Language of document : ECLI:EU:C:2012:751

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NIILO JÄÄSKINEN

vom 27. November 2012(1)

Rechtssache C‑480/10

Europäische Kommission

gegen

Königreich Schweden

„Mehrwertsteuer – Art. 11 der Richtlinie 2006/112/EG – Nationale Regelung, wonach die Registrierung einer Mehrwertsteuergruppe Erbringern von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen vorbehalten ist – Vereinbarkeit mit dem Mehrwertsteuerrecht der Union“






I –    Einführung

1.        Im vorliegenden Verfahren beantragt die Kommission, festzustellen, dass Schweden dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 11 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(2) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) verstoßen hat, dass es die Zulassung von Mehrwertsteuergruppen auf den Finanz- und den Versicherungssektor beschränkt hat.

2.        Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält eine Regelung, wonach mehrere Personen aus steueradministrativen Gründen als eine Einheit (vielfach als „Mehrwertsteuergruppe“ bezeichnet) behandelt werden können. Eine ähnliche Vertragsverletzungsklage ist auch gegen die Republik Finnland erhoben worden(3).

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

3.        Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält folgende Regelung für Mehrwertsteuergruppen:

„Nach Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer (nachstehend ‚Mehrwertsteuerausschuss‘ genannt) kann jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln.

Ein Mitgliedstaat, der die in Absatz 1 vorgesehene Möglichkeit in Anspruch nimmt, kann die erforderlichen Maßnahmen treffen, um Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen durch die Anwendung dieser Bestimmung vorzubeugen.“

B –    Nationales Recht

4.        Kapitel 6a Art. 1 mervärdesskattelagen 1994:200 (im Folgenden: schwedisches Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:

„Für die Zwecke der Anwendung dieses Gesetzes können zwei oder mehr wirtschaftliche Einheiten unter den in diesem Kapitel genannten Voraussetzungen als eine wirtschaftliche Einheit (Mehrwertsteuergruppe) und kann die von der Mehrwertsteuergruppe ausgeübte Tätigkeit als eine einheitliche Tätigkeit angesehen werden.“

5.        Kapitel 6a Art. 2 des schwedischen Mehrwertsteuergesetzes lautet:

„Einer Mehrwertsteuergruppe können nur angehören:

1. unter Finanzaufsicht stehende wirtschaftliche Einheiten, die eine Tätigkeit ausüben, die steuerbefreit ist, weil der aus dieser Tätigkeit erzielte Umsatz nach Kapitel 3 Art. 9 oder 10 befreit ist, und

2. wirtschaftliche Einheiten, deren Hauptzweck in der Lieferung von Gegenständen oder in Dienstleistungen an die in Nr. 1 bezeichneten wirtschaftlichen Einheiten besteht, oder

3. wirtschaftliche Einheiten, bei denen es sich um Kommissionäre und Kommittenten handelt und zwischen denen ein Kommissionsverhältnis wie das in Kapitel 36 des Einkommensteuergesetzes (1999:1229) bezeichnete besteht.“

6.        Nach Kapitel 3 Art. 9 des schwedischen Mehrwertsteuergesetzes sind Bank- und Finanzdienstleistungen sowie der Handel mit Aktien oder Anteilen sowie ähnliche Umsätze befreit.

7.        Nach Kapitel 3 Art. 10 des genannten Gesetzes sind auch Versicherungs- und Rückversicherungsdienstleistungen befreit. Aus allen diesen Bestimmungen ergibt sich also, dass im Wesentlichen nur Wirtschaftsbeteiligte des Finanz- und Versicherungssektors eine Mehrwertsteuergruppe bilden können.

III – Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

8.        Mit Mahnschreiben vom 23. September 2008 teilte die Kommission dem Königreich Schweden mit, dass ihrer Meinung nach die schwedischen Rechtsvorschriften, wonach die Zulassung von Mehrwertsteuergruppen auf Erbringer von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen beschränkt sei, mit Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie unvereinbar sind.

9.        Mit Antwortschreiben vom 19. November 2008 erklärte das Königreich Schweden, dass seiner Ansicht nach die schwedischen Rechtsvorschriften über Mehrwertsteuergruppen im Einklang mit der Mehrwertsteuerrichtlinie stehen.

10.      Am 20. November 2009 richtete die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme an das Königreich Schweden, in der sie an ihrer Auffassung festhielt. Mit Schreiben vom 20. Januar 2010 antwortete das Königreich Schweden, dass es seine Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie für zutreffend halte.

11.      Da dies die Kommission nicht zufriedenstellte, hat sie die vorliegende, am 1. Oktober 2010 beim Gerichtshof eingegangene, Klage erhoben. Die Kommission beantragt, festzustellen, dass das Königreich Schweden dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie verstoßen hat, dass es die Zulassung von Mehrwertsteuergruppen auf Erbringer von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen beschränkt hat.

12.      Das Königreich Schweden beantragt, die Klage als unzulässig abzuweisen, da der Klagegegenstand über die von der Kommission im Verwaltungsverfahren erhobene Rüge hinausgehe. Hilfsweise beantragt das Königreich Schweden, die Klage als unbegründet abzuweisen.

13.      Die Republik Finnland sowie Irland sind dem Verfahren zur Unterstützung der Anträge des Königreichs Schweden als Streithelfer beigetreten. Die genannten Mitgliedstaaten und die Kommission haben an der mündlichen Verhandlung vom 6. September 2012 teilgenommen.

