SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
Juliane Kokott
vom 29. Oktober 2009(1)
Rechtssache C‑406/08
Uniplex (UK) Ltd
gegen
NHS Business Services Authority
(Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice [England and Wales], Queen’s Bench Division, Leeds District Registry [Vereinigtes Königreich])
„Öffentliche Aufträge – Richtlinie 89/665/EWG – Nachprüfungsverfahren nach innerstaatlichem Recht – Effektiver Rechtsschutz – Ausschlussfristen – Beginn des Fristlaufs – Kenntnis des Vergaberechtsverstoßes oder ‚Kennenmüssen’ – Erfordernis der ‚unverzüglichen’ Klageerhebung“
I – Einleitung
1. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice (England and Wales)(2) gibt dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Gelegenheit, seine Rechtsprechung in Bezug auf die Rechtsbehelfe unterlegener Bieter im öffentlichen Auftragswesen zu verfeinern.
2. Anerkannt ist, dass die Mitgliedstaaten für diese Art von Rechtsbehelfen angemessene Ausschlussfristen vorsehen dürfen. Der Klärung bedarf allerdings insbesondere, zu welchem Zeitpunkt im Verfahren diese Fristen zu laufen beginnen dürfen: zu dem Zeitpunkt, an dem der gerügte Verstoß gegen das Vergaberecht begangen wurde, oder zu dem Zeitpunkt, ab dem der unterlegene Bieter diesen Verstoß kannte oder kennen musste. Dieses Problem, dessen praktische Auswirkungen nicht unterschätzt werden sollten, stellt sich vor dem Hintergrund einer Vorschrift des englischen Rechts, nach der die Frist für Anträge auf Nachprüfung unabhängig von der Kenntnis des unterlegenen Bieters vom Vergaberechtsverstoß zu laufen beginnt und eine etwaige Verlängerung dieser Frist im freien Ermessen des angerufenen innerstaatlichen Gerichts steht.
3. Hinsichtlich der aufgeworfenen Rechtsfragen weist der vorliegende Fall einige Berührungspunkte mit der Rechtssache Kommission/Irland (C-456/08) auf, in der ich ebenfalls heute meine Schlussanträge stelle.
II – Rechtlicher Rahmen
A – Gemeinschaftsrecht
4. Den gemeinschaftsrechtlichen Rahmen dieses Falls definiert die Richtlinie 89/665/EWG(3) in ihrer durch die Richtlinie 92/50/EWG(4) geänderten Fassung(5).
5. In Art. 1 der Richtlinie 89/665 ist Folgendes bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass hinsichtlich der in den Anwendungsbereich der Richtlinien 71/305/EWG, 77/62/EWG und 92/50/EWG … fallenden Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge die Entscheidungen der Vergabebehörden wirksam und vor allem möglichst rasch nach Maßgabe der nachstehenden Artikel, insbesondere von Artikel 2 Absatz 7, auf Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können.
(2) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die in dieser Richtlinie getroffene Unterscheidung zwischen einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechts und den übrigen innerstaatlichen Bestimmungen nicht zu Diskriminierungen zwischen Unternehmen führt, die im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags einen Schaden geltend machen könnten.
(3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass das Nachprüfungsverfahren entsprechend den gegebenenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegenden Bedingungen zumindest jedem zur Verfügung steht, der ein Interesse an einem bestimmten öffentlichen Liefer- oder Bauauftrag hat oder hatte und dem durch einen behaupteten Rechtsverstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht. Die Mitgliedstaaten können insbesondere verlangen, dass derjenige, der ein Nachprüfungsverfahren einzuleiten beabsichtigt, den öffentlichen Auftraggeber zuvor von dem behaupteten Rechtsverstoß und von der beabsichtigten Nachprüfung unterrichten muss.“(6)
6. Außerdem enthält Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 folgende Regelung:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass für die in Artikel 1 genannten Nachprüfungsverfahren die erforderlichen Befugnisse vorgesehen werden,
…
b) damit die Aufhebung rechtswidriger Entscheidungen … vorgenommen oder veranlasst werden kann;
c) damit denjenigen, die durch den Rechtsverstoß geschädigt worden sind, Schadensersatz zuerkannt werden kann.“
B – Nationales Recht
7. Für England, Wales und Nordirland ist die Richtlinie 89/665 in Abschnitt 9 der Public Contracts Regulations 2006(7) (PCR 2006) umgesetzt, deren Art. 47 auszugsweise wie folgt lautet:
„(1) Die Verpflichtung
a) eines öffentlichen Auftraggebers zur Einhaltung dieser Verordnung mit Ausnahme der Artikel … sowie zur Einhaltung einer gerichtlich durchsetzbaren gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung bezüglich öffentlicher Aufträge, Rahmenvereinbarungen oder Wettbewerbe …
…
besteht gegenüber dem Wirtschaftsteilnehmer.
…
(6) Die Verletzung einer nach Abs. 1 oder 2 bestehenden Verpflichtung kann jeder Wirtschaftsteilnehmer, dem dadurch ein Schaden entsteht oder zu entstehen droht, im Klagewege geltend machen; das Verfahren ist beim High Court einzuleiten.
(7) Die Einleitung eines Verfahrens nach diesem Artikel ist nur zulässig, wenn
a) der das Verfahren einleitende Wirtschaftsteilnehmer den öffentlichen Auftraggeber bzw. den Konzessionär von der Verletzung bzw. behaupteten Verletzung seiner nach Abs. 1 oder 2 gegenüber dem Wirtschaftsteilnehmer bestehenden Verpflichtung sowie von der Absicht des Wirtschaftsteilnehmers zur Einleitung eines Verfahrens wegen der Verletzung gemäß dieses Artikels unterrichtet und
b) das Verfahren unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von drei Monaten nach Eintreten der Gründe für die Einleitung des Verfahrens eingeleitet wird, es sei denn, das Gericht hält eine Verlängerung der Frist für die Einleitung des Verfahrens für gerechtfertigt.
