Language of document : ECLI:EU:C:2010:749

STELLUNGNAHME DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 7. Dezember 2010(1)

Rechtssache C‑491/10 PPU

Joseba Andoni Aguirre Zarraga

gegen

Simone Pelz

(Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Celle [Deutschland])

„Eilvorlageverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen –Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Vorläufiges Sorgerecht – Kindesentführung – Entscheidung, für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde und mit der im Anschluss an eine Entscheidung, die Rückgabe eines Kindes abzulehnen, dessen Rückgabe angeordnet wird – Voraussetzungen für die Ausstellung der Bescheinigung – Möglichkeit des Kindes, gehört zu werden – Charta der Grundrechte – Anhörung des Kindes durch die Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats im Rahmen des Verfahrens, das zu der Entscheidung führte, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wurde – Befugnis des Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats, sich der Vollstreckung einer Entscheidung entgegenzustellen, mit der im Anschluss an eine Entscheidung, die Rückgabe des Kindes abzulehnen, dessen Rückgabe angeordnet wird“





1.        Konflikte zwischen einem Ehepaar, das sich scheiden lässt, wegen des Schicksals der gemeinsamen Kinder können für diese Kinder eine schmerzhafte oder sogar traumatisierende Prüfung bedeuten. Dies gilt umso mehr, wenn sich im Fall einer Mischehe ein Elternteil, der die Maßnahmen nicht akzeptiert, die ein Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Paar wohnte, in Bezug auf die Kinder getroffen hat, mit den Kindern in seinen Herkunftsstaat begibt und versucht, von den Gerichten dieses Staats eine gegenteilige Entscheidung zu erlangen. Wenn ihm dies gelingt, liegen einander widersprechende gerichtliche Entscheidungen zur Rechtsstellung der Kinder vor, die meist zur Folge haben, dass für einen kürzeren oder längeren Zeitraum alle Beziehungen zum anderen Elternteil unterbrochen sind oder keine normalen Beziehungen zu ihm bestehen.

2.        Das Ausmaß der den Kindern durch solche Verhaltensweisen zugefügten Nachteile hat die Staaten veranlasst, zunächst auf vertraglichem Weg durch das Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980(2) und dann, im Rahmen der Europäischen Union, auf vertraglichem Weg und anschließend durch eine Verordnung Systeme für die Kooperation zwischen den Gerichten verschiedener Staaten zu schaffen, die dafür sorgen sollen, dass ein Kind, das ein Elternteil rechtswidrig mit sich nimmt oder zurückhält, so schnell wie möglich an den Ort zurückkehrt, an dem es sich vor seiner Entführung aufhielt.

3.        So sieht die in der vorliegenden Rechtssache einschlägige Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates(3) ein System vor, wonach in Fällen, in denen das Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind rechtswidrig verbracht wurde, eine Entscheidung trifft, mit der die Rückgabe des Kindes abgelehnt wird, das Gericht des Ortes, an dem sich das Kind aufhielt, gewissermaßen das letzte Wort hat und dessen Rückgabe durch eine Entscheidung anordnen kann, die von Rechts wegen vollstreckbar ist und in den anderen Mitgliedstaaten nicht angefochten werden kann.

4.        Diese gesteigerte Vollstreckbarkeit hängt davon ab, dass das Gericht, das die fragliche Entscheidung getroffen hat, eine Bescheinigung ausstellt, die u. a. bestätigt, dass das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, es sei denn, dass sein Alter oder sein Reifegrad dies nicht zuließen, und dass dieses Gericht die Gesichtspunkte berücksichtigt hat, anhand deren das Gericht des Ortes, an den das Kind rechtswidrig verbracht wurde, eine Entscheidung getroffen hat, mit der die Rückgabe ablehnt wurde.

5.        Die Vollstreckung von Entscheidungen, für die eine solche Bescheinigung ausgestellt wurde, hat bereits zu mehreren Auslegungsschwierigkeiten geführt, die es dem Gerichtshof ermöglicht haben, den Umfang ihrer spezifischen Vollstreckbarkeit zu präzisieren(4). So hat er im Urteil Povse entschieden, dass nach der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats und den Gerichten des Vollstreckungsmitgliedstaats Letztere lediglich die Vollstreckbarkeit einer Entscheidung, für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde, feststellen können, während Rügen, die die Entscheidung betreffen, nur im Ursprungsmitgliedstaat geltend gemacht werden können(5).

6.        In der vorliegenden Rechtssache möchte das Oberlandesgericht Celle (Deutschland) wissen, ob es sich ungeachtet der spezifischen Vollstreckbarkeit einer Entscheidung, für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde, deren Vollstreckung im Fall eines besonders gravierenden Verstoßes gegen ein Grundrecht des Kindes widersetzen kann, der darin besteht, dass es unter Verstoß gegen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003, ausgelegt im Einklang mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta der Grundrechte), nicht gehört wurde. Ergänzend fragt es, inwieweit es verpflichtet ist, eine solche Entscheidung zu vollstrecken, wenn die ihr beigefügte Bescheinigung in Bezug auf die Anhörung des Kindes eine offensichtlich unzutreffende Angabe enthält.

7.        Das vorlegende Gericht hat weiter ausgeführt, es stelle keinen Antrag auf Anwendung des Eilvorlageverfahrens, da seine beiden Fragen grundsätzlicher Art seien und im Rahmen eines ausführlichen Vorabentscheidungsverfahrens geprüft werden sollten.

8.        Der Gerichtshof hat dagegen kraft der ihm durch Art. 104b § 1 Abs. 1 und 3 seiner Verfahrensordnung übertragenen Befugnis die Auffassung vertreten, dass die Voraussetzungen für die Anwendung des Eilverfahrens vorliegen, und hat beschlossen, die vorliegende Rechtssache diesem Verfahren zu unterwerfen.

9.        In diesen Schlussanträgen werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, sich vor der Prüfung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zur Begründetheit der Prämisse zu äußern, auf der diese Fragen beruhen. Sie gehen nämlich von der Prämisse aus, dass das Kind entgegen den Angaben in der Bescheinigung, die der seine Rückgabe anordnenden Entscheidung beigefügt war, nicht die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, und dass somit die Voraussetzungen für die Ausstellung einer solchen Bescheinigung vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats nicht eingehalten wurden.

10.      Zwar geht aus den Akten in der Tat hervor, dass das Kind von diesem Gericht nicht gehört werden konnte, doch geht aus ihnen ebenfalls hervor, dass es auf Ersuchen der Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats im Rahmen des Verfahrens gehört worden war, das zu der Entscheidung führte, mit der die Rückgabe abgelehnt wurde, und dass die Meinung, die das Kind bei der Anhörung äußerte, in der streitigen Entscheidung, für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde, angesprochen wurde.

11.      Deshalb werde ich dem Gerichtshof in diesen Schlussanträgen vorschlagen, vorab zu prüfen, ob die Prämisse des vorlegenden Gerichts zutrifft, und sich dabei zu der Frage zu äußern, ob unter solchen Umständen die Voraussetzung, dass für eine Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, nur dann eine Bescheinigung ausgestellt werden darf, wenn das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, erfüllt ist.

12.      Ich werde die Gründe darlegen, aus denen meines Erachtens davon auszugehen ist, dass diese Voraussetzung eingehalten wurde.

13.      Sodann werde ich, hilfsweise, ausführen, dass sich ein Gericht des ersuchten Mitgliedstaats auch dann, wenn man unterstellt, dass die genannte Voraussetzung nicht erfüllt worden sei, der Vollstreckung einer Entscheidung, für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde, nicht entgegenstellen kann. Ich werde darauf hinweisen, dass wegen der strikten Aufteilung der Befugnisse zwischen den Gerichten der betroffenen Mitgliedstaaten für Rügen, die eine solche Entscheidung und eine gemäß Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 ausgestellte Bescheinigung betreffen, ausschließlich die Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats zuständig sind.

I –    Rechtlicher Rahmen

14.      Die einschlägigen Rechtsvorschriften sind das Haager Übereinkommen von 1980, die Verordnung Nr. 2201/2003 und die Charta der Grundrechte.

15.      Das am 1. Dezember 1983 in Kraft getretene Haager Übereinkommen von 1980 ist von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden. Es ist zwischen ihnen weiterhin anwendbar, aber seine Bestimmungen werden durch die Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 ergänzt. Die Bestimmungen dieser Verordnung haben im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten Vorrang vor denen des Übereinkommens(6).

A –    Das Haager Übereinkommen von 1980

16.      Das Haager Übereinkommen von 1980 geht von dem Grundsatz aus, dass jede Handlung, durch die ein Minderjähriger ohne Einverständnis des Sorgeberechtigten vom Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts an einen anderen Ort verbracht wird, das Wohl des Kindes in schwerwiegender Weise beeinträchtigt und eine Rechtsverletzung darstellt, die so schnell wie möglich und ohne inhaltliche Prüfung des Rechtsstreits zwischen den Eltern abzustellen ist.

17.      Nach seinem Art. 1 soll das Übereinkommen daher gewährleisten, dass das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird, und die sofortige Rückgabe eines widerrechtlich verbrachten oder zurückgehaltenen Kindes in diesen Staat sicherstellen.

18.      Nach Art. 3 des Übereinkommens gilt ein Verbringen als widerrechtlich, wenn dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person nach dem Recht oder aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

19.      Bei jeder das Sorgerecht betreffenden Frage hat das „Wohl des Kindes“ Vorrang. Es hat ein Recht auf Beständigkeit, d. h. darauf, am Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts bleiben zu dürfen, der als eine der wesentlichen Grundlagen für sein Gleichgewicht und seine Entwicklung angesehen wird. Es ist kein Gegenstand, den die Eltern bei einem Konflikt zwischen ihnen instrumentalisieren dürfen.

