SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MELCHIOR WATHELET
vom 10. September 2015(1)
Rechtssache C‑428/14
DHL Express (Italy) Srl,
DHL Global Forwarding (Italy) SpA
gegen
Autorità Garante della Concorrenza e del mercato
(Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato [Italien])
„Wettbewerbspolitik – Art. 101 AEUV – Kartell – Internationaler Frachtverkehrssektor – Kronzeugenregelung – Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten – Europäisches Wettbewerbsnetz (ECN) – ECN-Kronzeugenregelungsmodell – Frage, ob das ECN-Kronzeugenregelungsmodell die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten bindet – Verhältnis zwischen einem bei der Kommission eingereichten Antrag auf Erlass der Geldbuße und einem bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde gestellten Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße“
I – Einleitung
1. Das vorliegende Vorabentscheidungssuchen, das der Consilgio di Stato (Italien) am 18. September 2014 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingereicht hat, betrifft die Auslegung von Art. 101 AEUV, von Art. 4 Abs. 3 EUV und von Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln(2).
2. Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Tochtergesellschaften der Deutsche Post AG, nämlich der DHL Express (Italy) Srl und der DHL Global Forwarding (Italy) SpA (im Folgenden zusammen: DHL), auf der einen und der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (italienische Wettbewerbs- und Kartellbehörde, im Folgenden: AGCM) auf der anderen Seite.
II – Rechtlicher Rahmen
A – Verordnung Nr. 1/2003
3. Der 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1/2003 lautet:
„Die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten sollen gemeinsam ein Netz von Behörden bilden, die die EG-Wettbewerbsregeln in enger Zusammenarbeit anwenden. Zu diesem Zweck müssen Informations- und Konsultationsverfahren eingeführt werden. Nähere Einzelheiten betreffend die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes werden von der Kommission in enger Abstimmung mit den Mitgliedstaaten festgelegt und überarbeitet.“
4. Art. 11 („Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:
„(1) Die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten arbeiten bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft eng zusammen.
(2) Die Kommission übermittelt den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten eine Kopie der wichtigsten Schriftstücke, die sie zur Anwendung der Artikel 7, 8, 9, 10 und 29 Absatz 1 zusammengetragen hat. Die Kommission übermittelt der Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaates auf Ersuchen eine Kopie anderer bestehender Unterlagen, die für die Beurteilung des Falls erforderlich sind.
(3) Werden die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten aufgrund von Artikel 81 [EG] oder Artikel 82 [EG] tätig, so unterrichten sie hierüber schriftlich die Kommission vor Beginn oder unverzüglich nach Einleitung der ersten förmlichen Ermittlungshandlung. Diese Unterrichtung kann auch den Wettbewerbsbehörden der anderen Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden.
(4) Spätestens 30 Tage vor Erlass einer Entscheidung, mit der die Abstellung einer Zuwiderhandlung angeordnet wird, Verpflichtungszusagen angenommen werden oder der Rechtsvorteil einer Gruppenfreistellungsverordnung entzogen wird, unterrichten die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten die Kommission. Zu diesem Zweck übermitteln sie der Kommission eine zusammenfassende Darstellung des Falls, die in Aussicht genommene Entscheidung oder, soweit diese Unterlage noch nicht vorliegt, jede sonstige Unterlage, der die geplante Vorgehensweise zu entnehmen ist. Diese Informationen können auch den Wettbewerbsbehörden der anderen Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden. Auf Ersuchen der Kommission stellt die handelnde Wettbewerbsbehörde der Kommission sonstige ihr vorliegende Unterlagen zur Verfügung, die für die Beurteilung des Falls erforderlich sind. Die der Kommission übermittelten Informationen können den Wettbewerbsbehörden der anderen Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden. Die einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden können zudem Informationen untereinander austauschen, die zur Beurteilung eines von ihnen nach Artikel 81 [EG] und 82 [EG] behandelten Falls erforderlich sind.
(5) Die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten können die Kommission zu jedem Fall, in dem es um die Anwendung des Gemeinschaftsrechts geht, konsultieren.
(6) Leitet die Kommission ein Verfahren zum Erlass einer Entscheidung nach Kapitel III ein, so entfällt damit die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten für die Anwendung der Artikel 81 [EG] und 82 [EG]. Ist eine Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats in einem Fall bereits tätig, so leitet die Kommission ein Verfahren erst ein, nachdem sie diese Wettbewerbsbehörde konsultiert hat.“
B – Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden(3)
5. In Ziff. 1 der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit innerhalb des ECN heißt es:
„Mit der Verordnung … Nr. 1/2003 … wird ein System paralleler Zuständigkeiten geschaffen, in dessen Rahmen die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten … Artikel [101 AEUV] und Artikel [102 AEUV] anwenden können. Zusammen bilden die nationalen Wettbewerbsbehörden und die Kommission ein Netz von Behörden; diese handeln im öffentlichen Interesse und arbeiten beim Schutz des Wettbewerbs eng zusammen. Das Netz ist ein Diskussions- und Kooperationsforum für die Anwendung und Durchsetzung der EG-Wettbewerbspolitik. Es schafft einen Rahmen für die Zusammenarbeit europäischer Wettbewerbsbehörden in Fällen ..., in denen die Artikel [101 AEUV und 102 AEUV] angewandt werden, und ist die Basis für die Schaffung und Wahrung einer gemeinsamen Wettbewerbskultur in Europa. Dieses Netz wird als ‚Europäisches Wettbewerbsnetz‘ (ECN) bezeichnet.“
6. Ziff. 38 dieser Bekanntmachung lautet:
„In Ermangelung eines gemeinschaftsweiten Systems vollständig harmonisierter Kronzeugenprogramme gilt ein bei einer bestimmten Behörde gestellter Antrag auf Kronzeugenbehandlung nicht als Antrag auf Kronzeugenbehandlung bei einer anderen Behörde. Daher liegt es im Interesse des Antragstellers, bei allen Wettbewerbsbehörden eine Kronzeugenbehandlung zu beantragen, die für die Anwendung von Artikel [101 AEUV] auf dem von der Zuwiderhandlung betroffenen Gebiet zuständig sind und die gut geeignet sein können, gegen die fragliche Zuwiderhandlung vorzugehen … Angesichts der Bedeutung, die bei der Mehrzahl der vorhandenen Kronzeugenprogramme dem Zeitpunkt des Antrags zukommt, müssen die Antragsteller auch in Erwägung ziehen, ob nicht eine gleichzeitige Beantragung von Kronzeugenregelungen bei den in Frage kommenden Behörden angebracht wäre. Es ist Sache des Antragstellers, die Maßnahmen zu ergreifen, die er zum Schutz seiner Position in Bezug auf mögliche Verfahren dieser Behörden für angebracht hält.“
C – ECN-Kronzeugenregelungsmodell
7. Im Rahmen des ECN wurde im Jahr 2006 ein Kronzeugenregelungsmodell (im Folgenden: ECN-Kronzeugenregelungsmodell von 2006) angenommen. Dieses Regelungsmodell, das nicht veröffentlicht wurde und nur in englischer, in französischer und in deutscher Sprache vorliegt, kann auf der Internetseite der Kommission aufgerufen werden(4). Es wurde im Jahr 2012, also nach den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ereignissen einschließlich der streitigen Entscheidung der AGCM, überarbeitet(5) (im Folgenden: ECN-Kronzeugenregelungsmodell von 2012).