IV – Zulässigkeit

14.      In seiner Gegenerwiderung macht das Königreich Schweden geltend, die Kommission habe im Verwaltungsverfahren zu keiner Zeit einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz beanstandet. Ihre Rüge habe sich vielmehr auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beschränkt. Der Problemkreis der Gleichbehandlung sei erstmals im Rahmen der beim Gerichtshof erhobenen Vertragsverletzungsklage angesprochen worden, was eine unzulässige Erweiterung und Änderung des Streitgegenstands darstelle.

15.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs muss eine Klage auf dieselben Gründe und Rügen wie die mit Gründen versehene Stellungnahme gestützt werden(4). Wird das Begehren in der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht angeführt, kann es im Verfahren vor dem Gerichtshof nicht für zulässig erklärt werden.

16.      Wie der Gerichtshof jedoch im Urteil Kommission/Portugal festgestellt hat, kann dieses Erfordernis nicht so weit gehen, dass in jedem Fall eine völlige Übereinstimmung zwischen der Darlegung der Rügen im verfügenden Teil der mit Gründen versehenen Stellungnahme und in den Anträgen in der Klageschrift bestehen muss, sofern nur der Streitgegenstand, wie er in der mit Gründen versehenen Stellungnahme umschrieben ist, nicht erweitert oder geändert worden ist(5).

17.      Nach Art. 38 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs in Verbindung mit Art. 21 der Satzung des Gerichtshofs gehört es zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Vertragsverletzungsklage, dass die Klageschrift den Streitgegensand und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthält(6). Darzulegen sind zumindest in gedrängter Form die rechtlichen und tatsächlichen Umstände, auf die diese Rügen gestützt sind(7). Der ordnungsgemäße Ablauf dieses Verfahrens ist nicht nur eine vom Vertrag vorgeschriebene wesentliche Garantie für den Schutz der Rechte des betroffenen Mitgliedstaats, sondern auch dafür, dass ein etwaiges streitiges Verfahren einen eindeutig festgelegten Streitgegenstand hat(8).

18.      Wird im Verfahren vor dem Gerichtshof erstmals ein Klagegrund angeführt, der sich von den im vorprozessualen Verfahren angeführten Gründen wesentlich unterscheidet, bedeutet dies meines Erachtens unweigerlich, dass die Kommission den Streitgegenstand erweitert oder geändert hat. In solchen Fällen lässt sich dann nicht einwenden, die Kommission habe die in einem früheren Verfahrensstadium bereits in allgemeiner Form vorgebrachten Argumente lediglich detaillierter dargelegt(9). Vielmehr kommt es zu einer grundsätzlichen Neugestaltung des Rechtsstreits.

19.      Bei der vorliegenden Vertragsverletzungsklage ist dies in Bezug auf den Gleichbehandlungsgrundsatz indessen nicht der Fall. Die Kommission hat im Verwaltungsverfahren und im Verfahren vor dem Gerichtshof stets dieselbe Rüge erhoben, mit der beanstandet wird, dass die Zulassung von Mehrwertsteuergruppen nach Art. 11 auf bestimmte Sektoren, unter Ausschluss aller anderen Wirtschaftsbeteiligten von dieser Regelung in Schweden, beschränkt wird, wodurch vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich behandelt würden.

20.      Die Unterscheidung zwischen dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität und dem allgemeineren Gleichbehandlungsgrundsatz läuft auf die Frage hinaus, ob sich Wirtschaftsbeteiligte, die nicht im direkten Wettbewerb miteinander stehen, in einer vergleichbaren Lage befinden. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität kommt nämlich nur in solchen Wettbewerbssituationen zum Tragen. Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz kann hingegen immer dann vorliegen, wenn vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich behandelt werden(10). Ich bin allerdings der Meinung, dass die Unterscheidung zwischen steuerlicher Neutralität und Gleichbehandlung für die Lösung des hier anhängigen Rechtsstreits nur von zweit- oder gar drittrangiger Bedeutung sein kann.

21.      Zu diesem Ergebnis komme ich, weil es bei der Entscheidung darüber, ob Schweden angesichts der Beschränkung der Zulassung von Mehrwertsteuergruppen auf den Finanz- und den Versicherungssektor unionsrechtskonform handelt, in erster Linie auf die Auslegung von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie ankommt. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist Art. 11 zunächst nach seinem genauen Wortlaut auszulegen. Nur wenn die betreffende Formulierung in Art. 11 verschiedene Auslegungen zulässt, kann auf den Zusammenhang und Zweck der Vorschrift abgestellt werden(11). Erst in diesem Stadium gewinnen der Grundsatz der steuerlichen Neutralität und der Grundsatz der Gleichbehandlung Bedeutung als Hilfsmittel für die Auslegung von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie(12). Für sich allein genommen kommt ihnen hingegen keine von Art. 11 losgelöste Funktion in dem Sinne zu, dass sie Bestandteile der dem Königreich Schweden obliegenden Verpflichtungen wären, die für die Zulässigkeit der vorliegenden Vertragsverletzungsklage maßgebend sein könnten.

22.      Der Umstand, dass in der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission der Gleichbehandlungsgrundsatz – verstanden als ein über den Grundsatz der steuerlichen Neutralität hinausgehendes Prinzip – nicht ausdrücklich erwähnt wird, besagt daher nicht, dass die Kommission einen neuen Klagegrund anführt, zu dessen Prüfung der Gerichtshof nicht befugt wäre.

V –    Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

23.      Nach Auffassung der Kommission verstößt die Beschränkung der Zulassung von Mehrwertsteuergruppen auf Erbringer von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen gegen Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie, weil die von einem Mitgliedstaat getroffene innerstaatliche Regelung für Mehrwertsteuergruppen allen in dem Mitgliedstaat niedergelassenen Wirtschaftsbeteiligten unabhängig von dem Bereich ihrer geschäftlichen Tätigkeit zur Verfügung stehen müsse. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut von Art. 11, wonach „jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln [kann]“.