…
(9) In einem Verfahren nach diesem Artikel ist das Gericht über die Zuerkennung von Schadensersatz wegen Verletzung einer nach Abs. 1 oder 2 bestehenden Verpflichtung hinaus nicht zur Anordnung weitergehender Abhilfemaßnahmen befugt, wenn der Vertrag, hinsichtlich dessen die Pflichtverletzung begangen wurde, bereits geschlossen worden ist.“
III – Sachverhalt und Ausgangsverfahren
8. Uniplex (UK) Ltd(8) ist eine Kapitalgesellschaft mit Sitz im Vereinigten Königreich und ein Wirtschaftsteilnehmer im Sinne der Richtlinie 2004/18 und der PCR 2006. Im Vereinigten Königreich ist sie Alleinvertriebshändlerin der von der niederländischen Firma Gelita Medical BV hergestellten Hämostatika.
9. NHS Business Services Authority(9) gehört zum öffentlichen Gesundheitsdienst des Vereinigten Königreichs, dem National Health Service, dessen Träger und Betreiber der Staat ist. Es handelt sich um einen öffentlichen Auftraggeber im Sinne der Richtlinie 2004/18 und der PCR 2006.
10. Am 26. März 2007 schrieb der NHS im nichtoffenen Verfahren eine Rahmenvereinbarung über die Lieferung von Hämostatika an NHS-Einrichtungen aus(10). Eine diesbezügliche Bekanntmachung wurde am 28. März 2007 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht.
11. Mit Schreiben vom 13. Juni 2007 richtete der NHS an fünf Interessenten, zu denen auch Uniplex gehörte, eine Aufforderung zur Abgabe von Angeboten. Die Frist für den Eingang der Angebote war auf den 19. Juli 2007 festgesetzt. Uniplex reichte ihr Angebot am 18. Juli 2007 ein.
12. Am 22. November 2007 wurde Uniplex vom NHS schriftlich darüber unterrichtet, dass letztlich drei Bieter den Zuschlag erhalten hätten, wohingegen Uniplex nicht in die Rahmenvereinbarung einbezogen würde. In diesem Schreiben waren auch die Zuschlagskriterien, die Namen der berücksichtigten Bieter, das Bewertungsergebnis von Uniplex und die Spanne der von den berücksichtigten Bietern erreichten Bewertungsergebnisse aufgeführt. Nach den vom NHS verwendeten Kriterien habe Uniplex unter den fünf Bietern, die zur Abgabe von Angeboten aufgefordert worden seien und solche abgegeben hätten, das niedrigste Bewertungsresultat erreicht. Im selben Schreiben wurde Uniplex auch über ihr Recht belehrt, die Vergabeentscheidung anzufechten und weitere Auskünfte zu verlangen.
13. Auf gesonderten Antrag von Uniplex vom 23. November 2007 legte der NHS am 13. Dezember 2007 im Einzelnen seine Bewertungsmethode anhand seiner Zuschlagskriterien dar und ging auch auf die Merkmale und die relativen Vorzüge der Angebote der erfolgreichen Bieter im Vergleich zum Angebot von Uniplex ein.
14. Am 28. Januar 2008 richtete Uniplex ein Mahnschreiben an den NHS, mit dem sie verschiedene Verstöße gegen vergaberechtliche Vorschriften geltend machte.
15. Mit Schreiben vom 11. Februar 2008 teilte der NHS Uniplex mit, dass sich die Sachlage geändert habe. Es sei festgestellt worden, dass das Angebot von Assut (UK) Ltd den Voraussetzungen nicht entsprochen habe und dass die Firma B. Braun (UK) Ltd, die bei der Bewertung der Angebote den vierten Platz erreicht habe, anstelle von Assut (UK) Ltd in die Rahmenvereinbarung einbezogen worden sei.
16. Nach einem weiteren Schriftwechsel zwischen Uniplex und dem NHS, in dem u. a. über den Anfangszeitpunkt einer etwaigen Klagefrist gestritten wurde, erhob Uniplex am 12. März 2008 Klage zum High Court, dem vorlegenden Gericht. Sie beantragt u. a. die Feststellung der von ihr behaupteten Verstöße gegen das Vergaberecht, die Verurteilung des NHS zum Schadensersatz wegen dieser Verstöße und – soweit das Gericht zu einer entsprechenden Anordnung befugt ist – die Verurteilung des NHS zur Einbeziehung von Uniplex in die Rahmenvereinbarung.
17. Das vorlegende Gericht ist im Zweifel, ob Uniplex ihre Klage fristgemäß erhoben hat und ob es gegebenenfalls von seinem Ermessen Gebrauch machen soll, die Klagefrist nach Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 zu verlängern.
