre.

98.      Aus den Akten ergibt sich, dass Herr Fransson die finanziellen verwaltungsrechtlichen Sanktionen, die das Skatteverket seinerzeit gegen ihn verhängt hat, bezahlt hat und dass diese Entscheidungen bestandskräftig geworden sind.

99.      Zudem ist, wie der Vertreter von Herrn Fransson in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, gegen seinen Mandanten zurzeit ein Strafverfahren wegen einer Straftat nach den §§ 2 und 4 Skattebrottslagen anhängig, die mit Freiheitsstrafe von bis zu sechs Jahren bedroht ist.

100. Aus den Akten ergibt sich nicht, dass das schwedische Recht ausdrücklich einen Ausgleich regelt, aber im Vorlagebeschluss wird ausgeführt, dass die schwedischen Gerichte den zuvor festgesetzten Steuerzuschlag „beim Strafausspruch berücksichtig[en]“.

101. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts und nicht des Gerichtshofs, die spezifischen Besonderheiten des im schwedischen Recht vorgesehenen Ausgleichssystems − sei es auf gesetzlicher, sei es auf der Ebene der Rechtsprechungspraxis der schwedischen Gerichte − festzustellen. Besteht ein Ausgleichsmechanismus, der es ermöglicht, die erste Sanktion mit mildernder Wirkung gegenüber der zweiten zu berücksichtigen, würde die Durchführung eines zweiten Verfahrens meiner Ansicht nach nicht gegen Art. 50 der Charta verstoßen. Ermöglicht das in der schwedischen Rechtsordnung verwendete Kriterium hingegen unter den zuvor dargestellten Voraussetzungen keinen Ausgleich und lässt dadurch die Möglichkeit offen, dass gegen Herrn Fransson eine zweite Sanktion verhängt wird, liegt meiner Meinung nach ein Verstoß gegen Art. 50 der Charta vor.

B –    Die erste Vorlagefrage

102. Mit der ersten Frage legt das Haparanda tingsrätt dem Gerichtshof seine Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit eines im schwedischen Recht − konkret in der Rechtsprechung seines Obersten Gerichtshofs − vorgesehenen Kriteriums mit dem Unionsrecht dar, nach dem, um eine schwedische Bestimmung, die gegen die in der Charta und der EMRK vorgesehenen Rechte verstößt, unangewendet zu lassen, eine „klare Stütze“ in der Charta, der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorhanden sein muss.

103. So wie das vorlegende Gericht die Frage formuliert hat, bezieht sie sich auf zwei unterschiedliche Situationen: erstens auf die Vereinbarkeit eines Kriteriums zur Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention mit dem Recht der Union, soweit sie ein Internationales Übereinkommen darstellt, dessen Rechte Bestandteil der Rechtsordnung der Union bilden (Art. 6 Abs. 3 EUV). Zweitens fragt das Gericht nach der Vereinbarkeit desselben Kriteriums, wenn es auf die Anwendung der Charta und damit das Unionsrecht erstreckt wird.

1.      Die „klare Stütze“ als Kriterium der Anwendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention durch das nationale Gericht

104. Das Haparanda tingsrätt hat eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs Schwedens dargestellt, nach der für eine Nichtanwendung einer schwedischen Bestimmung, die mit der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar ist, eine „klare Stütze“ vorhanden sein muss, sei es in der Konvention selbst, sei es in der Rechtsprechung des EGMR. Der Oberste Gerichtshof Schwedens hat diese Voraussetzung in mehreren Rechtssachen angewendet, in denen es um die Problematik des vorliegenden Falls ging, und kam in allen zu dem Ergebnis, dass die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK keine „klare Stütze“ zur Verfügung stelle. Indes ergibt sich aus der neuesten Rechtsprechung des EGMR, wie ich in den Nrn. 75 bis 79 dieser Schlussanträge dargestellt habe, dass für das Begehren Herrn Franssons nunmehr eine „klare Stütze“ zu seinen Gunsten vorhanden ist.

