Language of document : ECLI:EU:C:2019:476

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

4. Juni 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste – Richtlinie 2004/18/EG – Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d – Ausschlussgründe – Schwere berufliche Verfehlung – Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln“

In der Rechtssache C‑425/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale amministrativo regionale per il Piemonte (Regionales Verwaltungsgericht Piemont, Italien) mit Entscheidung vom 7. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juni 2018, in dem Verfahren

Consorzio Nazionale Servizi Società Cooperativa (CNS)

gegen

Gruppo Torinese Trasporti GTT SpA,

Beteiligte:

Consorzio Stabile Gestione Integrata Servizi Aziendali GISA,

La Lucente SpA,

Dussmann Service Srl,

So.Co.Fat. SC,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter D. Šváby (Berichterstatter) und S. Rodin,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Consorzio Nazionale Servizi Società Cooperativa (CNS), vertreten durch F. Cintioli, G. Notarnicola, E. Perrettini und A. Police, avvocati,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von D. Del Gaizo, avvocato dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara, P. Ondrůšek und L. Haasbeek als Bevollmächtigte,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 53 Abs. 3 und Art. 54 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste (ABl. 2004, L 134, S. 1) sowie Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Consorzio Nazionale Servizi Società Cooperativa (CNS) und der Gruppo Torinese Trasporti GTT SpA (im Folgenden: GTT), der sich insbesondere auf die Aufhebung der Entscheidung von GTT richtet, den CNS erteilten Zuschlag für einen öffentlichen Auftrag zu widerrufen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2004/17

3        Nach Art. 53 („Prüfungssysteme“) Abs. 3 der Richtlinie 2004/17 und Art. 54 („Eignungskriterien“) Abs. 4 dieser Richtlinie können zum einen die Prüfkriterien und ‑regeln und zum anderen die Eignungskriterien „auch die in Artikel 45 der Richtlinie [2004/18] aufgeführten Ausschlusskriterien gemäß den darin genannten Bedingungen beinhalten“.

 Richtlinie 2004/18

4        Art. 45 („Persönliche Lage des Bewerbers bzw. Bieters“) der Richtlinie 2004/18 findet sich in einem Abschnitt über „Eignungskriterien“ und bestimmt:

„…

(2)      Von der Teilnahme am Vergabeverfahren kann jeder Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden,

d)      die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen haben, die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde;

Die Mitgliedstaaten legen nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unter Beachtung des [Unions]rechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Absatzes fest.

…“

 Italienisches Recht

5        Mit dem Decreto legislativo n. 163 – Codice dei contratti pubblici relativi a lavori, servizi e forniture in attuazione delle direttive 2004/17/CE e 2004/18/CE (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 163 – Gesetzbuch über öffentliche Bau‑, Dienstleistungs- und Lieferaufträge zur Umsetzung der Richtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG) vom 12. April 2006 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 100 vom 2. Mai 2006, im Folgenden: Gesetzbuch über das öffentliche Auftragswesen) waren die Richtlinien 2004/17 und 2004/18 in italienisches Recht umgesetzt worden.

6        Art. 38 („Anforderungen allgemeiner Art“) des Gesetzbuchs über das öffentliche Auftragswesen führte in Abs. 1 die Gründe für den Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren auf:

„1.      Ausgeschlossen von der Teilnahme an Verfahren zur Vergabe von Konzessionen und öffentlichen Bau‑, Liefer‑, und Dienstleistungsaufträgen sowie von der Vergabe von Unteraufträgen und nicht zum Abschluss der entsprechenden Verträge berechtigt sind Personen, die

f)      die sich nach der begründeten Beurteilung des öffentlichen Auftraggebers bei der Erbringung der Leistungen, die der öffentliche Auftraggeber, der die Ausschreibung vorgenommen hat, an sie vergeben hat, grobe Fahrlässigkeit oder Bösgläubigkeit haben zuschulden kommen lassen, oder die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen haben, die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde;

…“

7        Art. 230 Abs. 1 dieses Gesetzbuchs bestimmt:

„Die Auftraggeber wenden Art. 38 für die Feststellung der Anforderungen allgemeiner Art an die Bewerber oder Bieter an.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

8        GTT ist eine Gesellschaft, die Verkehrsdienstleistungen im Bereich städtische Eisenbahn, Straßenbahn, Trolleybus und Bus anbietet.