IV – Vorabentscheidungsersuchen und Verfahren vor dem Gerichtshof
18. Mit Beschluss vom 30. Juli 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 18. September 2008, hat der High Court sein Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Wenn ein Wirtschaftsteilnehmer in einem innerstaatlichen Gerichtsverfahren die Vergabeentscheidung eines öffentlichen Auftraggebers für eine Rahmenvereinbarung nach einem öffentlichen Ausschreibungsverfahren anficht, in dem der Wirtschaftsteilnehmer Bieter war und das nach Maßgabe der Richtlinie 2004/18/EG (und den einschlägigen nationalen Umsetzungsvorschriften) durchzuführen war, und in dem Gerichtsverfahren Feststellung eines beim Ausschreibungsverfahren und bei der Vergabe aufgetretenen Verstoßes gegen die Vorschriften über öffentliche Aufträge sowie Schadensersatz beantragt,
a) ist dann eine innerstaatliche Vorschrift wie Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006, wonach das Gerichtsverfahren unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von drei Monaten nach Eintreten der Gründe für die Einleitung des Verfahrens einzuleiten ist, es sei denn, das Gericht hält eine Verlängerung der Frist für die Einleitung des Verfahrens für gerechtfertigt, angesichts von Art. 1 und 2 der Richtlinie 89/665/EWG, des gemeinschaftsrechtlichen Äquivalenzgrundsatzes, des gemeinschaftsrechtlichen Gebots des effektiven Rechtsschutzes und/oder des Effektivitätsgrundsatzes sowie unter Berücksichtigung aller sonstigen einschlägigen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts dahin auszulegen, dass sie dem Bieter ein individuelles und unbedingtes Recht gegen den öffentlichen Auftraggeber in der Weise verleiht, dass die Frist für die Einleitung eines Verfahrens zur Anfechtung der Ausschreibung und der Vergabeentscheidung von dem Zeitpunkt an zu laufen beginnt, in dem der Bieter den Verstoß des Vergabeverfahrens und der Vergabeentscheidung gegen die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge kannte oder kennen musste, oder aber von dem Zeitpunkt an, zu dem der Verstoß gegen die einschlägigen Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt ist; und
b) in welcher Weise hat ein nationales Gericht bei beiden Alternativen dann
(i) eine Bestimmung anzuwenden, wonach das Gerichtsverfahren unverzüglich einzuleiten ist, und
(ii) ein Ermessen zur Verlängerung der innerstaatlich festgelegten Frist für die Einleitung des Verfahrens auszuüben?
19. Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben neben Uniplex und dem NHS die Regierungen des Vereinigten Königreichs und Irlands sowie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften schriftlich und mündlich Stellung genommen(11). An der mündlichen Verhandlung hat sich außerdem die deutsche Regierung beteiligt.
V – Würdigung
20. Mit seinen beiden Vorlagefragen möchte der High Court im Wesentlichen wissen, welche Vorgaben sich aus dem Gemeinschaftsrecht für die Auslegung und Anwendung von Ausschlussfristen im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren ergeben.
21. Die Richtlinie 89/665 trifft keine ausdrückliche Regelung über die auf Nachprüfungsverfahren gemäß ihrem Art. 1 anwendbaren Fristen(12). Der Gerichtshof erkennt aber in ständiger Rechtsprechung an, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Verfahrensautonomie angemessene Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung einführen dürfen, sofern sie dabei die Grundsätze der Äquivalenz (Gleichwertigkeit) und der Effektivität beachten(13). Beide Grundsätze finden auch in Art. 1 der Richtlinie 89/665 ihren Niederschlag: der Grundsatz der Äquivalenz in Abs. 2 und der Grundsatz der Effektivität in Abs. 1(14).
22. Im vorliegenden Fall steht der Grundsatz der Effektivität im Mittelpunkt des Interesses. Unstreitig ist, dass das Vereinigte Königreich für Anträge auf Nachprüfung von Entscheidungen öffentlicher Auftraggeber Ausschlussfristen vorsehen darf(15). Die Verfahrensbeteiligten setzen sich lediglich über bestimmte Einzelheiten der Auslegung und Anwendung der innerstaatlichen Fristregelung auseinander. Sie streiten darüber, ob eine Fristregelung wie die englische in Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben angemessen berücksichtigt. In diesem Zusammenhang begehrt das vorlegende Gericht Auskunft darüber,
– ob es als Beginn des Fristlaufs den Zeitpunkt des Vergaberechtsverstoßes in Ansatz bringen darf oder aber auf den Zeitpunkt abstellen muss, ab dem der Kläger diesen Verstoß kannte oder kennen musste (erste Vorlagefrage),
– ob es im Nachprüfungsverfahren eine Klage als unzulässig abweisen darf, wenn diese nicht „unverzüglich“ eingereicht wurde (erster Teil der zweiten Vorlagefrage), und
– wie es sein Ermessen im Hinblick auf eine etwaige Fristverlängerung auszuüben hat (zweiter Teil der zweiten Vorlagefrage).
23. Von der Antwort auf diese Fragen hängt ab, ob das vorlegende Gericht die Klage von Uniplex im Ausgangsrechtsstreit als fristgemäß im Sinne von Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 anzusehen hat oder nicht.
24. Im Folgenden widme ich mich zunächst der ersten Frage (siehe unten, Abschnitt A) und dem zweiten Teil der zweiten Frage (siehe unten, Abschnitt B), die eng mit einander verknüpft sind, bevor ich mich dem ersten Teil der zweiten Frage zuwende (siehe unten, Abschnitt C).
25. Entgegen dem mündlichen Vorbringen des NHS, des Vereinigten Königreichs und Irlands kann es für die Beantwortung dieser Fragen nicht entscheidend darauf ankommen, dass eine Vorschrift wie Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 möglicherweise auf eine langjährige Tradition in dem betroffenen Mitgliedstaat zurückgeht.
26. Zweifellos sollte zwar stets bei der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben bedacht werden, ob sie sich möglichst schonend in das innerstaatliche Recht einfügen können. Nichtsdestoweniger ist es die oberste Aufgabe des Gerichtshofs, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des europäischen Gemeinschaftsrechts sicherzustellen (Art. 220 Abs. 1 EG) und – in Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten – den Rechten des Einzelnen, wie sie sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben, wirksam zur Durchsetzung zu verhelfen.