20.      Unter diesen Umständen wird, wenn ein widerrechtliches Verbringen festgestellt wird, angeordnet, dass das Kind sofort an den Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts zurückzubringen ist. Die Rückgabeentscheidung wird daher von der Frage, wem das Sorgerecht übertragen wird, getrennt; zu deren Beurteilung ist das Gericht des gewöhnlichen Aufenthalts am besten in der Lage.

21.      Dazu sieht Art. 12 des Haager Übereinkommens von 1980 vor:

„Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.

Ist der Antrag erst nach Ablauf der in Absatz 1 bezeichneten Jahresfrist eingegangen, so ordnet das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Rückgabe des Kindes ebenfalls an, sofern nicht erwiesen ist, dass das Kind sich in seine neue Umgebung eingelebt hat.

…“

22.      Die Verfasser des Übereinkommens wollten den quasi automatischen Rückgabevorgang jedoch durch Ausnahmen abmildern, die es gestatten, dem Wohl des Kindes und den Umständen Rechnung zu tragen. Nach Art. 13 des Übereinkommens ist daher das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,

–        dass der sorgeberechtigte Elternteil das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen zugestimmt oder es nachträglich genehmigt hat oder

–        dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder es in eine unzumutbare Lage bringt oder

–        dass das Kind sich seiner Rückgabe widersetzt und seine Meinung aufgrund seines Alters und seiner Reife zu berücksichtigen ist.

23.      Das Haager Übereinkommen von 1980 wird nach seinem Art. 4 nicht mehr angewendet, sobald das Kind das 16. Lebensjahr vollendet hat. Außerdem kann gemäß Art. 20 des Übereinkommens die Rückgabe des Kindes nach Art. 12 abgelehnt werden, wenn sie nach den im ersuchten Staat geltenden Grundwerten über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unzulässig ist.

B –    Die Verordnung Nr. 2201/2003

24.      Die Verordnung Nr. 2201/2003 soll, wie das Haager Übereinkommen von 1980, von Kindesentführungen abschrecken, indem sie die schnelle Rückkehr des Kindes in den Ursprungsmitgliedstaat gewährleistet. Sie fügt sich in den Rahmen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein, für den nach ihrem zweiten Erwägungsgrund die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen unabdingbar ist.

25.      Zu diesem Zweck wurde nach dem Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers folgendes System geschaffen:

–        Die Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats bleiben zuständig. Das widerrechtliche Verbringen führt als solches nicht zum Übergang der Zuständigkeit.

–        Die Gerichte des ersuchten Mitgliedstaats müssen die rasche Rückgabe des Kindes gewährleisten.

–        Beschließt das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats, die Rückgabe des Kindes nicht anzuordnen, muss es seine Entscheidung und die Beweismittel, auf denen sie beruht, dem zuständigen Gericht des Ursprungsmitgliedstaats übermitteln, und die beiden Gerichte müssen zusammenarbeiten.

–        Ordnet das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Rückgabe des Kindes an, ist seine Entscheidung, wenn es für sie eine Bescheinigung ausgestellt hat, von Rechts wegen im ersuchten Mitgliedstaat vollstreckbar und kann dort nicht angefochten werden.

26.      Dazu heißt es im 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das Haager Übereinkommen [von 1980], das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. Die Gerichte des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, sollten dessen Rückgabe in besonderen, ordnungsgemäß begründeten Fällen ablehnen können. Jedoch sollte eine solche Entscheidung durch eine spätere Entscheidung des Gerichts des Mitgliedstaats ersetzt werden können, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Sollte in dieser Entscheidung die Rückgabe des Kindes angeordnet werden, so sollte die Rückgabe erfolgen, ohne dass es in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, eines besonderen Verfahrens zur Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung bedarf.“

27.      Der 21. Erwägungsgrund der Verordnung lautet: „Die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen sollten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein.“

28.      Nach dem 23. Erwägungsgrund der Verordnung „sollten Entscheidungen über das Umgangsrecht und über die Rückgabe des Kindes, für die im Ursprungsmitgliedstaat nach Maßgabe dieser Verordnung eine Bescheinigung ausgestellt wurde, in allen anderen Mitgliedstaaten anerkannt und vollstreckt werden, ohne dass es eines weiteren Verfahrens bedarf. Die Modalitäten der Vollstreckung dieser Entscheidungen unterliegen weiterhin dem nationalen Recht.“ Im 24. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 wird hinzugefügt: „Sie sollte nur Gegenstand einer Klage auf Berichtigung sein, wenn ein materieller Fehler vorliegt, d. h., wenn in der Bescheinigung der Inhalt der Entscheidung nicht korrekt wiedergegeben ist.“

29.      Überdies wird in der Verordnung die Bedeutung der Anhörung des Kindes anerkannt. Dazu heißt es in ihrem 19. Erwägungsgrund: „Die Anhörung des Kindes spielt bei der Anwendung dieser Verordnung eine wichtige Rolle, wobei diese jedoch nicht zum Ziel hat, die diesbezüglich geltenden nationalen Verfahren zu ändern.“

30.      Der 20. Erwägungsgrund der Verordnung bestimmt: „Die Anhörung eines Kindes in einem anderen Mitgliedstaat kann nach den Modalitäten der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen[(7)] erfolgen.“

31.      Schließlich heißt es im 33. Erwägungsgrund der Verordnung: „Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte … anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Artikels 24 der Grundrechtscharta … zu gewährleisten.“

32.      Diese verschiedenen Absichten des Verordnungsgebers werden in den Artikeln der Verordnung Nr. 2201/2003 wie folgt umgesetzt.

33.      Nach Art. 2 Nr. 11 der Verordnung, der im Wesentlichen die gleiche Definition enthält wie das Haager Übereinkommen von 1980, liegt ein „widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes“ vor, wenn durch das Verbringen oder Zurückhalten das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, sofern das Sorgerecht tatsächlich ausgeübt wurde.

34.      Art. 11 („Rückgabe des Kindes“) der Verordnung bestimmt:

„(1)      Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens [von 1980], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(2)      Bei Anwendung der Artikel 12 und 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ist sicherzustellen, dass das Kind die Möglichkeit hat, während des Verfahrens gehört zu werden, sofern dies nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erscheint.

(3)      Das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes nach Absatz 1 beantragt wird, befasst sich mit gebotener Eile mit dem Antrag und bedient sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts.

Unbeschadet des Unterabsatzes 1 erlässt das Gericht seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.

(4)      Ein Gericht kann die Rückgabe eines Kindes aufgrund des Artikels 13 Buchstabe b) des Haager Übereinkommens von 1980 nicht verweigern, wenn nachgewiesen ist, dass angemessene Vorkehrungen getroffen wurden, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr zu gewährleisten.

(6)      Hat ein Gericht entschieden, die Rückgabe des Kindes gemäß Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen, so muss es nach dem nationalen Recht dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unverzüglich entweder direkt oder über seine Zentrale Behörde eine Abschrift der gerichtlichen Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, und die entsprechenden Unterlagen, insbesondere eine Niederschrift der Anhörung, übermitteln. Alle genannten Unterlagen müssen dem Gericht binnen einem Monat ab dem Datum der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, vorgelegt werden.

(7)      Sofern die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht bereits von einer der Parteien befasst wurden, muss das Gericht oder die Zentrale Behörde, das/die die Mitteilung gemäß Absatz 6 erhält, die Parteien hiervon unterrichten und sie einladen, binnen drei Monaten ab Zustellung der Mitteilung Anträge gemäß dem nationalen Recht beim Gericht einzureichen, damit das Gericht die Frage des Sorgerechts prüfen kann.

Unbeschadet der in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln schließt das Gericht den Fall ab, wenn innerhalb dieser Frist keine Anträge bei dem Gericht eingegangen sind.

(8)      Ungeachtet einer nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, ist eine spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem nach dieser Verordnung zuständigen Gericht erlassen wird, im Einklang mit Kapitel III Abschnitt 4 vollstreckbar, um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.“

35.      Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003, der zu Abschnitt 4 von Kapitel III gehört, bestimmt:

„(1)      Eine in einem Mitgliedstaat ergangene vollstreckbare Entscheidung über die Rückgabe des Kindes im Sinne des Artikels 40 Absatz 1 Buchstabe b), für die eine Bescheinigung nach Absatz 2 im Ursprungsmitgliedstaat ausgestellt wurde, wird in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und kann dort vollstreckt werden, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann.

Auch wenn das nationale Recht nicht vorsieht, dass eine in Artikel 11 Absatz 8 genannte Entscheidung über die Rückgabe des Kindes ungeachtet der Einlegung eines Rechtsbehelfs von Rechts wegen vollstreckbar ist, kann das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Entscheidung für vollstreckbar erklären.

(2)      Der Richter des Ursprungsmitgliedstaats, der die Entscheidung nach Artikel 40 Absatz 1 Buchstabe b) erlassen hat, stellt die Bescheinigung nach Absatz 1 nur aus, wenn

a)      das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, sofern eine Anhörung nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erschien,

b)      die Parteien die Gelegenheit hatten, gehört zu werden, und

c)      das Gericht beim Erlass seiner Entscheidung die Gründe und Beweismittel berücksichtigt hat, die der nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung zugrunde liegen.

Ergreift das Gericht oder eine andere Behörde Maßnahmen, um den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr in den Staat des gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen, so sind diese Maßnahmen in der Bescheinigung anzugeben.

Der Richter des Ursprungsmitgliedstaats stellt die Bescheinigung von Amts wegen unter Verwendung des Formblatts in Anhang IV (Bescheinigung über die Rückgabe des Kindes) aus.

Das Formblatt wird in der Sprache ausgefüllt, in der die Entscheidung abgefasst ist.“

36.      In Art. 47 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es: „Die Vollstreckung einer von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats erlassenen Entscheidung, die … für vollstreckbar erklärt wurde oder für die eine Bescheinigung nach … Artikel 42 Absatz 1 ausgestellt wurde, erfolgt im Vollstreckungsmitgliedstaat unter denselben Bedingungen, die für in diesem Mitgliedstaat ergangene Entscheidungen gelten.“

C –    Die Charta der Grundrechte

37.      Die Charta der Grundrechte, die nach Art. 6 EUV die gleiche Bindungswirkung wie die Verträge hat, enthält in Art. 24 folgende Bestimmung über die Rechte des Kindes:

„(1)      Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt.

