Language of document : ECLI:EU:C:2019:1071

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

12. Dezember 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Verordnung (EU) 2016/399 – Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) – Art. 6 – Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige – Begriff ‚Gefahr für die öffentliche Ordnung‘ – Rückkehrentscheidung gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen“

In der Rechtssache C‑380/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 6. Juni 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juni 2018, in dem Verfahren

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

gegen

E.P.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richterin C. Toader,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Mai 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von E.P., vertreten durch Š. Petković, advocaat,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch J. M. Hoogveld, M. A. M. de Ree, M. L. Noort und M. K. Bulterman als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch C. Van Lul, C. Pochet und P. Cottin als Bevollmächtigte im Beistand von C. Decordier, avocate, und T. Bricout, advocaat,

–        der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch T. Henze und R. Kanitz, dann durch R. Kanitz als Bevollmächtigte,

–        der schweizerischen Regierung, vertreten durch S. Lauper als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils, J. Tomkin und C. Cattabriga als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Juli 2019

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1; im Folgenden: Schengener Grenzkodex).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande; im Folgenden: Staatssecretaris) und E.P. über die Rechtmäßigkeit eines Bescheids, der Letzteren dazu verpflichtet, das Hoheitsgebiet der Europäischen Union zu verlassen.

 Rechtlicher Rahmen

 Schengener Durchführungsübereinkommen

3        Art. 5 Abs. 1 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19; im Folgenden: Schengener Durchführungsübereinkommen) sah vor:

„Für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten kann einem Drittausländer die Einreise in das Hoheitsgebiet der Vertragsparteien gestattet werden, wenn er die nachstehenden Voraussetzungen erfüllt:

a)      Er muss im Besitz eines oder mehrerer gültiger Grenzübertrittspapiere sein, die von dem Exekutivausschuss bestimmt werden.

c)      Er muss gegebenenfalls die Dokumente vorzeigen, die seinen Aufenthaltszweck und die Umstände seines Aufenthalts belegen, und über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts … verfügen oder in der Lage sein, diese Mittel auf legale Weise zu erwerben.

d)      Er darf nicht zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein.

e)      Er darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die nationale Sicherheit oder die internationalen Beziehungen einer der Vertragsparteien darstellen.“

4        Art. 20 Abs. 1 des Schengener Durchführungsübereinkommens bestimmt in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung:

„Sichtvermerksfreie Drittausländer können sich in dem Hoheitsgebiet der Vertragsparteien frei bewegen, höchstens jedoch 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen und soweit sie die in Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a), c), d) und e) aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen.“

 Richtlinie 2004/38/EG

5        Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35) lautet:

„Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“

 Verordnung (EG) Nr. 1987/2006

6        Art. 24 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II) (ABl. 2006, L 381, S. 4) bestimmt:

„1.      Die Daten zu Drittstaatsangehörigen, die zur Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung ausgeschrieben sind, werden aufgrund einer nationalen Ausschreibung eingegeben, die auf einer Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörden oder Gerichte beruht, wobei die Verfahrensregeln des nationalen Rechts zu beachten sind; diese Entscheidung darf nur auf der Grundlage einer individuellen Bewertung ergehen. Rechtsbehelfe gegen diese Entscheidungen richten sich nach den nationalen Rechtsvorschriften.

2.      Eine Ausschreibung wird eingegeben, wenn die Entscheidung nach Absatz 1 auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder die nationale Sicherheit gestützt wird, die die Anwesenheit des betreffenden Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats darstellt. Dies ist insbesondere der Fall

a)      bei einem Drittstaatsangehörigen, der in einem Mitgliedstaat wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist;

b)      bei einem Drittstaatsangehörigen, gegen den ein begründeter Verdacht besteht, dass er schwere Straftaten begangen hat, oder gegen den konkrete Hinweise bestehen, dass er solche Taten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats plant.“

 Richtlinie 2008/115/EG

7        Art. 3 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) lautet wie folgt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