24.      Für diese Auslegung spreche auch der mit Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie verfolgte Zweck, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu eröffnen, diejenigen Wirtschaftsbeteiligten zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln, die nur formal eigenständige Einheiten darstellten. Art. 11 diene der Verwaltungsvereinfachung und der Missbrauchsbekämpfung. Diese Ziele seien im Hinblick auf sämtliche Wirtschaftsbeteiligte und nicht nur diejenigen eines bestimmten Sektors relevant.

25.      Des Weiteren macht die Kommission geltend, dass die in Rede stehenden schwedischen Rechtsvorschriften nicht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar seien, da vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich behandelt würden, ohne dass eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt wäre(13). Zudem könne ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung im Steuerbereich durch eine Diskriminierung gekennzeichnet sein, die Wirtschaftsteilnehmer betreffe, die nicht zwangsläufig miteinander konkurrierten, aber sich trotzdem in einer in anderer Beziehung vergleichbaren Situation befänden.

26.      Nach Ansicht der Kommission befinden sich hinsichtlich der Anwendung von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie alle in Schweden niedergelassenen Wirtschaftsbeteiligten in einer vergleichbaren Situation; aufgrund der Beschränkung der Zulassung von Mehrwertsteuergruppen auf Erbringer von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen erführen diese Wirtschaftsteilnehmer jedoch eine günstigere Behandlung als die Wirtschaftsbeteiligten in anderen Bereichen. Für diese Ungleichbehandlung bestehe kein objektiver Grund.

27.      Nach Meinung des Königreichs Schweden steht die schwedische Regelung im Einklang mit dem Wortlaut von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Mangels eines präziseren Wortlauts der genannten Vorschrift stehe den Mitgliedstaaten die Entscheidung darüber frei, welche in ihrem Gebiet ansässigen Personen zur Bildung von Mehrwertsteuergruppen berechtigt seien.

28.      Die Einführung von Mehrwertsteuergruppen sei gerade im Finanzsektor besonders angebracht, weil die Tätigkeiten in diesem Wirtschaftszweig häufig auf verschiedene juristische Personen verteilt seien. Dies sei durch aufsichtsrechtliche Anforderungen bedingt. Ferner herrsche im Finanzsektor starker Wettbewerb durch in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Wirtschaftsbeteiligte; da diese Wirtschaftsteilnehmer die Regelung für Mehrwertsteuergruppen in Anspruch nehmen könnten, wären die schwedischen Wirtschaftsbeteiligten, die Finanzdienstleistungen erbrächten, ihnen gegenüber im Nachteil, wenn sie keine Mehrwertsteuergruppen bilden könnten.

29.      Im Übrigen diene die Beschränkung der Zulassung von Mehrwertsteuergruppen auf Wirtschaftsbeteiligte im Finanz- und Versicherungssektor der Verhinderung von Steuerumgehungen, die z. B. aufträten, wenn eine Unternehmensgruppe Umsätze zwischen Mitgliedern der Gruppe und Gesellschaften außerhalb des Konzerns in ihrer Buchführung als interne Umsätze ausweise.

30.      Die schwedischen Rechtsvorschriften über Mehrwertsteuergruppen stünden sowohl mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz als auch mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität im Einklang. Der Gerichtshof habe in seiner Rechtsprechung zum Gleichbehandlungsgrundsatz Anforderungen hinsichtlich der Wettbewerbsneutralität gestellt, die von den schwedischen Rechtsvorschriften über Mehrwertsteuergruppen erfüllt würden, da die Wirtschaftsbeteiligten des Finanzsektors im Wesentlichen nur miteinander im Wettbewerb stünden. Die schwedischen Rechtsvorschriften verstießen auch nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz im weiteren Sinne, da sich die Wirtschaftsbeteiligten des Finanzsektors nicht in einer vergleichbaren Situation wie die Wirtschaftsbeteiligten anderer Branchen befänden. Aus aufsichtsrechtlichen Gründen seien die Wirtschaftsbeteiligten des Finanzsektors nämlich häufig in getrennte juristische Personen aufgespalten.

31.      Schließlich macht das Königreich Schweden geltend, bei der Auslegung von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie könne auf die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie über Steuerbefreiungen und über ermäßigte Steuersätze zurückgegriffen werden(14). Da Art. 11 ermögliche, innerhalb einer Mehrwertsteuergruppe getätigte Umsätze nicht der Steuer zu unterwerfen, und die Vorschrift daher eine Ausnahme von der allgemeinen Mehrwertsteuerregelung darstelle, sei ihr Geltungsbereich eng auszulegen.

VI – Würdigung

A –    Vorbemerkungen

32.      Meines Erachtens lautet die entscheidende Frage, ob ein Mitgliedstaat, der sich zur Einführung einer Regelung für Mehrwertsteuergruppen entschlossen hat, berechtigt ist, deren Geltung auf bestimmte Wirtschaftsbeteiligte, die die in Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten Merkmale aufweisen, zu beschränken, ohne die Möglichkeit zur Bildung von Mehrwertsteuergruppen nach Art. 11 sämtlichen Wirtschaftsbeteiligten zu eröffnen, die diese Merkmale aufweisen.

