Language of document : ECLI:EU:F:2010:2

URTEIL DES GERICHTS FÜR DEN ÖFFENTLICHEN DIENST

(Plenum)

13. Januar 2010

Verbundene Rechtssachen F‑124/05 und F‑96/06

A und G

gegen

Europäische Kommission

„Öffentlicher Dienst – Beamte – Anfechtungsklage – Erledigung der Hauptsache – Schadensersatzklage – Zulässigkeit – Vorrechte und Befreiungen – Aufhebung der Befreiung von der Gerichtsbarkeit – Vertraulichkeit der Untersuchungen des OLAF – Untersuchungen des IDOC – Zugang zu den medizinischen Unterlagen – Zugang zur Personalakte – Disziplinarverfahren – Angemessene Verfahrensdauer“

Gegenstand: Klagen nach Art. 236 EG und Art. 152 EA in der Rechtssache F‑124/05 u. a. auf Aufhebung der Entscheidung der Kommission vom 28. Februar 2005, mit der der Antrag des Klägers vom 22. Oktober 2004 auf Abschluss des gegen ihn mit Entscheidung vom 16. Januar 2004 eingeleiteten Disziplinarverfahrens abgelehnt worden ist, und auf Verurteilung der Kommission zur Zahlung von Schadensersatz an ihn, in der Rechtssache F‑96/06 auf Verurteilung der Kommission zur Zahlung von Schadensersatz an denselben Kläger aufgrund diverser Fehler, die sie begangen haben soll

Entscheidung: Über die vom Kläger mit der unter dem Aktenzeichen F‑124/05, A/Kommission, in das Register der Kanzlei eingetragenen Klage geltend gemachten Anträge braucht nicht entschieden zu werden. Die Kommission wird verurteilt, an den Kläger 30 000 Euro als Ersatz seines immateriellen Schadens zu zahlen. Die Kommission trägt neben ihren eigenen Kosten die Hälfte der Kosten, die dem Kläger im Zusammenhang mit den unter den Aktenzeichen F‑124/05, A/Kommission, und F‑96/06, G/Kommission, in das Register der Kanzlei eingetragenen Klagen entstanden sind. Der Kläger trägt die Hälfte seiner eigenen Kosten, die ihm im Zusammenhang mit den unter den Aktenzeichen F‑124/05, A/Kommission, und F‑96/06, G/Kommission, in das Register der Kanzlei eingetragenen Klagen entstanden sind.

Leitsätze

1.      Beamte – Schadensersatzklage – Antrag, mit dem der Ersatz des durch die überlange Dauer eines Disziplinarverfahrens entstandenen immateriellen Schadens begehrt wird

(Beamtenstatut, Art. 73)

2.      Beamte – Soziale Sicherheit – Versicherung gegen Unfälle und Berufskrankheiten – Pauschale Entschädigung nach der Regelung des Statuts – Antrag auf zusätzliche Entschädigung, der auf eine Pflichtverletzung gestützt ist, die die Haftung des Organs auslösen kann – Voraussetzungen

(Beamtenstatut, Art. 73)

3.      Beamte – Soziale Sicherheit – Versicherung gegen Unfälle und Berufskrankheiten – Dienstunfähigkeit – Invaliditätsgrad – Festsetzung durch den Ärzteausschuss

(Beamtenstatut, Art. 73; Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten, Art. 19 Abs. 3)

4.      Beamte – Disziplinarordnung – Untersuchung vor Einleitung des Disziplinarverfahrens

(Beamtenstatut, Anhang IX)

5.      Beamte – Klage – Vorherige Verwaltungsbeschwerde – Beschwerden, die auf denselben Beschwerdegründen beruhen, aber rechtlich jeweils einen anderen Gegenstand haben – Zulässigkeit

(Beamtenstatut, Art. 90 und 91)

6.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Schaden – Kausalzusammenhang

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

7.      Beamte – Klage – Beschwerende Maßnahme – Begriff – Entscheidung über die Aufhebung der Immunität eines Beamten oder sonstigen Bediensteten – Einbeziehung

(Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften, Art. 12; Beamtenstatut, Art. 90 und 91)