105. Die Reform durch den Vertrag von Lissabon liefert die Erklärung für den Hintergrund dieser Frage des Haparanda tingsrätt. Bekanntermaßen stimmt der Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 EUV nicht mit dem des alten Art. 6 Abs. 2 EUV überein. Vor dem 1. Dezember 2009 lautete der genannte Artikel „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten [EMRK] gewährleistet sind“, während es in der geltenden Fassung heißt: „Die Grundrechte, [wie sie in der EMRK gewährleistet sind,] sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.“(46) Mithin werden die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind, nicht mehr nur von der Union geachtet, sondern sind Teil ihrer Rechtsordnung. Die Änderung ist nicht irrelevant, und das vorlegende Gericht scheint der Ansicht zu sein, dass der EMRK, unabhängig von einem zukünftigen Beitritt der Union zur Konvention, seit 2009 im Recht der Union ein neuer Status zukommt.

106. Angesichts dessen, und wenn die Rechte der EMRK Teil des Unionsrechts sind, fragt das vorlegende Gericht berechtigterweise, ob das Unionsrecht einem Kriterium, wie es der Oberste Gerichtshof Schwedens entwickelt hat, das für die Nichtanwendung einer gegen die EMRK verstoßenden nationalen Norm eine „klare Stütze“ voraussetzt, entgegensteht.

107. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus dem Urteil Kamberaj, das der Gerichtshof vor Kurzem erlassen hat(47). In dieser Rechtssache wurde gefragt, ob im Fall eines Konflikts zwischen einer Vorschrift des nationalen Rechts und der EMRK Art. 6 Abs. 3 EUV das nationale Gericht dazu verpflichtet, die Bestimmungen der EMRK unmittelbar anzuwenden und eine mit ihr unvereinbare Vorschrift des nationalen Rechts unangewendet zu lassen.

108. Nachdem er hervorgehoben hat, dass Art. 6 Abs. 3 EUV in seiner Fassung durch den Vertrag von Lissabon sich auf die Wiedergabe der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs beschränkt, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die neue Fassung der Bestimmung den Status der EMRK im Unionsrecht und damit auch in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten unverändert lässt(48). Entsprechend regelt Art. 6 Abs. 3 EUV dem Gerichtshof zufolge nicht, „welche Konsequenzen ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch die EMRK gewährleisteten Rechten und einer Regelung des nationalen Rechts zu ziehen hat“(49).

109. Zusammenfassend stellt die EMRK, auch wenn ihre Rechte als Grundsätze Bestandteil des Unionsrechts bilden, als solche kein Rechtsinstrument dar, das formell in die europäische Rechtsordnung übernommen worden ist. Die Situation wird sich ändern, wenn die in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehene Verpflichtung erfüllt und die Union der EMRK beigetreten ist. Beim jetzigen Stand des Integrationsprozesses können die Kriterien zur Anwendung des Unionsrechts, konkret die Grundsätze der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs, nicht auf die EMRK erstreckt werden, wenn diese von den Gerichten der Mitgliedstaaten angewendet wird. Auf der Linie mit dem Urteil Kamberaj kann das Kriterium der „klaren Stütze“ in seiner Anwendung durch den Obersten Gerichtshof Schwedens auf Fälle, die ausschließlich die Auslegung und Anwendung der EMRK betreffen, somit nicht Gegenstand der Beurteilung durch den Gerichtshof sein.

2.      Die „klare Stütze“ als Kriterium zur Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch das nationale Gericht

110. Das Haparanda tingsrätt nimmt auch Bezug auf die Ausweitung des Kriteriums der „klaren Stütze“ auf die durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union geschützten Rechte, und insbesondere auf ihren Art. 50. In diesem Fall betrifft die Frage nicht mehr das Verhältnis zwischen der EMRK und dem Unionsrecht, sondern ausschließlich Letzteres.

111. Daher ist, wie es das vorlegende Gericht tut, danach zu fragen, ob ein vom Obersten Gerichtshof Schwedens vorgegebenes Kriterium wie das der „klaren Stütze“ bei der Anwendung des Unionsrechts die Rechtsprechungsfunktionen schwedischer Instanzgerichte wie dem Haparanda tingsrätt konditioniert.

112. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die unionsrechtlichen Bestimmungen anzuwenden hat, gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls aus eigener Initiative jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Aufhebung dieser Bestimmung durch den Gesetzgeber oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren betreiben oder abwarten müsste(50). Derselbe Gedanke gilt auch für eine nationale Rechtsprechung eines übergeordneten Gerichts, die die volle Wirksamkeit der Bestimmungen des Unionsrechts erschwert oder behindert, wie im vorliegenden Fall mit dem Bestehen einer „klaren Stütze“ als Voraussetzung für die Nichtanwendung einer mit der Charta unvereinbaren nationalen Bestimmung in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs Schwedens.

113. Meiner Ansicht nach stellt das Erfordernis der „klaren Stütze“ nicht von vornherein ein Hindernis dar, das die Nichtanwendung einer mit der Charta unvereinbaren nationalen Bestimmung verhindert oder übermäßig erschwert. So wie es in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshof Schwedens formuliert ist, setzt die Feststellung der Unvereinbarkeit einer innerstaatlichen Norm ein Grundrecht voraus, das hinreichend eindeutig ist, damit das Gericht hierüber entscheiden kann. Letztendlich wirkt das Erfordernis der „klaren Stütze“ damit als Voraussetzung einer minimalen Erkennbarkeit der normativen Aussage, weil das Gericht sonst nicht über die für eine Prüfung der in Rede stehenden nationalen Vorschrift erforderlichen Elemente verfügen würde. Die Feststellung, dass es der Rechtsprechung des EGMR vor dem Urteil Zolotukhin/Russland erheblich an „Klarheit“ mangelte, ist nicht polemisch, insbesondere bei ihrer Anwendung auf einen Fall wie den schwedischen, der weder Gegenstand der Prüfung durch den EGMR war noch Parallelen zu anderen Fällen aufweist, über die der EGMR bereits entschieden hat.

114. Es kann aber unter keinen Umständen zugelassen werden, dass das Erfordernis der „klaren Stütze“ zu einer Bedingung wird, die die Intensität der Kontrolle, die die nationalen Gerichte normalerweise bei der Anwendung des Unionsrechts vornehmen, beeinträchtigt. Zu verlangen, dass die Vorschrift, die als Beurteilungsmaßstab dient, „klar“ ist, darf nicht zu einer Voraussetzung werden, nach der die Rechtswidrigkeit der nationalen Bestimmung „offenkundig“ sein muss. Mit anderen Worten: Eine Voraussetzung der Klarheit der Aussage einer Vorschrift des Unionsrechts kann nicht als Vorwand für die Verringerung der Intensität der richterlichen Kontrolle durch die nationalen Gerichte bei der Anwendung dieser Rechtsordnung dienen. Anderenfalls würde den Parteien, die sich auf die Unvereinbarkeit einer nationalen Bestimmung mit einer Vorschrift der Union berufen, eine übermäßige Beweislast aufgebürdet, die ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der unmittelbar anwendbaren Bestimmungen des Unionsrechts darstellen würde. Diese Schlussfolgerung wird noch weiter gestützt, wenn die Voraussetzung der „Klarheit“ die Intensität der richterlichen Kontrolle ausschließlich im Hinblick auf das Unionsrecht verringert, aber nicht in Bezug auf rein innerstaatliche Fälle. In diesem Fall käme es nicht nur zu einer Beeinträchtigung der Effizienz des Unionsrechts, sondern auch zu einer Verletzung des Äquivalenzgrundsatzes, wie ihn der Gerichtshof in einer umfangreichen Rechtsprechung herausgearbeitet hat(51).

115. Zusammenfassend bin ich der Ansicht, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, bevor es eine nationale Vorschrift unangewendet lässt, nicht daran gehindert ist, vorab festzustellen, ob eine Bestimmung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union „klar“ ist, sofern dieses Erfordernis nicht die Ausübung der Befugnisse erschwert, die das Unionsrecht den nationalen Rechtsprechungsorganen einräumt.