8. Rn. 5 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells von 2006, die den Erlass der Geldbuße „Typ 1A“ betrifft, sieht vor:
„Die Wettbewerbsbehörde erlässt einem Unternehmen die Geldbuße, die andernfalls verhängt worden wäre, sofern
a) das Unternehmen als erstes Beweismittel vorlegt, die es der Behörde ihrer Ansicht nach zum Zeitpunkt der Prüfung des Antrags ermöglichen, gezielte Nachprüfungen/Durchsuchungen im Zusammenhang mit einem mutmaßlichen Kartell durchzuführen;
b) der Wettbewerbsbehörde zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht bereits hinreichende Beweise für eine Nachprüfungsentscheidung/das Erwirken einer richterlichen Durchsuchungsanordnung vorlagen oder sie nicht bereits eine Nachprüfung/Durchsuchung im Zusammenhang mit den mutmaßlichen Kartellabsprachen durchgeführt hatte;
c) die Bedingungen für eine Kronzeugenbehandlung erfüllt sind.“
9. Nr. 2 der dem ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 als Anhang beigefügten Erläuterungen ist zu entnehmen, dass „[d]ie Kronzeugenregelungen … die Wettbewerbsbehörden in ihren Anstrengungen unterstützen [sollen], Kartelle aufzudecken und zu beseitigen sowie Sanktionen gegen Kartellbeteiligte zu verhängen. Die Wettbewerbsbehörden gehen davon aus, dass eine aus freien Stücken geleistete Unterstützung bei der Erreichung dieser Ziele einen wesentlichen Beitrag für das wirtschaftliche Wohlergehen sowohl einzelner Mitgliedstaaten als auch des Gemeinsamen Marktes darstellt, der in einigen Fällen (Typ 1A und 1B) den Erlass und in anderen Fällen (Typ 2) die Ermäßigung von Geldbußen rechtfertigt.“
10. In den Rn. 22 bis 25 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells von 2006 geht es um „Kurzanträge in Typ 1A-Fällen“.
11. Nach Rn. 22 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells von 2006 kann „[i]n Fällen, in denen die Kommission zur Verfolgung eines Falls ‚besonders gut geeignet ist‘ im Sinne von [Ziff.] 14 der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit im ECN, … der Antragsteller, der bei der Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbuße gestellt hat oder im Begriff ist, dies zu tun, einen Kurzantrag bei den nationalen Wettbewerbsbehörden stellen, die seiner Auffassung nach auf der Grundlage der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit im ECN ‚gut geeignet‘ sein könnten, sich des Falls anzunehmen. Die Kurzanträge sollten folgende Angaben in Kurzform enthalten:
– Name und Anschrift des Antragstellers;
– die Namen der anderen an dem mutmaßlichen Kartell beteiligten Parteien;
– die betroffenen Produkte;
– die betroffenen Gebiete;
– die Dauer;
– die Art des mutmaßlichen Kartells;
– die Mitgliedstaaten, in denen sich die Beweismittel wahrscheinlich befinden;
– Informationen über seine bisherigen oder etwaigen künftigen Anträge auf Kronzeugenbehandlung im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Kartell.“
12. Rn. 24 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells von 2006 sieht Folgendes vor: „Beschließt eine nationale Wettbewerbsbehörde nach Eingang eines Kurzantrags, bestimmte weitere Informationen anzufordern, sollte der Antragsteller diese Informationen unverzüglich übermitteln. Beschließt eine nationale Wettbewerbsbehörde, sich des Falls anzunehmen, setzt sie eine Frist fest, innerhalb der der Antragsteller die relevanten Beweismittel und Informationen, die zur Erfüllung der Mindestanforderungen erforderlich sind, einreichen muss. Übermittelt der Antragsteller diese Informationen innerhalb der gesetzten Frist, wird davon ausgegangen, dass die Informationen und Beweismittel an dem Tag vorgelegt wurden, an dem der Kurzantrag gestellt wurde.“
D – Nationales Recht
13. Am 15. Februar 2007 erließ die AGCM die Mitteilung über die Nichtfestsetzung und die Ermäßigung von Geldbußen im Sinne von § 15 des Gesetzes Nr. 287/90 (Communicazione sulla non imposizione e sulla riduzione delle sanzioni ai sensi dell’articolo 15 della legge 287/90), die die nationale Kronzeugenregelung enthält (im Folgenden: Mitteilung der AGCM).
14. Art. 16 („Kurzantrag“) dieser Regelung bestimmt:
„In Fällen, in denen die Kommission zur Verfolgung eines Falls und zur Durchführung des Verfahrens besonders gut geeignet ist, kann der Antragsteller, der bei der Kommission bereits einen Antrag auf Verschonung von Sanktionen gestellt hat oder im Begriff ist, dies zu tun, einen entsprechenden Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung bei der [AGCM] stellen, wenn er der Auffassung ist, dass auch diese ‚gut geeignet‘ sein könnte, sich des Falls anzunehmen. Nach Ziff. 14 der Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden ist die Kommission besonders gut geeignet, sich eines Falls anzunehmen, wenn eine oder mehrere Vereinbarungen oder Verhaltensweisen, darunter Netze ähnlicher Vereinbarungen oder Verhaltensweisen, in mehr als drei Mitgliedstaaten Auswirkungen auf den Wettbewerb haben.“
15. Nach Art. 17 dieser Regelung muss „[d]er Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung mit dem Ziel der Verschonung von Sanktionen ... mindestens folgende Angaben enthalten:
a) Name und Anschrift des Antragstellers;
b) Name und Anschrift der anderen an dem Kartell beteiligten Parteien;
c) eine Beschreibung des in Rede stehenden Kartells einschließlich:
– der genauen Angabe der Art des Kartells;
– der Angabe der Waren und Dienstleistungen, die Gegenstand des Kartells sind, dessen räumlichen Umfangs und seiner Dauer;
d) der Angabe der Mitgliedstaaten, in denen sich die Beweismittel für die Zuwiderhandlung wahrscheinlich befinden;
e) Informationen über seine bisherigen oder etwaige künftige Anträge bei anderen Wettbewerbsbehörden auf Kronzeugenbehandlung im Zusammenhang mit derselben Zuwiderhandlung.“
16. Nach Art. 18 dieser Regelung stellt „[d]ie [AGCM] auf Ersuchen des Antragstellers eine Bestätigung über Datum und Uhrzeit des Eingangs des Kurzantrags aus und teilt dem Antragsteller mit, ob es grundsätzlich noch möglich ist, in Bezug auf das fragliche Kartell in den Genuss einer Verschonung von Sanktionen zu gelangen. Hält es die [AGCM] für zweckdienlich, weitere Informationen anzufordern, setzt sie eine Frist, binnen deren der Antragsteller diese Informationen beizubringen hat. Beschließt die [AGCM], sich des Falls anzunehmen, setzt sie eine Frist zur Vervollständigung des Antrags auf Kronzeugenbehandlung, um dem Antragsteller die Möglichkeit zu geben, die in Abs. 3 genannten Informationen und Beweismittel einzureichen. Wird der Antrag innerhalb der von der [AGCM] gesetzten Frist vervollständigt, wird davon ausgegangen, dass er in vollem Umfang an dem Tag vorgelegt wurde, an dem der Kurzantrag gestellt wurde …“.
III – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
17. Am 5. Juni 2007 stellte DHL bei der Europäischen Kommission einen Antrag auf Gewährung eines Markers für die Kronzeugenbehandlung in Anwendung der Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen(6), hier für ein gegen Art. 101 AEUV verstoßendes Kartell im Sektor des internationalen See-, Luft- und Straßenfrachtverkehrs(7).
18. Am 24. September 2007 gewährte die Kommission DHL einen bedingten Erlass der Geldbuße für den gesamten Sektor des internationalen Frachtverkehrs, also für die Sektoren See-, Luft- und Straßenfracht.
19. Am 20. Dezember 2007 machte DHL die Kommission auf einige Punkte aufmerksam, die das Verhalten von Unternehmen im internationalen Straßenfrachtverkehrsektor in Italien betrafen.
20. Die Kommission beschloss jedoch später, nur den Teil des Kartells zu verfolgen, der die Frachtdienste im internationalen Luftverkehr betraf. Mit Beschluss vom 28. März 2012 stellte sie fest, dass mehrere Unternehmen unter Verstoß gegen Art. 101 AEUV über mehrere Jahre hinweg an einem Kartell im Sektor des internationalen Luftfrachtverkehrs teilgenommen hatten(8). Sie ging davon aus, dass die Deutsche Post AG als erstes Unternehmen den Anforderungen von Rn. 8 Buchst. a ihrer Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen genügende Informationen und Beweismittel eingereicht habe, und setzte den Betrag der gegen sie zu verhängenden Geldbuße für die in Rede stehenden Zuwiderhandlungen um 100 % herab.
21. Parallel dazu stellte DHL am 12. Juli 2007 bei der AGCM nach Art. 16 der Mitteilung der AGCM einen Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße. Sie lieferte Informationen über Verhaltensweisen im Sektor des internationalen Frachtverkehrs.
