Language of document : ECLI:EU:T:2001:200

BESCHLUSS DES PRÄSIDENTEN DES GERICHTS

10. August 2001(1)

„Verfahren der einstweiligen Anordnung - Wettbewerbsrecht - Artikel 82 EG - Erlass einer Entscheidung mit einstweiligen Maßnahmen durch die Kommission - Artikel 105 § 2 der Verfahrensordnung - Aussetzung des Vollzugs der Entscheidung der Kommission bis zum Erlass des Beschlusses, durch den das Verfahren der einstweiligen Anordnung abgeschlossen wird“

In der Rechtssache T-184/01 R

IMS Health Inc., eine Gesellschaft nach dem Recht des Staates Delaware mit Sitz in Fairfield, Connecticut (Vereinigte Staaten von Amerika), Prozessbevollmächtigte: N. Levy und J. Temple Lang, Solicitors, sowie R. O'Donoghue, Barrister,

Antragstellerin,

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Gippini Fournier, F. Siredney-Garnier und A. Whelan als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Antragsgegnerin,

wegen Antrag nach Artikel 105 § 2 Absatz 2 der Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz im Rahmen eines Antrags auf einstweilige Anordnung bezüglich der Entscheidung der Kommission vom 3. Juli 2001 in einem Verfahren nach Artikel 82 EG (Sache COMP D3/38.044 - NDC Health/IMS HEALTH: Einstweilige Maßnahmen) zur vorläufigen Aussetzung des Vollzugs dieser Entscheidung

erlässt

DER PRÄSIDENT DES GERICHTS ERSTER INSTANZ

DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN

folgenden

Beschluss

1.
    Die IMS Health Incorporated (im Folgenden: Antragstellerin) ist ein Marktforschungsunternehmen, das der pharmazeutischen Industrie eine Vielzahl von Marktforschungs-, Marketing- und Verkaufsmanagementdienstleistungen anbietet. Insbesondere bietet sie über ihre deutsche Tochtergesellschaft interessierten Pharmaunternehmen bezüglich des Verkaufs von pharmazeutischen Produkten durch Apotheken in ganz Deutschland regionale Großhandelsdaten-Absatzberichte an. Diese Dienstleistung beruht auf einer „Bausteinstruktur“. Durch Bausteinstrukturen wird ein Land in künstlich definierte geographische Zonen oder „Bausteine“ eingeteilt, die dazu verwendet werden, über die Absätze mit einzelnen pharmazeutischen Produkten zu berichten und sie zu messen.

2.
    Die Antragstellerin hat seit 1969 erhebliche Mittel zur Entwicklung ihrer auf der Bausteinstruktur beruhenden deutschen Informationsdienste investiert. Diese Bemühungen gipfelten in der Entwicklung des Struktur-1860-Bausteine-Formats (im Folgenden: Struktur 1860 Bausteine), das im Januar 2000 eingeführt wurde. Die Struktur 1860 Bausteine bildet jetzt den Hauptbestandteil ihres deutschen regionalen Datendienstes zur Information über den Großhandelsabsatz.

3.
    Am 26. Mai 2000 erhob die Antragstellerin beim Landgericht Frankfurt am Main eine Klage wegen Urheberrechtsverletzung, weil sie den Verdacht hatte, dass zwei Wettbewerber auf dem deutschen Markt, Pharma Intranet Information AG (im Folgenden: PI) und AzyX Deutschland GmbH (im Folgenden: AzyX), die durch ehemalige höhere Angestellte von IMS Health gegründet worden waren und auf dem deutschen Markt ursprünglich mit dem Verkauf von auf anderen Bausteinstrukturen beruhenden Dienstleistungen tätig waren, Anfang 2000 Dienstleistungen verkauften, die auf Kopien der Struktur 1860 Bausteine beruhten. Am 16. November 2000 stellte das Landgericht Frankfurt unter Bestätigung eines früheren Urteils vom 12. Oktober 2000 fest, dass die Antragstellerin nach deutschem Urheberrecht ein Urheberrecht an der Struktur 1860 Bausteine hat. In diesem Urteil bestätigte es auch eine einstweilige Verfügung vom 27. Oktober 2000, die es PI untersagte, eine aus der Struktur 1860 Bausteine abgeleitete Gebietsaufteilung zu verwenden.