VII – Ergebnis

116. Angesichts der in den Nrn. 48 bis 64 dieser Schlussanträge dargelegten Argumente schlage ich dem Gerichtshof vor, sich für die Beantwortung der vom Haparanda tingsrätt vorgelegten Fragen für unzuständig zu erklären.

117. Subsidiär und für den Fall, dass der Gerichtshof der Auffassung ist, für eine Entscheidung in der Sache zuständig zu sein, schlage ich vor, die Vorlagefragen wie folgt zu beantworten:

1.      Beim jetzigen Stand des europäischen Integrationsprozesses ist Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten nicht an der Einleitung eines Verfahrens vor der Strafgerichtsbarkeit wegen desselben, bereits rechtskräftig auf dem Verwaltungsweg geahndeten Sachverhalts gehindert sind, sofern das Strafgericht die Möglichkeit hat, eine vorherige verwaltungsrechtliche Sanktion zu berücksichtigen, um die von ihm zu verhängende Strafe herabzusetzen.

Die Feststellung, ob im vorliegenden Fall und im Licht der nationalen Bestimmungen zur Regelung der Materie eine Berücksichtigung einer vorherigen verwaltungsrechtlichen Sanktion zur Herabsetzung der Entscheidung des Strafgerichts in Betracht kommt, ist Sache des nationalen Gerichts.

2.      Der Gerichtshof ist nicht dafür zuständig, zu entscheiden, ob ein im schwedischen Recht vorgesehenes Erfordernis, das für die Nichtanwendung einer innerstaatlichen Norm durch die nationalen Gerichte eine „klare Stütze“ voraussetzt, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist.

Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, bevor es eine nationale Vorschrift unangewendet lässt, nicht daran gehindert ist, vorab festzustellen, ob eine Bestimmung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union „klar“ ist, sofern dieses Erfordernis nicht die Ausübung der Befugnisse erschwert, die das Unionsrecht den nationalen Rechtsprechungsorganen einräumt.


1 – Originalsprache: Spanisch.


2–      Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 (ABl. L 347, S. 1).


3 – Vgl., statt aller, Groussot, X., Pech, L., und Petursson, G. T., „The Scope of Application of EU Fundamental Rights on Member States' Action: In Search of Certainty in EU Adjudication“, Eric Stein Working Paper 1/2011.


4 – Vgl. z. B. die Schlussanträge von Generalanwalt Bot in der Rechtssache Scattolon (Urteil vom 6. September 2011, C‑108/10, Slg. 2011, I‑7491), die Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache Ruiz Zambrano (Urteil vom 8. März 2011, C‑34/09, Slg. 2011, I‑1177), die Schlussanträge von Generalanwalt Poiares Maduro in der Rechtssache Centro Europa 7 (Urteil vom 31. Januar 2008, C‑380/05, Slg. 2008, I‑349) oder die Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache Schmidberger (Urteil vom 12. Juni 2003, C‑112/00, Slg. 2003, I‑5659).


5 – Vgl. die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents zur Ausarbeitung der Charta zu Art. 51 in der revidierten Fassung, auf die Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verweist.


6 – Vgl. einerseits die Urteile vom 13. Juli 1989, Wachauf (5/88, Slg. 1989, 2609), vom 24. März 1994, Bostock (C‑2/92, Slg. 1994, I‑955), und vom 12. Juni 2003, Schmidberger (C‑112/00, Slg. 2003, I‑5659), und andererseits die Urteile vom 18. Juni 1991, ERT (C‑260/89, Slg. 1991, I‑2925), und vom 26. Juni 1997, Familiapress (C‑368/95, Slg. 1997, I‑3689), die den Urteilen vom 13. Juni 1996, Maurin (C‑144/95, Slg. 1996, I‑2909), vom 29. Mai 1997, Kremzow (C‑299/95, Slg. 1997, I‑2629), und vom 18. Dezember 1997, Annibaldi (C‑309/96, Slg. 1997, I‑7493), gegenüberzustellen sind.