33.      Dabei kommt es weitgehend auf den Geltungsbereich von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie an. Dürfen die Mitgliedstaaten, wenn sie die Möglichkeit in Anspruch nehmen, in ihrem Gebiet ansässige Personen, die rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, „zusammen als einen Steuerpflichtigen [zu] behandeln“, nach dem Gewerbe differenzieren, das die Wirtschaftsbeteiligten ausüben, so dass bestimmte Umsätze bzw. Steuerpflichtige einer bestimmten Kategorie ausgenommen sind(15)? Hat Schweden die Grenzen des durch Art. 11 eingeräumten Ermessens gewahrt(16)?

34.      Vorab sei daran erinnert, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Bestimmung der Bedeutung einer Vorschrift des Unionsrechts sowohl ihre Ziele und ihr Zusammenhang als auch ihr Wortlaut zu berücksichtigen sind(17). Wie bereits dargelegt, werde ich zunächst den Wortlaut von Art. 11 und sodann erforderlichenfalls seinen Zusammenhang und seine Ziele untersuchen.

B –    Grammatikalische Auslegung von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie

35.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs können sich die Mitgliedstaaten auf den Wortlaut einer Richtlinie berufen(18). Insoweit ergibt sich aus der Formulierung von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass es sich um eine Kann-Bestimmung handelt. Entschließt sich ein Mitgliedstaat jedoch für eine Regelung über Mehrwertsteuergruppen, müssen deren Voraussetzungen im Einklang mit der Mehrwertsteuerrichtlinie stehen.

36.      Die Regelung für Mehrwertsteuergruppen kann nach Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie von im Gebiet der Mitgliedstaaten ansässigen Personen (engl. any persons) in Anspruch genommen werden, sofern sie enge finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen zueinander unterhalten. Die Vorschrift enthält keine anderweitigen einschränkenden Tatbestandsmerkmale. Es lässt sich im Gegenteil vertreten, dass der in der englischen Sprachfassung verwendete Ausdruck „any persons“ den Spielraum der Mitgliedstaaten einengt, bei der Umsetzung der Vorschrift in innerstaatliches Recht weitere Einschränkungen vorzusehen. Meines Erachtens umfasst der Begriff „any persons“ Personen unabhängig davon, in welchem Sektor sie wirtschaftlich tätig sind. Nach der grammatikalischen Auslegung von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist deshalb eine Beschränkung des Geltungsbereichs dieser Vorschrift auf bestimmte Wirtschaftssektoren ausgeschlossen.

37.      Sollte der Gerichtshof dieser auf dem Wortlaut von Art. 11 beruhenden Sichtweise folgen, braucht er den Zusammenhang und die Ziele der Bestimmung eigentlich nicht weiter zu untersuchen(19). Für den Fall, dass sich der Gerichtshof meinem Ergebnis zum Wortlaut von Art. 11 nicht anschließt, will ich im Folgenden jedoch dennoch auf diese Frage eingehen.

C –    Die Möglichkeit zur Zulassung von Mehrwertsteuergruppen im Zusammenhang der allgemeinen Mehrwertsteuerregelung

38.      Die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe führt zur Schaffung eines einzelnen Mehrwertsteuerpflichtigen, der in jeder Hinsicht mit einem Steuerpflichtigen vergleichbar ist, der nur aus einer einzigen Einheit besteht(20). Auch wenn es sich bei einer solchen Gestaltung der Natur nach um eine Sonderregelung handelt, ist damit weder eine Einschränkung noch eine Ausdehnung der nach Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Rechte eines Steuerpflichtigen verbunden.

39.      Die größte Einfachheit und Neutralität des Mehrwertsteuersystems wird erreicht, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: wenn die Steuer so allgemein wie möglich erhoben wird und wenn ihr Anwendungsbereich alle Produktions- und Vertriebsstufen sowie den Bereich der Dienstleistungen umfasst(21). Das Mehrwertsteuersystem sollte eine Wettbewerbsneutralität in dem Sinne bewirken, dass gleichartige Gegenstände und Dienstleistungen innerhalb des Gebiets der einzelnen Mitgliedstaaten ungeachtet der Länge des Produktions- und Vertriebswegs steuerlich gleich belastet werden(22). Im Idealfall sollte diese sogenannte neutrale Besteuerung weder den Wettbewerb noch die Entscheidung der Wirtschaftsbeteiligten bei der Ausgestaltung ihrer Tätigkeiten, etwa hinsichtlich der Rechtsform oder des Organisationsaufbaus, beeinflussen(23).

40.      Die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe begründet die Steuerpflicht dieser Gruppe und beendet die eigenständige Steuerpflicht derjenigen Gruppenmitglieder, die vor dem Anschluss an die Gruppe Mehrwertsteuerpflichtige waren(24). Die mehrwertsteuerliche Behandlung sowohl der Umsätze, die von der Gruppe an Außenstehende, als auch der Umsätze, die von Außenstehenden an die Gruppe bewirkt werden, ist mit der mehrwertsteuerlichen Behandlung eines einzelnen individuell tätigen Steuerpflichtigen vergleichbar. Umsätze, die zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gruppe bewirkt werden und somit innerhalb der Gruppe verbleiben, gelten als Insichgeschäfte der Gruppe. Die gruppeninternen Umsätze sind demzufolge mehrwertsteuerrechtlich nicht existent.

41.      Wenn die Mehrwertsteuergruppe im Einklang mit den mehrwertsteuerlichen Vorschriften handelt, wird das Recht der der Mehrwertsteuergruppe angehörenden Personen zum Vorsteuerabzug nicht erweitert(25). Dieses Recht besteht nach wie vor ausschließlich im Hinblick auf Leistungen, die für diejenigen Tätigkeiten der Mehrwertsteuergruppe verwendet werden, die der Mehrwertsteuer unterliegen. Die Mitglieder einer Mehrwertsteuergruppe sind auch nicht zum Vorsteuerabzug für Leistungen berechtigt, die für steuerbefreite Tätigkeiten verwendet werden.