8.      Beamte – Soziale Sicherheit – Versicherung gegen Unfälle und Berufskrankheiten – Feststellung des ursächlichen Zusammenhangs der Krankheit mit der Berufstätigkeit

(Beamtenstatut, Art. 73)

9.      Beamte – Soziale Sicherheit – Versicherung gegen Unfälle und Berufskrankheiten – Feststellung einer Berufskrankheit

(Beamtenstatut, Art. 26 und 73; Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten, Art. 21)

10.    Europäische Gemeinschaften – Organe – Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten – Verordnung Nr. 1049/2001

(Beamtenstatut, Art. 26; Verordnung Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 2)

11.    Verfahren – Klageschrift – Formerfordernisse – Kurze Darstellung der Klagegründe – Verweisung auf die vom Kläger in einer anderen Rechtssache vor demselben Gericht eingereichte Klageschrift – Unzulässigkeit – Ausnahmen

(Satzung des Gerichtshofs, Art. 21; Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 44 § 1)

12.    Beamte – Disziplinarordnung – Entscheidung über die Einleitung eines Disziplinarverfahrens

(Beamtenstatut, Anhang IX)

13.    Beamte – Disziplinarordnung – Einleitung eines Disziplinarverfahrens – Ermessen der Anstellungsbehörde

(Beamtenstatut, Anhang IX)

14.    Beamte – Fürsorgepflicht der Verwaltung – Grenzen

15.    Beamte – Disziplinarordnung – Disziplinarverfahren – Fristen

(Beamtenstatut, Anhang IX)

1.      Ein Disziplinarverfahren versetzt jeden Beamten im Hinblick auf seine berufliche Zukunft in einen Zustand der Ungewissheit und ruft bei ihm zwangsläufig einen gewissen Stress und eine gewisse Angst hervor. Dauert diese Ungewissheit übermäßig lange an, übersteigen der Stress und die Angst, die beim Beamten hervorgerufen werden, das zumutbare Maß. Bei einer überlangen Dauer des Disziplinarverfahrens wird deshalb vermutet, dass der Betroffene einen immateriellen Schaden erlitten hat. Insoweit ist zu unterscheiden zwischen dem immateriellen Schaden, der jedem Beamten oder sonstigem Bediensteten entsteht, unabhängig davon, ob gegebenenfalls eine Krankheit auftritt, und demjenigen, der durch eine auf die überlange Dauer dieses Verfahrens zurückzuführende psychische Krankheit – oder Verschlimmerung einer solchen Krankheit – entsteht. Ein Schadensersatzantrag, mit dem der Ersatz eines Schadens der erstgenannten Art begehrt wird, ist also unabhängig davon zulässig, wie der Stand eines von dem Beamten außerdem nach Art. 73 des Statuts eingeleiteten Verfahrens ist. Hingegen ist der Schadensersatzantrag eines Beamten, mit dem dieser Ersatz des ihm durch eine Berufskrankheit entstandenen materiellen und immateriellen Schadens begehrt, grundsätzlich nicht zulässig, solange das Verfahren nach Art. 73 des Statuts nicht abgeschlossen ist.

(vgl. Randnrn. 147 und 149 bis 151)

Verweisung auf:

Gericht für den öffentlichen Dienst: 2. Mai 2007, Giraudy/Kommission, F‑23/05, Slg. ÖD 2007, I‑A‑1‑121 und II‑A‑1‑657, Randnrn. 197 bis 202

2.      Die Klage, mit der ein Beamter Ersatz des wegen seiner Berufskrankheit erlittenen Schadens begehrt und die vor dem Abschluss des Verfahrens nach Art. 73 des Statuts erhoben wird, ist im Allgemeinen verfrüht, da es zur Zeit der Klageerhebung nicht möglich ist, die Angemessenheit der dem Kläger nach dem Statut zustehenden Entschädigung zu beurteilen. In den meisten Fällen ist für die Feststellung des Kausalzusammenhangs zwischen den Bedingungen der Ausübung des Dienstes und dem geltend gemachten Schaden sowie für die Bemessung dieses Schadens nämlich ein ärztliches Gutachten erforderlich, so dass es vor Abschluss des Verfahrens nach Art. 73 des Statuts für das Gericht nicht sinnvoll, wenn nicht gar unmöglich wäre, diesen Kausalzusammenhang und diesen Schaden festzustellen.