7–      Vgl., neben vielen anderen, Nusser, J., Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, Tübingen, 2011, S. 54 ff., Kokott, J., und Sobotta, C., „The Charter of Fundamental Rights of the European Union after Lisbon“, EUI Working Papers, Academy of European Law, Nr. 2010/06, Alonso García, R., „The General Provisions of the Charter of Fundamental Rights of the European Union“, Nr. 8 European Law Journal, 2002, Groussot, X., Pech, L., Petursson, G. T., „The Scope of Application …“, a. a. O., Eeckhout, P., „The EU Charter of Fundamental Rights and the federal question“, 39 Common Market Law Review, 2002, Jacqué, J. P., „La Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne: aspects juridiques généraux“, REDP, Bd. 14, Nr. 1, 2002, Egger, A., „EU-Fundamental Rights in the National Legal Order: The Obligations of Member States Revisited“, Yearbook of European Law, Bd. 25, 2006, Rosas, A., und Kaila, H., „L’application de la Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne par la Cour de justice – un premier bilan“, Il Diritto dell’Unione Europea, 1/2011, sowie Weiler, J., und Lockhart, N., „Taking rights seriously: The European Court and its Fundamental Rights Jurisprudence – Part I“ Nr. 32, Common Market Law Review, 1995.


8 – Urteil des EGMR vom 30. Juni 2005, Bosphorus/Irland (Rechtssache 45036/98).


9 – Vgl. neben vielen anderen die „Fälle“ in den paradigmatischen Rechtssachen Wachauf und ERT sowie die zahlreichen Beispiele, die Kaila, H., „The Scope of Application of the Charter of Fundamental Rights of the European Union in the Member States“, in Cardonnel, P., Rosas, A., und Wahl, N., Constitutionalising the EU Judicial System. Essays in Honour of Pernilla Lindh, Oxford-Portland, 2012, nennt.


10 – Vgl. Nusser, J., Die Bindung der Mitgliedstaaten …, a. a. O.


11 – Pernice, I., „Bestandssicherung der Verfassungen: Verfassungsrechtliche Mechanismen zur Wahrung der Verfassungsordnung“, in Bieber, R., und Widmer, P., (Hrsg.) L'espace constitutionnel européen. Der europäische Verfassungsraum. The European constitutional area, Schultess Polygraphischer Verlag, Zürich, 1995, S. 261 ff., und, aus jüngerer Zeit vom selben Verfasser, Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäischen Verfassungsverbund, Berlin, 2006, S. 17 ff.


12 – Vgl., statt aller, Nusser, J., Die Bindung der Migliedstaaten …, a. a. O.


13 – Vgl. neben vielen anderen die Urteile vom 7. Juli 1976, Watson und Belmann (118/75, Slg. 1976, 1185), vom 14. Juli 1977, Sagulo u. a. (8/77, Slg. 1977, 1495), vom 10. Juli 1990, Hansen (C‑326/88, Slg. 1990, I‑2911), vom 2. Oktober 1991, Vandevenne u. a. (C‑7/90, Slg. 1991, I‑4371), vom 21. September 1989, Kommission/Griechenland (68/88, Slg. 1989, 2965), vom 27. Februar 1997, Ebony Maritime und Loten Navigation (C‑177/95, Slg. 1997, I‑1111), vom 31. März 2011, Aurubis Balgaria (C‑546/09, Slg. 2011, I‑2531), und vom 9. Februar 2012, Urbán (C‑210/10). Spezifischer zu den nationalen Sanktionen bei der Durchführung von Richtlinien der Union vgl. u. a. die Urteile vom 12. Juli 2001, Louloudakis (C‑262/99, Slg. 2001, I‑5547), vom 11. September 2003, Safalero (C‑13/01, Slg. 2003, I‑8679), vom 2. Oktober 2003, Grilli (C‑12/02, Slg. 2003, I‑11585), vom 3. Mai 2005, Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, Slg. 2005, I‑3565), und vom 5. Juli 2007, Ntionik und Pikoulas (C‑430/05, Slg. 2007, I‑5835).


14 – Vgl. Randnr. 17 des Vorlagebeschlusses.