4.
    Am 26. Oktober 2000 bat die National Data Corporation (im Folgenden: NDC), ebenfalls eine amerikanische Gesellschaft, die PI im August 2000 erworben hatte, die Antragstellerin um eine Lizenz zur Nutzung der Struktur 1860 Bausteine gegen Zahlung einer jährlichen Lizenzgebühr von 10 000 DM (5 112,92 Euro). Da PI gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt vom 16. November 2000 Berufung eingelegt hatte, lehnte die Antragstellerin diesen Antrag mit Schreiben vom 28. November 2000 so lange ab, wie das Urheberrechtsproblem von den nationalen Gerichten noch nicht entschieden sei. Mit einem weiteren Schreiben vom 18. Dezember 2000 lehnte sie es ab zu verhandeln, denn NDC sei für einen Wettbewerb gegen sie auf dem deutschen Markt nicht auf die Struktur 1860 Bausteine angewiesen.

5.
    Am 18. Dezember 2000 legte NDC eine Beschwerde bei der Kommission ein und machte geltend, die Weigerung der Antragstellerin, eine Lizenz für die Struktur 1860 Bausteine zu erteilen, verletze Artikel 82 EG.

6.
    Am 8. März 2001 sandte die Kommission der Antragstellerin eine Mitteilung der Beschwerdepunkte, die diese am 9. März erhielt. Die Kommission machte insbesondere unter Berufung auf die Rechtssache Bronner (Urteil des Gerichtshofes vom 26. November 1998 in der Rechtssache C-7/97, Slg. 1998, I-7791) geltend, der Zugang zur Struktur 1860 Bausteine sei für Wettbewerber der Antragstellerin wie NDC ein wesentliches Hilfsmittel (essential facility) (Mitteilung der Beschwerdepunkte, Randnr. 84). Diese Weigerung der Antragstellerin, Zugang dazu zu gewähren, stelle demnach möglicherweise einen Fall des ersten Anscheins für einen Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung dar, die die Antragstellerin nach Ansicht der Kommission auf dem relevanten deutschen Markt wegen der Struktur 1860 Bausteine innehabe. Die Kommission wies die Antragstellerin darauf hin, dass sie beabsichtige eine Entscheidung mit einstweiligen Maßnahmen zu erlassen (Mitteilung der Beschwerdepunkte, Randnrn. 100 bis 103).

7.
    Am 2. April 2001 antwortete die Antragstellerin schriftlich auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte. Am 6. April 2001 fand dann eine Anhörung statt. Die Kommission sandte der Antragstellerin am 4. Mai 2001 ein weiteres Auskunftsersuchen, das am 14. Mai 2001 beantwortet wurde. Am 14. Juni 2001 nahm die Antragstellerin auch zu zusätzlichem Beweismaterial Stellung, das die Kommission aufgrund von Auskunftsersuchen an verschiedene Pharmaunternehmen erhalten und der Antragstellerin in zwei Sendungen am 22. Mai und am 6. Juni 2001 abschriftlich übermittelt hatte.

8.
    Am 19. Juni 2001 wurde die Berufung von PI gegen die Urteile vom 27. Oktober und 16. November 2000 vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main zurückgewiesen.

9.
    Am 3. Juli 2001 erließ die Kommission eine Entscheidung in einem Verfahren nach Artikel 82 EG (Sache COMP D3/38.044 - NDC Health/IMS HEALTH: Einstweilige Maßnahmen) (im Folgenden: die angefochtene     Entscheidung). Diese Entscheidung ist auf die Verordnung Nr. 17 vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln [81] und [82] des Vertrages, wie geändert (ABl. Nr. 13, S. 204), und insbesondere die Befugnisse der Kommission nach den Artikeln 3 und 16 dieser Verordnung in der Auslegung durch den Gemeinschaftsrichter in der Camera-Care-Rechtsprechung (siehe u. a. Beschluss des Gerichtshofes vom 17. Januar 1980 in der Rechtssache 792/79 R, Camera Care/Kommission, Slg. 1980, 119, Urteil des Gerichtshofes vom 28. Februar 1984 in den Rechtssachen 228/82 und 229/82, Ford/Kommission, Slg. 1984, 1129, und Urteil des Gerichts vom 24. Januar 1992 in der Rechtssache T-44/90, La Cinq/Kommission, Slg. 1992, II-1) gestützt.