Daraus, dass das medizinische Verfahren nicht abgeschlossen ist, kann jedoch nicht in jedem Fall geschlossen werden, dass eine Klage auf Schadensersatz wegen eines Amtsfehlers, den ein Organ begangen haben soll, verfrüht wäre. Aus Gründen der Prozessökonomie, einem Grundsatz, der eine Abwägung der verschiedenen Faktoren im Einzelfall erfordert, kann der Richter u. a. berücksichtigen, dass in einer bestimmten Sache kein ärztliches Gutachten erforderlich ist, um den erlittenen immateriellen Schaden zu bemessen.

(vgl. Randnrn. 153, 154, 156 und 158)

Verweisung auf:

Gericht erster Instanz: 15. Dezember 1999, Latino/Kommission, T‑300/97, Slg. ÖD 1999, I‑A‑259 und II‑1263, Randnrn. 94 und 95; 10. Dezember 2008, Nardone/Kommission, T‑57/99, Slg. ÖD 2008, I‑A‑2‑83 und II‑A‑2‑505, Randnrn. 56 und 57

3.      Art. 19 Abs. 3 Unterabs. 2 der Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten, wonach dann, wenn bei Beendigung der ärztlichen Heilbehandlung der Invaliditätsgrad noch nicht endgültig bestimmt werden kann, im Bericht des Ärzteausschusses der Zeitpunkt anzugeben ist, zu dem der Fall des Versicherten spätestens erneut zu prüfen ist, ist unbedingt eng auszulegen. Denn wenn der Ärzteausschuss den Zeitpunkt, zu dem der Fall des Versicherten erneut zu prüfen ist, mehrmals verlegen könnte, würden bestimmte Versicherte den Kapitalbetrag gemäß Art. 73 des Statuts zu ihren Lebzeiten nie erhalten. Im Übrigen ließe sich eine weite Auslegung nicht mit dem Begriff der Konsolidierung vereinbaren, wie er in Art. 19 Abs. 3 dieser gemeinsamen Regelung definiert ist; danach sind die Folgen des Unfalls oder der Berufskrankheit konsolidiert, wenn sie sich stabilisiert haben oder abzusehen ist, dass sie sich nur noch sehr langsam und in sehr begrenztem Umfang abschwächen werden. Konsolidierung bedeutet also nicht, dass sich der Zustand des Patienten überhaupt nicht entwickelt, sondern eine Stabilisierung oder sehr langsame Entwicklung.

(vgl. Randnr. 161)

4.      Ein Organ verfügt im Hinblick auf die Einleitung und die Durchführung von Verwaltungsuntersuchungen über einen großen Ermessensspielraum, vorausgesetzt, es besteht der begründete Verdacht, dass ein Disziplinarvergehen begangen worden ist.

(vgl. Randnrn. 173 und 188)

5.      Ein Beamter kann mehrere Beschwerden, die rechtlich jeweils einen anderen Gegenstand haben, durchaus auf denselben Beschwerdegrund, dasselbe Argument oder dieselbe Tatsache stützen.

(vgl. Randnr. 205)

Verweisung auf:

Gericht erster Instanz: 19. September 2008, Chassagne/Kommission, T‑253/06 P, Slg. ÖD 2008, I‑B‑1‑43 und II‑B‑1‑295, Randnr. 149

6.      Im Rahmen einer Schadensersatzklage hat der Kläger zu beweisen, dass die Voraussetzungen für eine außervertragliche Haftung der Europäischen Union erfüllt sind. Diese Regel erfährt indessen eine Abmilderung, wenn ein schädigendes Ereignis auf mehrere verschiedene Ursachen zurückgeführt werden kann und das beklagte Organ keinen Beweis dafür beigebracht hat, welcher dieser Ursachen das Ereignis zuzuschreiben ist, obwohl das Organ am Besten in der Lage gewesen wäre, Beweise hierfür vorzulegen, so dass diese Unsicherheit zu seinen Lasten gehen muss.