D –    Zweck der Vorschriften über Mehrwertsteuergruppen

42.      Angesichts des oben dargestellten Zwecks und Inhalts der Regelung über Mehrwertsteuergruppen vermag ich nicht der Auffassung des Königreichs Schweden zu folgen, dass den Mitgliedstaaten ein Ermessensspielraum hinsichtlich der Wirtschaftssektoren zustehe, denen ein Recht zur Inanspruchnahme dieser Regelung eingeräumt werde. Zu diesem Ergebnis komme ich aus folgenden Gründen.

43.      Die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe führt nicht zu einem wirtschaftlichen Vorteil bei einem Erwerb zum Zweck der Ausübung eigener der Mehrwertsteuer unterliegender Tätigkeiten, da der Erwerber zum Vorsteuerabzug berechtigt ist. In diesem Fall ist es grundsätzlich unerheblich, ob der Erwerb innerhalb der Mehrwertsteuergruppe ohne Vorsteuer oder außerhalb der Mehrwertsteuergruppe mit Vorsteuer erfolgt.

44.      In bestimmten Situationen können den Mitgliedern einer Mehrwertsteuergruppe wirtschaftliche Vorteile erwachsen(26). Die Mitgliedschaft in einer Mehrwertsteuergruppe kann z. B. dann vorteilhaft sein, wenn das Mitglied, das den der Mehrwertsteuer unterliegenden Erwerb vornimmt, aufgrund der Tatsache, dass seine eigenen Tätigkeiten von der Steuer befreit sind, überhaupt kein Recht zum Vorsteuerabzug oder kein Recht zum vollen Vorsteuerabzug hat. Tätigt ein solches Mitglied einen Erwerb von einem Außenstehenden, fällt Mehrwertsteuer an. Bei einem Erwerb von einem anderen Gruppenmitglied fällt hingegen keine Mehrwertsteuer an.

45.      Ist ein Wirtschaftsbeteiligter nicht zum Abzug der bei einem Erwerb anfallenden Vorsteuer berechtigt, mag es für ihn wirtschaftlich vorteilhafter sein, die Waren oder Dienstleistungen selbst zu produzieren. So könnte es für eine nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Bank wirtschaftlich von Vorteil sein, die für ihre Banktätigkeiten erforderlichen informationstechnologischen Dienste intern zu leisten, anstatt sie bei einem Dritten einzukaufen. Ist jedoch die Möglichkeit zur Bildung einer Mehrwertsteuergruppe gegeben, kann die Bank eine derselben Gruppe angehörende Tochtergesellschaft mit der Bereitstellung der informationstechnologischen Dienstleistungen beauftragen und sich auf diese Weise denselben Vorteil verschaffen.

46.      Angesichts der vorstehend beschriebenen wirtschaftlichen Interessenlage kann es vernünftig sein, wenn ein Mitgliedstaat, in dem die Regelung für Mehrwertsteuergruppen nicht allgemein und sämtlichen Wirtschaftsbeteiligten zur Verfügung steht, diese Möglichkeit gleichwohl den Erbringern von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen zu eröffnen, bei denen es sich um Steuerpflichtige handelt, die in erster Linie steuerbefreite Tätigkeiten ausüben. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass dies nach dem Mehrwertsteuerrecht der Union auch zulässig wäre.

E –    Darf die Regelung für Mehrwertsteuergruppen auf bestimmte Wirtschaftszweige beschränkt werden?

47.      Es versteht sich von selbst, dass die Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten über Mehrwertsteuergruppen im Einklang mit dem Zweck stehen müssen, der mit der entsprechenden in der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Möglichkeit verfolgt wird. Insoweit verfügen die Mitgliedstaaten über keinerlei Spielraum.

48.      Ferner folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen(27).

49.      Wie oben dargelegt, hält das Königreich Schweden die Beschränkung der Zulassung von Mehrwertsteuergruppen auf den Finanz- und den Versicherungssektor deshalb für gerechtfertigt, weil gleiche Wettbewerbsbedingungen für die Wirtschaftsbeteiligten dieses Sektors gegenüber internationalen Akteuren geschaffen werden müssten. Darüber hinaus sei eine solche Beschränkung gerechtfertigt, weil die Finanz- und die Versicherungsbranche strenger als andere Wirtschaftszweige reguliert und beaufsichtigt würden. In den genannten Sektoren sei die Bildung von Mehrwertsteuergruppen unerlässlich, da aus aufsichtsrechtlichen Gründen verlangt werde, die einzelnen Wirtschaftsbeteiligten innerhalb der Gruppen als eingeständige juristische Personen auszugestalten.

50.      Ohne die Bedeutung dieser Erwägungen schmälern zu wollen, sei daran erinnert, dass mit der Regelung für Mehrwertsteuergruppen eine Verwaltungsvereinfachung und eine Missbrauchsverhinderung bezweckt werden. Diese Zielsetzung beschränkt sich nicht auf einzelne Sektoren, sondern sie hat Gültigkeit im Hinblick auf sämtliche Wirtschaftsbeteiligten ungeachtet der Branche, in der sie tätig sind.