2.      ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

…“

8        Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.“

 Visakodex

9        Art. 21 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. 2009, L 243, S. 1; im Folgenden: Visakodex) bestimmt:

„Bei der Prüfung eines Antrags auf ein einheitliches Visum ist festzustellen, ob der Antragsteller die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a, c, d und e [der Verordnung Nr. 562/2006] erfüllt, und ist insbesondere zu beurteilen, ob bei ihm das Risiko der rechtswidrigen Einwanderung besteht, ob er eine Gefahr für die Sicherheit der Mitgliedstaaten darstellt und ob er beabsichtigt, vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des beantragten Visums das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu verlassen.“

 Schengener Grenzkodex

10      Die Erwägungsgründe 6 und 27 des Schengener Grenzkodex lauten wie folgt:

„(6)      Grenzkontrollen liegen nicht nur im Interesse des Mitgliedstaats, an dessen Außengrenzen sie erfolgen, sondern auch im Interesse sämtlicher Mitgliedstaaten, die die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft haben. Grenzkontrollen sollten zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung und des Menschenhandels sowie zur Vorbeugung jeglicher Bedrohung der inneren Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gesundheit und der internationalen Beziehungen der Mitgliedstaaten beitragen.

(27)      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist eine Abweichung vom grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit eng auszulegen und setzt der Rückgriff auf den Begriff der öffentlichen Ordnung auf jeden Fall voraus, dass eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.“

11      Art. 2 dieses Kodex sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

5.      ‚Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben‘

a)      die Unionsbürger im Sinne des Artikels 20 Absatz 1 AEUV sowie Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines sein Recht auf freien Personenverkehr ausübenden Unionsbürgers sind, die unter die Richtlinie 2004/38… fallen;

b)      Drittstaatsangehörige und ihre Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die aufgrund von Übereinkommen zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und den betreffenden Drittstaaten andererseits ein Recht auf freien Personenverkehr genießen, das dem der Unionsbürger gleichwertig ist;

…“

12      Art. 6 Abs. 1 dieses Kodex bestimmt:

„Für einen geplanten Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen, wobei der Zeitraum von 180 Tagen, der jedem Tag des Aufenthalts vorangeht, berücksichtigt wird, gelten für einen Drittstaatsangehörigen folgende Einreisevoraussetzungen:

d)      Er darf nicht im [Schengener Informationssystem (SIS)] zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein.

e)      Er darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen und darf insbesondere nicht in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden sein.“

13      Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 3 des Kodex sieht vor:

„Auf nicht systematische Weise können die Grenzschutzbeamten jedoch bei der Durchführung von Mindestkontrollen bei Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben, die nationalen und europäischen Datenbanken abfragen, um sicherzustellen, dass eine solche Person keine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit, die öffentliche Ordnung, die internationalen Beziehungen der Mitgliedstaaten oder die öffentliche Gesundheit darstellt.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14      Im Zuge eines kurzen Aufenthalts in den Niederlanden, für den er von der Visumpflicht befreit war, wurde der Drittstaatsangehörige E.P. verdächtigt, gegen die niederländischen strafrechtlichen Suchtmittelvorschriften verstoßen zu haben.

15      Mit Bescheid vom 19. Mai 2016 verpflichtete der Staatssecretaris E.P. dazu, das Hoheitsgebiet der Union zu verlassen, weil er insofern nicht mehr die Voraussetzung des Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex erfülle, als er eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle.

16      E.P. erhob gegen diesen Bescheid Klage bei der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Amsterdam (Gericht erster Instanz Den Haag, Außenstelle Amsterdam, Niederlande).

17      Mit Urteil vom 13. September 2016 gab dieses Gericht der Klage statt und erklärte den Bescheid des Staatssecretaris für nichtig.