(vgl. Randnr. 213)

Verweisung auf:

Gericht erster Instanz: 8. Juli 2008, Franchet und Byk/Kommission, T‑48/05, Slg. 2008, II‑1585, Randnrn. 182 und 183

7.      Die Befreiung von der Gerichtsbarkeit gemäß Art. 12 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften schützt die Beamten und sonstigen Bediensteten bezüglich der von ihnen in amtlicher Eigenschaft vorgenommenen Handlungen vor Strafverfolgungsmaßnahmen der Behörden der Mitgliedstaaten. Eine Entscheidung über die Aufhebung der Immunität eines Beamten oder sonstigen Bediensteten ändert somit dessen Rechtsstellung allein durch die Aufhebung dieses Schutzes dadurch, dass sie dessen Stellung als dem allgemeinen Recht der Mitgliedstaaten unterworfene Person wiederherstellt und ihn damit, ohne dass eine Durchführungsvorschrift erforderlich wäre, Maßnahmen, insbesondere solchen des Freiheitsentzugs und der Strafverfolgung, aussetzt, die das allgemeine Recht vorsieht.

Der Ermessensspielraum, der den nationalen Behörden nach der Aufhebung der Immunität in Bezug auf die Wiederaufnahme oder die Einstellung des gegen den Beamten oder sonstigen Bediensteten eingeleiteten Strafverfahrens belassen wird, wirkt sich darauf, dass dessen Rechtsstellung unmittelbar berührt wird, nicht aus, da die mit der Entscheidung über die Aufhebung der Immunität verbundenen Wirkungen sich auf die Beseitigung des Schutzes beschränken, den der Betroffene aufgrund seiner Eigenschaft als Beamter oder sonstiger Bediensteter genossen hat, und keine zusätzliche Durchführungsmaßnahme voraussetzen.

Die Entscheidung, mit der ein Organ die Befreiung eines Beamten oder sonstigen Bediensteten von der Gerichtsbarkeit aufhebt, stellt für diesen somit eine beschwerende Maßnahme dar.

(vgl. Randnrn. 231 bis 233)

Verweisung auf:

Gericht erster Instanz: 15. Oktober 2008, Mote/Parlament, T‑345/05, Slg. 2008, II‑2849, Randnrn. 34 und 35

8.      Ziel einer gemäß Art. 73 des Statuts durchgeführten Verwaltungsuntersuchung ist, objektiv alle Tatsachen zu ermitteln, aus denen sich der ursächliche Zusammenhang der Krankheit, unter der der betreffende Beamte leidet, mit der Berufstätigkeit sowie die Umstände ihres Eintritts ergeben. In Fällen, in denen bei der Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs der Krankheit, unter der er leidet, mit der Berufstätigkeit das Augenmerk auf dessen Arbeitsbedingungen gerichtet ist, sind im Rahmen der Untersuchung sowohl die Arbeitsbedingungen des betreffenden Beamten als auch seine Krankheit als solche objektiv und eingehend zu untersuchen.

(vgl. Randnr. 263)

Verweisung auf:

Gericht erster Instanz: 3. März 2004, Vainker/Parlament, T‑48/01, Slg. ÖD 2004, I‑A‑51 und II‑197, Randnr. 129

9.      Nach Art. 26 des Statuts ist für jeden Beamten eine Personalakte zu führen, die sämtliche sein Dienstverhältnis betreffenden Schriftstücke und jede Beurteilung seiner Befähigung, Leistung und Führung sowie die Stellungnahmen des Beamten zu diesen Vorgängen enthält. Das Organ darf dem Beamten Schriftstücke nur dann entgegenhalten oder gegen ihn verwerten, wenn sie ihm vor Aufnahme in die Personalakte mitgeteilt worden sind. Mit diesen Bestimmungen sollen die Verteidigungsrechte des Beamten gewährleistet werden.