15–      Vgl. Art. 273 der Richtlinie 2006/112.


16 – Vgl. u. a. Urteile vom 12. Juni 2003, Schmidberger (C‑112/00, Slg. 2003, I‑5659, Randnr. 32), vom 8. September 2009, Budĕjovický Budvar (C‑478/07, Slg. 2009, I‑7721, Randnr. 64), und vom 11. März 2010, Attanasio Group (C‑384/08, Slg. 2010, I‑2055, Randnr. 28).


17 – Der am 17. Februar 1986 erklärte Vorbehalt lautet: „Le Gouvernement de la République française déclare que seules les infractions relevant en droit français de la compétence des tribunaux statuant en matière pénale doivent être regardées comme des infractions au sens des articles 2 à 4 du présent Protocole.“


18 – Der Wortlaut dieser Erklärungen ist praktisch derselbe wie der des französischen Vorbehalts, wenn auch mit einigen Abweichungen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass der EGMR in der Rechtssache Gradinger/Österreich die Unwirksamkeit der österreichischen Erklärung zu Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK festgestellt hat (Randnrn. 49 bis 51), wenn auch aus formellen Gründen und nach Maßgabe der Rechtsprechung, die in der bekannten Rechtssache Belilos/Schweiz ihren Ursprung hat. Vgl. hierzu Cameron, I., und Horn, F., „Reservations to the European Convention on Human Rights: The Belilos Case“, German Yearbook of International Law, 33, 1990, und Cohen-Jonathan, G., „Les réserves à la Convention Européenne des Droits de l'Homme“, Revue Générale de Droit International Public, T. XCIII, 1989.


19 – Vgl. den Bericht des Ministerrats über die Ausarbeitung von Rechtsinstrumenten im Hinblick auf den Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention vom 14. Oktober 2011, CDDH(2011)009, S. 17, Nrn. 19 ff.


20 – Urteil Engel u. a./Niederlande vom 8. Juni 1976 (Serie A, Nr. 22, § 82).


21 – Vgl. neben anderen die Urteile Öztürk/Deutschland vom 21. Februar 1984 (Serie A, Nr. 73), Lauko/Slowakei vom 2. September 1998 (Slg. 1998-VI) und Jussila/Finnland vom 23. November 2006 (Nr. 73053/01, ECHR 2006-XIV). Die beiden letzten Kriterien sind alternativ anzuwenden, aber der EGMR kann sie nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls auch kumulativ feststellen.


22 – Vgl. die Urteile Västberga Taxi Aktiebolag und Vulic/Schweden vom 23. Juli 2002 (Nr. 36985/97) sowie Janosevic/Schweden vom 23. Juli 2002 (ECHR 2002-VII).


23 – Vgl. das Urteil Zolutukhin/Russland vom 10. Februar 2009 (Nr. 14939/03, ECHR 2009).


24 – Vgl. die Urteile Oliveira/Schweiz vom 30. Juli 1998 (Slg. 1998-V; Heft 83), Franz Fischer/Österreich vom 29. Mai 2001 (Nr. 37950/97), Sailer/Österreich vom 6. Juni 2002 (Nr. 38237/97) und Ongun/Türkei vom 23. Juni 2009 (Nr. 15737/02).


25–      Urteil in Fn. 23 angeführt.


26–      Vgl. Urteil Zolutukhin, oben in Fn. 23 angeführt, Randnrn. 82 bis 84.


27 – Vgl. neben anderen die Urteile vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge (C‑187/01 und C‑385/01, Slg. 2003, I‑1345), vom 10. März 2005, Miraglia (C‑469/03, Slg. 2005, I‑2009), vom 9. März 2006, Van Esbroeck (C‑436/04, Slg. 2006, I‑2333), vom 28. September 2006, Van Straaten, (C‑150/05, Slg. 2006, I‑9327), vom 28. September 2006, Gasparini u. a. (C‑467/04, Slg. 2006, I‑9199), und vom 11. Dezember 2008, Bourquain (C‑297/07, Slg. 2008, I‑9425).