(2)      Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.

(3)      Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“

II – Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

38.      Der vom vorlegenden Gericht geschilderte Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits lässt sich wie folgt zusammenfassen.

39.      Herr Aguirre Zarraga und Frau Pelz heirateten am 25. September 1998 in Erandio (Spanien). Aus dieser Ehe ist ihre am 31. Januar 2000 geborene Tochter Andrea hervorgegangen. Der gemeinsame Familienwohnsitz der Eltern war in Sondika (Spanien).

40.      Ende 2007 trennten sich die Eltern. Beide stellten Anträge auf Scheidung der Ehe und beantragten die Übertragung des Sorgerechts für Andrea auf sich allein.

41.      Mit Beschluss vom 12. Mai 2008 übertrug der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao (Spanien) das Sorgerecht vorläufig auf den Vater. Andrea wechselte daraufhin in dessen Haushalt. Im Juni 2008 verlegte die Mutter von Andrea ihren Wohnsitz nach Deutschland. Am Ende der Sommerferien 2008, in denen Andrea ihre Mutter besucht hatte, behielt diese ihre Tochter bei sich. Seit dem 15. August 2008 wohnt Andrea daher im Haushalt ihrer Mutter in Deutschland. Am gleichen Tag erließ der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao einen Beschluss, mit dem jede Ausreise von Andrea aus Spanien verboten wurde.

42.      Der Vater von Andrea stellte daraufhin einen Antrag auf Rückführung seiner Tochter nach Spanien, der auf das Haager Übereinkommen von 1980 gestützt war. Dieser Antrag wurde mit Beschluss vom 1. Juli 2009 auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 2 des Übereinkommens zurückgewiesen. Die damalige Anhörung von Andrea zeigte, dass sie ihrer Rückführung nach Spanien nachhaltig und ausdrücklich widersprach. Der vom Gericht daraufhin herangezogene Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass die Meinung von Andrea angesichts ihres Alters sowie ihrer Reife zu berücksichtigen sei.

43.      Das deutsche Bundesamt für Justiz übermittelte diese Entscheidung mit Schreiben vom 8. Juli 2009 der Zentralen Behörde Spaniens.

44.      Im gleichen Monat wurde das Sorgerechtsverfahren vor dem Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao fortgesetzt. Dieses Gericht hielt die Einholung eines neuerlichen Sachverständigengutachtens sowie die persönliche Anhörung von Andrea für geboten und setzte dafür Termine in Bilbao fest. Zu diesen Terminen erschien weder Andrea noch ihre Mutter. Dem zuvor von der Mutter gestellten Antrag auf Gewährung freien Geleits für sich und ihre Tochter während der Begutachtung durch den Sachverständigen und für die gerichtliche Anhörung entsprach das spanische Gericht nicht. Es führte auch die von der Mutter ausdrücklich angeregte Anhörung von Andrea im Rahmen einer Videokonferenz nicht durch.

45.      Mit Urteil vom 16. Dezember 2009 übertrug der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao dem Vater die alleinige Personensorge für Andrea.

46.      Die Mutter focht diese Entscheidung mit der Berufung an und machte insbesondere die Notwendigkeit einer Anhörung von Andrea geltend. Mit Urteil vom 21. April 2010 wies die Audiencia Provincial de Bizkaya (Spanien) den Antrag auf Durchführung einer Anhörung des Kindes zurück.

47.      Am 5. Februar 2010 stellte der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao für das Urteil vom 16. Dezember 2009 eine Bescheinigung gemäß Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 aus.

48.      Die Mutter des Kindes beantragte ihrerseits, die Zwangsvollstreckung nicht durchzuführen und das genannte Urteil nicht anzuerkennen.

49.      Mit Entscheidung vom 28. April 2010 gab das Amtsgericht – Familiengericht – Celle (Deutschland) diesem Antrag mit der Begründung statt, dass der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao Andrea vor Erlass seiner Entscheidung nicht angehört habe.

50.      Gegen diese Entscheidung wandte sich der Kindesvater mit einer Beschwerde vom 18. Juni 2010.

51.      Das mit dieser Beschwerde befasste Oberlandesgericht Celle führt aus, dass sich ihm folgende Fragen stellen.

52.      Auch wenn das Urteil vom 16. Dezember 2009 eine Entscheidung sei, mit der im Anschluss an eine die Rückgabe des Kindes ablehnende Entscheidung dessen Rückgabe angeordnet werde, und in Bezug auf die das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats, wie sich aus den Urteilen Rinau und Povse ergebe, grundsätzlich keine Prüfungsbefugnis habe, müsse es bei einem besonders gravierenden Grundrechtsverstoß über eine eigene Prüfungsbefugnis verfügen, um sich der Vollstreckung einer solchen Entscheidung entgegenstellen zu können.

53.      Im Ausgangsrechtsstreit stelle das Unterbleiben der Anhörung von Andrea durch das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats einen Verstoß gegen Art. 24 Abs. 1 der Charta der Grundrechte dar. Dieser Verstoß sei so gewichtig, dass bei einer mit der Charta der Grundrechte konformen Auslegung von Art. 42 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 von einer Prüfungskompetenz des Gerichts des Vollstreckungsmitgliedsstaats auszugehen sei.

54.      Ferner stelle sich die Frage, ob das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats für den Fall, dass es trotz dieses Grundrechtsverstoßes keine Prüfungsbefugnis besitzen sollte, an eine Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 gebunden sein könne, deren Inhalt offensichtlich falsch sei. Dies gelte insbesondere für den vorliegenden Fall, in dem die Bescheinigung eine offensichtlich falsche Angabe enthalte, nämlich die, dass das Kind vom Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao angehört worden sei.

55.      Das Oberlandesgericht Celle hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Hat das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats ausnahmsweise in Fällen gravierender Grundrechtsverstöße in der zu vollstreckenden Entscheidung des Ursprungsmitgliedsstaats bei Grundrechts-Charta konformer Auslegung des Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 eine eigene Prüfungskompetenz?

2.      Ist das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats trotz einer nach Aktenlage vom Gericht des Ursprungsmitgliedsstaats offensichtlich unzutreffend ausgestellten Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 zur Vollstreckung verpflichtet?

III – Würdigung

56.      Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht zunächst wissen, ob die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass sich das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats der Vollstreckung einer Entscheidung entgegenstellen kann, mit der auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 8 dieser Verordnung die Rückgabe eines Kindes angeordnet wird, wenn sich zeigt, dass das Kind entgegen den Bestimmungen von Art. 42 der Verordnung bei dessen Auslegung im Einklang mit dem in Art. 24 der Charta der Grundrechte verankerten Grundrecht nicht angehört wurde. Sodann möchte es wissen, ob dieses Gericht, falls die erste Frage zu verneinen sein sollte, die Vollstreckung vornehmen muss, wenn sich zeigt, dass die der fraglichen Entscheidung beigefügte Bescheinigung offensichtlich falsch ist, weil es darin fälschlich heißt, das Kind sei angehört worden.

57.      Diese beiden Fragen beruhen somit auf der Prämisse, dass das Kind im Ausgangsverfahren unter Verstoß gegen Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003, ausgelegt im Licht von Art. 24 der Charta der Grundrechte, nicht die Möglichkeit hatte, gehört zu werden.

58.      Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts und den Akten ergibt sich jedoch, dass das Amtsgericht – Familiengericht – Celle in der Sitzung vom 20. März 2009 im Rahmen des Verfahrens, das zu der die Rückgabe ablehnenden Entscheidung dieses Gerichts vom 1. Juli 2009 führte, eine Anhörung des Kindes vornahm.

59.      Aus der Prüfung des Urteils des Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao vom 16. Dezember 2009, mit dem die Rückgabe des Kindes im Anschluss an die sie ablehnende Entscheidung angeordnet wurde, ergibt sich ferner, dass dieses Gericht die genannte Anhörung berücksichtigt und dargelegt hat, aus welchen Gründen es trotz der Weigerung des Kindes, wieder in Spanien zu leben, der Auffassung war, dass seine Rückgabe die seinem Wohl am besten entsprechende Lösung darstelle.

60.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts lassen die genannte Anhörung und die Bezugnahme darauf im Urteil vom 16. Dezember 2009 nicht den Schluss zu, dass das durch Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 umgesetzte Grundrecht des Kindes gewahrt wurde. Wie bereits ausgeführt, sieht diese Bestimmung vor, dass das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, das beschließt, die Rückgabe des Kindes trotz einer sie ablehnenden Entscheidung anzuordnen, für seine Entscheidung nur dann eine Bescheinigung ausstellen und ihr damit gesteigerte Vollstreckbarkeit verschaffen darf, wenn das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, sofern eine Anhörung nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erschien.

61.      Die Prämisse des vorlegenden Gerichts beruht somit auf einer Auslegung von Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003, nach der sich das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats nicht damit begnügen durfte, auf eine von den Gerichten des ersuchten Staats im Rahmen des Verfahrens, das zu der die Rückgabe ablehnenden Entscheidung führte, durchgeführten Anhörung des Kindes Bezug zu nehmen, sondern – zur Vermeidung einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des in Art. 24 der Charta der Grundrechte verankerten Grundrechts des Kindes – selbst eine erneute Anhörung des Kindes hätte vornehmen müssen.

62.      Es erscheint mir unabdingbar, dass sich der Gerichtshof vor der Prüfung der Fragen des vorlegenden Gerichts zur Stichhaltigkeit einer solchen Prämisse äußert, da von ihr zum einen die Relevanz dieser Fragen abhängt und da sie zum anderen einen wichtigen Punkt des Systems und der Garantien in der Verordnung Nr. 2201/2003 betrifft.