10.
    In der angefochtenen Entscheidung geht die Kommission davon aus (Randnr. 41), dass nach der Camera-Care-Rechtsprechung drei Voraussetzungen erfüllt sein müssen, bevor sie im Rahmen einer wettbewerbsrechtlichen Untersuchung Sicherungsmaßnahmen erlassen kann:

„-    dass ein ausreichend schwerwiegender erster Anschein für das Vorliegen einer Zuwiderhandlung besteht,

-    die Antragsteller wahrscheinlich schweren und nicht wieder gut zu machenden Schaden erleiden würden, falls keine Maßnahmen erlassen würden und

-    die Dringlichkeit von Sicherungsmaßnahmen gegeben ist“.

11.
    In der angefochtenen Entscheidung stellt die Kommission fest, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt seien. „Die Verweigerung des Zugangs zu der Struktur 1860 Bausteine [durch die Antragstellerin] ist geeignet, jeglichen Wettbewerb in dem relevanten Markt zu beseitigen, da ohne diesen Zugang ein Wettbewerb auf diesem Markt nicht möglich ist“ (Randnr. 181). DiesesErgebnis beruht auf der Feststellung, dass diese Struktur eine „De-facto-Industrienorm“ (Randnr. 180) sei. Aufgrund des festgestellten Sachverhalts geht die Kommission auch davon aus, „dass der Geschäftstätigkeit von NDC in Deutschland das Ende drohen würde, wenn es keine Lizenz für die Struktur 1860 Bausteine erhält, was eine nicht hinzunehmende Schädigung des öffentlichen Interesses darstellt“ (Randnr. 190). Grundlage dieser Beurteilung ist im Wesentlichen ihre Besorgnis um den „Fortbestand des anderen gegenwärtigen Wettbewerbers [der Antragstellerin] AzyX in diesem Markt“ (Randnr. 195).

12.
    Der verfügende Teil der angefochtenen Entscheidung lautet:

Artikel 1

IMS Health (IMS) wird hiermit auferlegt, allen Unternehmen, die derzeit auf dem deutschen Markt für regionale Absatzdatendienste tätig sind, auf Antrag unverzüglich eine Lizenz auf nicht diskriminierender Grundlage für die Verwendung der Struktur 1860 Bausteine zu erteilen, um diese Unternehmen in die Lage zu versetzen, gemäß dieser Struktur formatierte regionale Absatzdaten zu verwenden und zu verkaufen.

Artikel 2

Die in Lizenzvereinbarungen zur Verwendung der Struktur 1860 Bausteine festzulegenden Gebühren sind durch Übereinkunft zwischen IMS und den Unternehmen festzusetzen, die eine Lizenz beantragen (im Folgenden: die Parteien).

Sollte binnen zwei Wochen nach Beantragung einer Lizenz kein Einvernehmen erzielt werden, sind angemessene Lizenzgebühren von einem oder mehreren unabhängigen Sachverständigen festzusetzen. Die Sachverständigen werden von den Parteien einvernehmlich innerhalb einer Woche nach dem Nichterzielen einer Übereinkunft zwischen ihnen gewählt. Sollte innerhalb dieser Frist keine Einigung über die zu wählenden Sachverständigen erzielt werden, wird die Kommission einen oder mehrere Sachverständigen aus einer von den Parteien vorgelegten Kandidatenliste bestimmen oder gegebenenfalls eine oder mehrere entsprechend qualifizierte Personen wählen.