51.      Bezüglich der Tendenz der Finanz- und der Versicherungsdienstleistungsbranche, ihre Tätigkeiten auf verschiedene juristische Personen zu verteilen, ist außerdem darauf hinzuweisen, dass mehrstufige Gruppenstrukturen derzeit auch in zahlreichen anderen Sektoren üblich sind. In Bereichen wie dem Sozial-, dem Gesundheits- und dem Immobilienwesen könnte die Bildung von Mehrwertsteuergruppen ähnlich vorteilhaft sein(28). Nach schwedischem Recht befinden sich Steuerpflichtige, die steuerbefreite Umsätze bewirken und die sich zu einer Mehrwertsteuergruppe zusammenschließen können, in einer günstigeren Lage als Gruppen von Wirtschaftsbeteiligten, die steuerbefreite Umsätze bewirken, denen aber diese Möglichkeit verwehrt ist.

52.      Es ist darauf hinzuweisen, dass eine Mehrwertsteuergruppe nach ihrer Registrierung ein einzelner normaler Steuerpflichtiger ist. Es gelten keinerlei Einschränkungen, auch wenn es sich bei den Vorschriften über die Mehrwertsteuergruppen in der Tat um eine Sonderregelung handelt(29).

53.      Angesichts des Erfordernisses einer kohärenten und einheitlichen Auslegung des Mehrwertsteuerrechts der Union ist die Begrenzung der Steuerpflichtigeneigenschaft einer Person nach dem Kriterium des Wirtschaftszweigs meines Erachtens nicht zu rechtfertigen. Im Rahmen spezifischer Mehrwertsteuervorschriften zur Regelung eines Sektors sollten die für ihn geltenden unterschiedlichen praktischen, sozialen, wirtschaftlichen und sonstigen Zielsetzungen Berücksichtigung finden. Allerdings sollten diese Faktoren keinen Einfluss auf die Definition des Begriffs „Steuerpflichtiger“ im Sinne von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie haben(30).

54.      Aus diesem Grund leuchtet auch das Argument(31) einer Parallele zwischen Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie und deren Bestimmungen über Steuerbefreiungen und ermäßigte Mehrwertsteuersätze nicht ein, das Schweden daraus herleiten will, dass die Anwendung der Regelung für Mehrwertsteuergruppen fakultativ ist. Den Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie über Befreiungen und ermäßigte Sätze liegen nämlich sektorspezifische politische Ziele zugrunde, die der Unionsgesetzgeber anerkennt oder zumindest toleriert. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs steht es den Mitgliedstaaten frei, die sich aus der Mehrwertsteuer ergebende Belastung bestimmter Verbrauchergruppen zu mindern(32).

55.      Die Bestimmungen über Mehrwertsteuergruppen hingegen regeln die Möglichkeit, einer Gruppe von Personen unter bestimmten Voraussetzungen die Eigenschaft eines einzigen Steuerpflichtigen zu verleihen. In der Mehrwertsteuerrichtlinie sind keine spezifischen nichtsteuerlichen politischen Ziele genannt, die durch Anwendung dieser Regelung gefördert werden könnten. Es liegt daher näher, eine Parallele zu Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie in der Rechtsprechung zur Anwendung fakultativer Maßnahmen im Rahmen des Binnenmarkts zu suchen(33). Dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs zufolge bedeutet der Umstand, dass die Anwendung einer Maßnahme fakultativ ist, nicht, dass die Mitgliedstaaten deren Anwendungsbereich in einer Weise begrenzen können, der in der betreffenden Unionsvorschrift nicht vorgesehen ist.

F –    Schlussbemerkungen

56.      Die Rüge der Kommission beschränkt sich ausdrücklich darauf, dass die Möglichkeit zur Bildung von Mehrwertsteuergruppen den Erbringern von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen vorbehalten ist. Meine nachstehenden Ausführungen können daher nicht zur Begründung des Ergebnisses der Vertragsverletzungsklage gegen Schweden dienen. Sie veranschaulichen jedoch die Probleme, die mit der Beschränkung der Zulassung von Mehrwertsteuergruppen verbunden sein können und von den Verfahrensbeteiligten übrigens auch in der mündlichen Verhandlung erörtert worden sind.

57.      Das schwedische Mehrwertsteuergesetz schließt nämlich nicht alle rechtlich unabhängigen Personen außerhalb des Finanz- und des Versicherungssektors von der Regelung über Mehrwertsteuergruppen aus. Nach Kapitel 6a Art. 2 Nrn. 2 und 3 des schwedischen Mehrwertsteuergesetzes können einer Mehrwertsteuergruppe auch angehören: i) wirtschaftliche Einheiten, deren Hauptzweck in der Lieferung von Gegenständen oder Dienstleistungen an wirtschaftliche Einheiten besteht, die Finanzdienstleistungen oder Versicherungsdienstleistungen erbringen, sowie ii) wirtschaftliche Einheiten, bei denen es sich um Kommissionäre und Kommittenten handelt und zwischen denen ein Kommissionsverhältnis wie das in Kapitel 36 des Einkommensteuergesetzes bezeichnete besteht.

58.      In der mündlichen Verhandlung ist deutlich geworden, dass die Einheiten der vorstehend unter den Ziff. i und ii genannten Art einen Teil ihrer geschäftlichen Tätigkeiten auf Kunden außerhalb der Gruppe ausrichten können. Hinzuzufügen ist, dass nach Angaben der schwedischen Regierung der Anteil der extern ausgerichteten Tätigkeiten in der Praxis auf 20 % begrenzt wurde(34). Dies ist insofern von Bedeutung, als die schwedische Regelung für Mehrwertsteuergruppen unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsneutralität – eines Aspekts der steuerlichen Neutralität – problematisch sein könnte und Schweden diese Probleme erkannt und zu einem gewissen Grad ausgeräumt hat.