9        Mit einer Bekanntmachung zur Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union vom 30. Juli 2015 und einer Aufforderung zur Angebotsabgabe vom 27. November 2015 leitete GTT gemäß der Richtlinie 2004/17 ein nicht offenes Verfahren zur Vergabe von Dienstleistungen der Reinigung von Fahrzeugen, Räumen und Bereichen, Dienstleistungen der Verbringung und Betankung von Fahrzeugen sowie Nebendienstleistungen an ihren Standorten ein.

10      Sie wies darauf hin, dass sich der Gesamtwert dieses Auftrags, der sechs Lose umfasse, auf 29 434 319,39 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer belaufe und der Wert jedes Loses zwischen 4 249 999,10 Euro und 6 278 734,70 Euro liege.

11      Nachdem sie CNS den Zuschlag für drei dieser Lose erteilt hatte, widerrief sie diesen mit Entscheidung vom 14. Juli 2017 (im Folgenden: streitige Entscheidung). Dafür stützte sie sich auf eine Entscheidung der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Italien) (im Folgenden: AGCM) vom 22. Dezember 2015 (im Folgenden: Entscheidung der AGCM), mit der gegen CNS eine Geldbuße in Höhe von 56 190 090 Euro wegen Beteiligung an einer wettbewerbsbeschränkenden horizontalen Absprache, um den Ausgang eines von einem anderen Auftraggeber eingeleiteten Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags zu beeinflussen, verhängt worden war.

12      In der streitigen Entscheidung führte GTT zudem aus, dass die Entscheidung der AGCM bereits durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt worden sei. Sie stützt sich außerdem auf zwei Urteile vom 29. März bzw. 3. April 2017, mit denen das vorlegende Gericht entschieden habe, dass eine wettbewerbsbeschränkende Absprache, die vom betreffenden Wirtschaftsteilnehmer in einem anderen Vergabeverfahren getroffen und im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens festgestellt worden sei, eine schwere berufliche Verfehlung im Sinne von Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Gesetzbuchs über das öffentliche Auftragswesen und von Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 darstelle. Ferner rügt sie, CNS habe in den Antragsunterlagen für das betreffende Vergabeverfahren nicht angegeben, dass bei der AGCM ein Sanktionsverfahren gegen sie laufe, und erst im Lauf des Vergabeverfahrens Compliance-Maßnahmen ergriffen, so dass der Ausschlussgrund zu Beginn des Verfahrens noch nicht ausgeräumt gewesen sei.

13      GTT erachtete folglich das durch die AGCM sanktionierte Verhalten als geeignet, das Vertrauensverhältnis mit dem Auftraggeber zu beeinträchtigen.

14      Mit einstweiliger Verfügung vom 11. Oktober 2017 wies das vorlegende Gericht den Antrag von CNS auf einstweilige Anordnungen zurück.