A –    Die Begründetheit der den Vorlagefragen zugrunde liegenden Prämisse

63.      Ich schlage dem Gerichtshof vor, sich zunächst zu folgender Frage zu äußern:

Kann aufgrund der Anhörung des Kindes, die von den Gerichten des Vollstreckungsmitgliedstaats im Rahmen des Verfahrens vorgenommen wurde, das zu einer die Rückgabe des Kindes ablehnenden und vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats bei seiner gemäß Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 getroffenen Entscheidung, die Rückgabe anzuordnen, berücksichtigten Entscheidung geführt hat, die in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung aufgestellte Voraussetzung, wonach das Kind die Möglichkeit gehabt haben muss, gehört zu werden, als erfüllt angesehen werden?

64.      Zur Wahrung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens sind die Parteien des Ausgangsrechtsstreits sowie die Beteiligten, denen gestattet worden ist, beim Gerichtshof schriftlich oder in der mündlichen Verhandlung Erklärungen abzugeben, gebeten worden, sich zu dieser Frage zu äußern.

65.      Die deutsche Regierung und die Europäische Kommission sind der Auffassung, dass diese Frage zu verneinen sei. Sie haben ihren Standpunkt auf mehrere Argumente gestützt, die wie folgt zusammengefasst werden können:

–        Die Anhörung vor dem Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats und die Anhörung, von der in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 die Rede sei, hätten einen unterschiedlichen Zweck; Erstere betreffe die Rückgabe des Kindes, während Letztere eine endgültige Entscheidung über das Sorgerecht für das Kind ermöglichen solle und somit einen höheren Stellenwert habe.

–        Würde man die in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 genannte Voraussetzung als erfüllt ansehen, wenn das Kind vom Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats angehört worden sei, hätte dies zur Folge, dass das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats regelmäßig von der Verpflichtung entbunden wäre, das Kind anzuhören, und würde damit die Umgehung dieser Bestimmung ermöglichen. Dies würde zudem der Systematik der genannten Bestimmung zuwiderlaufen, die in Buchst. a die Pflicht zur Anhörung des Kindes enthalte und nicht nur in Buchst. c das Erfordernis, die Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, zugrunde gelegen hätten.

–        Nach Ansicht der Kommission schließt es im vorliegenden Fall der zwischen der Anhörung des Kindes durch das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats und dem Erlass der Entscheidung, mit der seine Rückgabe angeordnet worden sei, verstrichene Zeitraum von fast neun Monaten aus, die in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 aufgestellte Voraussetzung als erfüllt anzusehen.

66.      In der mündlichen Verhandlung vom 6. Dezember 2010 haben auch Frau Pelz sowie die hellenische, die französische und die lettische Regierung diesen Standpunkt vertreten.

67.      Im Gegensatz zu diesen Verfahrensbeteiligten und zum vorlegenden Gericht bin ich ebenso wie Herr Aguirre Zarraga und die spanische Regierung der Meinung, dass die zu prüfende Frage zu bejahen ist. Ich stütze mich dabei zum einen auf den Inhalt des in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 umgesetzten Grundrechts des Kindes, gehört zu werden, und zum anderen auf das in dieser Verordnung vorgesehene System der Zusammenarbeit zwischen den Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten.

1.      Der Inhalt des Grundrechts des Kindes, gehört zu werden

68.      Ich werde in Bezug auf das in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 umgesetzte Grundrecht des Kindes, gehört zu werden, erstens vortragen, dass es autonom auszulegen ist, zweitens, dass es darauf abzielt, einem Kind, das über hinreichende Urteilsfähigkeit verfügt, die Möglichkeit zu geben, seine Meinung zu seiner Rückkehr zu äußern, und drittens, dass diese Meinungsäußerung das Gericht nicht bindet, sondern einen Gesichtspunkt darstellt, der es ihm ermöglicht, zu beurteilen, ob das Wohl des Kindes seiner Rückkehr entgegensteht.

a)      Autonome Auslegung

69.      Es steht außer Frage, dass die Verordnung Nr. 2201/2003, wie jeder Rechtsakt der Union, grundrechtskonform umgesetzt werden muss. Nach ihrem 33. Erwägungsgrund steht die Verordnung im Einklang mit den mit der Charta der Grundrechte anerkannten Grundsätzen und zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Art. 24 der Charta zu gewährleisten. Zudem spielt, wie sich aus dem 19. Erwägungsgrund der Verordnung ergibt, die Anhörung des Kindes bei ihrer Anwendung eine wichtige Rolle.

70.      Die Verordnung Nr. 2201/2003 enthält daher vier Bestimmungen, die vorsehen, dass das Kind die Möglichkeit gehabt haben muss, gehört zu werden, und zwar die Art. 11 Abs. 2 und 42 Abs. 2 Buchst. a, die die Rückgabe eines widerrechtlich verbrachten oder zurückgehaltenen Kindes betreffen, Art. 23 Buchst. b, der die Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung über die elterliche Verantwortung betrifft, und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c, der die Anerkennung einer Entscheidung über das Umgangsrecht betrifft.

71.      Diese Bestimmungen regeln zwar nicht die verfahrenstechnischen Modalitäten der Anhörung. Diese Modalitäten werden, wie sich aus dem 19. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie weiterhin von jedem Mitgliedstaat festgelegt. Dies bedeutet meines Erachtens aber nicht, dass die Frage, ob bei der Umsetzung der in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung aufgestellten Voraussetzung die Grundrechte des Kindes beachtet wurden, anhand der öffentlichen Ordnung jedes Mitgliedstaats zu beurteilen wäre.

72.      Bei der Prüfung der verschiedenen Artikel der Verordnung Nr. 2201/2003, die eine solche Anhörung vorsehen, ist nämlich festzustellen, dass nur ihr Art. 23 ausdrücklich auf die öffentliche Ordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats Bezug nimmt. In diesem Artikel heißt es, dass eine Entscheidung über die elterliche Verantwortung nicht anerkannt wird, wenn sie – ausgenommen in dringenden Fällen – ergangen ist, ohne dass das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, „und damit wesentliche verfahrensrechtliche Grundsätze des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung beantragt wird, verletzt werden“.

73.      Eine solche Bezugnahme fehlt dagegen sowohl in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 als auch in den beiden anderen oben genannten Artikeln. Dieser unterschiedliche Wortlaut belegt meines Erachtens, dass die Einhaltung der in dieser Bestimmung aufgestellten Voraussetzung, wonach das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, nicht von der Einhaltung der in der Rechtsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats vorgesehenen Grundrechte des Kindes abhängt. Die Erfüllung des in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 aufgestellten Erfordernisses hängt nicht davon ab, dass das Kind die Möglichkeit hatte, im Einklang mit den grundlegenden Vorschriften des Mitgliedstaats, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, gehört zu werden.

74.      Eine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht auf die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten verweist, ist nämlich nach ständiger Rechtsprechung autonom auszulegen(8). Der Gerichtshof hat diese Rechtsprechung im Rahmen der Verordnung Nr. 2201/2003 bereits in Bezug auf die Begriffe „Zivilsachen“ in ihrem Art. 1 Abs. 1(9) und „gewöhnlicher Aufenthalt“ in ihrem Art. 8 Abs. 1(10) angewandt.

75.      Der autonome Charakter des Inhalts der in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 aufgestellten Voraussetzung wird meines Erachtens ferner bestätigt durch die verfahrensrechtliche Selbständigkeit der Vollstreckbarkeit einer Entscheidung, mit der im Anschluss an eine Entscheidung, die Rückgabe eines Kindes abzulehnen, dessen Rückgabe angeordnet wird(11). Um die tatsächliche und rasche Rückgabe des Kindes sicherzustellen, ist eine solche Entscheidung nämlich nach Art. 11 Abs. 8 der Verordnung im Einklang mit ihrem Kapitel III Abschnitt 4 vollstreckbar, d. h., sie wird in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, anerkannt und kann dort vollstreckt werden, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass ihre Anerkennung angefochten werden kann(12).

76.      Die Verordnung Nr. 2201/2003 unterscheidet sich in diesem Punkt vom Haager Übereinkommen von 1980, dessen Art. 20 vorsieht, dass die Rückgabe des Kindes abgelehnt werden kann, wenn sie nach den im ersuchten Staat geltenden Grundwerten unzulässig ist. Der „Mehrwert“ der Verordnung Nr. 2201/2003 gegenüber diesem Übereinkommen besteht somit darin, dass sie einen Ausweg aus Blockadesituationen bietet, die auftreten können, wenn das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats und das ersuchte Gericht die Frage des Kindeswohls anhand ihrer eigenen Grundrechte unterschiedlich beurteilen.

77.      Die praktische Wirksamkeit dieser Verordnung würde somit beeinträchtigt, wenn das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Einhaltung der Voraussetzungen für die Erteilung der Bescheinigung, die seiner Entscheidung diese spezifische Vollstreckbarkeit verleiht, anhand der Grundrechte des Mitgliedstaats prüfen müsste, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde oder in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird.

78.      Infolgedessen muss meines Erachtens das in Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 umgesetzte Grundrecht des Kindes, gehört zu werden, einen autonomen Inhalt haben. Dies bedeutet in der vorliegenden Rechtssache, dass die Frage, ob Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung eingehalten wurde, nicht anhand der Erfordernisse des deutschen Grundgesetzes zu beurteilen ist, sondern anhand des Inhalts dieser Voraussetzung, der in allen Mitgliedstaaten einheitlich unter Heranziehung der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung zu verstehen ist. Diese Einschätzung wird im Übrigen von der deutschen Regierung geteilt.

b)      Der Inhalt des Rechts, gehört zu werden

79.      Nach Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 darf das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats für seine Entscheidung, mit der im Anschluss an eine die Rückgabe des Kindes ablehnende Entscheidung dessen Rückgabe angeordnet wird, nur dann eine Bescheinigung ausstellen, wenn „das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, sofern eine Anhörung nicht aufgrund seines Alters oder seines Reifegrads unangebracht erschien“.

