SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
ELEANOR SHARPSTON
vom 12. März 2019(1)
Rechtssache C‑616/17
Procureur de la République
gegen
Mathieu Blaise,
Sabrina Dauzet,
Alain Feliu,
Marie Foray,
Sylvestre Ganter,
Dominique Masset,
Ambroise Monsarrat,
Sandrine Muscat,
Jean-Charles Sutra,
Blanche Yon,
Kevin Leo-Pol Fred Perrin,
Germain Yves Dedieu,
Olivier Godard,
Kevin Pao Donovan Schachner,
Laura Dominique Chantal Escande,
Nicolas Benoit Rey,
Eric Malek Benromdan,
Olivier Eric Labrunie,
Simon Joseph Jeremie Boucard,
Alexis Ganter,
Pierre André Garcia,
Beteiligte:
Espace Émeraude
(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal correctionnel de Foix [Strafgericht, Foix, Frankreich])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Gültigkeit der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 im Hinblick auf das Vorsorgeprinzip – Zuverlässigkeit und Unparteilichkeit des Bewertungsverfahrens – Kumulationseffekt von Wirkstoffen – Pestizide – Glyphosat“
1. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal correctionnel de Foix (Strafgericht, Foix, Frankreich, im Folgenden: vorlegendes Gericht) betrifft die einer angemessenen Abwägung der negativen und positiven Wirkungen der Verwendung von Chemikalien im Pflanzenschutz dienenden Verfahren. Mehreren Umweltaktivisten (im Folgenden: Angeklagte) wird zur Last gelegt, Kanister mit die Chemikalie Glyphosat enthaltenden Unkrautvernichtungsmitteln (konkret: „Roundup“) in strafrechtlich relevanter Weise beschädigt zu haben. Sie machen zu ihrer Verteidigung geltend, dass die Mittel eine unannehmbare potenzielle Gefahr für die menschliche Gesundheit und die Umwelt darstellten und das Genehmigungsverfahren der Union mangelhaft und daher rechtswidrig sei.
Unionsrecht
2. Da das Vorbringen der Angeklagten im Kern darauf hinausläuft, dass das vom Unionsgesetzgeber eingeführte System der Prüfung und Überwachung der Verwendung von Pflanzenschutzmitteln mit bestimmten Stoffen mangelhaft sei, ist näher zu erläutern, wie dieses System funktioniert.
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
3. Was die für das Handeln der Union erforderliche Transparenz angeht, legt Art. 15 Abs. 1 AEUV den Grundsatz fest, dass die „Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter weitestgehender Beachtung des Grundsatzes der Offenheit [handeln]“. Nach Art. 15 Abs. 3 AEUV gilt das Recht der Unionsbürger auf Zugang zu Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union nach Maßgabe der „allgemeinen Grundsätze und … aufgrund öffentlicher oder privater Interessen geltenden Einschränkungen[, die] vom Europäischen Parlament und vom Rat durch Verordnungen … festgelegt [werden]“. Der Grundsatz der Transparenz ist somit Grundlage für das gesamte Handeln der Union.
4. Nach Art. 168 AEUV muss die Union „[b]ei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und ‑maßnahmen … ein hohes Gesundheitsschutzniveau [sicherstellen]“. Nach Art. 191 Abs. 2 AEUV muss „[d]ie Umweltpolitik der Union … unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Regionen der Union auf ein hohes Schutzniveau ab[zielen]“ und „auf den Grundsätzen der Vorsorge und Vorbeugung, auf dem Grundsatz, Umweltbeeinträchtigungen mit Vorrang an ihrem Ursprung zu bekämpfen, sowie auf dem Verursacherprinzip [beruhen]“.
Verordnung (EG) Nr. 1107/2009(2)
5. Nach Art. 1 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1107/2009 (im Folgenden: Pflanzenschutzmittelverordnung) ist ihr Ziel „die Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt und das bessere Funktionieren des Binnenmarkts …“. Nach Art. 1 Abs. 4 „[beruhen d]ie Bestimmungen dieser Verordnung … auf dem Vorsorgeprinzip, mit dem sichergestellt werden soll, dass in Verkehr gebrachte Wirkstoffe oder Produkte die Gesundheit von Mensch und Tier sowie die Umwelt nicht beeinträchtigen. Insbesondere ist es den Mitgliedstaaten freigestellt, das Vorsorgeprinzip anzuwenden, wenn wissenschaftliche Ungewissheit besteht, ob die in ihrem Hoheitsgebiet zuzulassenden Pflanzenschutzmittel Gefahren für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt bergen“(3).