28–      Vgl. die Urteile Franz Fischer, oben in Fn. 24 angeführt, Randnr. 22, Gradinger, oben in Fn. 18 angeführt, Randnr. 53, und Nitikin/Russland vom 2. November 2006 (Nr. 15969/02), Randnr. 37.


29 – Urteil Zolutukhin, oben in Fn. 23 angeführt.


30 – Urteil Ruotsalainen/Finnland vom 16. Juni 2009 (Nr. 13079/03).


31 – Urteil Tomasovic/Kroatien vom 18. Oktober 2011 (Nr. 53785/09) im Gegensatz zum früheren Urteil Oliveira/Schweiz, dessen Lösung, die Gegenstand schwerer Kritiken war, nunmehr aufgegeben scheint. Vgl. hierzu Carpio Briz, D., „Europeización y reconstitución del non bis in idem“, Revista General de Derecho Penal, Nr. 14, Madrid, 2010.


32 – Dies wird durch die Erläuterungen zur Auslegung der Charta bestätigt, die nach Art. 52 Abs. 7 der Charta auch von den Gerichten beachtet werden müssen. Am Ende der Erläuterung zu Art. 55 heißt es: „Was die in Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 [zur EMRK] bezeichneten Fälle betrifft, nämlich die Anwendung des Grundsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat, so hat das garantierte Recht dieselbe Bedeutung und dieselbe Tragweite wie das entsprechende Recht der EMRK.“


33 – Vgl. die vergleichende Untersuchung von Moderne, F., „La sanction administrative. Elements d'analyse comparative“, Revue Française de Droit Administratif, Nr. 3, 2002.


34 – Vgl. die Urteile des Conseil Constitutionnel vom 28. Juli 1989, Nr. 89-260 DC, Loi relative à la sécurité et à la transparence des marchés financiers, 16. Erwägungsgrund, vom 30. Dezember 1997, Nr. 97-395 DC, Loi des finances pour 1998, 41. Erwägungsgrund. Zu dieser Rechtsprechung Gutmann, D., „Sanctions fiscales et Constitution“, Les noveaux Cahiers du Conseil Constitutionnel, Nr. 33, 2011.


35 – Vgl. z. B. das Urteil des OLG Celle vom 6. August 1970, 1Ss 164/70.


36 – Dies ist beispielsweise in Spanien der Fall, dessen Art. 7 des Real Decreto 1398/1993, regulador de la potestad sancionadora de las administraciones públicas (Königliches Dekret zur Regelung der Strafgewalt der öffentlichen Verwaltung) dem Strafprozess Vorrang gegenüber einem Verwaltungsverfahren mit Sanktionscharakter einräumt. Vgl. hierzu Queralt Jiménez, A., La interpretación de los derechos: del Tribunal de Estrasburgo al Tribunal Constitucional, Madrid, 2008, S. 263 ff., und Beltrán de Felipe, M., und Puerta Seguido, F., „Perplejidades acerca de los vaivenes en la jurisprudencia constitucional sobre el ‚ne bis in idem‘“, Revista española de derecho constitucional, Nr. 71, 2004.


37 – Art. 6 Abs. 1 sieht die Möglichkeit der Aussetzung des Verwaltungsverfahrens infolge der Einleitung eines Strafverfahrens, das dieselbe Tat betrifft, vor. In Abs. 3 wird sodann ergänzt: „Kommt das strafrechtliche Verfahren zum Abschluss, so wird das ausgesetzte Verwaltungsverfahren wieder aufgenommen, sofern allgemeine Rechtsgrundsätze dem nicht entgegenstehen“ (Hervorhebung nur hier).


38 – In diesem Sinne Burgorgue-Larsen, L., „Les interactions normatives en matière de droits fondamentaux“, in Burgorgue-Larsen, Dubout, E., Maitrot de la Motte, A., und Touzé, S., Les interactions normatives. Droit de l'Union Européenne et Droit International, Paris, 2012, S. 372 und 373.