22. Dem Vorabentscheidungsersuchen ist zu entnehmen, dass nach Ansicht der AGCM und der Streithelferinnen, nämlich der Agility Logistics Srl (im Folgenden: Agility) und der Schenker Italiana SpA, einer Tochtergesellschaft der Deutsche Bahn AG (im Folgenden: Schenker), der von DHL gestellte Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße nicht den Sektor des internationalen Straßenfrachtverkehrs betraf.
23. Dagegen vertrat DHL die Auffassung, ihr Kurzantrag vom 12. Juli 2007 habe rechtswidrige Verhaltensweisen auf dem gesamten Markt des internationalen Frachtverkehrs betroffen. Dieser Kurzantrag habe nur deshalb keine konkreten und spezifischen Beispiele von Verhaltensweisen im Straßenfrachtverkehr enthalten, weil zum Zeitpunkt der Antragstellung solche Beispiele noch nicht entdeckt gewesen seien.
24. Am 23. Juni 2008 stellte DHL bei der AGCM in Ergänzung des zunächst am 12. Juli 2007 eingereichten Antrags einen zusätzlichen Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße. DHL gab an, dass „die vorliegende Erklärung … für alle Belange und für alle Zwecke insofern eine bloße Ergänzung der Erklärung vom 12. Juli 2007 [darstellt], als das darin angesprochene spätere Verhalten keine eigene, von der ursprünglichen Erklärung nicht umfasste Zuwiderhandlung darstellt, sondern lediglich ein weiterer Ausdruck der bereits angezeigten Verstöße ist, die als solche von der Kommission bei der dem Unternehmen gewährten Kronzeugenbehandlung berücksichtigt worden sind“.
25. Am 5. November 2007 stellte die Deutsche Bahn AG im eigenen Namen und im Namen u. a. von Schenker bei der Kommission einen Antrag auf Kronzeugenbehandlung, der sich auf Verhaltensweisen im internationalen Seefrachtverkehr bezog. Diese Erklärung wurde am 19. November 2007 dadurch ergänzt, dass die Deutsche Bahn AG/Schenker der Kommission Informationen über das italienische Kartell im Straßenfrachtverkehr zukommen ließ.
26. Am 12. Dezember 2007 stellte Schenker bei der AGCM einen Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung, wobei sie ihr Informationen über das italienische Kartell im Straßenfrachtverkehr zukommen ließ.
27. Am 20. November 2007 stellte Agility im Namen der Unternehmengruppe, der sie angehört, bei der Kommission einen Kurzantrag auf Ermäßigung der Geldbuße.
28. Am 12. Mai 2008 stellte die Agility Logistics International BV, die Muttergesellschaft der Gruppe, der Agility angehört, bei der AGCM auch im Namen der von ihr kontrollierten Unternehmen, darunter Agility, mündlich einen Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung.
29. Mit Entscheidung vom 15. Juni 2011 in der Sache I722 – Internationale Logistik (Verfahren Nr. 22521, im Folgenden: streitige Entscheidung) stellte die AGCM fest, dass mehrere Unternehmen, darunter DHL, Schenker und die Agility Logistics International BV, unter Verstoß gegen Art. 101 AEUV an einem Kartell im Sektor der internationalen Straßenfrachtverkehrsdienste von und nach Italien teilgenommen hatten.
30. In der streitigen Entscheidung ging die AGCM davon aus, dass Schenker das erste Unternehmen gewesen sei, das in Italien einen Antrag auf Erlass der Geldbuße hinsichtlich des Straßenfrachtverkehrs gestellt habe. In Anwendung des nationalen Kronzeugenregelungsmodells wurde gegen Schenker keine Geldbuße verhängt. DHL und Agility wurde hingegen eine gegenüber dem ursprünglichen Betrag um 49 % bzw. 50 % ermäßigte Geldbuße auferlegt.
31. Nach Ansicht der AGCM hatte DHL mit ihrem Antrag vom 12. Juli 2007 einen Erlass der Geldbuße ausschließlich für den Luft- und den Seefrachtverkehr begehrt, da der Antrag hinsichtlich des Straßenfrachtverkehrs erst am 23. Juni 2008 eingereicht worden sei.
32. DHL erhob vor dem Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Italien) (Verwaltungsgericht der Region Latium, im Folgenden: TAR) Klage auf teilweise Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung mit der Begründung, dass ihr auf der Liste für die nationale Kronzeugenregelung und damit für den Erlass der Geldbuße nicht der erste Rang zugeteilt worden sei. Hilfsweise beantragte DHL darüber hinaus die Ermäßigung der mit dieser Entscheidung auferlegten Geldbußen.
33. Nach Auffassung von DHL sind ein bei der Kommission gestellter Antrag und ein bei der AGCM gestellter Kurzantrag aufgrund des Zusammenhangs zwischen den Verfahren zusammen als eine Einheit anzusehen, was sich auf den Rang der Einreichung der Anträge auf Kronzeugenbehandlung auswirke, der auf der zeitlichen Priorität bezogen auf jede einzelne Zuwiderhandlung beruhe. Mit am 18. und 23. Juni 2011 erhobenen Anschlussklagen machten Schenker und Agility geltend, dass die Einbeziehung von DHL in die Kronzeugenregelung rechtswidrig sei. Ihrer Ansicht nach hätte DHL von dieser Regelung ausgeschlossen werden müssen, da sie ihrer Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit der AGCM nicht nachgekommen sei.
34. Das TAR wies die Klage von DHL mit der Begründung ab, es existiere ein Grundsatz der Eigenständigkeit und der Unabhängigkeit zwischen den verschiedenen Kronzeugenregelungen der Kommission und der AGCM. DHL hat das Urteil des TAR vor dem Consiglio di Stato angefochten.
35. Der Consiglio di Stato hält es für erforderlich, den Gerichtshof zu befragen, ob die ECN‑Kronzeugenregelungsmodelle von 2006 und von 2012 für die nationalen Wettbewerbsbehörden bindend sind, und insbesondere, ob der vom Gerichtshof im Urteil Pfleiderer (C‑360/09, EU:C:2011:389) aufgestellte Grundsatz, dass diese Regelungen keine rechtsverbindliche Wirkung gegenüber den Gerichten der Mitgliedstaaten haben, auch für die nationalen Wettbewerbsbehörden gilt. Er fragt weiter nach einem etwaigen rechtlich relevanten Zusammenhang zwischen einem bei der Kommission gestellten Antrag auf Erlass der Geldbuße und einem bei nationalen Wettbewerbsbehörden gestellten Kurzantrag. Schließlich möchte das vorlegende Gericht wissen, ob vor der Veröffentlichung des ECN-Kronzeugenregelungsmodells von 2012 das Verhalten der AGCM rechtmäßig war, den Unternehmen, die bei der Kommission einen Antrag auf Ermäßigung Geldbuße gestellt hatten, zu gestatten, Kurzanträge auf Erlass der Geldbuße zu stellen.
36. Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art. 101 AEUV, Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 11 der Verordnung Nr. 1/2003 dahin auszulegen, dass
i) die nationalen Wettbewerbsbehörden in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens in ihrer Anwendungspraxis nicht von den Instrumenten abweichen dürfen, die vom Europäischen Wettbewerbsnetz definiert und beschlossen wurden, insbesondere nicht vom Kronzeugenregelungsmodell, ohne den Feststellungen des Gerichtshofs der Europäischen Union in den Rn. 21 und 22 des Urteils Pfleiderer (C‑360/09, EU:C:2011:389) zuwiderzuhandeln;
ii) zwischen dem Hauptantrag auf Erlass der Geldbuße, den ein Unternehmen bei der Kommission eingereicht hat bzw. im Begriff ist einzureichen, und dem Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße, den es für dasselbe Kartell bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingereicht hat, ein rechtlicher Zusammenhang derart besteht, dass die nationale Wettbewerbsbehörde – ungeachtet der Bestimmung in Ziff. 38 der Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden – nach Rn. 22 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells von 2006 (jetzt Rn. 24 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells von 2012) und der dazugehörigen Erläuterung Nr. 45 (jetzt Erläuterung Nr. 49 zum ECN-Kronzeugenregelungsmodell von 2012) verpflichtet ist: a) den Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße im Licht des Hauptantrags dahin zu prüfen, ob er genau dem Inhalt des Hauptantrags entspricht; b) hilfsweise – falls sie zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass der eingegangene Kurzantrag einen engeren inhaltlichen Umfang als der Hauptantrag des Unternehmens hat, auf dessen Grundlage die Kommission einen bedingten Geldbußenerlass gewährt hat – die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren, um sich zu vergewissern, ob das Unternehmen nach Einreichung des Kurzantrags infolge seiner internen Untersuchungen konkrete und spezifische Beispiele für Verhaltensweisen in dem Bereich festgestellt hat, der angeblich vom Hauptantrag auf Erlass der Geldbuße, nicht aber vom Kurzantrag umfasst ist;
iii) nach den Rn. 3 und 22 bis 24 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells von 2006 und den dazugehörigen Erläuterungen Nrn. 8, 41, 45 und 46 sowie unter Berücksichtigung der Änderungen durch die Rn. 24 bis 26 des ECN-Kronzeugenregelungsmodells von 2012 und die dazugehörigen Erläuterungen Nrn. 44 und 49 eine nationale Wettbewerbsbehörde, die zu dem für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitpunkt eine Kronzeugenregelung wie jene des Ausgangsverfahrens anwendete, für ein bestimmtes geheimes Kartell, für das das erste Unternehmen bei der Kommission einen Hauptantrag auf Erlass der Geldbuße gestellt hat bzw. im Begriff ist zu stellen, befugt war, Folgendes entgegenzunehmen: a) nur einen Kurzantrag dieses Unternehmens auf Erlass der Geldbuße oder b) auch nachfolgende Kurzanträge anderer Unternehmen, die bei der Kommission in erster Linie einen „unzulässigen“ Antrag auf Erlass der Geldbuße oder einen Antrag auf Ermäßigung der Geldbuße gestellt hatten, insbesondere wenn die Hauptanträge dieser Unternehmen gestellt wurden, nachdem dem ersten Unternehmen ein bedingter Erlass der Geldbuße gewährt worden war?
IV – Verfahren vor dem Gerichtshof
37. Schriftliche Erklärungen haben DHL, Schenker, Agility, die italienische, die deutsche, die französische und die österreichische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission eingereicht. Mit Ausnahme der deutschen und der österreichischen Regierung haben sie alle in der Sitzung vom 9. Juli 2014 mündliche Ausführungen gemacht.
A – Zur ersten Vorlagefrage
38. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht unter Bezugnahme auf die Rn. 21 und 22 des Urteils Pfleiderer (C‑360/09, EU:C:2011:389) wissen, ob die Handlungen des ECN, insbesondere sein Kronzeugenregelungsmodell von 2006, die nationalen Wettbewerbsbehörden binden oder ob diese vielmehr nicht zur Anwendung der vom ECN definierten und beschlossenen Instrumente verpflichtet sind(9).
39. Mit Ausnahme von DHL sind alle Parteien der Meinung, dass das Kronzeugenregelungsmodell von 2006 die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht bindet.
40. Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Rn. 22 des Urteils Pfleiderer (C‑360/09, EU:C:2011:389) entschieden hat, dass das Kronzeugenregelungsmodell von 2006 keine verbindliche Wirkung gegenüber den Gerichten der Mitgliedstaaten(10) habe. Er hat darüber hinaus festgestellt, dass die Mitteilungen der Kommission zum einen über die Zusammenarbeit innerhalb des ECN(11) und zum anderen über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen(12) zwar Auswirkungen auf die Praxis der nationalen Wettbewerbsbehörden haben könnten(13), dass aber weder die Wettbewerbsregeln des AEU-Vertrags noch die Verordnung Nr. 1/2003 eine gemeinsame Kronzeugenregelung vorsähen(14).
41. Meiner Meinung nach sind die Handlungen des ECN, darunter sein Kronzeugenregelungsmodell von 2006, auch für die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht bindend.
42. Zunächst ist festzustellen, dass nach Art. 35 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 „[z]u den [von den Mitgliedstaaten für die Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV] bestimmten [nationalen Wettbewerbsbehörden] … auch Gerichte gehören [können]“. Folglich sind in Anwendung des Urteils Pfleiderer (C‑360/09, EU:C:2011:389) die Handlungen des ECN, darunter sein Kronzeugenregelungsmodell von 2006 für die nationalen Wettbewerbsbehörden, soweit sie Gerichte der Mitgliedstaaten sind, nicht bindend. Art. 5 der Verordnung Nr. 1/2003, der die Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden betrifft, sieht vor, dass diese für die Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV in Einzelfällen zuständig sind, und führt die Entscheidungen auf, die sie erlassen können. Da diese Bestimmung nicht danach unterscheidet, ob die nationalen Wettbewerbsbehörden verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Charakter haben, wäre es meines Erachtens inkohärent, wenn die Handlungen des ECN für die nationalen Wettbewerbsbehörden mit verwaltungsbehördlichem Charakter bindend wären, für die nationalen Wettbewerbsbehörden mit gerichtlichem Charakter jedoch nicht.
43. Außerdem geht aus Ziff. 1 der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit innerhalb des ECN eindeutig hervor, dass dieses Netz ein Diskussions- und Kooperationsforum für die Anwendung und Durchsetzung der Wettbewerbspolitik der Union ist und u. a. einen Rahmen für die Zusammenarbeit europäischer Wettbewerbsbehörden in Fällen schaffen soll, in denen die Art. 101 AEUV und 102 AEUV angewandt werden. Folglich kann das ECN, das nicht mit legislativen Befugnissen ausgestattet ist, keine die nationalen Wettbewerbsbehörden bindenden Handlungen vornehmen. Diese sind daher nicht zur Anwendung der vom ECN definierten und beschlossenen Instrumente(15) verpflichtet.
44. Die Tatsache, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden sich insoweit förmlich verpflichtet haben(16), die Grundsätze der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit innerhalb des ECN einzuhalten, ändert weder etwas an dessen Charakter als Diskussions- und Kooperationsforum noch an der fehlenden Rechtsverbindlichkeit seiner Handlungen. Was darüber hinaus konkret das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell betrifft, ergibt sich gerade aus seiner Bezeichnung als „Regelungsmodell“ wie auch aus seinem Inhalt, dass es rein programmatischen Charakter hat(17). Erklärtes Ziel des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 ist es nämlich, die nationalen Wettbewerbsbehörden zu veranlassen, dieses Modell bei der etwaigen Annahme und Anwendung einer nationalen Kronzeugenregelung(18) zu berücksichtigen, ohne sie jedoch zu verpflichten, sich daran zu halten(19). Mit anderen Worten soll das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 mit Mitteln des „soft-law“ die freiwillige Angleichung etwaiger Kronzeugenregelungen der Mitgliedstaaten(20) auf dem Gebiet des Wettbewerbs fördern.
45. Im Übrigen sind die nationalen Wettbewerbsbehörden weder nach Art. 101 AEUV oder der Verordnung Nr. 1/2003 noch aufgrund ihrer Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet, Kronzeugenregelungen einzuführen. Führt jedoch ein Mitgliedstaat eine Kronzeugenregelung ein(21), sei sie nun auf das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 gestützt oder nicht, muss er das Unionsrecht beachten und dafür sorgen, dass die Vorschriften, die er erlässt oder anwendet, die wirksame Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV nicht beeinträchtigen(22).
46. Schließlich richten sich die Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gemäß ihrem Art. 51 Abs. 1 an die Mitgliedstaaten, wenn sie das Recht der Union ausführen. Folglich sind die Mitgliedstaaten und auch ihre nationalen Wettbewerbsbehörden an die Charta und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts gebunden, wenn sie die Art. 101 AEUV und 102 AEUV ausführen. Erlässt eine nationale Wettbewerbsbehörde eine Kronzeugenregelung, die grundsätzlich geeignet ist, Rechtswirkungen zu entfalten, muss sie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, u. a. das Diskriminierungsverbot, die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes(23) sowie das Recht auf eine gute Verwaltung, beachten(24).
47. Nach alledem hat das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 für die nationalen Wettbewerbsbehörden keine bindende Wirkung. Erlässt jedoch ein Mitgliedstaat eine Kronzeugenregelung, sei sie nun auf das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 gestützt oder nicht, muss er das Unionsrecht beachten und speziell auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts dafür sorgen, dass die Vorschriften, die er erlässt oder anwendet, die wirksame Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV nicht beeinträchtigen. Außerdem sind die Mitgliedstaaten und auch ihre nationalen Wettbewerbsbehörden an die Charta und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts gebunden, wenn sie die Art. 101 AEUV und 102 AEUV ausführen. Erlässt eine nationale Wettbewerbsbehörde eine Kronzeugenregelung, die grundsätzlich geeignet ist, Rechtswirkungen zu entfalten, muss diese Regelung daher die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, u. a. das Diskriminierungsverbot, die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie das Recht auf eine gute Verwaltung, beachten.