59.      Da die Beschränkung der Zulassung von Mehrwertsteuergruppen auf den Finanzdienstleistungs- und den Versicherungssektor im schwedischen Recht nicht absolut gilt, können Mitglieder einer Mehrwertsteuergruppe Vorteile aus dem Zusammenschluss zu einer solchen Gruppe unter Umständen auch im Hinblick auf Tätigkeiten erlangen, die sie außerhalb des Finanz- bzw. des Versicherungssektors ausüben.

60.      Aus diesen Gründen bin ich der Meinung, dass in Fällen, in denen ein Mitgliedstaat die Bildung von Mehrwertsteuergruppen zulässt, diese Möglichkeit allen Wirtschaftsbeteiligten in allen Wirtschaftszweigen des betreffenden Mitgliedstaats offenstehen muss, sofern sie die in Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten Merkmale aufweisen(35). Einschränkungen dieses Grundsatzes können nur dann gerechtfertigt sein, wenn bei klar definierten Umsätzen gegen möglichen Missbrauch vorgegangen werden muss. Besteht keine solche Notwendigkeit, ist eine Beschränkung der Zulassung von Mehrwertsteuergruppen auf den Finanz- und den Versicherungssektor nicht rechtmäßig.

VII – Ergebnis

61.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, i) festzustellen, dass das Königreich Schweden dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 11 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem verstoßen hat, dass es die Zulassung von Mehrwertsteuergruppen auf den Finanz- und den Versicherungssektor beschränkt hat, ii) dem Königreich Schweden die Kosten aufzuerlegen und iii) die Republik Finnland zur Tragung ihrer eigenen Kosten zu verurteilen.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – ABl. L 347, S.1.


3 – Rechtssache Kommission/Finnland (C‑74/11). Ich werde heute außerdem meine Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Irland (C‑85/11) verlesen, die die Frage betrifft, ob die Mitgliedstaaten auch Nichtsteuerpflichtige in Mehrwertsteuergruppen einbeziehen dürfen – eine Problematik, um die es übrigens auch in der Rechtssache Kommission/Finnland (C‑74/11) geht. Die Kommission hat die Aufnahme nichtsteuerpflichtiger Personen in Mehrwertsteuergruppen darüber hinaus in mehreren anderen Fällen gerügt, nämlich in den Rechtssachen Kommission/Tschechische Republik (C‑109/11), Kommission/Dänemark (C‑95/11), Kommission/Niederlande (C‑65/11) und Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑86/11). Der Gerichtshof hat allerdings nur im vorliegenden Fall und in der Rechtssache Kommission/Irland (C‑85/11) Schlussanträge eines Generalanwalts angefordert.


4 – Vgl. Urteil vom 11. Juli 2002, Kommission/Spanien (C‑139/00, Slg. 2002, I‑6407, Randnr. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).


5 – Urteil vom 18. November 2010 (C‑458/08, Slg. 2010, I‑11599, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteil vom 10. Mai 2012, Kommission/Estland (C‑39/10, Randnrn. 24 bis 26).


6 – Die entsprechende Vorschrift in der am 1. November 2012 in Kraft getretenen Neufassung der Verfahrensordnung (ABl. 2012, L 265, S. 1) ist Art. 120 Buchst. c.


7 – Urteil vom 16. Juni 2005, Kommission/Italien (C‑456/03, Slg. 2005, I‑5335, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8 – Urteil Kommission/Italien (Randnr. 37).


9 – Urteil Kommission/Portugal (Randnr. 47).


10 – Vgl. z. B. Urteil vom 13. Juli 2000, Idéal Tourisme (C‑36/99, Slg. 2000, I‑6049). Tatsächlich kann unter Berufung auf einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz sogar die Gültigkeit der Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie selbst angefochten werden – vgl. Urteil vom 23. April 2009, Puffer (C‑460/07, Slg. 2009, I‑3251). Als Beispiel für eine Rechtssache aus jüngerer Zeit, in der der Gerichtshof die Frage geprüft hat, ob ein Mitgliedstaat bei der Umsetzung der Mehrwertsteuerrichtlinie gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen hat, vgl. Beschluss vom 19. Januar 2012, Purple Parking und Airparks Services (C‑117/11,).


11 – Urteil vom 15. Juli 2010, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑582/08, Slg. 2010, I‑7195, Randnr. 51). Vgl. auch Nr. 52 meiner Schlussanträge in jener Rechtssache.


12 – Vgl. z. B. Urteile vom 12. Januar 2006, Turn- und Sportunion Waldburg (C‑246/04, Slg. 2006, I‑589, Randnr. 31), und vom 27. April 2006, Solleveld und van den Hout-van Eijnsbergen (C‑443/04 und C‑444/04, Slg. 2006, I‑3617, Randnr. 36).


13 – Die Kommission verweist insoweit auf das Urteil vom 10. April 2008, Marks & Spencer (C‑309/06, Slg. 2008, I‑2283, Randnrn. 49 und 51).


14 – Vgl. Titel IX bzw. Art. 98 der Mehrwertsteuerrichtlinie.


15 – Vgl. die im Urteil Turn- und Sportunion Waldburg (Randnr. 30) behandelte entsprechende Problematik.


16 – Vgl. entsprechend Urteil vom 28. Juni 2007, JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust und The Association of Investment Trust Companies (C‑363/05, Slg. 2007, I‑5517, Randnr. 44).


17 – Urteil vom 29. Oktober 2009, NCC Construction Danmark (C‑174/08, Slg. 2009, I‑10567, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung); vgl. auch Urteil vom 19. Juli 2012, A (C‑33/11, Randnr. 27).


18 – Vgl. Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich (Randnrn. 49 bis 51).