39 – Vgl. die frühen Urteile vom 5. Mai 1966, Gutmann/Kommission der EAG (verbundene Rechtssachen 18/65 und 35/65, Slg. 1966, 80), zum öffentlichen Dienst und vom 15. Juli 1970, Boehringer Mannheim/Kommission (45/69, Slg. 1970, 769), im Bereich des Wettbewerbs.


40 – Schlussanträge vom 19. September 2002, Gözütok und Brügge (Urteile vom 11. Februar 2003, C‑187/01 und C‑385/01, Slg. 2003, I‑1345, Nrn. 47 ff).


41 – Schlussanträge vom 8. September 2011, Toshiba Corporation (Urteil vom 14. Februar 2012, C‑17/10).


42 – Vgl., statt aller, van Bockel, B., The Ne Bis in Idem Principle in EU Law, Kluwer, Den Haag, 2010, S. 205 ff.


43 – Vgl. hierzu die detaillierte Untersuchung von Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen vom 15. Dezember 2011 in der Rechtssache Bonda (Urteil vom 5. Juni 2012, C‑489/10). Siehe auch die Schlussanträge von Generalanwältin Sharpston vom 10. Februar 2011 in der Rechtssache KME Germany/Kommission (Urteil vom 8. Dezember 2011, C‑272/09 P, Slg. 2011, I‑12789, Nr. 64), die Schlussanträge von Generalanwalt Bot vom 26. Oktober 2010 in den Rechtssachen ArcelorMittal Luxembourg/Kommission u. a. (Urteil vom 29. März 2011, C‑201/09 P und C‑216/09 P, Slg. 2011, I‑2239, Nr. 41) und ThyssenKrupp Nirosta/Kommission (Urteil vom 29. März 2011, C‑352/09 P, Slg. 2011, I‑2359, Nr. 49) sowie die Schlussanträge von Generalanwältin Kokott vom 3. Juli 2007, ETI u. a. (C‑280/06, Slg. 2007, I‑10893, Nr. 71).


44–      Vgl. die Urteile Van Esbroeck, oben in Fn. 27 angeführt, Randnrn. 27, 32 und 36, Van Straaten, oben in Fn. 27 angeführt, Randnrn. 41, 47 und 48, und vom 16. November 2010, Mantello (C‑261/09, Slg. 2010, I‑11477, Randnr. 39). Allerdings weicht dieser Ansatz von dem ab, der im Bereich des Wettbewerbs Anwendung findet. Dort verlangt der Gerichtshof nach wie vor drei Voraussetzungen: die Identität von Sachverhalt und Rechtsbrecher sowie die Einheitlichkeit des geschützten rechtlichen Interesses. Vgl. neben anderen die Urteile vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission (C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, Slg. 2004, I‑123, Randnr. 338), und Toshiba Corporation, oben in Fn. 41 angeführt, Randnrn. 97 und 98. Siehe hierzu auch die Kritik von Generalanwältin Kokott an dieser im Bereich des Wettbewerbs anzuwendenden besonderen Regelung in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Toshiba, oben in Fn. 41 angeführt.


45–      Vgl. Bingham, T., The Rule of Law, Ed. Allen Lane, London, 2010, S. 66 ff.


46 – Hervorhebung nur hier.


47–      Urteil vom 24. April 2012, Kamberaj u. a. (C‑571/10).


48–      Urteil Kamberaj, oben in Fn. 47 angeführt, Randnrn. 61 f..


49–      Ebd., Randnr. 62.


50–      Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal (106/77, Slg. 1978, 629, Randnr. 24), und vom 19. November 2009, Filipiak (C‑314/08, Slg. 2009, I‑11049, Randnr. 81).


51 – Vgl. u. a. Urteile vom 15. September 1998, Deis (C‑231/96, Slg. 1998, I‑4951, Randnr. 36), vom 1. Dezember 1998, Levez (C‑326/96, Slg. 1998, I‑7835, Randnr. 41), vom 16. Mai 2000, Preston u. a. (C‑78/98, Slg. 2000, I‑3201, Randnr. 55), und vom 19. September 2006, i-21 Germany und Arcor (C‑392/04 und C‑422/04, Slg. 2006, I‑8559, Randnr. 62).