B – Zur zweiten Vorlagefrage
48. In der zweiten Vorlagefrage geht es darum, ob „zwischen dem Hauptantrag auf Erlass der Geldbuße, den ein Unternehmen bei der Kommission eingereicht hat bzw. im Begriff ist einzureichen, und dem Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße, den es für dasselbe Kartell bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingereicht hat“(25), ein rechtlicher Zusammenhang besteht.
1. Zur Zulässigkeit der Teilfrage a der zweiten Vorlagefrage
49. Mit der Teilfrage a seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Einzelnen wissen, ob ein bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde gestellter Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße im Licht eines bei der Kommission gestellten Hauptantrags darauf hin zu prüfen ist, „ob er genau dem Inhalt des [bei der Kommission gestellten] Hauptantrags entspricht“(26).
50. Die französische Regierung hält die Teilfrage a der zweiten Vorlagefrage für hypothetisch und daher unzulässig. Dem Vorabentscheidungsersuchen und der dem Gerichtshof vorliegenden Akte sei nämlich zu entnehmen, dass im Ausgangsverfahren der Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße, den DHL bei der AGCM gestellt habe, nicht genau dem Inhalt ihres bei der Kommission gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße entspreche.
51. Es spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Er kann die Entscheidung über die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(27).
52. Aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt sich, dass DHL am 5. Juni 2007 bei der Kommission einen Antrag auf Gewährung eines Markers für die Kronzeugenbehandlung wegen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht der Union in den Sektoren des internationalen See-, Luft- und Straßenfrachtverkehrs gestellt hat, während es nach der streitigen Entscheidung bei dem von DHL am 12. Juli 2007 bei der AGCM gestellten Antrag nur um den internationalen See- und Luftfrachtverkehr ging und er den internationalen Straßenfrachtverkehr nicht betraf.
53. Dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge machte DHL geltend, dass ihr bei der AGCM gestellter Kurzantrag vom 12. Juli 2007 nur deshalb keine konkreten und spezifischen Beispiele rechtswidriger Verhaltensweisen im Straßenverkehrssektor in Italien enthalten habe, weil zum Zeitpunkt der Antragstellung solche Beispiele noch nicht entdeckt gewesen seien. Die AGCM sei aber – so DHL – gleichwohl verpflichtet gewesen, ihren Kurzantrag unter Berücksichtigung seines Zusammenhangs mit dem bei der Kommission gestellten Antrag auf Erlass der Geldbuße auszulegen.
54. Der Ausgangsrechtsstreit geht, zumindest teilweise, auf diesen Unterschied zwischen der Reichweite des von DHL bei der Kommission gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße und der in der streitigen Entscheidung angenommenen Reichweite des von DHL bei der AGCM gestellten Kurzantrags sowie auf den Beschluss der Kommission zurück, nur den Teil des Kartells zu verfolgen, der die Frachtdienste im internationalen Luftverkehr betraf.
55. Meines Erachtens geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht eindeutig hervor, dass diese unterschiedliche Tatsachenwürdigung von den italienischen Gerichten abschließend geklärt worden wäre. In der Sitzung vom 9. Juli 2015 hat die italienische Regierung im Übrigen bestätigt, dass das vorlegende Gericht in dem bei ihm anhängigen Rechtsmittelverfahren die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung habe. Daher bin ich der Meinung, dass die mit der Teilfrage a der zweiten Vorlagefrage erbetene Auslegung des Unionsrechts für das vorlegende Gericht nicht ohne Nutzen ist.
2. Zu der Frage
56. Ich halte es für angebracht, die Teilfragen a und b der zweiten Vorlagefrage zusammen zu beantworten.
57. DHL macht geltend, dass ein Kurzantrag im Wesentlichen der „Annex“ und die Verankerung des bei der Kommission gestellten Hauptantrags auf nationaler Ebene sei. Den Kurzantrag losgelöst von dem Gesamtzusammenhang zu betrachten, in dem er gestellt werde, wie es die AGCM in der streitigen Entscheidung tue, führe zu einer Verfälschung seiner Funktion. Da der Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße nicht mehr als eine knappe Darstellung des der Kommission angezeigten Kartells sein müsse, sei er im Licht des Hauptantrags zu bewerten, sofern er genau dessen Inhalt entspreche. Sie behauptet nicht, dass ihr auf nationaler Ebene gestellter Antrag und ihr Hauptantrag auf Unionsebene formal und inhaltlich identisch seien; es handele sich erkennbar um zwei verschiedene, ihrer Art nach aber eng miteinander zusammenhängende Anträge, da es den Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße nur geben könne, wenn ein Hauptantrag auf Erlass der Geldbuße vorliege.
58. Wie alle übrigen Verfahrensbeteiligten, die Erklärungen eingereicht haben, teile ich den von DHL vertretenen Standpunkt nicht.
a) Nationales Recht
59. Es sei nochmals betont, dass das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006, einschließlich seiner Rn. 22, die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht bindet und dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, ein System für Kurzanträge auf Erlass der Geldbuße einzurichten. Führt jedoch eine nationale Wettbewerbsbehörde ein System für Kurzanträge ein, hat sie gemäß meiner Antwort auf die erste Frage das Unionsrecht, insbesondere Art. 101 AEUV, die Bestimmungen der Charta und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts zu beachten.
60. Der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ist zu entnehmen, dass die AGCM ein System für Kurzanträge auf Erlass der Geldbuße eingerichtet hat, das weitgehend auf dem ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006, insbesondere dessen Rn. 22, beruht(28). Darüber hinaus hat es den Anschein, dass, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, Art. 17 der Mitteilung der AGCM dem Antragsteller u. a. die „Angabe der Waren und Dienstleistungen, die Gegenstand des Kartells sind, dessen räumlichen Umfangs und seiner Dauer“ auferlegt.
61. Ebenfalls unter dem Vorbehalt der Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheint die Mitteilung der AGCM diese nicht zu verpflichten, „die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren, um sich zu vergewissern, ob das Unternehmen nach Einreichung des Kurzantrags infolge seiner internen Untersuchungen konkrete und spezifische Beispiele für Verhaltensweisen in dem Bereich festgestellt hat, der angeblich vom Hauptantrag auf Erlass der Geldbuße, nicht aber vom Kurzantrag umfasst ist“(29).
62. Das vorlegende Gericht möchte jedoch genauer wissen, ob eine nationale Wettbewerbsbehörde nach dem Unionsrecht verpflichtet ist, den bei ihr gestellten Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung im Licht des bei der Kommission „für dasselbe Kartell“ gestellten Antrags auf Kronzeugenbehandlung zu prüfen und unter bestimmten Umständen die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren.
b) Ziff. 38 der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit innerhalb des ECN
63. Entsprechend meiner Antwort auf die erste Frage bin ich der Ansicht, dass über die Tatsache hinaus, dass das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 für die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht rechtsverbindlich ist, aus Ziff. 38 der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit innerhalb des ECN klar hervorgeht, dass in Ermangelung eines zentralisierten und vereinheitlichten Kronzeugenregelungssystems ein bei der Kommission gestellter Antrag auf Kronzeugenbehandlung nicht als Antrag auf Kronzeugenbehandlung bei einer nationale Wettbewerbsbehörde angesehen werden kann(30).
64. Folglich gibt es im Wettbewerbsrecht der Union weder für die Behandlung von Anträgen auf Kronzeugenbehandlung noch gar, wie die Kommission in der Sitzung vom 9. Juli 2015 ausgeführt hat, für den automatischen Austausch dieser Anträge zwischen den nationalen Wettbewerbsbehörden und der Kommission gemäß Art. 11 der Verordnung Nr. 1/2003 eine „zentrale Ankaufstelle“ (oder einen „one-stop-shop“).