80.      Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, liest man sie im Licht von Art. 24 Abs. 1 der Charta der Grundrechte, geht hervor, dass das Kind, in Bezug auf das eine Rückgabeentscheidung auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergangen ist, die Möglichkeit gehabt haben muss, seine Meinung dazu frei zu äußern. In diesem Artikel kommt für den Bereich der Kindesentführungen die aktuelle Entwicklung des Völker- und des Europarechts zum Ausdruck, wonach die Meinung eines Kindes, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, künftig bei den Entscheidungen, die dieses Kind betreffen, zu berücksichtigen ist(13).

81.      Aus dem Wortlaut dieses Grundrechts in seiner Umsetzung durch Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 können mehrere etwas genauere Schlüsse gezogen werden. Zunächst ist hervorzuheben, dass dieses Grundrecht zum Schutz des Kindeswohls beitragen soll.

82.      Im Rahmen der im Fall des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens eines Kindes anwendbaren Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 erfordert das Wohl des Kindes grundsätzlich eine rasche Rückkehr an seinen ursprünglichen Aufenthaltsort, da durch die ihm zugefügte Rechtsverletzung sein Grundrecht auf unmittelbare und persönliche Beziehungen zu jedem Elternteil beeinträchtigt wird(14). Folglich kann von der Rückführung nur abgesehen werden, wenn sie sich ihrerseits als dem Kindeswohl abträglich erweist.

83.      Das dem Kind durch Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 verliehene Recht dient somit dazu, ihm die Beteiligung an dem Entscheidungsprozess zu ermöglichen, der zu der endgültigen Entscheidung über seine Rückgabe führen soll, aber diese Beteiligung darf auch nicht ihrerseits seinen eigenen Interessen zuwiderlaufen. Aus dem Spannungsverhältnis zwischen diesen Rechten und diesen Interessen lassen sich meines Erachtens folgende Schlüsse ziehen.

84.      Zunächst ist in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 ein Recht verankert, von dem es nur die dort genannte Ausnahme gibt, dass die Anhörung aufgrund des Alters oder des Reifegrads des Kindes „unangebracht“ erscheint. Von Interesse ist dabei, dass dort das Wort „unangebracht“ verwendet und nicht auf einen medizinisch festgestellten objektiven Zustand mangelnder physischer Befähigung abgestellt wird. Die Frage, ob eine Anhörung unangebracht ist, ist daher vom Gericht anhand der Befähigung des Kindes zu beurteilen, eine persönliche Meinung zu äußern. Der Grundsatz, von dem es sich bei dieser Beurteilung leiten lassen muss, lautet, dass jedes Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, in die Lage versetzt worden sein muss, seine Meinung zu äußern. Es erscheint allerdings vernünftig, davon auszugehen, dass ein Kind unterhalb eines bestimmten Alters nicht fähig ist, eine zu berücksichtigende persönliche Meinung zu äußern(15).

85.      In der vorliegenden Rechtssache besteht zwischen dem Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats und dem Gericht des Ursprungsmitgliedstaats keine Divergenz bei der Beurteilung der Befähigung von Andrea, gehört zu werden, denn das letztgenannte Gericht hatte sie zur Anhörung geladen.

86.      Sodann ist in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 das Recht eines Kindes verankert, die Möglichkeit gehabt zu haben, gehört zu werden. Er sieht nicht vor, dass das Kind gehört werden musste. Dieser Wortlaut hat meines Erachtens zwei Konsequenzen. Erstens muss ein Kind, das über ein hinreichendes Urteilsvermögen verfügt, darüber informiert worden sein, dass es das Recht hat, frei seine Meinung zu äußern. Falls die Anhörung eines Kindes, insbesondere die eines Kindes von geringem Alter, de facto von der Mitwirkung des Elternteils abhängt, der es entführt hat oder widerrechtlich zurückhält, müssen die Mitgliedstaaten dem Gericht die Mittel zur Verfügung stellen, die es benötigt, um gegebenenfalls die Hindernisse für die Anhörung dieses Kindes, der sich der betreffende Elternteil möglicherweise widersetzt, zu überwinden.

87.      Zweitens bedeutet der fragliche Wortlaut, dass das Kind auch das Recht hat, sich nicht zu äußern. Das Kind darf nicht gezwungen werden, sich zwischen dem Elternteil, der es entführt hat oder widerrechtlich zurückhält, und dem anderen Elternteil zu entscheiden. Es darf auch nicht in eine Situation gebracht werden, in der es den Eindruck haben könnte, dass es für die Entscheidung über seine Rückgabe und damit für den Schmerz, den diese Entscheidung unter Umständen einem seiner Eltern zufügen kann, allein verantwortlich ist. Die Bedingungen, unter denen die Meinung des Kindes eingeholt wird, müssen den Umständen sowie seinem Alter und seinem Reifegrad angepasst sein, damit dieser Vorgang für das Kind keine traumatisierende Erfahrung darstellt(16). Ein nationales Gericht muss daher meines Erachtens die Anhörung des Kindes durch eine dazu befähigte Person in einem geeigneten Rahmen vornehmen lassen können, wenn es ihm nicht angebracht erscheint, die Anhörung selbst vorzunehmen. Desgleichen war der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao meines Erachtens befugt, im Rahmen der vorliegenden Rechtssache die Anhörung eines Kindes von geringem Alter wie Andrea mittels Videokonferenz als unangebracht einzustufen.

88.      Anhand dieser Voraussetzungen hat das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, bevor es für seine Entscheidung eine Bescheinigung nach Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 ausstellt, zu prüfen, ob das Kind die Möglichkeit hatte, im Sinne von Abs. 2 Buchst. a dieses Artikels gehört zu werden.

c)      Die Meinung des Kindes bindet das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats nicht

89.      Schließlich bindet die Meinung, die das Kind bei seiner Anhörung äußert, das für eine Entscheidung auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 zuständige Gericht des Ursprungsmitgliedstaats nicht. In Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ist der Widerstand des Kindes gegen seine Rückgabe ausdrücklich als einer der Gründe aufgeführt, auf die deren Ablehnung gestützt werden kann(17), ohne dass dieser Widerstand das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats bindet. In der Verordnung Nr. 2201/2003 wird diese Bestimmung in den Vorschriften, die dem Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Befugnis verleihen, im Anschluss an eine solche Entscheidung tätig zu werden, nicht aufgegriffen.

90.      Art. 42 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht lediglich vor, dass das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, das die Rückgabe des Kindes in einem solchen Fall anordnet, bescheinigen muss, dass es beim Erlass seiner Entscheidung die Gründe und Beweismittel berücksichtigt hat, die der Entscheidung des Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats, mit der die Rückgabe abgelehnt wurde, zugrunde liegen.

91.      Der Wortlaut der Verordnung Nr. 2201/2003 zeigt somit noch klarer als der des Haager Übereinkommens von 1980, dass die Meinung des Kindes ein vom Gericht zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist, dieses aber nicht bindet.

92.      Hat, wie im vorliegenden Fall, das Kind bei seiner Anhörung durch das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats erklärt, dass es sich seiner Rückgabe widersetze, und war dieses Gericht im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens der Ansicht, die Rückgabe ablehnen zu müssen, so muss diese Meinung zwar vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats bei seiner endgültigen Entscheidung berücksichtigt werden, bindet es aber nicht.

93.      Es ist auch nicht gezwungen, selbst eine erneute Anhörung des Kindes durchzuführen, bevor es diese endgültige Entscheidung trifft; dies werde ich nunmehr im zweiten, dem System der Verordnung Nr. 2201/2003 gewidmeten Teil meiner Analyse darlegen.

2.      Das System der Verordnung Nr. 2201/2003

94.      Einleitend ist hervorzuheben, dass Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht vorsieht, dass das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats selbst eine Anhörung des Kindes vornehmen muss. Er verlangt nur, dass das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden. Diese Voraussetzung kann daher erfüllt sein, wenn das Kind von den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats angehört wurde; dies bestätigt der 20. Erwägungsgrund der Verordnung, wonach die Anhörung eines Kindes in einem anderen Mitgliedstaat nach den Modalitäten der Verordnung Nr. 1206/2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen erfolgen kann.

95.      Ist das betreffende Kind von den Gerichten des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht auf Ersuchen des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats gemäß der Verordnung Nr. 1206/2001 angehört worden, sondern im Rahmen des Verfahrens, das zu einer Entscheidung geführt hat, mit der die Rückgabe abgelehnt wurde, so halte ich das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats in Anbetracht des Systems der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht für verpflichtet, aufgrund von Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung zwingend eine erneute Anhörung vorzunehmen.

96.      Das Hauptmerkmal des Systems der Verordnung Nr. 2201/2203 im Fall der Kindesentführung besteht darin, dass das Verfahren vor dem Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats, das zu einer Entscheidung geführt hat, mit der die Rückgabe abgelehnt wurde, und das Verfahren vor dem Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, das die endgültige Entscheidung über die Rückgabe zu treffen hat, keine isolierten Verfahren darstellen, die miteinander wetteifern. Es handelt sich um die einander ergänzenden Bestandteile eines einzigen Verfahrens, das die Situation eines Kindes betrifft, dessen Eltern über das Sorgerecht streiten, und in dem zwei Gerichte verschiedener Mitgliedstaaten nach der Verordnung Nr. 2201/2203 die unabweisbare Pflicht haben, zusammenzuarbeiten, um die zur Wahrung des Wohls des Kindes beste Lösung zu finden.

97.      Nach diesem System sind, wenn ein Elternteil eines Kindes, das in einen anderen Mitgliedstaat entführt wurde oder dort widerrechtlich zurückgehalten wird, dessen Rückgabe beantragt, das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats und das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats nacheinander mit der gleichen Frage befasst. Sie geht dahin, ob es einen legitimen und zwingenden Grund gibt, der gegen die Rückgabe dieses Kindes spricht. Wie der Gerichtshof im Urteil Povse ausgeführt hat, sieht das fragliche System eine zweifache Prüfung der Frage der Rückgabe des Kindes vor und gewährleistet damit eine bessere Grundlage der Entscheidung und einen erhöhten Schutz des Kindeswohls(18).