Die Parteien werden den Sachverständigen jede von diesen für die Durchführung ihrer Arbeit als erforderlich oder nützlich angesehene Unterlage bereitstellen. Die Sachverständigen sind durch das Berufsgeheimnis gebunden und dürfen keine Beweisstücke oder Dokumente an Dritte mit Ausnahme der Kommission weitergeben.

Die Sachverständigen werden die Gebühr auf der Grundlage transparenter und objektiver Kriterien binnen zwei Wochen nach ihrer Benennung zur Ausübungdieser Tätigkeit festsetzen. Sie werden die von ihnen festgesetzten Gebühren der Kommission unverzüglich zur Genehmigung vorlegen. Die Entscheidung der Kommission ist endgültig und wird unmittelbar wirksam.

Artikel 3

Ein Zwangsgeld von täglich 1 000 Euro wird für den Zeitraum fällig, in dem IMS den Bestimmungen dieser Entscheidung nicht nachkommt.

Artikel 4

Die Bestimmungen dieser Entscheidung gelten bis zur Mitteilung der endgültigen Entscheidung zum Abschluss des Verfahrens.

Artikel 5

Diese Entscheidung ist an IMS Health of Harewood Avenue, London NW1, Vereinigtes Königreich, gerichtet.“

13.
    Die Antragstellerin hat mit Klageschrift, die am 6. August 2000 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, gemäß Artikel 230 EG Klage erhoben u. a. auf Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung oder hilfsweise auf Nichtigerklärung „insoweit, als sie IMS Health verpflichtet, auf dem deutschen Markt gegenwärtig vertretenen Unternehmen Lizenzen für die Struktur 1860 Bausteine für regionale Absatzdatendienste zu erteilen, und als sie die Voraussetzungen festlegt, unter denen die Aushandlung der Lizenzvereinbarung von der Kommission geleitet und genehmigt wird“.

14.
    Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Antragstellerin gemäß den Artikeln 242 und 243 EG den vorliegenden Antrag auf einstweilige Anordnung bezüglich des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung gestellt. Sie beantragt dabei,

„-    den Vollzug der Entscheidung von Amts wegen bis zur Verhandlung und Entscheidung über diesen Antrag auszusetzen,

-    den Vollzug der Entscheidung weiterhin auszusetzen, bis das Gericht erster Instanz ein Urteil [in der Hauptsache] gefällt hat, und

-    alle weiteren erforderlichen einstweiligen Anordnungen zu treffen, die der Präsident für zweckmäßig erachtet“.

15.
    Bezüglich der ersten beim Richter der einstweiligen Anordnung beantragten einstweiligen Anordnung trägt die Antragstellerin vor, dass es besonders dringlich sei, den Vollzug der angefochtenen Entscheidung bis zum Erlass des das Verfahren der einstweiligen Anordnung beendenden Beschlusses auszusetzen. Sie weist daraufhin, dass gemäß Artikel 2 der angefochtenen Entscheidung eine Entscheidung von der Kommission noch vor Ende August 2001 erlassen werden könne, die „endgültig und ... unmittelbar wirksam“ sein würde. Aus Randnummer 6 des vorliegenden Antrags ergebe sich eindeutig, dass dieser besondere Antrag auf einstweilige Anordnung auf Artikel 105 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz (im Folgenden: Verfahrensordnung) gestützt werde.

16.
    Zur Begründung ihres Antrags trägt die Antragstellerin im Wesentlichen vor, dass die angefochtene Entscheidung der ständigen Gemeinschaftsrechtsprechung und früheren Entscheidungen der Kommission widerspreche, indem darin festgestellt werde, es sei dem ersten Anschein nach für ein marktbeherrschendes Unternehmen wie sie unrechtmäßig, es abzulehnen, mit Wettbewerbern einen Wettbewerbsvorteil in der Form ihres geistigen Eigentums an der Struktur 1860 Bausteine bezüglich eben des Marktes zu teilen, auf den sich das geistige Eigentum beziehe. Die Feststellung der Kommission entziehe ihr den Kern ihres vom Gemeinschaftsrecht anerkannten nationalen Urheberrechts und verstoße offensichtlich gegen Artikel 295 EG. Dadurch erleide sie einen sofortigen, schweren, dauerhaften und möglicherweise nicht wieder gut zu machenden Schaden, zumal dadurch ihre auf einer Bausteinstruktur aufbauenden und urheberrechtlich geschützten Dienstleistungen der Dateninformation erheblich und auf Dauer zu einer allgemeinen „Warenversorgungsleistung“ abgewertet würden, die sich von den von ihren Wettbewerbern angebotenen Dienstleistungen nicht unterscheide.