A – Zur Maßgeblichkeit der Kenntnis vom Vergaberechtsverstoß für den Beginn des Fristlaufs (erste Vorlagefrage)
27. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob es für den Beginn des Laufs der Ausschlussfrist im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren den Zeitpunkt des Vergaberechtsverstoßes in Ansatz bringen darf oder aber auf den Zeitpunkt abstellen muss, ab dem der Kläger diesen Verstoß kannte oder kennen musste.
28. Die Meinungen der Verfahrensbeteiligten hierzu sind geteilt: Uniplex, die deutsche Regierung und die Kommission sind der Meinung, dass jedenfalls in Bezug auf Rechtsbehelfe, die nicht die Wirksamkeit von Verträgen berühren, keine Ausschlussfrist beginnen dürfe, bevor nicht der Kläger den behaupteten Vergaberechtsverstoß kannte oder kennen musste. Demgegenüber vertreten der NHS, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Regierung Irlands mit Nachdruck die Auffassung, dass es für den Fristlauf nicht darauf ankommen dürfe, ob der Antragsteller einen Vergaberechtsverstoß kannte oder kennen musste; es reiche aus, dem nationalen Gericht die Möglichkeit der Fristverlängerung nach seinem freien Ermessen einzuräumen.
29. Die zuletzt genannte Auffassung spiegelt sich in der Praxis der englischen Gerichte(16) und auch der irischen Gerichte(17) wider. Nach deren Rechtsprechung beginnt die Frist für die Nachprüfung einer Vergabeentscheidung gemäß Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006(18) unabhängig davon zu laufen, ob der betroffene Bieter oder Bewerber den gerügten Vergaberechtsverstoß kannte oder kennen musste. Die fehlende Kenntnis des Klägers vom Vergaberechtsverstoß kann allenfalls für eine Fristverlängerung eine Rolle spielen und stellt insoweit einen von mehreren Gesichtspunkten dar, die der nationale Richter bei der Ausübung seines Ermessens in Rechnung stellt(19).
30. Vor dem Hintergrund dieser vorherrschenden Praxis der englischen Gerichte(20) wird im Folgenden zu erörtern sein, ob es mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts vereinbar ist, dass eine Ausschlussfrist wie die in Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 niedergelegte unabhängig davon zu laufen beginnt, ob der Kläger den in Frage stehenden Vergaberechtsverstoß kannte oder kennen musste.
31. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 erfordert, dass Entscheidungen der Vergabebehörden „wirksam und vor allem möglichst rasch“ auf Verstöße gegen das Vergaberecht hin überprüft werden können. Darin kommt sowohl der Grundsatz der Effektivität („wirksam“) als auch das Beschleunigungsgebot („möglichst rasch“) zum Ausdruck. Keines dieser Anliegen darf auf Kosten des anderen verwirklicht werden(21). Beide sind vielmehr zu einem gerechten Ausgleich zu bringen, was mit Blick auf die Art und die Rechtsfolgen des jeweiligen Rechtsbehelfs sowie auf die in Frage stehenden Rechte und Interessen aller Betroffenen zu beurteilen ist.
32. In meinen Schlussanträgen im Fall Pressetext Nachrichtenagentur habe ich hierzu bereits eine Lösung vorgeschlagen, die auf einer Unterscheidung zwischen Primärrechtsschutz und Sekundärrechtsschutz beruht(22).
– Die Unterscheidung zwischen Primärrechtsschutz und Sekundärrechtsschutz
33. Zielt ein Rechtsbehelf darauf ab, einen bereits geschlossenen Vertrag mit einem erfolgreichen Bieter für unwirksam zu erklären (Primärrechtsschutz), so ist die Festlegung einer absoluten Ausschlussfrist von vergleichsweise kurzer Dauer angemessen. Denn die besonders schwerwiegende Rechtsfolge der Unwirksamkeit eines bereits geschlossenen Vertrags rechtfertigt es, eine Frist vorzusehen, die auch unabhängig davon läuft, ob der Antragsteller Kenntnis von der Vergaberechtswidrigkeit der Auftragsvergabe hatte oder ob er diese wenigstens kennen musste. Sowohl für den öffentlichen Auftraggeber als auch für seinen Vertragspartner besteht ein klares und schützenswertes Bedürfnis nach Rechtssicherheit hinsichtlich der Wirksamkeit des geschlossenen Vertrags(23). Dem Erfordernis einer „möglichst raschen“ Nachprüfung im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 kommt also im Bereich des Primärrechtsschutzes ein besonderes Gewicht zu.
34. Anders verhält es sich, wenn ein Rechtsbehelf lediglich auf die Feststellung eines Verstoßes gegen das Vergaberecht und gegebenenfalls auf die Gewährung von Schadensersatz abzielt (Sekundärrechtsschutz). Ein solcher Rechtsbehelf berührt nämlich nicht den Bestand eines bereits geschlossenen Vertrags mit einem erfolgreichen Bieter. Das Bedürfnis der Vertragspartner nach Planungssicherheit sowie ihr Interesse an einer zügigen Durchführung des öffentlichen Auftrags werden nicht beeinträchtigt. Dementsprechend besteht kein Anlass, Anträge auf Sekundärrechtsschutz den gleichen strengen Ausschlussfristen zu unterwerfen wie Anträge auf Primärrechtsschutz. Im Gegenteil spricht das Ziel der wirksamen Nachprüfung, wie es Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 den Mitgliedstaaten vorgibt, für eine stärkere Gewichtung der Rechtsschutzinteressen des unterlegenen Bieters oder Bewerbers und damit für großzügigere Fristen, die erst dann zu laufen beginnen, wenn der Betroffene den gerügten Vergaberechtsverstoß kannte oder kennen musste(24).