In Bezug auf den Zugang zu den medizinischen Unterlagen im Rahmen eines Verfahrens zur Anerkennung einer Berufskrankheit hat die Regelung zur Sicherung bei Unfällen und Berufskrankheiten ein besonderes Verfahren geschaffen, das die Übersendung des vollständigen ärztlichen Berichts, auf dem die Entscheidung beruht, die die Anstellungsbehörde zu treffen beabsichtigt, an den von dem Beamten gewählten Arzt – falls der Beamte dies nach der Zustellung eines Entscheidungsentwurfs gemäß Art. 21 der Sicherungsregelung beantragt – und die Anrufung eines Ärzteausschusses, dem der von dem Beamten ernannte Arzt angehört, vorsieht.

Denn die Wahrung der Rechte des Beamten gebietet es, diesem Zugang zu den medizinischen Unterlagen einzuräumen. Diese dem Beamten zuerkannte Möglichkeit muss jedoch mit den Erfordernissen der ärztlichen Schweigepflicht in Einklang stehen, nach denen jeder Arzt zu beurteilen hat, ob er Personen, die er behandelt oder untersucht, die Art ihrer etwaigen Leiden mitteilen kann. Indem die Regelung einen indirekten Zugang zu den medizinischen Unterlagen, über die Einschaltung eines von dem Beamten benannten Vertrauensarztes, vorsieht, bringt sie die Rechte des Beamten mit den Erfordernissen der ärztlichen Schweigepflicht in Einklang.

Die Wahrung der Rechte des Beamten gebietet es, ihm nicht nur Zugang zu den medizinischen Unterlagen einzuräumen, sondern auch zu den tatsächlichen Feststellungen, die der gemäß Art. 73 des Statuts zu treffenden Entscheidung als Grundlage dienen. So ist den Schriftstücken, die sich auf die tatsächlichen Feststellungen über einen bei der Arbeit aufgetretenen Zwischenfall beziehen und damit als Grundlage für ein Verfahren auf Anerkennung eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit im Sinne der Sicherungsregelung dienen können, ebenfalls ein medizinischer Charakter zuzuerkennen.

Es ist unerlässlich, dass der vollständige ärztliche Bericht, dessen Übersendung an den Arzt seiner Wahl der Beamte beantragen kann und der den Mitgliedern des in der Sicherungsregelung vorgesehenen Ärzteausschusses zu übersenden ist, gegebenenfalls den Bericht über die Verwaltungsuntersuchung enthält. Auf diese Weise kann der Beamte, wenn er einen dahin gehenden Antrag gestellt hat, über die Einschaltung eines Vertrauensarztes zu den im Untersuchungsbericht enthaltenen Feststellungen Stellung nehmen und prüfen, ob es zweckmäßig ist, die Einholung eines Gutachtens des Ärzteausschusses zu beantragen.

Im Übrigen schließt der medizinische Charakter bestimmter Schriftstücke nicht aus, dass diese gegebenenfalls auch das Dienstverhältnis des Beamten betreffen können. In diesem Fall müssen sich diese Schriftstücke in der Personalakte befinden.

Zum einen hat also die Akte, anhand deren der vom Organ bestellte Arzt oder der Ärzteausschuss über die berufliche Ursache einer Krankheit befindet, medizinischen Charakter und kann daher nur mittelbar über einen von dem Beamten benannten Arzt eingesehen werden; zum anderen müssen verwaltungsmäßige Angaben, die sich in dieser Akte befinden und einen Einfluss auf das Dienstverhältnis des Beamten haben können, auch in seiner Personalakte enthalten sein, in der sie der Beamte gemäß Art. 26 des Statuts unmittelbar einsehen kann.

Alle dem vom Organ bestellten Arzt oder dem Ärzteausschuss vorgelegten Schriftstücke werden somit von den in der gemeinsamen Regelung vorgesehenen Bestimmungen erfasst. Die Aufnahme einiger dieser Schriftstücke in die Personalakte des Beamten und die für den Beamten bestehende Möglichkeit, in diese Einsicht zu nehmen, sind daher nur dann geboten, wenn diese Schriftstücke von der Verwaltung, der der Beamte untersteht, zur Beurteilung oder Änderung seines Dienstverhältnisses verwendet werden.