17.
    Sie trägt vor, die Feststellung der Kommission, es liege aufgrund des ersten Anscheins ein Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung der Antragstellerin vor, weil die Struktur 1860 Bausteine eine Industrienorm sei und deshalb für Wettbewerber wie die Beschwerdeführerin NDC ein wesentliches Hilfsmittel darstelle, sei ein neuer rechtlicher Beschwerdepunkt, den die Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht erwähnt habe und zu dem sich zu äußern ihr vor Erlass der angefochtenen Entscheidung nicht hinreichend Gelegenheit gegeben worden sei.

18.
    Zur Interessenabwägung trägt die Antragstellerin vor, sie setze sich deshalb für eine Aussetzung der Entscheidung ein, weil die von der Kommission angeordneten einstweiligen Maßnahmen nicht „conservatoire“ (sichernd) seien. Anstatt den Status quo zu erhalten und damit die Wirksamkeit der endgültigen Entscheidung in der Hauptsache zu gewährleisten, veränderten sie den Status quo, indem sie die Antragstellerin verpflichteten, Lizenzvereinbarungen mit NDC und AzyX auszuhandeln, obwohl diese Unternehmen bisher nicht nur über keine Lizenz verfügten, sondern, wie von den deutschen Gerichten festgestellt,ihr Urheberrecht an der Struktur 1860 Bausteine verletzten. Da in der angefochtenen Entscheidung davon ausgegangen werde, dass diese Unternehmen bereits auf dem deutschen Markt tätig seien und ihre eigenen Bausteinstrukturen entwickelt hätten, bestehe im Übrigen kein einstweiliger Bedarf, ihnen eine Lizenz zur Nutzung der Struktur 1860 Bausteine zu gewähren, damit sie interessierten Pharmaunternehmen dieselben Dienstleistungen anbieten könnten wie die Antragstellerin.

19.
    Nach Artikel 105 § 2 Absatz 2 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichts einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz stattgeben, bevor die Stellungnahme der Gegenpartei eingeht. Ein entsprechender Beschluss kann später auf Antrag einer der Parteien des Verfahrens der einstweiligen Anordnung oder von Amts wegen abgeändert oder aufgehoben werden.

20.
    Nach ständiger Rechtsprechung gestattet es Artikel 105 § 2 der Verfahrensordnung dem Richter der einstweiligen Anordnung, einstweilige Anordnungen zu erlassen, wenn dies erforderlich ist, damit er genügend Zeit hat, sich hinreichend zu informieren, um über einen komplexen tatsächlichen oder rechtlichen Sachverhalt entscheiden zu können, der durch den ihm vorliegenden Antrag aufgeworfen wird, oder wenn es im Interesse einer geordneten Rechtspflege wünschenswert ist, dass der Status quo bis zur Entscheidung über den Antrag auf einstweilige Anordnung aufrechterhalten wird (Beschluss des Gerichtshofes vom 18. September 1986 in der Rechtssache 221/86 R, Fraktion der Europäischen Rechten/Parlament, Slg. 1986, 2579, Randnr. 9, vom 20. Juli 1988 in der Rechtssache 194/88 R Kommission/Italien, Slg. 1988, 4547, Randnr. 3, vom 28. Juni 1990 in der Rechtssache C-195/90 R, Kommission/Deutschland, Slg. 1990, I-2715, Randnr. 20, vom 2. April 1993 in der Rechtssache T-12/93, CCE de Vittel u. a./Kommission, Slg. 1993, II-449, Randnr. 33). Der durch diese Bestimmung gewährten Befugnis muss nicht notwendig eine andere Reichweite zugeschrieben werden, wenn die Entscheidung, zu der eine einstweilige Anordnung begehrt wird, dahin geht, dass darin die Kommission bis zur Beendigung des Verfahrens nach der Verordnung Nr. 17 wegen einer möglichen Verletzung des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts einstweilige Maßnahmen erlassen hat (Beschluss des Gerichtshofes vom 6. September 1982 in der Rechtssache 229/82 R, Ford AG/Kommission, Slg. 1982, 2849, Randnrn. 7 und 8).