98.      Das gegenseitige Vertrauen und die gegenseitige Anerkennung, die die Verordnung Nr. 2201/2003 prägen, zielen somit darauf ab, im europäischen Rechtsraum ein System zu schaffen, das sich so weit wie möglich der Situation annähert, die innerhalb eines Mitgliedstaats besteht, wenn sich ein Elternteil weigert, einstweilige Maßnahmen in Bezug auf das Sorgerecht für ein gemeinsames Kind zu befolgen. In einem rein innerstaatlichen Rahmen nimmt die gerichtliche Behandlung einer solchen Weigerung die Form eines Zwischenstreits an, der zu dem die Scheidung betreffenden Hauptverfahren hinzutritt.

99.      Deshalb wollte der Gemeinschaftsgesetzgeber meines Erachtens, als er sowohl in Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 als auch in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung vorsah, dass das Kind die Möglichkeit gehabt haben muss, gehört zu werden, die Anhörung des Kindes nicht zu einem förmlichen, in jedem Stadium des seine Rückgabe betreffenden Verfahrens zwingend gebotenen Erfordernis machen. Er wollte, dass das von einem solchen Verfahren betroffene Kind tatsächlich die Möglichkeit hatte, sich im allgemeinen Rahmen dieses Verfahrens, ab dem im ersuchten Mitgliedstaat eingeleiteten Abschnitt, zu äußern. Er hat nicht vorgeschrieben, dass das Kind vom Gericht des Ursprungsmitgliedstaats , das eine Entscheidung auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 zu treffen hat, regelmäßig erneut anzuhören ist.

100. Dieses Gericht muss sich auf die vom Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats vorgenommene Anhörung stützen können, wenn es darin die für seine eigene Entscheidungsfindung erforderlichen Gesichtspunkte findet.

101. Ich werde meine Analyse zum einen auf Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2201/2003 stützen, wonach alle vom Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats gesammelten Anhaltspunkte, anhand deren dieses Gericht beschlossen hat, die Rückgabe abzulehnen, und insbesondere Niederschriften von Anhörungen dem Gericht des Ursprungsmitgliedstaats zu übermitteln sind, das die endgültige Entscheidung über die Rückgabe zu treffen hat(19).

102. Meine Analyse stützt sich zum anderen darauf, dass nach Art. 42 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 2201/2003 das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Gründe und Beweismittel berücksichtigen muss, auf deren Grundlage das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats seine Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, getroffen hatte.

103. Die Niederschrift der vom Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats im Rahmen des Verfahrens, das zu einer Entscheidung führte, die Rückgabe abzulehnen, durchzuführenden Anhörung des Kindes gehört somit zu den Anhaltspunkten, die dem örtlich zuständigen Gericht des Ursprungsmitgliedstaats zu übermitteln und von diesem zu berücksichtigen sind.

104. Schließlich sehe ich eine Bestätigung für meine Analyse in dem für dieses Verfahren prägenden Beschleunigungsgebot. Die Rückgabe eines entführten oder widerrechtlich zurückgehaltenen Kindes setzt generell voraus, dass das Kind noch nicht die Zeit hatte, sich vollständig in seine neue Umgebung zu integrieren. Deshalb schreibt die Verordnung Nr. 2201/2003 den mit einem Rückgabeantrag befassten Gerichten vor, rasch – spätestens sechs Wochen nach ihrer Befassung – zu entscheiden und sich dabei der zügigsten Verfahren ihres nationalen Rechts zu bedienen(20). Dieses Beschleunigungsgebot gilt logischerweise auch für das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, das die endgültige Entscheidung über die Rückgabe zu treffen hat.

105. Dieses Gericht kann es zwar für nützlich oder angebracht erachten, das Kind vor Erlass seiner endgültigen Entscheidung erneut zu hören. Hierzu ist anzumerken, dass der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao in der vorliegenden Rechtssache im Anschluss an die Entscheidung des Amtsgerichts – Familiengericht – Celle, die Rückgabe abzulehnen, das Kind und seine Mutter zur Anhörung nach Spanien geladen hat.

106. Dass es, nachdem Andrea und ihre Mutter nicht erschienen, seine endgültige Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wurde, getroffen hat, ohne das Kind im Wege der Videokonferenz angehört oder versucht zu haben, eine Anhörung in Deutschland entweder selbst durchzuführen oder damit die deutschen Gerichte zu betrauen, fällt jedoch in sein Ermessen und kann nicht als Verstoß gegen das in der Möglichkeit, gehört zu werden, bestehende Grundrecht des Kindes eingestuft werden.

107. Auch die Tatsache, dass der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao in seinem Urteil vom 16. Dezember 2009 nicht nur die Rückgabe von Andrea angeordnet, sondern auch über das Sorgerecht für sie entschieden und es dem Vater übertragen hat, rechtfertigt meines Erachtens kein anderes Ergebnis.

108. Die Verordnung Nr. 2201/2003 gestattet es, wie der Gerichtshof im Urteil Povse ausgeführt hat, dem Gericht des Ursprungsmitgliedstaats, im Anschluss an eine Entscheidung, die Rückgabe des Kindes abzulehnen, dessen Rückgabe anzuordnen, ohne dass es sich zuvor zum endgültigen Sorgerecht für das Kind äußern muss(21). Wie klar aus ihrem Art. 11 Abs. 7 hervorgeht, gestattet sie es dem Gericht aber auch, beides zu verbinden und über das endgültige Sorgerecht für das Kind zu entscheiden, so dass sich die Entscheidung über die Rückgabe des Kindes dann als Konsequenz der Sorgerechtsübertragung darstellt.

109. Diese Vorgehensweise bietet den Vorteil, ein Hin-und-Her des Kindes zwischen den betreffenden Staaten zu verhindern, falls das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats die Ansicht vertreten sollte, dass das Sorgerecht letztlich dem Elternteil zu übertragen sei, der es entführt hat oder widerrechtlich zurückhält. Sie setzt jedoch voraus, dass dieses Gericht über hinreichende Anhaltspunkte verfügt, um über die Sorgerechtsübertragung zu entscheiden; dazu gehört die Anhörung des Kindes, wenn es über ein hinreichendes Urteilsvermögen verfügt.

110. Im Gegensatz zur deutschen Regierung und zur Kommission glaube ich nicht, dass in diesem Fall die Anhörung des Kindes durch das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats im Rahmen des Verfahrens, das zu einer Entscheidung geführt hat, mit der die Rückgabe abgelehnt wurde, – weil diese Anhörung einen wesentlich begrenzteren Gegenstand hat, und zwar allein die Rückgabe – keinesfalls ausreicht, um den Schluss zuzulassen, dass das Recht des Kindes, gehört zu werden, beachtet wurde.

111. Die Frage der Rückgabe und die Frage des endgültigen Sorgerechts stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Dies gilt in der vorliegenden Rechtssache umso mehr, als Andrea erklärt hat, dass sie sich ihrer Rückkehr nach Spanien widersetze, was bedeutet, dass sie sich erst recht der Übertragung des Sorgerechts auf ihren Vater widersetzt. Ob das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats davon ausgehen kann, dass das Kind zur Übertragung des Sorgerechts gehört werden konnte, hängt somit von den Umständen und vom Inhalt seiner Anhörung im Vollstreckungsmitgliedstaat ab. Meines Erachtens ist in diesem Bereich dem nationalen Gericht die Beurteilung der Frage zu überlassen, ob es dieser Anhörung hinreichende Anhaltspunkte entnehmen kann, um seine Entscheidung über das endgültige Sorgerecht für das Kind auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 treffen zu können.

112. Hinzuzufügen ist, dass – wie die spanische Regierung in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat – eine Entscheidung über das Sorgerecht für ein Kind wie das Urteil des Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao vom 16. Dezember 2009 nur als „endgültig“ bezeichnet wird, um sie von vorläufigen, während des Scheidungsverfahrens getroffenen Maßnahmen zu unterscheiden, und dass eine solche Entscheidung im Prinzip stets überprüft werden kann, sei es mit Zustimmung der Eltern, sei es bei Vorliegen neuer Gesichtspunkte.

113. Schließlich trägt die Kommission vor, in der vorliegenden Rechtssache sei der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción n° 5 de Bilbao wegen des seit der Anhörung des Kindes in Deutschland verstrichenen Zeitraums von fast neun Monaten nicht zu der Annahme berechtigt gewesen, dass die in Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene Voraussetzung erfüllt sei.

114. Zwar mag ein solcher Zeitraum im Rahmen eines Rückgabeverfahrens lang erscheinen, doch ist – wie schon gesagt – für mich nicht recht ersichtlich, was eine erneute Anhörung des Kindes hätte bringen können, nachdem es bereits erklärt hatte, dass es sich seiner Rückkehr nach Spanien widersetze.

115. Im Licht all dieser Umstände schlage ich dem Gerichtshof daher vor, zu entscheiden, dass Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass die dort aufgestellte Voraussetzung erfüllt ist, wenn das Kind von den Gerichten des Vollstreckungsmitgliedstaats im Rahmen des Verfahrens, das zu einer die Rückgabe des Kindes ablehnenden Entscheidung geführt hat, angehört wurde und wenn das Gericht des zuständigen Mitgliedstaats diese Anhörung bei seiner gemäß Art. 11 Abs. 8 der Verordnung ergangenen Entscheidung, die Rückgabe anzuordnen, berücksichtigt hat.

B –    Die Prüfung der Vorlagefragen

116. In Anbetracht meines Standpunkts in Bezug auf die Prämisse, auf der die vom Oberlandesgericht Celle vorgelegten Fragen beruhen, werde ich diese Fragen nur hilfsweise prüfen.