(vgl. Randnrn. 275 bis 282)

Verweisung auf:

Gerichtshof: 28. Juni 1972, Brasseur/Parlament, 88/71, Slg. 1972, 499, Randnr. 11; 7. Oktober 1987, Strack/Kommission, 140/86, Slg. 1987, 3939, Randnrn. 7, 9, 10, 11 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie 12 und 13; 1. Oktober 1991, Vidrányi/Kommission, C‑283/90 P, Slg. 1991, I‑4339, Randnr. 20 bis 22, 24 und 25

Gericht erster Instanz: 12. Juli 1990, Vidrányi/Kommission, T‑154/89, Slg. 1990, II‑445, Randnrn. 33 bis 36; Vainker/Parlament, Randnrn. 136 und 137

10.    Aus dem Titel der Verordnung Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, nach deren Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich die Organe den Zugang zu einem Dokument verweigern dürfen, durch dessen Verbreitung der Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten beeinträchtigt würde, ergibt sich bereits, dass diese den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Parlaments, des Rates und der Kommission betrifft. Die Rechte eines Beamten oder sonstigen Bediensteten, der um Mitteilung eines sein Dienstverhältnis betreffenden Schriftstücks ersucht, sind aber nicht dieselben wie diejenigen eines beliebigen Unionsbürgers, der Zugang zu Dokumenten eines Organs beantragt. Die einschlägigen Rechte der Beamten und sonstigen Bediensteten ergeben sich nämlich aus den besonderen Bestimmungen des Art. 26 des Statuts, die den Organen besondere Verpflichtungen auferlegen, um die Verteidigungsrechte des Betroffenen zu gewährleisten. Die Beamten haben somit ein eigenes Recht aus Art. 26 des Statuts. Im Übrigen gelten für den Antrag eines Beamten gegebenenfalls besondere Vorschriften für den öffentlichen Dienst über den Zugang zu besonderen Arten von Schriftstücken, wie z. B. medizinischen Unterlagen. Die Ausnahmeregelung des Art. 4 Abs. 2 dritter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1049/2001 steht der Anwendung der Bestimmungen des Art. 26 des Statuts daher nicht entgegen.

(vgl. Randnrn. 289 und 291 bis 296)

11.    Der Zweck des Art. 44 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz besteht darin, dass das Gericht über hinreichend klar formulierte Klagegründe entscheiden kann. Bei der Auslegung dieser Bestimmung dürfen die formellen Anforderungen aber nicht überspannt werden; andernfalls würde das gerichtliche Verfahren nur schwerfälliger.

Daher kann unter Berücksichtigung der besonderen Umstände einer Sache ein vor dem Gericht für den öffentlichen Dienst erhobener Klagegrund, der auf sämtliche im Rahmen einer anderen Klage desselben Klägers vor diesem Gericht erhobenen Klagegründe verweist, als zulässig betrachtet werden, wenn die beiden miteinander zusammenhängenden Rechtssachen verbunden worden sind und mit dieser Verweisung es dem Kläger erspart werden soll, breite Ausführungen zu wiederholen und Anhänge im Umfang von mehreren hundert Seiten erneut vorzulegen.

(vgl. Randnrn. 314 bis 318)

Verweisung auf:

Gericht erster Instanz: 11. Juni 2009, Othman/Rat und Kommission, T‑318/01, Slg. 2009, II‑1627, Randnr. 57

12.    Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer angefochtenen Handlung ist auf die tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten abzustellen, die zur Zeit der Vornahme der Handlung bestanden haben; Umstände, die gegebenenfalls nach Erlass der Entscheidung über die Einleitung des Disziplinarverfahrens durch die Untersuchung im Rahmen dieses Verfahrens zutage gebracht wurden, können die Rechtmäßigkeit der genannten Entscheidung nicht beeinträchtigen, denn Gegenstand der Untersuchung war gerade die Prüfung der Frage, ob der Anfangsverdacht begründet war. In Anbetracht des Gegenstands und des Sinn und Zwecks eines Disziplinarverfahrens setzt die rechtmäßige Einleitung eines solchen Verfahrens also nicht voraus, dass die dem Betroffenen zur Last gelegten Handlungen erwiesen sind. Durch das Disziplinarverfahren sollen die dem Betroffenen zur Last gelegten Handlungen gerade erst geklärt werden.