21.
    Im vorliegenden Fall ist zunächst daran zu erinnern, dass Artikel 295 EG bestimmt: „Dieser Vertrag lässt die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt.“ Nach Artikel 295 EG muss der Richter der einstweiligen Anordnung daher eine Entscheidung der Kommission, mit der der Inhaber eines anerkannten und durch das nationale Recht geschützten Immaterialgüterrechts durch sich imRahmen eines laufenden Verfahrens nach Artikel 3 der Verordnung Nr. 17 getroffene einstweilige Maßnahmen verpflichtet wird, Lizenzen für die Verwendung dieses Vermögensrechts zu erteilen, normalerweise mit Umsicht prüfen.

22.
    Aus der angefochtenen Entscheidung scheint hervorzugehen, dass die Kommission diese insbesondere auf ihre Auffassung über die Reichweite der vom Gerichtshof in der Rechtssache Magill (Urteil des Gerichtshofes vom 6. April 1995 in den Rechtssachen C-241/91 P und C-242/91 P, RTE und ITP/Kommission, Slg. 1995, I-743) entwickelten Grundsätze gestützt hat. In dieser Rechtssache hat der Gerichtshof das Vorbringen abgelehnt, die Ausübung eines nationalen Urheberrechts sei „jeder Beurteilung anhand des Artikels [82] des Vertrages entzogen“, und dann festgestellt, dass „die Verweigerung einer Lizenz als solche keinen Missbrauch einer beherrschenden Stellung darstellen kann, selbst wenn sie von einem Unternehmen in beherrschender Stellung ausgehen sollte“ (Randnrn. 48 und 49). Anschließend hat er ausgeführt, dass „[d]ie Ausübung des ausschließlichen Rechts durch den Inhaber ... unter außergewöhnlichen Umständen ein missbräuchliches Verhalten darstellen [kann]“ (Randnr. 50).

23.
    Zu der Frage, ob in jenem Fall solche „außergewöhnlichen Umstände“ vorlagen, hat der Gerichtshof aufgrund der Sachverhaltsfeststellung des Gerichts erster Instanz zum Vorliegen eines eigenen Marktes für die Versorgung mit umfassenden wöchentlichen Fernsehprogrammführern, der sich von demjenigen für die bereits u. a. von jedem der Rechtsmittelführerinnen produzierten separaten Wochenführer unterscheidet (Randnr. 52), Folgendes festgestellt (Randnrn. 53 bis 57):

„Auf diese Weise ließen die Rechtsmittelführerinnen - die zwangsläufig die einzige Quelle für die Grundinformationen über die Programmplanung waren, die das unentbehrliche Ausgangsmaterial für die Herstellung eines wöchentlichen Fernsehprogrammführers bildeten - den Fernsehzuschauern, die sich über die Programmangebote für die kommende Woche informieren wollten, keine andere Möglichkeit, als sich die wöchentlichen Programmführer für jeden Sender zu kaufen und daraus selbst die Angaben zu entnehmen, die sie benötigten, um Vergleiche anzustellen.

Die auf nationale urheberrechtliche Vorschriften gestützte Weigerung der Rechtsmittelführerinnen, die Grundinformationen zur Verfügung zu stellen, hat somit das Auftreten eines neuen Erzeugnisses, nämlich eines umfassenden wöchentlichen Fernsehprogrammführers, den sie selbst nicht anboten und nach dem eine potenzielle Nachfrage der Verbraucherbestand, verhindert, was einen Missbrauch gemäß Artikel [82] Absatz 2 Buchstabe b des Vertrages darstellt.