6. Art. 2 Abs. 1 definiert als Pflanzenschutzmittel „Produkte in der dem Verwender gelieferten Form, die aus Wirkstoffen, Safenern oder Synergisten bestehen oder diese enthalten und [dazu] bestimmt sind, a) Pflanzen oder Pflanzenerzeugnisse vor Schadorganismen zu schützen oder deren Einwirkung vorzubeugen …, b) … die Lebensvorgänge von Pflanzen zu beeinflussen …, c) Pflanzenerzeugnisse zu konservieren …, d) unerwünschte Pflanzen oder Pflanzenteile zu vernichten … [oder] e) ein unerwünschtes Wachstum von Pflanzen zu hemmen oder einem solchen Wachstum vorzubeugen …“.
7. Art. 2 bestimmt den Anwendungsbereich der Pflanzenschutzmittelverordnung. So gelten ihre Regelungen in erster Linie für „Wirkstoffe“ („Stoffe(4), einschließlich Mikroorganismen, mit allgemeiner oder spezifischer Wirkung gegen Schadorganismen an Pflanzen, Pflanzenteilen oder Pflanzenerzeugnissen“, Art. 2 Abs. 2). Die Verordnung gilt ferner für „Safener“ („Stoffe oder Zubereitungen, die einem Pflanzenschutzmittel beigefügt werden, um die phytotoxische Wirkung des Pflanzenschutzmittels auf bestimmte Pflanzen zu unterdrücken oder zu verringern“, Art. 2 Abs. 3 Buchst. a, „Synergisten“ („Stoffe oder Zubereitungen, die keine oder nur eine schwache Wirkung … aufweisen, aber die Wirkung des Wirkstoffs/der Wirkstoffe in einem Pflanzenschutzmittel verstärken“, Art. 2 Abs. 3 Buchst. b, „Beistoffe“ („Stoffe oder Zubereitungen, die in einem Pflanzenschutzmittel oder Zusatzstoff verwendet werden oder dazu bestimmt sind, die aber weder Wirkstoffe noch Safener noch Synergisten sind“, Art. 2 Abs. 3 Buchst. c, und „Zusatzstoffe“ („Stoffe oder Zubereitungen, die aus Beistoffen oder Zubereitungen mit einem oder mehreren Beistoffen bestehen, in der dem Verwender gelieferten Form und in Verkehr gebracht mit der Bestimmung, vom Verwender mit einem Pflanzenschutzmittel vermischt zu werden, um dessen Wirkung oder andere pestizide Eigenschaften zu verstärken“, Art. 2 Abs. 3 Buchst. d.
8. Art. 4 regelt die Genehmigungskriterien für Wirkstoffe. Nach Art. 4 Abs. 1 wird ein Wirkstoff „gemäß Anhang II genehmigt, wenn aufgrund des wissenschaftlichen und technischen Kenntnisstandes zu erwarten ist, dass unter Berücksichtigung der Genehmigungskriterien in den Nrn. 2 und 3 jenes Anhangs Pflanzenschutzmittel, die diesen Wirkstoff enthalten, die Voraussetzungen der Absätze 2 und 3 erfüllen“(5).
9. Nach Art. 4 Abs. 2 müssen Rückstände von den Wirkstoff enthaltenden Pflanzenschutzmitteln „als Folge der Verwendung entsprechend der guten Pflanzenschutzpraxis und unter der Voraussetzung realistischer Verwendungsbedingungen folgende Anforderungen erfüllen: a) Sie dürfen keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen, einschließlich besonders gefährdeter Personengruppen, oder von Tieren – unter Berücksichtigung von Kumulations- und Synergieeffekten, wenn es von der Behörde(6) anerkannte wissenschaftliche Methoden zur Messung solcher Effekte gibt – noch auf das Grundwasser haben“, und „b) [s]ie dürfen keine unannehmbaren Auswirkungen auf die Umwelt haben“.