(vgl. Randnrn. 351 und 360)

Verweisung auf:

Gerichtshof: 7. Februar 1979, Frankreich/Kommission, 15/76 und 16/76, Slg. 1979, 321, Randnr. 7

Gericht für den öffentlichen Dienst: Giraudy/Kommission, Randnr. 145

13.    Das Gericht ist dadurch, dass das Disziplinarverfahren eingestellt worden ist, ohne dass eine Disziplinarstrafe gegen den betreffenden Beamten verhängt worden wäre, nicht daran gehindert, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung über die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen diesen Beamten zu überprüfen. Es bestünde nämlich die Gefahr von Willkür, wenn der Anstellungsbehörde die absolute und uneingeschränkte Befugnis zugestanden würde, ein Disziplinarverfahren gegen einen Beamten einzuleiten und es sodann ohne Disziplinarstrafe einzustellen, ohne dass der Beamte die Möglichkeit hätte, die Entscheidung über die Einleitung des Verfahrens zu gegebener Zeit anzufechten, weil es an einer Disziplinarstrafe fehlt, gegen die er einen etwaigen Rechtsbehelf einlegen könnte. Dem Ermessen der Anstellungsbehörde bei der Entscheidung über die Einleitung eines Disziplinarverfahrens müssen daher rechtlich Grenzen gesetzt sein, die der gerichtlichen Kontrolle unterliegen.

Außerdem bestünde die Gefahr von Willkür, wäre eine Entscheidung, mit der ein Disziplinarverfahren gegen einen Beamten eingeleitet wird, nur dann rechtswidrig, wenn es sich um einen Fall von Ermessensmissbrauch handelt. Die Anstellungsbehörde übt ihre Befugnisse daher nicht nur dann rechtswidrig aus, wenn nachweislich ein Fall von Ermessensmissbrauch vorliegt, sondern auch wenn es an hinreichend genauen relevanten Anhaltspunkten dafür fehlt, dass der Betroffene eine disziplinarrechtlich zu ahndende Pflichtverletzung begangen hat.

In Anbetracht des weiten Ermessens, über das die Anstellungsbehörde verfügt, und der Grenzen, die diesem zu setzen sind, hat sich die gerichtliche Kontrolle daher auf die Prüfung der Frage zu beschränken, ob der Sachverhalt, von dem die Verwaltung bei der Einleitung des Disziplinarverfahrens ausgegangen ist, zutreffend festgestellt worden ist, ob die zur Last gelegten Handlungen nicht offensichtlich fehlerhaft beurteilt worden sind und ob kein Ermessensmissbrauch vorliegt.

(vgl. Randnrn. 352 bis 354 und 365 bis 367)

Verweisung auf:

Gericht erster Instanz: 15. Mai 1997, N/Kommission, T‑273/94, Slg. ÖD 1997, I‑A‑97 und II‑289, Randnr. 125; 17. Mai 2000, Tzikis/Kommission, T‑203/98, Slg. ÖD 2000, I‑A‑91 und II‑393, Randnr. 50; Franchet und Byk/Kommission, Randnr. 352

14.    Die Fürsorgepflicht spiegelt das Gleichgewicht zwischen den wechselseitigen Rechten und Pflichten wider, das das Statut in den Beziehungen zwischen der Behörde und den Beamten geschaffen hat. Diese Pflicht gebietet es insbesondere, dass die Anstellungsbehörde bei der Entscheidung über die Situation eines Beamten sämtliche Umstände berücksichtigt, die geeignet sind, ihre Entscheidung zu beeinflussen, und dass sie dabei nicht nur dem dienstlichen Interesse, sondern auch dem Interesse des betroffenen Beamten Rechnung trägt.

Es kann nicht angenommen werden, dass die Anstellungsbehörde durch die Erfordernisse der Fürsorgepflicht als solche daran gehindert wäre, ein Disziplinarverfahren gegen einen Beamten einzuleiten und fortzuführen. Eine solche Entscheidung wird nämlich vor allem im Interesse des Organs daran getroffen, dass etwaige Verstöße eines Beamten gegen seine Dienstpflichten festgestellt und gegebenenfalls geahndet werden. Einem Organ kann daher nicht vorgeworfen werden, dass es seine Fürsorgepflicht verletzt hätte, nur weil es ein Disziplinarverfahren gegen einen Beamten eingeleitet hat.