Zweitens war diese Weigerung weder durch die Tätigkeit der Ausstrahlung von Fernsehsendungen noch durch die der Herausgabe von Fernsehzeitschriften gerechtfertigt ...

Schließlich und drittens behielten sich die Rechtsmittelführerinnen, wie auch das Gericht festgestellt hat, durch ihr Verhalten einen abgeleiteten Markt - den der wöchentlichen Fernsehprogrammführer - vor, indem sie jeden Wettbewerb auf diesem Markt ausschlossen ..., da sie den Zugang zu den Grundinformationen - dem unentbehrlichen Ausgangsmaterial für die Herstellung eines solchen Programmführers - verweigerten.

Unter Berücksichtigung aller dieser Umstände hat das Gericht keinen Rechtsirrtum begangen, als es das Verhalten der Rechtsmittelführerinnen als Missbrauch einer beherrschenden Stellung im Sinne des Artikels [82] des Vertrages qualifiziert hat.“

24.
    Aus der Argumentation des Gerichtshofes in der Rechtssache Magill ergibt sich eindeutig, dass eine Reihe möglicherweise erheblicher Unterschiede zwischen dem Sachverhalt jener Rechtssache und dem im vorliegenden Fall in der angefochtenen Entscheidung festgestellten Sachverhalt bestehen. Die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegende Betrachtungsweise der Kommission scheint aus vorläufiger Sicht aber weitgehend von dem Umfang des Begriffes der „außergewöhnlichen Umstände“ abzuhängen, auf den sich der Gerichtshof in jener Rechtssache bezieht. Eine einstweilige Beurteilung sowohl der angefochtenen Entscheidung als auch des vorliegenden Antrags ergibt auch, dass die Antragstellerin fürs Erste glaubhaft gemacht hat, dass die Kommission die Reichweite der in der Rechtssache Magill dargelegten Grundsätze verkannt hat, indem sie festgestellt hat, die Weigerung der Antragstellerin, u. a. NDC eine urheberrechtliche Lizenz zu erteilen, damit diese im Wesentlichen die gleichen, auf frei zugänglichen Daten beruhenden Informationsdienstleistungen auf demselben Markt denselben potenziellen Kunden wie die Antragstellerin anbieten könne, stelle trotz der Unterschiede zwischen jener Rechtssache und dem vorliegenden Fall aufgrund des ersten Anscheins einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung dar. Selbst wenn die Kommission zu Recht festgestellt hätte, dass wegen der genannten tatsächlichen Unterschiede allein nicht ausgeschlossen werden könne, dass die angegriffene Weigerung der Antragstellerin, eine Lizenz für die Nutzung ihres Urheberrechts zu erteilen, mit den Zielen des Artikels 82 EG potenziell unvereinbar sei, kann dies die Richtigkeit der Schlussfolgerungen auch nicht vorübergehend bestätigen, die sie imletzten Satz der Randnummer 67 der angefochtenen Entscheidung zur Rechtfertigung der damit erlassenen weitreichenden einstweiligen Maßnahmen aus der Rechtssache Magill zieht.