35. Entgegen der Auffassung des NHS und der Regierung des Vereinigten Königreichs führt eine solche Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärrechtsschutz nicht zu „Intransparenz“ und „Rechtsunsicherheit“. Sie empfiehlt sich auch keineswegs nur für Fälle wie Pressetext Nachrichtenagentur, in denen ein öffentlicher Auftraggeber eine „Direktvergabe“ ohne vorherige Vergabebekanntmachung durchführt.
36. Die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärrechtsschutz ist vielmehr allgemein gültig. Sie ermöglicht es, einen gerechten Ausgleich zwischen „wirksamer Nachprüfung“ und „möglichst rascher Nachprüfung“ zu finden und ist in der Richtlinie 89/665 selbst angelegt. Schon in der ursprünglichen Fassung dieser Richtlinie wird in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b und Buchst. c zwischen der Aufhebung rechtswidriger Entscheidungen einerseits und der Zuerkennung von Schadensersatz andererseits unterschieden. Für die Zukunft lassen Art. 2d, 2e und 2f der Richtlinie 89/665 in der Fassung der Richtlinie 2007/66 diese Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärrechtsschutz noch deutlicher hervortreten, auch und gerade im Hinblick auf die Ausschlussfristen(25).
37. Der vorliegende Fall betrifft nicht den Primärrechtsschutz, sondern nur den Sekundärrechtsschutz. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Blick auf den einleitenden Halbsatz zu den vom High Court formulierten Vorlagefragen richtet. Dort ist ausschließlich von Anträgen auf Feststellung des Vergaberechtsverstoßes und auf Gewährung von Schadensersatz die Rede. In diesen Kontext sind die Vorlagefragen eingebettet(26).
38. Folglich besteht kein Grund, die von Uniplex im Ausgangsrechtsstreit gestellten Anträge denselben strengen Ausschlussfristen zu unterwerfen, wie sie im Fall von Anträgen auf Feststellung der Unwirksamkeit eines Vertrags oder gar auf Verurteilung des öffentlichen Auftraggebers zum Abschluss eines Vertrags womöglich gelten würden.
– Fristlauf ab Kenntnis oder „Kennenmüssen“ des Vergaberechtsverstoßes
39. Der Grundsatz der Effektivität, wie er in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 zum Ausdruck kommt, gebietet es, eine Ausschlussfrist für Schadensersatzklagen und für Anträge auf Feststellung von Vergaberechtsverstößen erst dann laufen zu lassen, wenn der Kläger den behaupteten Vergaberechtsverstoß kannte oder ihn kennen musste(27).
40. In diesem Sinne äußert sich auch der Gerichtshof im Urteil Universale-Bau u. a.(28): Er sieht den Sinn und Zweck von Fristregelungen mit Präklusionswirkung darin, dass rechtswidrige Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber nach ihrer Bekanntgabe an die Betroffenen(29) so rasch wie möglich angefochten und berichtigt werden(30).
41. Selbstverständlich obliegt es dem vorlegenden Gericht, festzustellen, ab welchem Zeitpunkt der Betroffene Kenntnis von einem Vergaberechtsverstoß hatte oder haben musste(31). Um eine sachdienliche Antwort zu geben, kann der Gerichtshof jedoch im Geist der Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten alle Hinweise geben, die er für erforderlich hält(32).
42. Der bloße Umstand, dass ein Bieter oder Bewerber von der Erfolglosigkeit seines Angebots erfahren hat, verschafft ihm noch keine Kenntnis über einen etwaigen Vergaberechtsverstoß. Folglich darf dieses Ereignis für sich allein auch noch keine Rechtsbehelfsfristen für Anträge auf Sekundärrechtsschutz in Gang setzen. Wie Uniplex nämlich zu Recht ausgeführt hat, könnte sich auch ein unterlegener Bieter oder Bewerber seinerseits in seinem Nachprüfungsantrag nicht auf den schlichten Hinweis stützen, sein Angebot sei nicht zum Zuge gekommen.
43. Erst wenn dem unterlegenen Bieter oder Bewerber die wesentlichen Gründe für sein Scheitern im Vergabeverfahren mitgeteilt wurden, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass er den behaupteten Vergaberechtsverstoß kannte oder jedenfalls kennen musste(33). Erst ab diesem Zeitpunkt ist es ihm auch möglich, einen etwaigen Antrag auf Nachprüfung sinnvoll vorzubereiten und dessen Erfolgsaussichten abzuschätzen(34). Hingegen kann der Betroffene vor dem Erhalt einer solchen Begründung sein Recht auf Nachprüfung im Regelfall nicht wirksam geltend machen(35).
44. Dementsprechend schreibt die Richtlinie 2004/18 bereits heute in ihrem Art. 41 Abs. 1 und 2 den öffentlichen Auftraggebern vor, nicht erfolgreichen Bietern und Bewerbern die Gründe für ihre Ablehnung mitzuteilen. Im selben Sinne ist für künftige Fälle in Art. 2c der Richtlinie 89/665, eingefügt durch die Richtlinie 2007/66, vorgesehen, dass der Mitteilung der Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers an jeden Bieter oder Bewerber eine Zusammenfassung der einschlägigen Gründe beigefügt wird und dass etwaige Ausschlussfristen für Anträge auf Nachprüfung erst eine bestimmte Anzahl von Kalendertagen nach dieser Mitteilung ablaufen dürfen.
45. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass der Beginn des Fristlaufs für eine Schadensersatzklage nicht davon abhängig gemacht werden muss, dass der Kläger den ihm entstandenen Schaden kannte oder kennen musste(36). Denn der aus einer Pflichtverletzung folgende Schaden wird bisweilen erst mit einiger zeitlicher Verzögerung erkennbar. Ein Zuwarten bis zur Kenntnis des Schadens würde folglich dem Grundsatz der „möglichst raschen Nachprüfung“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 zuwiderlaufen. Im Gegenzug muss es aber dem betroffenen Bieter oder Bewerber ermöglicht werden, nötigenfalls zunächst einen Antrag auf Feststellung des Vergaberechtsverstoßes zu stellen und seinen Schaden erst in einem späteren Schadensersatzprozess zu beziffern und geltend zu machen.
– Zum Ermessen des nationalen Richters, eine Fristverlängerung zu gewähren
46. Der NHS, das Vereinigte Königreich und Irland wenden ein, wirksamer Rechtsschutz setze gleichwohl nicht zwingend voraus, dass die Ausschlussfristen für Rechtsbehelfe im Nachprüfungsverfahren erst ab dem Zeitpunkt laufen, zu dem der betroffene Bieter oder Bewerber den behaupteten Vergaberechtsverstoß kannte oder kennen musste. Eine Regelung wie Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 stelle wirksamen Rechtsschutz dadurch sicher, dass sie es in das Ermessen des nationalen Richters stelle, die Klagefrist gegebenenfalls zu verlängern.
47. Dieses Argument überzeugt mich nicht.
48. Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 der Richtlinie 89/665 gewährt jedem, der ein Interesse an einem bestimmten öffentlichen Auftrag hat oder hatte und dem durch einen behaupteten Rechtsverstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht, ein individuelles Recht auf Nachprüfung der Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers(37). Wie ich auch in der parallel verhandelten Rechtssache Kommission/Irland ausführe, darf die effektive Durchsetzung eines solchen Rechtsanspruchs nicht in das freie Ermessen einer innerstaatlichen Stelle gelegt werden, auch nicht in das Ermessen eines unabhängigen Gerichts(38).
49. Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 gibt dem nationalen Richter keinerlei rechtliche Kriterien für die Ausübung seines Ermessens im Hinblick auf eine etwaige Fristverlängerung vor. In der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof haben zudem alle Verfahrensbeteiligten übereinstimmend ausgeführt, dass die fehlende Kenntnis des Klägers von einem Vergaberechtsverstoß nur einer von mehreren Gesichtspunkten sei, die in die Abwägung des nationalen Richters einfließen. Somit kann zwar die fehlende Kenntnis zu einer Fristverlängerung führen, zwingend ist dies aber nicht. Zudem kann der nationale Richter, wie Irland anmerkt, eine etwaige Fristverlängerung auf bestimmte Rügen beschränken und sie für andere Rügen verweigern, so dass eine Klage des unterlegenen Bieters oder Bewerbers womöglich nur teilweise zulässig wird.
50. Damit wird es für den Betroffenen im Einzelfall unberechenbar, ob sich für ihn die Einlegung eines Rechtsbehelfs lohnt. Eine solche Rechtslage kann unterlegene Bieter oder Bewerber – insbesondere diejenigen, die aus anderen Mitgliedstaaten stammen – davon abschrecken, ihren Rechtsanspruch auf Nachprüfung der Entscheidungen öffentlicher Auftraggeber geltend zu machen. Das Ziel der wirksamen Nachprüfung, wie es Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 vorgibt, kann unter diesen Umständen nicht sicher erreicht werden.
– Zu praktischen Problemen der Feststellung von „Kennen“ und „Kennenmüssen“
51. Der NHS und das Vereinigte Königreich behaupten außerdem, es führe zu erheblichen praktischen Problemen, wenn eine Ausschlussfrist erst mit dem Tag zu laufen beginne, an dem der unterlegene Bieter oder Bewerber vom behaupteten Vergaberechtsverstoß Kenntnis erlangte oder ihn kennen musste. Es sei z. B. nicht einfach zu beurteilen, worauf sich die Kenntnis im konkreten Fall beziehen müsse und zu welchem Zeitpunkt sie erlangt werde oder ab wann sie zu vermuten sei.
52. Dazu genügt der Hinweis, dass sich dieselben praktischen Probleme auch dann stellen, wenn ein Richter im Rahmen seiner Ermessensausübung im Hinblick auf eine mögliche Fristverlängerung prüfen muss, ab welchem Zeitpunkt der Kläger den von ihm gerügten Vergaberechtsverstoß kannte oder kennen musste. Eine Regelung wie Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 kann solche praktischen Probleme keineswegs vermeiden, sie behandelt sie lediglich unter einem anderen Blickwinkel.
– Zur Abschreckungswirkung von Schadensersatzklagen
53. Irland wendet zudem ein, eine allzu großzügige Handhabung der Fristen für Schadensersatzklagen könne eine äußerst abschreckende Wirkung auf öffentliche Auftraggeber entfalten (sog. „chilling effect“) und Vergabeverfahren erheblich verzögern. Dieser Argumentation haben sich in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof der NHS und das Vereinigte Königreich angeschlossen.
54. Auch dieses Vorbringen ist jedoch nicht überzeugend.
55. Unzweifelhaft können erfolgreiche Schadensersatzklagen unterlegener Bieter oder Bewerber erhebliche finanzielle Belastungen für den öffentlichen Auftraggeber nach sich ziehen. Dieses Risiko ist jedoch der Preis, den öffentliche Auftraggeber unweigerlich in Kauf nehmen müssen, damit im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge wirksamer Rechtsschutz gewährt werden kann. Jeder Versuch, die damit einhergehenden finanziellen Risiken für die öffentlichen Auftraggeber zu minimieren, geht zwangsläufig auf Kosten eines effektiven Rechtsschutzes.