(vgl. Randnrn. 376 bis 378)

Verweisung auf:

Gericht erster Instanz: 20. Juni 1990, Burban/Parlament, T‑133/89, Slg. 1990, II‑245, Randnr. 27; 6. Juli 1999, Séché/Kommission, T‑112/96 und T‑115/96, Slg. ÖD 1999, I‑A‑115 und II‑623, Randnr. 147

15.    Die Disziplinarbehörden sind nach dem Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung verpflichtet, das Disziplinarverfahren mit Umsicht zu betreiben und jede Verfahrenshandlung in angemessenem zeitlichem Abstand zur vorhergehenden Maßnahme vorzunehmen. Diese Verpflichtung zur Umsicht und zur Einhaltung einer angemessenen Frist gilt auch für die Einleitung des Disziplinarverfahrens, insbesondere im Fall der Erlangung der Kenntnis von Vorgängen und Verhaltensweisen, die Zuwiderhandlungen gegen die Dienstpflichten eines Beamten darstellen können.

Die überlange Dauer eines Disziplinarverfahrens kann sowohl auf die Durchführung der vorherigen Verwaltungsuntersuchungen als auch auf das Disziplinarverfahren selbst zurückzuführen sein. Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Dauer eines Disziplinarverfahrens ist nicht allein auf den Zeitraum abzustellen, der mit der Entscheidung, ein solches Verfahren einzuleiten, beginnt. Bei der Frage, ob das Disziplinarverfahren nach seiner Einleitung mit der gebotenen Umsicht betrieben worden ist, spielt es eine Rolle, dass zwischen dem angeblichen Disziplinarvergehen und der Entscheidung, das Disziplinarverfahren einzuleiten, ein mehr oder weniger langer Zeitraum gelegen hat.

Die Angemessenheit einer Verfahrensdauer ist nach den Umständen jeder einzelnen Rechtssache, insbesondere nach den Interessen, die in dem Rechtsstreit für den Betroffenen auf dem Spiel stehen, nach der Komplexität der Rechtssache sowie nach dem Verhalten des Klägers und dem der zuständigen Behörden, zu beurteilen. Kein bestimmter Faktor ist allein maßgebend. Jeder Faktor ist einzeln zu prüfen; dann ist die gemeinsame Wirkung der Faktoren zu bewerten. Bestimmte Beispiele für eine der Anstellungsbehörde zuzurechnende Verzögerung können bei isolierter Betrachtungsweise nicht als unangemessen erscheinen, wohl aber bei einer Gesamtbetrachtung. Die Erfordernisse in Bezug auf eine umsichtige Verfahrensführung gehen jedoch nicht über das hinaus, was mit dem Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung zu vereinbaren ist.

Hat ein Verfahren wegen von der Anstellungsbehörde getroffener Entscheidungen die gewöhnlich als angemessen anzusehende Dauer überschritten, obliegt es dieser Behörde, das Vorliegen besonderer Umstände darzutun, die diese Überschreitung rechtfertigen können.

(vgl. Randnrn. 390 bis 395)

Verweisung auf:

Gerichtshof: 17. Dezember 1998, Baustahlgewebe/Kommission, C‑185/95 P, Slg. 1998, I‑8417, Randnr. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung; 5. Mai 1983, Ditterich/Kommission, 207/81, Slg. 1983, 1359, Randnr. 26

Gericht erster Instanz: 10. Juni 2004, François/Kommission, T‑307/01, Slg. 2004, II‑1669, Randnr. 47

Gericht für den öffentlichen Dienst: 8. November 2007, Andreasen/Kommission, F‑40/05, Slg. ÖD 2007, I‑A‑1‑337 und II‑A‑1‑1859, Randnr. 194 und die dort angeführte Rechtsprechung, Rechtsmittel anhängig beim Gericht der Europäischen Union, Rechtssache T‑17/08 P