117. Mit seinen Fragen, die meines Erachtens gemeinsam geprüft werden sollten, möchte dieses Gericht wissen, ob die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass sich das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats der Vollstreckung einer mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung entgegenstellen kann, mit der im Anschluss an eine die Rückgabe des Kindes ablehnende Entscheidung dessen Rückgabe angeordnet wurde, wenn sich zeigt, dass das betreffende Kind entgegen den Angaben in der gemäß Art. 42 der Verordnung ausgestellten Bescheinigung und unter Verstoß gegen die Bestimmungen dieses Artikels und das in Art. 24 Abs. 1 der Charta der Grundrechte verankerte Grundrecht nicht die Möglichkeit hatte, gehört zu werden.

118. Bei der Analyse dieser Fragen ist es somit als erwiesen anzusehen, dass das Kind, auf das sich die Entscheidung gemäß Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 bezieht, entgegen den Angaben in der dieser Entscheidung beigefügten Bescheinigung nicht die Möglichkeit hatte, gehört zu werden.

119. Ich bin wie die Kommission und im Gegensatz zur deutschen Regierung der Ansicht, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats auch in einem solchen Fall nicht berechtigt wäre, sich der Vollstreckung der fraglichen Entscheidung entgegenzustellen. Mein Standpunkt stützt sich auf das in der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene System nach dessen Auslegung durch die Rechtsprechung.

120. Wie wir gesehen haben, geht diese Verordnung wie das Haager Übereinkommen von 1980 von dem Postulat aus, dass das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes unter Verstoß gegen eine gerichtliche Entscheidung das Wohl dieses Kindes in schwerwiegender Weise beeinträchtigt, so dass seine Rückkehr an seinen ursprünglichen Aufenthaltsort so schnell wie möglich erfolgen muss.

121. Wir haben auch gesehen, dass der Mehrwert der Verordnung gegenüber diesem Übereinkommen darin besteht, ein System geschaffen zu haben, nach dem im Fall unterschiedlicher Beurteilungen durch das Gericht des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes und das Gericht des Ortes, an dem es sich widerrechtlich befindet, Ersteres zuständig bleibt und gewissermaßen das letzte Wort bei der Entscheidung darüber hat, ob das Kind tatsächlich an seinen ursprünglichen Aufenthaltsort zurückkehren muss.

122. Diese Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats beruht auf dem Postulat, dass es am besten in der Lage ist, die endgültige Entscheidung über die Rückgabe zu treffen, weil es im Umfeld des Kindes und bei allen Personen, die Kontakt zu ihm hatten, sämtliche Informationen einholen kann, die die Beurteilung der Frage ermöglichen, ob es einen legitimen Grund gibt, der gegen seine Rückgabe spricht.

123. Aufbau und Zweck dieses Systems sind vom Gerichtshof im Urteil Povse in Beantwortung der Frage, ob eine später ergangene Entscheidung eines Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats, mit der ein vorläufiges Sorgerecht gewährt wird und die nach dem Recht dieses Staates als vollstreckbar anzusehen ist, der Vollstreckung einer zuvor aufgrund von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergangenen und gemäß Art. 42 dieser Verordnung mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung entgegensteht, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wurde, mit ganz klaren Worten erläutert worden.

124. Der Gerichtshof hat hierzu ausgeführt:

„73      Aus den [Art. 42 Abs. 1 und 43 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 2201/2003], die eine klare Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats und des Vollstreckungsmitgliedstaats vorsehen und auf die rasche Rückführung des Kindes abzielen, ergibt sich, dass gegen eine gemäß Art. 42 der Verordnung ausgestellte Bescheinigung, die der Entscheidung, für die sie ausgestellt wurde, eine spezifische Vollstreckbarkeit verleiht, keine Rechtsbehelfe möglich sind. Das ersuchte Gericht kann lediglich die Vollstreckbarkeit einer solchen Entscheidung feststellen, wobei gegen die Bescheinigung nur mit einer Klage auf Berichtigung oder der Geltendmachung von Zweifeln an ihrer Echtheit nach dem Recht des Ursprungsmitgliedstaats vorgegangen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Rinau, Randnrn. 85, 88 und 89). Vom Recht des ersuchten Mitgliedstaats sind allein die Regeln über Verfahrensfragen anwendbar.

74      Dagegen sind Fragen, die die Begründetheit der Entscheidung als solche betreffen, und insbesondere die Frage, ob die Voraussetzungen vorliegen, die es dem zuständigen Gericht ermöglichen, diese Entscheidung zu erlassen, einschließlich etwaiger die Zuständigkeit betreffender Rügen vor den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats nach dessen Recht geltend zu machen. Desgleichen kann ein Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung einer Entscheidung, für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde, nur vor dem zuständigen Gericht des Ursprungsmitgliedstaats nach dessen Recht gestellt werden.

75      Somit kann vor den Gerichten des Verbringungsmitgliedstaats nicht gegen die Vollstreckung einer solchen Entscheidung vorgegangen werden; das Recht dieses Staates regelt allein die Verfahrensfragen im Sinne von Art. 47 Abs. 1 der Verordnung, d. h. die Modalitäten der Vollstreckung der Entscheidung. Ein Verfahren, wie es Gegenstand der hier zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage ist, betrifft aber weder Formerfordernisse noch Verfahrensfragen, sondern Sachfragen.

76      Folglich ist die Frage, ob eine Entscheidung, für die eine Bescheinigung ausgestellt wurde, mit einer später ergangenen vollstreckbaren Entscheidung unvereinbar im Sinne von Art. 47 Abs. 2 Unterabs. 2 der Verordnung ist, nur in Bezug auf etwaige spätere Entscheidungen der zuständigen Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats zu prüfen.“

125. Zusammengefasst kann sich das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats somit der Vollstreckung einer aufgrund von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 ergangenen und mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung nicht entgegenstellen.

126. Diese Auslegung der Verordnung muss meines Erachtens auch dann gelten, wenn die Bescheinigung ausnahmsweise zu Unrecht erstellt worden sein sollte, weil das Kind nicht die Möglichkeit hatte, gehört zu werden.

127. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat nämlich in dieser Verordnung die Lehren aus den Unzulänglichkeiten des Systems des Haager Übereinkommens von 1980 gezogen, wonach unterschiedliche Beurteilungen der Gerichte der Vertragsstaaten in Bezug auf das Kindeswohl, das an ihrer jeweiligen öffentlichen Ordnung gemessen wurde, dazu führten, dass die Entführung des Kindes legalisiert wurde.

128. Er hat deshalb zum einen vorgesehen, dass im Rahmen von Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 die Grundrechte einen autonomen, in allen Mitgliedstaaten einheitlichen Inhalt haben sollten, nämlich den der Charta der Grundrechte. Zum anderen war er der Ansicht, dass das Maß des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten darin, dass die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen echten Schutz der genannten Rechte zu gewährleisten, es gestattete, diesen Ansatz zu Ende zu führen und der endgültigen Entscheidung des örtlich zuständigen Gerichts eine spezifische Vollstreckbarkeit beizumessen, die eine Unanfechtbarkeit in den übrigen Mitgliedstaaten bewirkt.

129. Insoweit genügt es, den Wortlaut der Bestimmungen des Abschnitts 4 von Kapitel III der Verordnung Nr. 2201/2003, die diese spezifische Vollstreckbarkeit vorsehen, mit dem Wortlaut der Artikel des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates(22) über den Europäischen Haftbefehl zu vergleichen. Dieser Rahmenbeschluss sieht ausdrücklich vor, dass die Übergabe der Person, für die ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wurde, auf einer Entscheidung eines Gerichts des Vollstreckungsmitgliedstaats beruhen muss, und zählt die Gründe auf, aus denen dieses Gericht die Übergabe ablehnen kann oder muss(23) Im Rahmenbeschluss kommt daher der Wille des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck, dass die Beachtung der Grundrechte Gegenstand einer zweifachen Kontrolle durch die Gerichte des ersuchenden Mitgliedstaats und durch die Gerichte des ersuchten Mitgliedstaats ist.

130. Dagegen hat der Gemeinschaftsgesetzgeber in der Verordnung Nr. 2201/2003 einen weiteren Schritt zugunsten der gegenseitigen Anerkennung unternommen, denn er hat diese zweifache Kontrolle nicht vorgesehen. Dieser zusätzliche Schritt darf aber keinen geringeren Schutz der Grundrechte des Kindes zur Folge haben. Wie wir gesehen haben, hat der Gemeinschaftsgesetzgeber im 33. Erwägungsgrund der Verordnung auf die große Bedeutung der Wahrung dieser Rechte hingewiesen. Er war jedoch der Ansicht, dass sie von den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats gewahrt werden könnten.

131. Es ist daher Sache des Elternteils, der meint, dass die Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, getroffen worden sei, ohne dass das Kind die Möglichkeit hatte, gehört zu werden, und deshalb dessen Grundrecht verletze, und dass die Bescheinigung somit falsch sei, diese Entscheidung vor dem zuständigen Gericht des Ursprungsmitgliedstaats anzufechten, wobei die Inanspruchnahme einer solchen Rechtsschutzmöglichkeit als solche keine Aussetzung der Vollstreckung der Entscheidung im Vollstreckungsmitgliedstaat rechtfertigen kann.

132. Die deutsche Regierung ersucht den Gerichtshof, seine Überlegungen auf den Fall zu erstrecken, dass die zuständigen Gerichte des Ursprungsmitgliedstaats ihre Pflichten verletzt und eine mit einem offenkundigen Grundrechtsverstoß behaftete Entscheidung nicht abgeändert haben.

133. Die deutsche Regierung trägt hierzu vor, das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats müsse sich der Vollstreckung einer solchen Entscheidung entgegenstellen können, wenn die Klage vor den Gerichten des Ursprungsmitgliedstaats erfolglos geblieben sei, obwohl das Grundrecht des Kindes offensichtlich verletzt worden sei. In einem solchen Fall könne die Verordnung Nr. 2201/2003 nicht zur Vollstreckung einer Entscheidung zwingen, die offensichtlich Grundrechte verletze. Im vorliegenden Fall habe die von der Mutter von Andrea in Spanien erhobene Klage gegen das Urteil vom 16. Dezember 2009 keinen Erfolg gehabt.