18      Der Staatssecretaris legte gegen dieses Urteil Berufung ein.

19      Für das vorlegende Gericht stellt sich insbesondere im Hinblick auf die Art des gegen E.P. ergangenen Bescheids, die Komplexität der vom Staatssecretaris beim Erlass einer solchen Entscheidung vorzunehmenden Beurteilungen sowie den Umstand, dass sich E.P. an dem Tag, an dem dieser Bescheid erlassen wurde, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befand, die Frage, ob die Feststellung einer Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex den Nachweis erforderte, dass das persönliche Verhalten von E.P. eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührte.

20      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts erlaubt der derzeitige Stand der Rechtsprechung des Gerichtshofs nach den Urteilen vom 19. Dezember 2013, Koushkaki (C‑84/12, EU:C:2013:862), vom 11. Juni 2015, Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377), vom 24. Juni 2015, T. (C‑373/13, EU:C:2015:413), vom 15. Februar 2016, N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84), und vom 4. April 2017, Fahimian (C‑544/15, EU:C:2017:255), keine eindeutige Antwort auf diese Frage.

21      Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen, dass bei der Feststellung, dass der rechtmäßige Aufenthalt von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen beendet ist, weil ein Ausländer eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, zu begründen ist, dass das persönliche Verhalten des betreffenden Ausländers eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt?

2.      Für den Fall, dass Frage 1 zu verneinen ist, welche Anforderungen bestehen dann nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex an die Begründung, dass ein Ausländer eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt?

Ist Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der ein Ausländer allein deshalb eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, weil feststeht, dass er im Verdacht steht, eine strafbare Handlung begangen zu haben?

 Zu den Vorlagefragen

22      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen ist, dass er einer innerstaatlichen Praxis entgegensteht, nach der die zuständigen Behörden eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem nicht visumpflichtigen Drittstaatsangehörigen, der sich für einen kurzen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befindet, erlassen können, weil dieser wegen des Verdachts der Begehung einer Straftat als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen wird.

23      Nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex zählt zu den Einreisevoraussetzungen für einen kurzen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, dass der betreffende Drittstaatsangehörige keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen darf.

24      Obwohl diese Bestimmung diese Anforderung als Voraussetzung für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten anführt, ist festzuhalten, dass auch nach dem Eintritt in dieses Hoheitsgebiet die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts dort von der Erfüllung dieser Anforderung abhängt.

25      Zum einen nämlich sieht Art. 20 Abs. 1 des Schengener Durchführungsübereinkommens vor, dass sich sichtvermerksfreie Drittstaatsangehörige im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten während des in dieser Bestimmung festgelegten Zeitraums frei bewegen können, soweit sie die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, c, d und e dieses Übereinkommens aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen.

26      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 6 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 562/2006 ersetzt hat, der wiederum Art. 5 Abs. 1 des Schengener Durchführungsübereinkommens substituierte. Somit ist Art. 20 Abs. 1 dieses Übereinkommens nunmehr als Verweis auf Art. 6 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex zu verstehen.

27      Zum anderen ist gemäß Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115 ein Drittstaatsangehöriger, der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats anwesend ist, ohne die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 der Verordnung Nr. 562/2006 (nunmehr ersetzt durch Art. 6 des Schengener Grenzkodex) oder andere Voraussetzungen für die Einreise oder den Aufenthalt zu erfüllen, aufgrund dieses Umstands dort illegal aufhältig (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 59).

28      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass, da nach Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten grundsätzlich gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung erlassen, ein Mitgliedstaat eine solche Entscheidung gegen einen sichtvermerksfreien Drittstaatsangehörigen, der sich für einen kurzen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befindet, erlassen kann, wenn dieser eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex darstellt.

29      In diesem Zusammenhang ist zur Bestimmung der Tragweite des in dieser Bestimmung verwendeten Begriffs „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Unionsbürger, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, sowie bestimmte seiner Familienmitglieder nur dann als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen werden dürfen, wenn ihr individuelles Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats berührt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C‑482/01 und C‑493/01, EU:C:2004:262, Rn. 66 und 67, sowie vom 10. Juli 2008, Jipa, C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 23 und 24).