15      Sowohl diese einstweilige Verfügung als auch die Urteile dieses Gerichts vom 29. März bzw. vom 3. April 2017 wurden vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Beschluss vom 20. November 2017 bzw. zwei Entscheidungen vom 4. Dezember 2017 und 5. Februar 2018 abgeändert. Nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts geht aus den Entscheidungen hervor, dass einen Wettbewerbsverstoß begründende Verhaltensweisen nicht als „schwere berufliche Verfehlungen“ im Sinne von Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Gesetzbuchs über das öffentliche Auftragswesen einzustufen seien. Als solche könnten nur „Pflichtverletzungen und Nachlässigkeiten bei der Ausführung eines öffentlichen Auftrags“ eingestuft werden. Auszuschließen seien daher „Handlungen in dem ihm vorausgehenden Vergabeverfahren, auch wenn sie rechtswidrig sind“. Diese Auslegung beruhe auf dem Bedürfnis der Wirtschaftsteilnehmer nach Rechtssicherheit. Nach Auffassung des Consiglio di Stato (Staatsrat) sei diese Auslegung mit dem Urteil vom 18. Dezember 2014, Generali-Providencia Biztosító (C‑470/13, EU:C:2014:2469), vereinbar, aus dem sich lediglich ergebe, dass eine nationale Regelung, die einen Wettbewerbsverstoß ausdrücklich als „schwere berufliche Verfehlung“ einstufe, nicht gegen Unionsrecht verstoße, aber nicht, dass das Unionsrecht vorschreibe, dass der Begriff „schwere berufliche Verfehlung“ diese Verstöße erfassen müsse. Daraus folge, dass im italienischen Recht die Begehung solcher Verstöße in Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge, die im Gesetzbuch über das öffentliche Auftragswesen geregelt seien, gänzlich unerheblich sei.

16      CNS beruft sich für ihre Klage auf Aufhebung der streitigen Entscheidung auf die drei Entscheidungen des Consiglio di Stato (Staatsrat).

17      Unter Berufung auf das Urteil vom 13. Dezember 2012, Forposta und ABC Direct Contact (C‑465/11, EU:C:2012:801, Rn. 33), weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Italienische Republik zwar von der den Mitgliedstaaten in Art. 54 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17 eingeräumten Befugnis, die in Art. 45 der Richtlinie 2004/18 genannten Ausschlusskriterien in die Eignungskriterien für die Wirtschaftsteilnehmer in den besonderen Sektoren aufzunehmen, Gebrauch gemacht habe, dass jedoch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Bestimmung im Ausgangsverfahren maßgeblich sei, auch wenn dieses ein nicht offenes Verfahren im Sinne der Richtlinie 2004/17 betreffe.

18      Nun habe der Gerichtshof in den Urteilen vom 13. Dezember 2012, Forposta und ABC Direct Contact (C‑465/11, EU:C:2012:801, Rn. 27), und vom 18. Dezember 2014, Generali-Providencia Biztosító (C‑470/13, EU:C:2014:2469, Rn. 35), aber bereits ausgeführt, dass der Begriff „Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ jedes fehlerhafte Verhalten umfasse, das Einfluss auf die berufliche Glaubwürdigkeit des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers habe, und dass die Begehung eines Verstoßes gegen Wettbewerbsrecht, insbesondere wenn dieser Verstoß mit einer Geldbuße geahndet werde, einen unter Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 fallenden Ausschlussgrund darstelle.

19      Aus dem Vergleich der Urteile vom 9. Februar 2006, La Cascina u. a. (C‑226/04 und C‑228/04, EU:C:2006:94, Rn. 23), und vom 13. Dezember 2012, Forposta und ABC Direct Contact (C‑465/11, EU:C:2012:801, Rn. 25), leitet das vorlegende Gericht im Wesentlichen ab, dass die Mitgliedstaaten hinsichtlich der fakultativen Ausschlussgründe, die für die Konkretisierung ihrer Anwendungsvoraussetzungen nicht auf die nationalen Rechtsvorschriften verwiesen, über ein eingeschränktes Ermessen verfügten.

20      Da es jedoch der Ansicht war, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den sogenannten „fakultativen“ Ausschlussgründen, die sich unter der Geltung der Richtlinien 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. 1992, L 209, S. 1) und 2004/18 entwickelt habe, nicht nur einer Auslegung zugänglich sei, ersucht es den Gerichtshof insoweit um Klärung.