25.
    Fürs Erste hat die Antragstellerin auch glaubhaft gemacht, dass die von der Kommission erlassenen einstweiligen Maßnahmen die Berechtigung zum Erlass einstweiliger Maßnahmen hinausgeht, die die Kommission nach der Camera-Care-Rechtsprechung hat. Anstatt den Status quo ante zu erhalten, bei dem NDC und AzyX Dienstleistungen erbrachten, die nach Feststellung der nationalen Gerichte das Urheberrecht der Antragstellerin verletzten, verpflichtet die angefochtene Entscheidung die Antragstellerin, den genannten Unternehmen eine Lizenz zu erteilen, damit sie dieses Urheberrecht rechtmäßig nutzen können, bis die Kommission zum Abschluss ihrer Prüfung der Beschwerde von NDC eine endgültige Entscheidung erlässt. Wenn die Kommission in der angefochtenen Entscheidung zum entsprechenden Vorbringen der Antragstellerin in ihrer Stellungnahme zu der Mitteilung der Beschwerdepunkte feststellt, die in ihrer Entscheidung erlassenen einstweiligen Maßnahmen „bewahren lediglich die Fähigkeit von NDC, Wettbewerb auf dem Markt zu führen, und gehen nicht über das hinaus, was in dieser Situation erforderlich ist, um eine nicht hinnehmbare Schädigung des öffentlichen Interesses zu verhindern“ (Randnr. 217 der angefochtenen Entscheidung), so scheint dies, zumindest nach einer ersten Beurteilung, dem Vorbringen der Antragstellerin nicht zu widersprechen, sie machten ein zuvor unrechtmäßiges Verhalten rechtmäßig und seien deshalb als einstweilige Maßnahmen ungeeignet.

26.
    Im Übrigen scheint die Antragstellerin zumindest vorläufig glaubhaft gemacht zu haben, dass sich die Feststellung der Kommission in der angefochtenen Entscheidung, die Struktur 1860 Bausteine sei eine Industrienorm geworden, auf Beweise stützt, von denen sie viele, wenn nicht alle, erst erhalten hat, nachdem die Antragstellerin ihre schriftlichen und mündlichen Anmerkungen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte gemacht hatte. Es könnte deshalb sein, dass der Antragstellerin vor Erlass der angefochtenen Entscheidung nicht hinreichend Gelegenheit gegeben wurde, diese Beweise zu widerlegen.

27.
    Unter diesen Umständen ist offensichtlich, dass der Richter der einstweiligen Anordnung gemäß der in Randnummer 20 genannten Rechtsprechung Zeit benötigt, die im vorliegenden Antrag aufgeworfenen schwierigen tatsächlichen und rechtlichen Fragen zu prüfen. Insbesondere wegen der beträchtlichen wirtschaftlichen Folgen, die sich für die Antragstellerin aus einer die Bedingungen einer zwingenden Lizenz für ihr Urheberrecht an der Struktur 1860 Bausteine festlegenden Entscheidung der Kommission ergeben könnten, und wegender ernsten Verletzung ihrer Vermögensrechte, die jede solche Entscheidung bewirken würde, rechtfertigt eine geordnete Rechtspflege derzeit eine zeitweilige Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung.

28.
    Demnach ist es unbeschadet des endgültigen Ergebnisses im vorliegenden Verfahren im Interesse der geordneten Rechtspflege erforderlich, die Aussetzung der angefochtenen Entscheidung als Sicherungsmaßnahme bis zum Erlass der endgültigen Entscheidung anzuordnen, ohne die Stellungnahme der Kommission abzuwarten, der aufgrund eines Antrags auf Fristverlängerung eine Erklärungsfrist bis zum 12. September eingeräumt worden ist.

29.
    Da ein Beschluss zur Beendigung eines Verfahrens der einstweiligen Anordnung schnell erlassen werden muss, erleidet weder das Interesse der Kommission noch das der Wettbewerber der Antragstellerin, insbesondere der NDC, am Vollzug der in der angefochtenen Entscheidung erlassenen einstweiligen Maßnahmen durch diese vorläufige Sicherungsmaßnahme einen nicht wieder gut zu machenden Schaden.

Aus diesen Gründen

hat

DER PRÄSIDENT DES GERICHTS

beschlossen:

1.    Der Vollzug der Entscheidung der Kommission vom 3. Juli 2001 in einem Verfahren nach Artikel 82 EG (Sache COMP D3/38.044 - NDC Health/IMS HEALTH: Einstweilige Maßnahmen) wird bis zum Erlass des das vorliegende Verfahren der einstweiligen Anordnung beendenden Beschlusses ausgesetzt.

2.    Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 10. August 2001

Der Kanzler

Der Präsident

H. Jung

B. Vesterdorf


1: Verfahrenssprache: Englisch.

Slg.