19 – Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich, insbesondere Randnr. 51. Vgl. auch Nr. 52 meiner Schlussanträge in jener Rechtssache.


20 – Die Möglichkeit, Mehrwertsteuergruppen zuzulassen, ist in der Praxis unterschiedlich in Anspruch genommen worden. In einigen Mitgliedstaaten, die die Regelung für Mehrwertsteuergruppen eingeführt haben, ist die Teilnahme für Personen, die die Voraussetzung erfüllen, obligatorisch, in anderen ist sie freiwillig.


21 – Vgl. fünfter Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie.


22 – Vgl. siebter Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie.


23 – Terra, B., und Kajus, J., A Guide to the European VAT Directives, IBFD, 2012, Kapitel 7.3.


24 – Vgl. Urteil vom 22. Mai 2008, Ampliscientifica und Amplifin (C‑162/07, Slg. 2008, I‑4019, Randnrn. 19 f.).


25 – Eine zusammenfassende Darstellung der Vorsteuerabzugsregelung findet sich im Urteil vom 6. September 2012, Tóth (C‑324/11, Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


26 – Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Option der MwSt-Gruppe gemäß Artikel 11 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (KOM[2009] 325 endg., S. 13).


27 – Vgl. Urteile NCC Construction Danmark (Randnr. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


28 – Eine Erörterung der Regelung für Mehrwertsteuergruppen im Rahmen des schwedischen Mehrwertsteuersystems findet sich bei Magnusson, H., Gruppregistrering till mervärdesskatt, Skattenytt 1998/11.


29 – Die Verfahrensbeteiligten haben darüber diskutiert, ob Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Ausnahme vorsieht, die eng auszulegen ist. Ich halte diese Fragestellung für nicht zielführend, insbesondere da die Kommission im vorliegenden Fall geltend zu machen scheint, dass es sich bei den Vorschriften über Mehrwertsteuergruppen nicht um eine Ausnahme von der allgemeinen Mehrwertsteuerregelung, sondern um eine Sonderregelung handele. Allerdings vertritt die Kommission in der Rechtssache Kommission/Irland (C‑85/11) offenbar den gegenteiligen Standpunkt.


30 – Ich verweise auf Anhang A Nr. 2 der Zweiten Mehrwertsteuerrichtlinie, wo es hieß: „Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, bestimmte Tätigkeiten nicht zu besteuern, so sollte dies eher anhand von Befreiungen geschehen als dadurch, dass Personen, die die betreffenden Tätigkeiten ausüben, vom Anwendungsbereich der Steuer ausgeschlossen werden.“ Im Rahmen der Mehrwertsteuerregelung der Union sollten die Bestimmungen, mit denen die Eigenschaft einer Person als Steuerpflichtiger definiert wird, also nicht zur Verfolgung bestimmter politischer Zielsetzungen benutzt werden.


31 – Oben dargestellt.


32 – Vgl. z. B. Urteil vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich (C‑94/09, Slg. 2010, I‑4261, Randnr. 28), in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass „ein Mitgliedstaat, wenn er beschlossen hat, von der ihm in Art. 98 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2006/112 eröffneten Möglichkeit, auf eine Kategorie von Dienstleistungen im Sinne von Anhang III dieser Richtlinie einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, Gebrauch zu machen, unter der Voraussetzung, dass der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegende Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird, die Anwendung dieses ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf konkrete und spezifische Aspekte dieser Kategorie von Dienstleistungen beschränken [kann]“. Vgl. auch Urteile vom 7. März 2002, Kommission/Finnland (C‑169/00, Slg. 2002, I‑2433, Randnr. 30), vom 8. Mai 2003, Kommission/Frankreich (C‑384/01, Slg. 2003, I‑4395, Randnr. 24), und vom 3. April 2008, Zweckverband zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung Torgau-Westelbien (C‑442/05, Slg. 2008, I‑1817, Randnr. 43).


33 – Zur Einschätzung eines vergleichbaren Sachverhalts in der Union im Kontext einer legislativen Wahlmöglichkeit vgl. Urteil vom 23. Oktober 2003, Adidas-Salomon und Adidas Benelux (C‑408/01, Slg. 2003, I‑12537, Randnr. 20), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass „[sich die] Wahlmöglichkeit des Mitgliedstaats [bei einer Umsetzung von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 1989, L 40, S. 1)] somit darauf [erstreckt], ob bekannte Marken überhaupt stärker geschützt werden sollen, nicht aber darauf, welche Sachverhalte von diesem Schutz erfasst werden sollen, wenn er gewährt wird“.


34 – Gemäß dem Gesetzentwurf zur Regelung von Mehrwertsteuergruppen in Schweden kann ein Anteil von maximal 20 % bis 30 % der Tätigkeit auf den gruppenexternen Bereich ausgerichtet sein. Im Fall von Unternehmen, die Leistungen zur Unterstützung von Finanzdienstleistungen erbringen, wurde die Voraussetzung, dass es sich bei der Erbringung dieser Unterstützungsleistungen um den Hauptzweck dieser Unternehmen handelt, mit der Notwendigkeit gerechtfertigt, die negativen Wettbewerbsfolgen zu reduzieren, die sich für externe Anbieter aus der Existenz von Mehrwertsteuergruppen ergeben – vgl. Regierungsvorlage 1997/98:148, S. 37.


35 – Eine nationale Regelung für Mehrwertsteuergruppen, die nur für einige Sektoren gilt, könnte auch unter dem Gesichtspunkt einer staatlichen Beihilfe kritisch sein, da damit die Gewährung eines selektiven Vorteils für die in diesen Sektoren tätigen Wirtschaftsbeteiligten verbunden ist.