21      Unter diesen Umständen hat das Tribunale amministrativo regionale per il Piemonte (Regionales Verwaltungsgericht Piemont, Italien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen zum einen Art. 53 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 54 Abs. 4 der Richtlinie 2004/17 und zum anderen Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 einer Regelung wie der des Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Gesetzbuchs über das öffentliche Auftragswesen in seiner Auslegung durch die nationale Rechtsprechung entgegen, wonach vom Anwendungsbereich einer von einem Wirtschaftsteilnehmer „im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit“ begangenen sogenannten „schweren Verfehlung“ einen Verstoß gegen Wettbewerbsvorschriften begründende Verhaltensweisen ausgeschlossen sind, die von der nationalen Kartellbehörde mit einer gerichtlich bestätigten Entscheidung festgestellt und geahndet worden sind, und wonach auf diese Weise öffentlichen Auftraggebern von vornherein verwehrt ist, derartige Verstöße im Sinne eines möglichen, aber nicht obligatorischen Ausschlusses dieses Wirtschaftsteilnehmers von einer Vergabe eines öffentlichen Auftrags eigenständig zu bewerten?

 Zur Vorlagefrage

22      Gemäß Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder die Beantwortung einer solchen Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

23      Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.

24      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie Art. 38 Abs. 1 Buchst. f des Gesetzbuchs über das öffentliche Auftragswesen in einer Auslegung entgegensteht, nach der vom Anwendungsbereich einer von einem Wirtschaftsteilnehmer „im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit“ begangenen „schweren Verfehlung“ einen Verstoß gegen Wettbewerbsregeln begründende Verhaltensweisen, die von der nationalen Kartellbehörde mit einer gerichtlich bestätigten Entscheidung festgestellt und geahndet worden sind, ausgeschlossen sind und es den öffentlichen Auftraggebern verwehrt ist, einen derartigen Verstoß im Hinblick auf einen etwaigen Ausschluss dieses Wirtschaftsteilnehmers von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags eigenständig zu bewerten.

25      Nach ständiger Rechtsprechung verfolgt Art. 45 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 keine einheitliche Anwendung der in ihm genannten Ausschlussgründe auf nationaler Ebene, da die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, diese Ausschlussgründe entweder überhaupt nicht anzuwenden oder aber diese Gründe je nach den auf nationaler Ebene maßgeblichen rechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Erwägungen im Einzelfall mit unterschiedlicher Strenge in die nationale Regelung aufzunehmen. In diesem Rahmen können die Mitgliedstaaten die in dieser Vorschrift festgelegten Kriterien abmildern oder flexibler gestalten (Urteile vom 10. Juli 2014, Consorzio Stabile Libor Lavori Pubblici, C‑358/12, EU:C:2014:2063, Rn. 36, und vom 14. Dezember 2016, Connexxion Taxi Services, C‑171/15, EU:C:2016:948, Rn. 29).

26      Zwar verweist Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 im Gegensatz zu den Bestimmungen, die die Ausschlussgründe nach Unterabs. 1 Buchst. a, b, e und f betreffen, nicht auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, doch heißt es in Abs. 2 Unterabs. 2, dass die Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unter Beachtung des Unionsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Absatzes festlegen (Urteil vom 13. Dezember 2012, Forposta und ABC Direct Contact, C‑465/11, EU:C:2012:801, Rn. 25).

27      Somit ergibt sich, wie im Übrigen das vorlegende Gericht ausgeführt hat, aus der Rechtsprechung, dass das Ermessen der Mitgliedstaaten stärker begrenzt ist, wenn ein in Art. 45 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 vorgesehener fakultativer Ausschlussgrund wie der des Unterabs. 1 Buchst. d nicht auf das nationale Recht verweist. In diesem Fall ist es Sache des Gerichtshofs, die Tragweite eines solchen fakultativen Ausschlussgrundes festzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Dezember 2012, Forposta und ABC Direct Contact, C‑465/11, EU:C:2012:801, Rn. 25 bis 31, und vom 18. Dezember 2014, Generali-Providencia Biztosító, C‑470/13, EU:C:2014:2469, Rn. 35).

