Language of document : ECLI:EU:T:2005:149

Rechtssache T-201/04

Microsoft Corp.

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Streithilfe – Repräsentative Vereinigung – Artikel 116 § 6 der Verfahrensordnung des Gerichts – Antrag auf Teilnahme am schriftlichen Verfahren – Zufall oder Fall höherer Gewalt – Außergewöhnliche Umstände“

Leitsätze des Beschlusses

1.      Verfahren – Streithilfe – Personen, die ein berechtigtes Interesse haben – Streithilfeantrag einer repräsentativen Vereinigung in einem Rechtsstreit, der Grundsatzfragen aufwirft, die sich auf ihre Mitglieder auswirken können – Zulässigkeit

(Satzung des Gerichtshofes, Artikel 40 Absatz 2 und 53 Absatz 1)

2.      Verfahren – Streithilfe – Umfang der Verfahrensrechte des Streithelfers abhängig vom Zeitpunkt der Stellung des Streithilfeantrags

(Verfahrensordnung des Gerichts, Artikel 115 § 1 und 116 §§ 2, 4 und 6)

3.      Verfahren – Streithilfe – Begrenzung der Verfahrensrechte des Streithelfers, der seinen Streithilfeantrag später als sechs Wochen nach der Veröffentlichung der Mitteilung über die Klageerhebung im Amtsblatt gestellt hat – Ausnahmen – Zufall oder höhere Gewalt – Begriffe – Rücktritt eines anderen Streithelfers – Ausschluss

(Satzung des Gerichtshofes, Artikel 45 Absatz 2; Verfahrensordnung des Gerichts, Artikel 99 und 115 § 1)

1.      Nach Artikel 40 Absatz 2 der Satzung des Gerichtshofes, der gemäß Artikel 53 Absatz 1 dieser Satzung für das Verfahren vor dem Gericht gilt, kann jeder, der ein berechtigtes Interesse am Ausgang eines Rechtsstreits mit Ausnahme von Rechtsstreitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten, zwischen Gemeinschaftsorganen oder zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorganen glaubhaft macht, dem Rechtsstreit beitreten.

Ein derartiges Interesse machen repräsentative Vereinigungen glaubhaft, wenn ihr Ziel der Schutz ihrer Mitglieder in Rechtssachen ist, die Grundsatzfragen aufwerfen, die sich auf diese Mitglieder auswirken können. Diese weite Auslegung des Beitrittsrechts soll es ermöglichen, den Rahmen der Rechtssachen besser zu beurteilen und zugleich eine Vielzahl individueller Beitritte, die die Wirksamkeit und den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens beeinträchtigen könnten, zu vermeiden.

(vgl. Randnrn. 25-26)

2.      Nach Artikel 115 § 1 in Verbindung mit Artikel 116 §§ 2, 4 und 6 der Verfahrensordnung des Gerichts sind die Verfahrensrechte des Streithelfers unterschiedlich, je nachdem, ob er seinen Streithilfeantrag vor Ablauf der Frist von sechs Wochen nach der Veröffentlichung der Mitteilung über die Klageerhebung im Amtsblatt der Europäischen Union oder nach Ablauf dieser Frist, jedoch vor dem Beschluss zur Eröffnung der mündlichen Verhandlung gestellt hat.

Hat der Streithelfer seinen Antrag vor Ablauf der genannten Frist gestellt, so kann er sowohl am schriftlichen Verfahren als auch an der mündlichen Verhandlung teilnehmen. Zu diesem Zweck sind ihm die Schriftstücke des Verfahrens zu übermitteln, und er kann einen Streithilfeschriftsatz einreichen, der Folgendes enthält: seine Anträge, die der vollständigen oder teilweisen Unterstützung der Anträge einer Partei des Verfahrens zur Hauptsache dienen, seine Angriffs- und Verteidigungsmittel und Argumente sowie gegebenenfalls die Bezeichnung seiner Beweismittel. Hat der Streithelfer seinen Antrag hingegen nach Ablauf der genannten Frist gestellt, so kann er nur an der mündlichen Verhandlung teilnehmen, sofern er das Gericht vor deren Eröffnung befasst hat. Zu diesem Zweck ist ihm der Sitzungsbericht zu übermitteln, und er kann auf dieser Grundlage in der mündlichen Verhandlung Stellung nehmen.

Diese Bestimmungen sind zwingend; sie dulden keine Abweichung durch die Parteien oder durch das Gericht.

(vgl. Randnrn. 35-42)

3.      Nach Artikel 45 Absatz 2 der Satzung des Gerichtshofes hat der Ablauf von Fristen keinen Rechtsnachteil zur Folge, wenn der Betroffene nachweist, dass ein Zufall oder ein Fall höherer Gewalt vorliegt. Die Bestimmungen über die Verfahrensfristen unterliegen einer strikten Anwendung, die dem Erfordernis der Rechtssicherheit und der Notwendigkeit entspricht, jede Diskriminierung oder willkürliche Behandlung bei der Rechtspflege zu vermeiden. Artikel 45 Absatz 2, der eine Ausnahme von diesem Grundsatz darstellt und daher strikt auszulegen ist, gilt für zwingende Verfahrensfristen, deren Ablauf den Verlust des bis dahin einer natürlichen oder juristischen Person eröffneten Klagerechts oder eines Rechts, einen Antrag auf Zulassung als Streithelfer zu stellen, mit sich bringt. Sofern er auch auf die in Artikel 115 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts genannte Frist von sechs Wochen anwendbar ist, deren Ablauf nicht den Verlust des Rechts, einen Antrag auf Zulassung als Streithelfer zu stellen, sondern eine Begrenzung der Verfahrensrechte des Streithelfers mit sich bringt, kann im Sinne dieses Artikels von den Gemeinschaftsvorschriften über die Verfahrensfristen nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen – bei Vorliegen eines Zufalls oder eines Falles höherer Gewalt – abgewichen werden.

Die Begriffe höhere Gewalt und Zufall umfassen neben einem objektiven Merkmal, das sich auf ungewöhnliche, außerhalb der Willenssphäre des Betroffenen liegende Umstände bezieht, auch ein subjektives Merkmal, das mit der Verpflichtung des Betroffenen zusammenhängt, sich gegen die Folgen ungewöhnlicher Ereignisse zu wappnen, indem er geeignete Maßnahmen trifft und insbesondere den Ablauf des Verfahrens genau überwacht und Sorgfalt walten lässt. Der Rücktritt einer repräsentativen Vereinigung stellt vielleicht – auch wenn sie und der Streithilfeantragsteller gemeinsame Mitglieder haben – einen außerhalb von dessen Willenssphäre liegenden Umstand dar, jedoch ist er nicht als ungewöhnlicher Vorgang anzusehen. Jeder Streithelfer ist nämlich jederzeit berechtigt, auf seine Streithilfe zu verzichten, ebenso wie jeder Kläger jederzeit berechtigt ist, seine Klage gemäß Artikel 99 der Verfahrensordnung zurückzunehmen.

(vgl. Randnrn. 46-52)