65. Um seine Position in einem etwaigen von diesen Behörden eingeleiteten Verfahren zu schützen, muss der Antragsteller bei allen Wettbewerbsbehörden eine Kronzeugenbehandlung beantragen, die für die Anwendung von Art. 101 AEUV in dem von der Zuwiderhandlung betroffenen Gebiet zuständig sind und die gut geeignet sein können, gegen diese Zuwiderhandlung vorzugehen. Denn „[e]s ist Sache des Antragstellers, die Maßnahmen zu ergreifen, die er zum Schutz seiner Position in Bezug auf mögliche Verfahren dieser Behörden für angebracht hält“(31).
66. Ziff. 38 der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit innerhalb des ECN bringt demnach einen Grundsatz der Eigenständigkeit und der Unabhängigkeit der verschiedenen Kronzeugenregelungen der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden sowie der entsprechenden Anträge zum Ausdruck.
c) Rn. 1 und 22 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 und Nr. 45 der diesem als Anhang beigefügten Erläuterungen
67. Zunächst weise ich darauf hin, dass nach Rn. 1 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 „[i]n einem System paralleler Zuständigkeiten der Kommission und der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden … ein bei einer bestimmten Behörde gestellter Antrag auf Kronzeugenbehandlung … nicht als Antrag auf Kronzeugenbehandlung bei einer anderen Behörde [gilt]. Daher liegt es im Interesse des Antragstellers, bei allen Wettbewerbsbehörden, die für die Anwendung von [Art. 101 AEUV] in dem von der Zuwiderhandlung betroffenen Gebiet zuständig sind … und ggf. als gut geeignet angesehen werden, gegen die fragliche Zuwiderhandlung vorzugehen, eine Kronzeugenbehandlung beantragen“(32).
68. Da die Verpflichtung des Antragstellers, bei allen zuständigen Wettbewerbsbehörden eine Kronzeugenbehandlung zu beantragen, zu mehreren parallelen Anträgen auf Kronzeugenbehandlung führen kann, befürwortet Rn. 22 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 ein einheitliches System für Kurzanträge, um die Belastung durch diese Mehrfachanträge für Unternehmen und die nationalen Wettbewerbsbehörden zu reduzieren(33).
69. Nach Rn. 22 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 kann ein Antragsteller ferner dann, wenn er bei der Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbuße gestellt hat oder im Begriff ist, dies zu tun, einen Kurzantrag mit bestimmten Angaben in Kurzform bei den nationalen Wettbewerbsbehörden stellen, die seiner Auffassung nach „gut geeignet“ sein können, sich des Falls anzunehmen. „Durch das Stellen eines Kurzantrags schützt der Antragsteller seinen Rang als erstes Unternehmen bei der mit dem mutmaßlichen Kartell befassten Wettbewerbsbehörde.“(34)
70. Darüber hinaus listet Rn. 22 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 die Angaben auf, die Kurzanträge enthalten „sollten“(35). Diese Liste umfasst Angaben zum Umfang des fraglichen Kartells sowie „Informationen [des Antragstellers] über seine bisherigen oder etwaigen künftigen Anträge auf Kronzeugenbehandlung im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Kartell“.
71. Aus Nr. 45 der dem ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 als Anhang beigefügten Erläuterungen geht hervor, dass mit diesen Angaben bezweckt wird, der nationalen Wettbewerbsbehörde erstens die Entscheidung zu ermöglichen, ob sie sich des Falls annehmen will, und zweitens die Feststellung, ob der Antragsteller den in Rn. 5 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 vorgesehenen Typ-1A-Kriterien entspricht(36).
72. Zwar setzt die Stellung eines Kurzantrags bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde die vorherige oder anschließende Stellung eines Antrags auf Erlass der Geldbuße bei der Kommission voraus(37) und sieht das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 eine (vorübergehende) Erleichterung hinsichtlich der Informationen und Beweise vor, die ein Antragsteller einer nationalen Wettbewerbsbehörde vorzulegen hat, doch lässt diese Regelung keinerlei rechtlichen Zusammenhang zwischen dem bei der Kommission gestellten Antrag auf Erlass der Geldbuße und dem Kurzantrag bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde erkennen(38).
73. Der bei der Kommission gestellte Antrag und der Kurzantrag bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde sind nämlich eigenständige Anträge, da aus Rn. 22 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 und der dem Antragsteller auferlegten Verpflichtung, Informationen u. a. zu dem oder den betroffenen Produkten und Gebieten zu liefern, eindeutig hervorgeht, dass es allein Sache des Antragstellers ist, die Grenzen der Reichweite seines Kurzantrags korrekt zu bestimmen.
74. Daher genügt zwar im Rahmen des Kurzantrags insbesondere zum Umfang des in Rede stehenden Kartells eine begrenzte Information, doch muss sie hinreichend präzise sein, um den Schutz des Antragstellers und seinen Rang in der Reihenfolge des Eingangs der Anträge auf Erlass der Geldbuße in dem Fall zu gewährleisten, in dem, wie im Ausgangsverfahren, die Kommission beschließt, auf der Grundlage des bei ihr gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße nicht tätig zu werden. Hierbei ist zu unterstreichen, dass der Antragsteller, wird der Umfang des im Kurzantrag angesprochenen Kartells nicht hinreichend präzise angegeben, Gefahr läuft, seinen Rang in der Reihenfolge des Eingangs der Anträge auf Kronzeugenbehandlung bei der nationalen Wettbewerbsbehörde zu verlieren, was nach der streitigen Entscheidung die Situation von DHL zu sein scheint(39).
75. Folglich ist eine nationale Wettbewerbsbehörde unabhängig von der Frage, ob der bei ihr gestellte Kurzantrag genau dem Inhalt des bei der Kommission gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße entspricht, nicht verpflichtet, den Kurzantrag im Licht des bei der Kommission gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße zu prüfen, und zwar selbst dann nicht, wenn sie über Informationen zu weiteren Anträgen auf Kronzeugenbehandlung für dasselbe Kartell gemäß Rn. 22 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 verfügt.
76. Zwar können sich nämlich die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden – auch im Rahmen von Anträgen auf Kronzeugenbehandlung(40) – über die innerhalb des ECN gesammelten Informationen austauschen(41), doch ist es nicht Sache der nationalen Wettbewerbsbehörde(42), falls sie zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass der Kurzantrag einen engeren inhaltlichen Umfang hat als der von demselben Unternehmen bei der Kommission gestellte Antrag, die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren, um sich zu vergewissern, ob das Unternehmen nach Einreichung des Kurzantrags infolge seiner internen Untersuchungen konkrete und spezifische Beispiele für Verhaltensweisen in dem Bereich festgestellt hat, der angeblich vom Hauptantrag auf Erlass der Geldbuße, nicht aber vom Kurzantrag umfasst ist“(43).
77. Mit der österreichischen Regierung bin ich der Meinung, dass eine Verpflichtung der nationalen Wettbewerbsbehörden, den Kurzantrag mit dem bei der Kommission gestellten Antrag abzugleichen, „der erklärten Absicht der im ECN versammelten Behörden widersprechen [würde], keinen ‚one-stop-shop‘ für Kronzeugenanträge innerhalb der EU einzurichten und die Autonomie der einzelnen Kronzeugenprogramme zu erhalten“. Die Tatsache, dass der Antragsteller in Anwendung von Rn. 22 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 bei der Einreichung seines Kurzantrags „Informationen über seine bisherigen oder etwaigen künftigen Anträge auf Kronzeugenbehandlung im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Kartell“ liefern muss, verpflichtet meines Erachtens die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht zur Prüfung des Kurzantrags anhand des bei der Kommission gestellten Antrags.