30      Der Begriff „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ wurde in weiterer Folge im Rahmen mehrerer Richtlinien über den Status von Drittstaatsangehörigen, die keine Familienmitglieder eines Unionsbürgers sind, in gleicher Weise ausgelegt (vgl. Urteile vom 11. Juni 2015, Zh. und O., C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 60, vom 24. Juni 2015, T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 79, sowie vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 67).

31      Allerdings ist nicht jede Bezugnahme des Unionsgesetzgebers auf den Begriff „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ zwingend als ausschließlicher Verweis auf ein individuelles Verhalten zu verstehen, das eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats berührt.

32      So hat der Gerichtshof hinsichtlich des verwandten Begriffs „Bedrohung für die öffentliche Sicherheit“ im Zusammenhang mit der Richtlinie 2004/114/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst (ABl. 2004, L 375, S. 12) entschieden, dass dieser Begriff weiter auszulegen ist als im Rahmen der Rechtsprechung zu Personen, die ihr Recht auf Freizügigkeit wahrnehmen, und dass er insbesondere potenzielle Gefahren für die öffentliche Sicherheit einschließen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. April 2017, Fahimian, C‑544/15, EU:C:2017:255, Rn. 40).

33      Somit sind zur Bestimmung der Tragweite des Begriffs „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex der Wortlaut dieser Bestimmung, ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2015, T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 58, und vom 4. April 2017, Fahimian, C‑544/15, EU:C:2017:255, Rn. 30).

34      Was erstens den Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung im Unterschied insbesondere zu Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 es für die Beurteilung einer Person als Gefahr für die öffentliche Ordnung nicht ausdrücklich erfordert, dass das Verhalten der betreffenden Person eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

35      Diese Beurteilung wird zweitens durch den Kontext bestätigt, in den Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex eingebettet ist.

36      Zunächst einmal steht diese Bestimmung insoweit auch in engem Zusammenhang mit dem Visakodex, als die Erfüllung der von ihr normierten Einreisevoraussetzung gemäß Art. 21 Abs. 1 des Visakodex vor der Ausstellung eines einheitlichen Visums zu prüfen ist.

37      Daher muss der vom Gerichtshof den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Überprüfung der Einhaltung der Voraussetzungen für die Erteilung eines einheitlichen Visums zugestandene weite Beurteilungsspielraum unter Berücksichtigung der Komplexität einer solchen Prüfung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2013, Koushkaki, C‑84/12, EU:C:2013:862, Rn. 56 bis 60) diesen Behörden logischerweise auch dann zukommen, wenn sie bestimmen, ob von einem Drittstaatsangehörigen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex ausgeht.

38      Des Weiteren beziehen sich zwar der 27. Erwägungsgrund sowie Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 3 des Schengener Grenzkodex ausdrücklich auf Konstellationen, in denen eine Person eine „tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr“ für die öffentliche Ordnung darstellt, allerdings gilt dies nur für die Situation von Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr im Sinne von Art. 2 Nr. 5 dieses Kodex haben.

39      Hätte der Unionsgesetzgeber unter diesen Umständen die Anwendung von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex auch an das Vorliegen einer solchen Konstellation knüpfen wollen, so hätte er diese Bestimmung logischerweise ebenso formuliert wie Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 3 dieses Kodex.

40      Schließlich ist nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. d des Schengener Grenzkodex eine Einreisevoraussetzung für einen kurzen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten auch die, dass er nicht im SIS zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein darf.

41      Nun kann aber gemäß Art. 24 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1987/2006 ein Drittstaatsangehöriger, der wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist, oder gegen den ein begründeter Verdacht besteht, dass er schwere Straftaten begangen hat, im SIS zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben werden, sofern er eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellt.

42      Folglich unterscheidet sich somit der Begriff „Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ im Sinne dieser Bestimmung erheblich von dem in Rn. 29 des vorliegenden Urteils angesprochenen (vgl. entsprechend Urteil vom 31. Januar 2006, Kommission/Spanien, C‑503/03, EU:C:2006:74, Rn. 48).