28      Daraus folgt, dass die in Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d enthaltenen Begriffe „im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ begangene „schwere Verfehlung“ im nationalen Recht – aber unter Beachtung des Unionsrechts – präzisiert und erläutert werden können (Urteil vom 13. Dezember 2012, Forposta und ABC Direct Contact, C‑465/11, EU:C:2012:801, Rn. 26).

29      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ jedes fehlerhafte Verhalten umfasst, das Einfluss auf die berufliche Glaubwürdigkeit des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers (Urteil vom 13. Dezember 2012, Forposta und ABC Direct Contact, C‑465/11, EU:C:2012:801, Rn. 27), seine Integrität oder Zuverlässigkeit hat.

30      Folglich kann der Begriff „Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“, der weit ausgelegt wird, nicht auf Pflichtverletzungen und Fahrlässigkeiten bei der Ausführung eines öffentlichen Auftrags beschränkt werden.

31      Der Begriff der schweren Verfehlung ist außerdem so zu verstehen, dass er sich üblicherweise auf ein Verhalten des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers bezieht, das bei ihm auf Vorsatz oder auf eine Fahrlässigkeit von gewisser Schwere schließen lässt (Urteil vom 13. Dezember 2012, Forposta und ABC Direct Contact, C‑465/11, EU:C:2012:801, Rn. 30).

32      Schließlich sind die öffentlichen Auftraggeber nach Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 befugt, eine schwere Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit nachweislich festzustellen. Da es für die Feststellung einer solchen Verfehlung keines rechtskräftigen Urteils bedarf (Urteil vom 13. Dezember 2012, Forposta und ABC Direct Contact, C‑465/11, EU:C:2012:801, Rn. 28), kann die Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde, mit der festgestellt wird, dass ein Wirtschaftsteilnehmer die Wettbewerbsregeln verletzt habe, sicherlich einen Anhaltspunkt dafür darstellen, dass eine schwere Verfehlung dieses Wirtschaftsteilnehmers vorliegt.

33      Demnach stellt die Begehung eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln, insbesondere wenn dieser Verstoß mit einer Geldbuße geahndet wurde, einen unter Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 fallenden Ausschlussgrund dar (Urteil vom 18. Dezember 2014, Generali-Providencia Biztosító, C‑470/13, EU:C:2014:2469, Rn. 35).

34      Allerdings kann eine Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde, mit der ein Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln festgestellt wird, nicht zu einem automatischen Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags führen. Gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert die Feststellung einer „schweren Verfehlung“ nämlich grundsätzlich eine konkrete und auf den Einzelfall bezogene Beurteilung der Verhaltensweise des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2012, Forposta und ABC Direct Contact, C‑465/11, EU:C:2012:801, Rn. 31).

35      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der des Ausgangsverfahrens in einer Auslegung entgegensteht, nach der vom Anwendungsbereich einer von einem Wirtschaftsteilnehmer „im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit“ begangenen „schweren Verfehlung“ einen Verstoß gegen Wettbewerbsregeln begründende Verhaltensweisen, die von der nationalen Kartellbehörde mit einer gerichtlich bestätigten Entscheidung festgestellt und geahndet worden sind, ausgeschlossen sind und es den öffentlichen Auftraggebern verwehrt ist, einen derartigen Verstoß im Hinblick auf einen etwaigen Ausschluss dieses Wirtschaftsteilnehmers von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags eigenständig zu bewerten.

 Kosten

36      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der des Ausgangsverfahrens in einer Auslegung entgegensteht, nach der vom Anwendungsbereich einer von einem Wirtschaftsteilnehmer „im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit“ begangenen „schweren Verfehlung“ einen Verstoß gegen Wettbewerbsregeln begründende Verhaltensweisen, die von der nationalen Kartellbehörde mit einer gerichtlich bestätigten Entscheidung festgestellt und geahndet worden sind, ausgeschlossen sind und es den öffentlichen Auftraggebern verwehrt ist, einen derartigen Verstoß im Hinblick auf einen etwaigen Ausschluss dieses Wirtschaftsteilnehmers von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags eigenständig zu bewerten.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.