78. Den nationalen Wettbewerbsbehörden eine Verpflichtung aufzuerlegen, unter den in der zweiten Vorlagefrage genannten Umständen die Kommission oder das fragliche Unternehmen zu kontaktieren, liefe zudem nicht nur dem Grundsatz der Eigenständigkeit und der Unabhängigkeit der Kronzeugenregelungen in der Union zuwider, sondern könnte darüber hinaus die Verpflichtung der Antragsteller auf Kronzeugenbehandlung zur Zusammenarbeit, die einer der Pfeiler des Kronzeugensystems ist, in ungebührlicher Weise abschwächen. Außerdem würde jeder Verstoß gegen diese Verpflichtung zur Zusammenarbeit die Gefahr heraufbeschwören, die den Anträgen auf Kronzeugenbehandlung zuerkannte Reihenfolge beim Eingang zu beeinflussen und dementsprechend unter Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot, gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie gegen das Recht auf gute Verwaltung anderen Antragstellern, die wegen desselben Kartells Kronzeugenbehandlung beantragt haben, Schaden zuzufügen.
d) Die Rn. 13 und 22 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006
79. Es liegt auf der Hand, dass die Effizienz der Kronzeugenregelungen der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden vor allem auf der Verpflichtung der Antragsteller auf Kronzeugenbehandlung beruht, gemäß Rn. 13 Abs. 2 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 „ab dem Zeitpunkt der Antragstellung bis zum Abschluss des Falls, ernsthaft, uneingeschränkt und kontinuierlich mit der Wettbewerbsbehörde [zusammenzuarbeiten]“(44)
80. Nach Rn. 24 dieses Regelungsmodells muss das Unternehmen, das einen Kurzantrag gestellt hat, nämlich nach Aufforderung durch die nationale Wettbewerbsbehörde weitere Informationen und, wenn diese „[b]eschließt …, sich des Falls anzunehmen, … die relevanten Beweismittel und Informationen, die zur Erfüllung der Mindestanforderungen erforderlich sind, einreichen“.
81. Ich schließe mich daher den von der französischen Regierung in der Sitzung abgegebenen Erklärungen an, wonach es allein Sache des Unternehmens, das einen Kurzantrag gestellt hat, ist, der nationalen Wettbewerbsbehörde jede sachdienliche Information zu übermitteln. Nach Einreichung des Kurzantrags gelieferte Informationen, beispielsweise durch Einbeziehung eines weiteren Sektors(45), können allerdings am inhaltlichen Umfang dieses Antrags nichts mehr ändern; für diesen Sektor wird daher bei der Reihenfolge des Eingangs der Anträge auf Kronzeugenbehandlung nicht derselbe Rang gelten können wie für die vom Kurzantrag betroffenen Sektoren.
82. Demnach legt das Unionsrecht zwischen dem Antrag auf Erlass der Geldbuße, den ein Unternehmen bei der Kommission gestellt hat bzw. im Begriff ist zu stellen, und dem bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde für dasselbe Kartell eingereichten Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße keinen rechtlichen Zusammenhang fest, der eine nationale Wettbewerbsbehörde verpflichtete, gemäß Rn. 22 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 und Nr. 45 der dem ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 als Anhang beigefügten Erläuterungen den bei ihr eingereichten Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße im Licht des bisherigen oder künftigen Antrags bei der Kommission zu prüfen oder die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren, um festzustellen, ob das Unternehmen nach Einreichung des Kurzantrags konkrete und spezifische Beispiele für Verhaltensweisen in dem Bereich festgestellt hat, der von dem bei der Kommission eingereichten Antrag auf Erlass der Geldbuße, nicht aber vom Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße umfasst sein soll.
C – Zur dritten Vorlagefrage
83. Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob nach dem ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 eine nationale Wettbewerbsbehörde in Anwendung ihrer nationalen Kronzeugenregelung und für ein Kartell, für das ein erstes Unternehmen bei der Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbuße gestellt hatte bzw. im Begriff war zu stellen, einen Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung nur dieses Unternehmens entgegennehmen oder ob sie auch die Anträge anderer Unternehmen entgegennehmen darf.
1. Zur Zulässigkeit
84. Die italienische und die österreichische Regierung halten die vom vorlegenden Gericht gestellte dritte Vorabentscheidungsfrage für unzulässig, weil sie nicht auf eine Auslegung des Unionsrechts, sondern auf die Auslegung nationalen Rechts gerichtet sei, nämlich die Tragweite der mit der Mitteilung der AGCM eingeführten Kronzeugenregelung. Nach Ansicht von Schenker ist die dritte Frage unzulässig, wenn der Gerichtshof davon ausgehen sollte, dass das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 nicht rechtsverbindlich ist.
85. Meines Erachtens ist die dritte Frage zulässig. Es ist darauf hinzuweisen, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, sich im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV zur Auslegung des innerstaatlichen Rechts zu äußern oder seine Wirkungen zu würdigen, da diese Aufgabe allein dem vorlegenden Gericht oder gegebenenfalls den zuständigen nationalen Gerichten zukommt. Aus dem Wortlaut der dritten Frage, den Akten und den Erörterungen vor dem Gerichtshof ergibt sich, dass die dritte Frage auf die Auslegung des Unionsrechts gerichtet ist, selbst wenn darin auch auf das nationale Recht, nämlich die nationale Kronzeugenregelung, Bezug genommen wird. In der vorliegenden Rechtssache hat der Gerichtshof daher die Aufgabe, seine Prüfung auf die unionsrechtlichen Bestimmungen zu beschränken und dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Auslegung zu geben. Im Übrigen steht die Tatsache, dass das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 nach meiner Meinung nicht rechtsverbindlich ist, der Anwendung anderer Vorschriften des Unionsrechts im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht entgegen.
2. Zu der Frage
86. Die dritte Frage geht meines Erachtens darauf zurück, dass die Rn. 22 und 25 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 die Einreichung von Kurzanträgen auf Erlass der Geldbuße bei den nationalen Wettbewerbsbehörden nur in Typ 1A-Fällen und nur dann vorsehen, wenn das Unternehmen bei der Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbuße gestellt hat oder im Begriff ist, dies zu tun(46). Folglich sieht diese Regelung namentlich dann keine Kurzanträge vor, wenn ein Unternehmen bei der Kommission und/oder der nationalen Wettbewerbsbehörde nur eine Ermäßigung der Geldbuße beantragt. Das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2012 hat insoweit die Zahl der Fälle, in denen bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde ein Kurzantrag gestellt werden kann, erheblich ausgeweitet(47).
87. Art. 16 der Mitteilung der AGCM lässt nach Ansicht von DHL insoweit die Einreichung eines Kurzantrags nur durch ein Unternehmen zu, das zuvor bei der Kommission einen Antrag auf Verschonung von Sanktionen gestellt hatte bzw. im Begriff war, dies zu tun. Dieser Bestimmung sei zu entnehmen, dass ein Kurzantrag nur zulässig sei, wenn er als Antrag auf Erlass der Geldbuße gestellt werde, und dass unter den im Ausgangsverfahren gegebenen Umständen die Kurzanträge von Schenker und Agility diese Voraussetzung nicht erfüllten und daher ihre Einreichung bei der AGCM deren Position auf nationaler Ebene nicht schützen könnten. Da sie, DHL, bei der Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbuße gestellt habe, hätten „die anderen Unternehmen, die – wie im vorliegenden Fall Schenker und Agility – der Kommission ihre Zusammenarbeit erst später anboten, ... ihre Position auf nationaler Ebene eventuell nur durch Einreichung von Hauptanträgen auf Ermäßigung der Geldbußen bei der betreffenden nationalen Wettbewerbsbehörde schützen [können], da … diese Ermäßigung zu diesem Zeitpunkt nur in Form eines Kurzantrags beantragt werden konnte. Daraus folgt, dass die Einreichung der regulären Anträge auf Kronzeugenbehandlung von Schenker und Agility bei der [AGCM] zutreffenderweise auf den Tag datiert werden muss, an dem die jeweiligen Kurzanträge fertiggestellt waren, also auf den 11. Juli 2009 für Schenker bzw. den 11. Januar 2010 für Agility. In beiden Fällen liegt dieses Datum nach dem 23. Juni 2008, dem Zeitpunkt der Einreichung des ergänzenden Kurzantrags von DHL, der nach Auffassung der [AGCM] den ersten und einzigen Antrag auf günstigere Behandlung der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens betreffend den internationalen Straßenfrachtverkehr enthielt.“(48)
88. Wie bereits dargelegt, bindet weder das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 noch im Übrigen dasjenige von 2012 die nationalen Wettbewerbsbehörden. Außerdem trifft zu, dass das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 die Stellung von Kurzanträgen auf Erlass der Geldbuße bei den nationalen Wettbewerbsbehörden nur in den Typ 1A-Fällen vorsieht, doch geht aus Rn. 3 dieser Regelung eindeutig hervor, dass nationale Wettbewerbsbehörden den eine Kronzeugenbehandlung beantragenden Unternehmen eine günstigere Behandlung im Rahmen ihrer Regelungen gewähren „können“.