43      In diesem Zusammenhang wäre es im Rahmen des Schengener Grenzkodex inkohärent, davon auszugehen, dass der Begriff „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. e dieses Kodex enger wäre als der, von dem die Anwendung von dessen Art. 6 Abs. 1 Buchst. d abhängt.

44      Was drittens die Ziele des Schengener Grenzkodex betrifft, geht aus dessen sechstem Erwägungsgrund hervor, dass Grenzkontrollen zur Vorbeugung „jeglicher Bedrohung“ der öffentlichen Ordnung beitragen sollten.

45      Mithin erweist sich zum einen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung als solche als eines der vom Schengener Grenzkodex verfolgten Ziele und zum anderen, dass der Unionsgesetzgeber die Absicht hatte, sämtliche Bedrohungen der öffentlichen Ordnung zu bekämpfen.

46      Angesichts all dieser Erwägungen kann Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex nicht dahin ausgelegt werden, dass er grundsätzlich einer innerstaatlichen Praxis entgegenstünde, nach der gegenüber einem sichtvermerksfreien Drittstaatsangehörigen, der sich für einen kurzen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befindet, eine Rückkehrentscheidung erlassen wird, weil gegen ihn der Verdacht der Begehung einer Straftat besteht, ohne dass festgestellt wurde, dass sein Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats berührt.

47      Allerdings muss eine solche innerstaatliche Praxis dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen, der einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts bildet, und darf somit insbesondere nicht über das hinausgehen, was zum Schutz der öffentlichen Ordnung erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Mai 2019, Lavorgna, C‑309/18, EU:C:2019:350, Rn. 24, vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 68, und vom 9. Juli 2015, K und A, C‑153/14, EU:C:2015:453, Rn. 51).

48      Daraus folgt zum einen, dass die Straftat, deren Begehung der betreffende Drittstaatsangehörige verdächtig ist, angesichts ihrer Art und der drohenden Strafe eine hinreichende Schwere aufweisen muss, um die sofortige Beendigung seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu rechtfertigen.

49      Zum anderen können sich die zuständigen Behörden, wenn keine Verurteilung ergangen ist, nur dann auf eine Gefahr für die öffentliche Ordnung berufen, wenn übereinstimmende, objektive und eindeutige Indizien vorliegen, die den Verdacht stützen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine solche Straftat begangen hat.

50      Die Prüfung, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende innerstaatliche Praxis diesen Anforderungen genügt, obliegt dem vorlegenden Gericht.

51      Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen ist, dass er einer innerstaatlichen Praxis nicht entgegensteht, nach der die zuständigen Behörden eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem nicht visumpflichtigen Drittstaatsangehörigen, der sich für einen kurzen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befindet, erlassen können, weil dieser wegen des Verdachts der Begehung einer Straftat als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen wird, sofern diese Praxis nur dann zur Anwendung gelangt, wenn diese Straftat zum einen angesichts ihrer Art und der drohenden Strafe eine hinreichende Schwere aufweist, um die sofortige Beendigung des Aufenthalts dieses Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu rechtfertigen, und zum anderen die zuständigen Behörden über übereinstimmende, objektive und eindeutige Indizien verfügen, die ihren Verdacht stützen, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

 Kosten

52      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 6 Abs. 1 Buchst. e der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) ist dahin auszulegen, dass er einer innerstaatlichen Praxis nicht entgegensteht, nach der die zuständigen Behörden eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem sichtvermerksfreien Drittstaatsangehörigen, der sich für einen kurzen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befindet, erlassen können, weil dieser wegen des Verdachts der Begehung einer Straftat als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen wird, sofern diese Praxis nur dann zur Anwendung gelangt, wenn diese Straftat zum einen angesichts ihrer Art und der drohenden Strafe eine hinreichende Schwere aufweist, um die sofortige Beendigung des Aufenthalts dieses Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu rechtfertigen, und zum anderen die zuständigen Behörden über übereinstimmende, objektive und eindeutige Indizien verfügen, die ihren Verdacht stützen, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.