56. Letztlich würde eine allzu restriktive Handhabung der Voraussetzungen für die Erlangung von Sekundärrechtsschutz auch die Verwirklichung der Ziele des Nachprüfungsverfahrens gefährden. Zu diesen Zielen gehört nämlich nicht allein die Gewährung von Rechtsschutz für die betroffenen Bieter und Bewerber. Vielmehr soll vom Nachprüfungsverfahren auch eine disziplinierende Wirkung auf die öffentlichen Auftraggeber ausgehen, indem die Einhaltung der Regeln des europäischen Vergaberechts – insbesondere des Transparenzgebots und des Diskriminierungsverbots – sichergestellt und etwaige Verstöße geahndet werden.
57. Nur am Rande sei bemerkt, dass auch eine Fristregelung wie Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 keineswegs geeignet ist, den besagten Abschreckungseffekt auszuschließen. Denn wie bereits erwähnt, legt es diese Vorschrift in das freie Ermessen des nationalen Richters, Klagefristen für unterlegene Bieter oder Bewerber zu verlängern, und zwar insbesondere, wenn diese zuvor keine Kenntnis vom behaupteten Vergaberechtsverstoß hatten. Diese Möglichkeit der Fristverlängerung kann also dazu führen, dass der öffentliche Auftraggeber noch lange nach dem Abschluss des Vertrags mit dem erfolgreichen Bieter oder Bewerber dem Risiko von Schadensersatzforderungen ausgesetzt ist. Aufgrund der Unberechenbarkeit der richterlichen Ermessensausübung ist dieses Risiko für den öffentlichen Auftraggeber im Rahmen von Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 eher noch schwerer kalkulierbar als im Fall einer Regelung, nach der die Ausschlussfrist läuft, sobald der Betroffene den behaupteten Vergaberechtsverstoß kennt oder kennen muss.
B – Zum Ermessen des nationalen Gerichts, eine Fristverlängerung zu gewähren (zweiter Teil der zweiten Vorlagefrage)
58. Der zweite Teil der zweiten Vorlagefrage steht mit der ersten Vorlagefrage in engem Zusammenhang. Im Wesentlichen möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Maßnahmen es zu ergreifen hat, wenn ein unterlegener Bieter oder Bewerber den behaupteten Vergaberechtsverstoß zunächst nicht kannte und ihn auch nicht kennen musste, so dass er nicht innerhalb der Drei-Monats-Frist des Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 einen Antrag auf Nachprüfung stellen konnte.
59. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Gerichte der Mitgliedstaaten zur richtlinienkonformen Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts verpflichtet(39). Speziell im Hinblick auf das vergaberechtliche Nachprüfungsverfahren müssen sie die nationalen Vorschriften, in denen eine Ausschlussfrist geregelt ist, möglichst so auslegen, dass die Beachtung des sich aus der Richtlinie 89/665 ergebenden Effektivitätsgebots sichergestellt ist(40).
60. Wie ich im Zusammenhang mit der ersten Vorlagefrage ausgeführt habe(41), dürfen die Ausschlussfristen für Feststellungs- und Schadensersatzklagen im Zusammenhang mit öffentlichen Aufträgen erst dann zu laufen beginnen, wenn der Kläger den behaupteten Vergaberechtsverstoß kannte oder kennen musste. Das vorlegende Gericht muss also alles tun, was in seiner Zuständigkeit liegt, um dieses Ergebnis zu erreichen(42).
61. Folglich ist das vorlegende Gericht in erster Linie gehalten, die Frist des Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 richtlinienkonform so zu handhaben, dass sie im Fall von Feststellungs- und Schadensersatzklagen nicht schon ab dem Zeitpunkt des Vergaberechtsverstoßes zu laufen beginnt, sondern erst ab dem Zeitpunkt, zu dem der Kläger diesen Vergaberechtsverstoß kannte oder kennen musste.
62. Sollte Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 einer solchen Auslegung nicht zugänglich sein, so müsste das vorlegende Gericht hilfsweise im Rahmen seines Ermessens zur Fristverlängerung eine richtlinienkonforme Lösung suchen. Das Ziel einer wirksamen Nachprüfung, wie es Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 vorschreibt, würde dann dazu führen, dass sich das Ermessen des nationalen Richters gleichsam „auf Null reduziert“. Er wäre also verpflichtet, einem Kläger wie Uniplex eine Fristverlängerung zu gewähren.
63. Der Umfang dieser Fristverlängerung müsste mindestens so bemessen sein, dass dem Kläger ab dem Zeitpunkt, zu dem er den behaupteten Verstoß gegen das Vergaberecht kannte oder kennen musste, die in Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 genannten drei Monate zur Vorbereitung und Einreichung seiner Klage zur Verfügung stehen. Darüber hinaus bleibt es freilich dem nationalen Richter unbenommen, im Rahmen seines Ermessens mit Blick auf die Umstände des Einzelfalls eine großzügigere Fristverlängerung zu gewähren, wenn er dies für erforderlich hält, um zu einer gerechten Lösung zu gelangen.
C – Zum Erfordernis der unverzüglichen Einlegung des Rechtsbehelfs (erster Teil der zweiten Vorlagefrage)
64. Mit dem ersten Teil seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob es im Nachprüfungsverfahren eine Klage als unzulässig abweisen darf, wenn diese nicht „unverzüglich“ (zu Englisch: „promptly“) eingereicht wurde.