134. Meines Erachtens eignet sich die vorliegende Sache nicht für eine Stellungnahme zu einer solchen Hypothese. Zum einen ist nämlich, wenn der Gerichtshof meinen Ausführungen zu der den Vorlagefragen zugrunde liegenden Prämisse folgt, das Grundrecht des Kindes, gehört zu werden, nicht offensichtlich verletzt worden. Dieses Recht ist gewahrt worden. Zum anderen hat die spanische Regierung in der mündlichen Verhandlung bestritten, dass die Mutter des Kindes die ihr in Spanien zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten ausgeschöpft hat. Sie hat zudem ausgeführt, es gebe im spanischen Recht eine spezielle Rechtsschutzmöglichkeit, wenn eine Partei eine Verletzung ihrer Grundrechte geltend mache.

135. Insoweit muss es meines Erachtens in der Rechtsordnung des Ursprungsmitgliedstaats (wie es hier der Fall ist) Rechtsschutzmöglichkeiten geben, die es den Betroffenen ermöglichen sollen, die Richtigkeit einer gemäß Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung und damit die Wahrung der Grundrechte durch das Gericht, das diese Entscheidung erlassen hat, in Frage zu stellen; dies ist das unerlässliche Gegenstück zum Fehlen jeder Möglichkeit der Anfechtung einer solchen Entscheidung im Vollstreckungsmitgliedstaat.

136. Im Übrigen dürfte die von der deutschen Regierung geschilderte Situation grundsätzlich auch nicht eintreten. Die nationalen Gerichte müssen das Unionsrecht im Einklang mit den Grundrechten anwenden und bei Zweifeln an deren Tragweite ihre Fragen dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens vorlegen. Ferner müssen die Mitgliedstaaten in ihrer Rechtsordnung ausreichende Rechtsschutzmöglichkeiten vorsehen, um zu gewährleisten, dass die Grundrechte tatsächlich eingehalten werden. Schließlich unterliegt die Beachtung dieser Pflichten der Kontrolle durch die Kommission, die u. a. gegen einen Mitgliedstaat wegen Vertragsverletzung vorgehen kann, wenn dessen Gerichte und insbesondere sein oberstes Gericht sie verletzen sollten(24).

137. Die vorliegende Rechtssache berechtigt nicht zu Zweifeln an der Fähigkeit der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, eine die Grundrechte des Kindes wahrende Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 zu gewährleisten.

138. Sie zeigt vielmehr, dass die Anerkennung eines Weigerungsrechts der Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats geeignet wäre, erneut die Möglichkeit ungerechtfertigter Blockaden oder Verzögerungen bei der Vollstreckung von Entscheidungen zu schaffen, mit denen auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 die Rückgabe eines Kindes angeordnet wird. Wie schon gesagt, führt in dem besonderen und sehr leidvollen Bereich der Kindesentführungen jeder Monat der Verzögerung bei der Vollstreckung einer Rückgabeentscheidung zu einer Erschwerung und damit einer Verschärfung der Lage. Die praktische Wirksamkeit der Verordnung Nr. 2201/2003 würde daher ernstlich beeinträchtigt, wenn die Vollstreckung einer solchen Entscheidung in der einen oder anderen Weise vor den Gerichten des Vollstreckungsmitgliedstaats angefochten werden und somit vom Ausgang eines Verfahrens vor diesen Gerichten abhängen könnte.

139. Angesichts dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vorstehende Antwort dahin zu ergänzen, dass die Verordnung Nr. 2201/2003, selbst wenn das Kind entgegen den Angaben auf der gemäß Art. 42 der Verordnung ausgestellten Bescheinigung und unter Verstoß gegen die Bestimmungen dieses Artikels sowie gegen das in Art. 24 Abs. 1 der Charta der Grundrechte verankerte Grundrecht nicht die Möglichkeit gehabt haben sollte, gehört zu werden, in dem Sinne auszulegen ist, dass sich das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats der Vollstreckung einer auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung getroffenen und mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, nicht entgegenstellen kann.

IV – Ergebnis

140. Nach alledem schlage ich vor, die Fragen des Oberlandesgerichts Celle wie folgt zu beantworten:

Art. 42 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass die dort aufgestellte Voraussetzung erfüllt ist, wenn das Kind von den Gerichten des Vollstreckungsmitgliedstaats im Rahmen des Verfahrens, das zu einer die Rückgabe des Kindes ablehnenden Entscheidung geführt hat, angehört wurde und wenn das Gericht des zuständigen Mitgliedstaats diese Anhörung bei seiner gemäß Art. 11 Abs. 8 der Verordnung ergangenen Entscheidung, die Rückgabe anzuordnen, berücksichtigt hat.

Selbst wenn das Kind entgegen den Angaben auf der gemäß Art. 42 der Verordnung Nr. 2201/2003 ausgestellten Bescheinigung und unter Verstoß gegen die Bestimmungen dieses Artikels sowie gegen das in Art. 24 Abs. 1 der Charta der Grundrechte verankerte Grundrecht nicht die Möglichkeit gehabt haben sollte, gehört zu werden, ist diese Verordnung in dem Sinne auszulegen, dass sich das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats der Vollstreckung einer auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 8 der Verordnung getroffenen und mit einer Bescheinigung versehenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird, nicht entgegenstellen kann.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980).


3 – Verordnung vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1).


4 – Vgl. Urteile vom 11. Juli 2008, Rinau (C‑195/08 PPU, Slg. 2008, I‑5271), und vom 1. Juli 2010, Povse (C‑211/10 PPU, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).


5 – Urteil Povse (Randnrn. 73 bis 75).


6 – Art. 60 und 62 der Verordnung.


7 – ABl. L 74, S. 1.


8 – Urteil vom 2. April 2009, A (C‑523/07, Slg. 2009, I‑2805, Randnr. 34).


9 – Urteil vom 27. November 2007, C (C‑435/06, Slg. 2007, I‑10141, Randnr. 46).


10 – Urteil A (Randnrn. 35 bis 37).


11 – Urteile Rinau (Randnr. 63) und Povse (Randnr. 56).


12 – Urteil Rinau (Randnr. 68).


13 – So sieht das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 verabschiedete Übereinkommen über die Rechte des Kindes in Art. 12 vor:


      „(1) Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, ...


      (2) Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden.“


      Nach Art. 3 des Europäischen Übereinkommens über die Ausübung von Kinderrechten vom 25. Januar 1996 und Art. 6 des Europäischen Übereinkommens über den Umgang von und mit Kindern vom 15. Mai 2003 hat ein Kind das Recht, in Verfahren Auskünfte zu erhalten, angehört zu werden und seine Meinung zu äußern. Vgl. u. a. Gouttenoire, A., „L’audition de l’enfant dans le règlement ‚Bruxelles II bis‘“, in: Le nouveau droit communautaire du divorce et de la responsabilité parentale, Dalloz, 2005, S. 201 ff.


14 – Urteil vom 23. Dezember 2009, Detiček (C‑403/09 PPU, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 54). Vgl. auch EGMR, Urteil Iglesias Gil und A.U.I./Spanien vom 29. April 2003, Recueil des arrêts et décisions 2003‑V.


15 – Vgl. EGMR, Urteil Pini, Bertani, Manera und Atripaldi/Rumänien vom 22. Juni 2004, Recueil des arrêts et décisions 2004‑IV, in dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Ansicht vertreten hat, dass die nationalen Behörden ihr Ermessen durch die Festsetzung der Altersgrenze, ab der die Zustimmung des Kindes zu seiner Adoption eingeholt werden muss, auf zehn Jahre nicht überschritten hätten.


16 – Vgl. EGMR, Urteil Sahin/Deutschland vom 8. Juli 2003, Recueil des arrêts et décisions 2003‑VIII, in dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Ansicht vertreten hat, dass im Rahmen eines Verfahrens, in dem es um das Umgangsrecht eines Elternteils geht, der nicht das Sorgerecht ausübt, das Gericht nicht verpflichtet sein kann, das Kind regelmäßig in der Verhandlung anzuhören, sondern in Bezug auf die Bedingungen dieser Anhörung über ein Ermessen verfügen muss, das anhand der besonderen Umstände der Sache sowie des Alters und des Reifegrades des betreffenden Kindes auszuüben ist (§ 73).


17 – Art. 13 Abs. 2 des Haager Übereinkommens von 1980 lautet:


      „Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.“


18 – Randnr. 60.


19 – Wie bereits ausgeführt, lautet Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2201/2003:


      „Hat ein Gericht entschieden, die Rückgabe des Kindes gemäß Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen, so muss es nach dem nationalen Recht dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unverzüglich entweder direkt oder über seine Zentrale Behörde eine Abschrift der gerichtlichen Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, und die entsprechenden Unterlagen, insbesondere eine Niederschrift der Anhörung [Hervorhebung durch mich], übermitteln. Alle genannten Unterlagen müssen dem Gericht binnen einem Monat ab dem Datum der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, vorgelegt werden.“


20 – Vgl. Art. 11 Abs. 3 und 6 der Verordnung Nr. 2201/2003.


21 – Randnr. 54 dieses Urteils lautet:


      „Auch in den Art. 40 und 42 bis 47 der Verordnung [Nr. 2201/2003] wird die Vollstreckung einer nach Art. 11 Abs. 8 ergangenen und mit der Bescheinigung nach Art. 42 Abs. 1 der Verordnung versehenen Entscheidung nicht an die vorherige Erlassung einer Sorgerechtsentscheidung geknüpft.“


22 – Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss).


23 – Vgl. die Art. 3 und  4 des Rahmenbeschlusses.


24 – Urteil vom 9. Dezember 2003, Kommission/Italien (C‑129/00, Slg. 2003, I‑14637, Randnr. 32).