89. Nach meiner Meinung kann daher eine nationale Wettbewerbsbehörde in ihrer Kronzeugenregelung ein System von Kurzanträgen vorsehen, das weder auf dem ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 noch auf demjenigen von 2012 beruht, allerdings unter der Voraussetzung, dass diese System die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, darunter das Diskriminierungsverbot und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie das Recht auf gute Verwaltung, beachtet.
90. Die italienische Regierung hat in ihren schriftlichen Erklärungen angegeben(49), dass die Mitteilung der AGCM zu dem für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Zeitpunkt keine Möglichkeit für die AGCM vorgesehen habe, „im Anschluss an einen lediglich auf Ermäßigung der Sanktion gerichteten Hauptantrag einen Kurzantrag entgegenzunehmen“. Dadurch sei jedoch keine Bestimmung oder kein Grundsatz des Unionsrechts verletzt worden, da das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 kein die nationalen Wettbewerbsbehörde bindendes Dokument darstelle und jedenfalls diese Regelung selbst die weitestgehend Beteiligung der Unternehmen am System der Kronzeugenbehandlung für wünschenswert halte(50).
91. Nach Ansicht von DHL war Rn. 16 der Mitteilung der AGCM zur Zeit der im Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse klar und ließ die Einreichung eines Kurzantrags durch das Unternehmen zu, das bei der Kommission bereits einen Antrag auf Verschonung von Sanktionen gestellt hatte bzw. im Begriff war, dies zu tun. Dass „die AGCM Kurzanträge von Schenker und Agility auf Erlass der Geldbuße entgegengenommen hat, ohne dass die [in Rn. 16 der Mitteilung der AGCM] vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt waren, stellte … tatsächlich einen Missbrauch von Befugnissen dar … Da die grundlegende Voraussetzung für einen Kurzantrag nicht erfüllt war, konnte es nicht den geringsten Zweifel an der Auslegung geben und waren die Anträge von Schenker und Agility auf Erlass der Geldbuße unzulässig.“(51)
92. Schenker meint hingegen, dass die AGCM in Anwendung ihrer Mitteilung Kurzanträge von Unternehmen, die bei der Kommission einen Antrag auf Herabsetzung der Geldbuße gestellt hatten, habe entgegennehmen dürfen. Die einzige in Rn. 16 der Mitteilung der AGCM genannte und im Ausgangsverfahren ratione temporis anwendbare Voraussetzung sei die gewesen, dass ein Unternehmen, das einen „Kurzantrag“ auf Kronzeugenbehandlung habe stellen wollen „… bei der Kommission bereits einen Antrag auf Verschonung von Sanktionen gestellt hat oder im Begriff ist, dies zu tun“. „Da ein Unternehmen, das noch keinen Antrag auf Erlass der Geldbuße bei der Kommission gestellt hat, definitionsgemäß nicht wissen kann, ob es hinsichtlich der Zuwiderhandlung, die es anzeigen möchte, ‚in zeitlicher Reihenfolge das erste ist‘ (d. h., ob sein Antrag auf Erlass der Geldbuße ‚angenommen‘ werden wird), ist der Umstand, dass bereits ein anderes Unternehmen wegen derselben der Zuwiderhandlung einen Antrag auf Erlass der Geldbuße bei der Kommission gestellt hat und/oder ihm bereits der entsprechende bedingte Erlass der Geldbuße gewährt wurde, ohne Bedeutung und kann das Recht des fraglichen Unternehmens, ebenfalls bei der [AGCM] (oder einer anderen nationalen Wettbewerbsbehörde) einen Antrag auf Kronzeugenbehandlung zu stellen, nicht beeinträchtigen“(52).
93. Nach Ansicht von Agility „lässt sich dem Wortlaut der nationalen Kronzeugenregelung klar entnehmen, dass die [AGCM] die Möglichkeit hat, mehrere Kurzanträge entgegenzunehmen. Art. 16 der nationalen Regelung und [Rn. 22 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006] sahen in ihrer damaligen Formulierung die Möglichkeit zur Einreichung eines Kurzantrags durch das Unternehmen vor, das ‚bei der Kommission bereits einen Antrag auf Verschonung von Sanktionen gestellt hat oder im Begriff ist, dies zu tun‘. Da es lediglich auf die bloße Absicht, einen Antrag auf Erlass der Geldbuße zu stellen, ankommt (und nicht darauf, dass dies bereits geschehen ist), und zwar in Unkenntnis des eigenen Rangs (und vor der etwaigen Gewährung eines bedingten Erlasses der Geldbuße), lässt der Wortlaut [von Rn. 22 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 und von Rn. 16 der Mitteilung der AGCM] es offensichtlich zu, dass sich mehrere Unternehmen in derselben Lage befinden und somit die entsprechenden Kurzanträge zulässig sind.“(53)
94. Auch wenn feststeht, dass der etwaige Erlass nationaler Kronzeugenregelugen und deren Anwendung in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen und diese den eine Kronzeugenbehandlung beantragenden Unternehmen im Rahmen ihrer Regelungen eine günstigere Behandlung gewähren dürfen, als sie das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 vorsieht, sofern sie das Unionsrecht, insbesondere Art. 101 AEUV, die Charta und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, beachten(54), lassen die vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärungen doch eine echte Unsicherheit hinsichtlich Sinn und/oder Tragweite der Mitteilung der AGCM erkennen.
95. Daher hat das vorlegende Gericht Sinn und Tragweite dieser Mitteilung zu ermitteln, um zu prüfen, ob die AGCM von ihr abgewichen ist und gegebenenfalls dadurch gegen das Unionsrecht, insbesondere gegen die allgemeinen Rechtsgrundsätze, verstoßen hat. Das vorlegende Gericht hat im Ausgangsverfahren insoweit namentlich zu prüfen, ob die Gleichbehandlung aller Antragsteller auf Kronzeugenbehandlung und das Recht auf eine gute Verwaltung beachtet und das berechtigte Vertrauen geschützt wurden.
V – Ergebnis
96. Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Consiglio di Stato wie folgt zu antworten:
1. Das Kronzeugenregelungsmodell des Netzes der Wettbewerbsbehörden (ECN) von 2006 hat für die nationalen Wettbewerbsbehörden keine bindende Wirkung. Erlässt jedoch ein Mitgliedstaat eine Kronzeugenregelung, sei sie nun auf das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 gestützt oder nicht, muss er das Unionsrecht beachten und speziell auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts dafür sorgen, dass die Vorschriften, die er erlässt oder anwendet, die wirksame Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV nicht beeinträchtigen. Außerdem sind die Mitgliedstaaten und auch ihre nationalen Wettbewerbsbehörden an die Charta der Grundrechte der Europäischen Union und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts gebunden, wenn sie die Art. 101 AEUV und 102 AEUV ausführen. Erlässt eine nationale Wettbewerbsbehörde eine Kronzeugenregelung, die grundsätzlich geeignet ist, Rechtswirkungen zu entfalten, muss diese Regelung daher die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, u. a. das Diskriminierungsverbot, die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie das Recht auf eine gute Verwaltung, beachten.
2. Das Unionsrecht legt zwischen dem Antrag auf Erlass der Geldbuße, den ein Unternehmen bei der Kommission gestellt hat bzw. im Begriff ist zu stellen, und dem bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde für dasselbe Kartell eingereichten Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße keinen rechtlichen Zusammenhang fest, der eine nationale Wettbewerbsbehörde verpflichtete, gemäß Rn. 22 des ECN‑Kronzeugenregelungsmodells von 2006 und Nr. 45 der dem ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 als Anhang beigefügten Erläuterungen den bei ihr eingereichten Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße im Licht des bisherigen oder künftigen Antrags bei der Kommission zu prüfen oder die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren, um festzustellen, ob das Unternehmen nach Einreichung des Kurzantrags konkrete und spezifische Beispiele für Verhaltensweisen in dem Bereich festgestellt hat, der von dem bei der Kommission eingereichten Antrag auf Erlass der Geldbuße, nicht aber vom Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße umfasst sein soll.
3. Die Mitgliedstaaten dürfen den eine Kronzeugenbehandlung beantragenden Unternehmen im Rahmen ihrer Kronzeugenregelungen eine günstigere Behandlung gewähren als sie das ECN‑Kronzeugenregelungsmodell von 2006 vorsieht, sofern sie das Unionsrecht, insbesondere Art. 101 AEUV, die Charta und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, beachten.