65. Nach der Fristregelung des Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 ist ein Antrag auf Nachprüfung nur dann zulässig, wenn er „unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von drei Monaten nach Eintreten der Gründe für die Einleitung des Verfahrens“ gestellt wird. Dieses Erfordernis der unverzüglichen Einleitung des Nachprüfungsverfahrens erlaubt es dem englischen Richter offenbar, Anträge auf Nachprüfung schon vor Ablauf der Drei-Monats-Frist nach freiem Ermessen als unzulässig zurückzuweisen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof waren sich die Parteien des Ausgangsrechtsstreits und die Regierung des Vereinigten Königreichs einig(43), dass die englischen Gerichte in ihrer Spruchpraxis auch tatsächlich von dieser Möglichkeit der Klageabweisung wegen „mangelnder Unverzüglichkeit“ („lack of promptness“) Gebrauch machen(44).
66. Die Anwendung einer Ausschlussfrist darf jedoch nicht dazu führen, dass die Ausübung des Rechts auf Nachprüfung von Vergabeentscheidungen seiner praktischen Wirksamkeit beraubt wird(45).
67. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 erfordert, dass Entscheidungen der Vergabebehörden „wirksam und vor allem möglichst rasch“ auf Verstöße gegen das Vergaberecht nachgeprüft werden können. Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Kommission/Irland (C-456/08) näher ausführe(46), haben die Mitgliedstaaten zur Erreichung dieses Richtlinienziels einen eindeutigen gesetzlichen Rahmen auf dem betreffenden Gebiet zu schaffen. Sie sind gehalten, eine hinreichend genaue, klare und überschaubare Rechtslage zu schaffen, so dass die Einzelnen ihre Rechte und Pflichten erkennen können.
68. Für eine Fristregelung wie Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 gelten die Erfordernisse der Klarheit, Bestimmtheit und Voraussehbarkeit in besonderem Maße. Denn Unklarheiten im Hinblick auf die geltenden Fristen sind angesichts der drohenden Präklusionswirkung geeignet, in erheblichem Umfang nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen nach sich zu ziehen.
69. Eine Ausschlussfrist wie die des Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006, deren Länge durch das Kriterium „unverzüglich“ in das freie Ermessen des zuständigen Richters gestellt wird, ist in ihren Auswirkungen nicht voraussehbar. Die betroffenen Bieter und Bewerber sind im Ungewissen darüber, wie viel Zeit sie haben, um ihre Anträge auf Nachprüfung in zumutbarer Weise vorzubereiten, und die Erfolgsaussichten solcher Rechtsbehelfe können sie kaum abzuschätzen. Das durch Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 vorgegebene Ziel einer wirksamen Nachprüfung von Entscheidungen öffentlicher Auftraggeber wird auf diese Weise verfehlt(47).
70. Folglich dürfen die nationalen Gerichte einen Antrag auf Nachprüfung, der innerhalb der Drei-Monats-Frist des Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 gestellt wurde, nicht wegen „mangelnder Unverzüglichkeit“ für unzulässig erklären. Sie sind zur richtlinienkonformen Auslegung und Anwendung der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts verpflichtet(48). Speziell im Hinblick auf das vergaberechtliche Nachprüfungsverfahren müssen sie – wie bereits erwähnt – die nationalen Vorschriften, in denen eine Ausschlussfrist geregelt ist, möglichst so auslegen, dass die Beachtung des sich aus der Richtlinie 89/665 ergebenden Effektivitätsgebots sichergestellt ist(49).
71. In diesem Zusammenhang sei der Hinweis erlaubt, dass ein Kriterium der Unverzüglichkeit nicht notwendigerweise im Sinne einer eigenständigen Ausschlussfrist verstanden werden muss. Verbindet eine Rechtsvorschrift eine in Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren ausgedrückte Zeitangabe mit dem Wort „unverzüglich“ oder einem ähnlichen Ausdruck, so kann dieser Zusatz auch dahin gehend ausgelegt werden, dass er dem Beschleunigungsgebot Ausdruck verleiht und die Antragsteller oder Kläger an ihre Obliegenheit erinnert, in ihrem eigenen Interesse möglichst frühzeitig die notwendigen Schritte einzuleiten, um ihre Rechte bestmöglich zu wahren(50).
72. Vor diesem Hintergrund wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob das Kriterium der „Unverzüglichkeit“ in Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 dahin gehend ausgelegt werden kann, dass es keine eigenständige Zulässigkeitshürde darstellt, sondern lediglich einen Hinweis auf das Beschleunigungsgebot enthält.
73. Sollte eine richtlinienkonforme Auslegung von Art. 47 Abs. 7 Buchst. b PCR 2006 in dem genannten Sinne nicht möglich sein, ist das nationale Gericht verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht in vollem Umfang anzuwenden und die Rechte, die dieses dem Einzelnen einräumt, zu schützen, indem es notfalls jede Bestimmung unangewendet lässt, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem gemeinschaftsrechtswidrigen Ergebnis führen würde(51).
VI – Ergebnis
74. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, das Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice wie folgt zu beantworten:
1) Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665/EWG gebietet es, eine Ausschlussfrist für Anträge auf Feststellung von Vergaberechtsverstößen und für Schadensersatzklagen erst ab dem Zeitpunkt laufen zu lassen, an dem der Kläger den behaupteten Vergaberechtsverstoß kannte oder kennen musste.
2) Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 steht einer Fristregelung entgegen, die es dem nationalen Richter erlaubt, Anträge auf Feststellung von Vergaberechtsverstößen und Schadensersatzklagen unter Berufung auf ein Erfordernis der unverzüglichen Klageerhebung nach freiem Ermessen als unzulässig abzuweisen.
3) Der nationale Richter ist verpflichtet, alles zu tun, was in seiner Zuständigkeit liegt, um ein mit dem Ziel der Richtlinie 89/665 vereinbares Ergebnis zu erreichen. Soweit sich ein solches Ergebnis nicht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung und Anwendung der Fristregelung erreichen lässt, ist der nationale Richter verpflichtet, diese Regelung unangewendet zu lassen.