10. Nach Art. 4 Abs. 3 muss ein den Wirkstoff enthaltendes Pflanzenschutzmittel „a) … hinreichend wirksam sein[,] b) … [darf] keine sofortigen oder verzögerten schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen, einschließlich besonders gefährdeter Personengruppen, oder von Tieren – weder direkt noch über das Trinkwasser …, über Nahrungs- oder Futtermittel oder über die Luft oder Auswirkungen am Arbeitsplatz oder durch andere indirekte Effekte unter Berücksichtigung bekannter Kumulations- und Synergieeffekte, soweit es von der Behörde anerkannte wissenschaftliche Methoden zur Bewertung solcher Effekte gibt – noch auf das Grundwasser haben[,] c) … keine unannehmbaren Auswirkungen auf Pflanzen oder Pflanzenerzeugnisse haben[,] d) … bei den zu bekämpfenden Wirbeltieren keine unnötigen Leiden oder Schmerzen verursachen [und] e) … keine unannehmbaren Auswirkungen auf die Umwelt haben …“.
11. Nach Art. 4 Abs. 4 „[werden d]ie Anforderungen der Absätze 2 und 3 … unter Berücksichtigung der einheitlichen Grundsätze gemäß Artikel 29 Absatz 6 bewertet“. Die letztere Bestimmung enthält Ermächtigungen für Verordnungen, durch die einheitliche Grundsätze für die Bewertung und Zulassung festgelegt werden sollen, und bestimmt ferner, dass „[g]emäß diesen Grundsätzen … die Wechselwirkungen zwischen dem Wirkstoff, den Safenern, den Synergisten und den Beistoffen bei der Bewertung der Pflanzenschutzmittel berücksichtigt [werden]“(7).
12. Art. 6 enthält eine nicht abschließende Aufzählung der Arten von Einschränkungen, denen die Genehmigung eines Wirkstoffs, Safeners oder Synergisten unterworfen werden kann, einschließlich „sonstiger spezifischer Bedingungen, die sich aus der Bewertung der im Rahmen dieser Verordnung bereitgestellten Informationen ergeben“ (Art. 6 Buchst. j).
13. Die Pflanzenschutzmittelverordnung regelt in Kapitel II Abschnitt 1 Unterabschnitt 2 („Genehmigungsverfahren“) die für die Genehmigung eines Wirkstoffs notwendigen Schritte. Nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung besteht der erste Schritt darin, dass der Hersteller(8) des Wirkstoffs einem Mitgliedstaat („berichterstattender Mitgliedstaat“) einen Antrag zusammen mit einem „vollständigen Dossier und einer Kurzfassung davon gemäß Artikel 8 Absätze 1 und 2“ vorlegt und dabei nachweist, dass der betreffende Wirkstoff die Genehmigungskriterien gemäß Art. 4 erfüllt. Nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. a muss die Kurzzusammenfassung des Dossiers u. a. „Informationen über eine oder mehrere repräsentative Verwendungen an weit verbreiteten Kulturpflanzen in jeder einzelnen Zone(9) für mindestens ein Pflanzenschutzmittel, das den Wirkstoff enthält, als Nachweis der Erfüllung der Genehmigungskriterien des Artikels 4“ umfassen. Nach Art. 8 Abs. 2 „[enthält d]as vollständige Dossier … den Volltext der einzelnen Versuchs- und Studienberichte …“.
14. Die Datenanforderungen an den Inhalt des Dossiers sind in der Verordnung (EU) Nr. 283/2013 der Kommission geregelt(10). Diese Verordnung sieht u. a. vor, dass „[d]ie Informationen … für die Beurteilung der vorhersehbaren unmittelbaren oder langfristigen Risiken ausreichen [müssen] …“ (Nr. 1.1 der Einleitung zum Anhang der Verordnung [EU] Nr. 283/2013), dass „[s]ämtliche Informationen über möglicherweise schädliche Auswirkungen des Wirkstoffs, seiner Metaboliten und Verunreinigungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier oder auf das Grundwasser … enthalten sein [müssen]“ (Nr. 1.2), dass eine Zusammenfassung „… aller relevanten Daten aus der einem Peer-Review unterzogenen, offen zugänglichen wissenschaftlichen Literatur zu dem Wirkstoff, seinen Metaboliten und Abbau- und Reaktionsprodukten sowie den Pflanzenschutzmitteln, die den Wirkstoff enthalten, … und [zu] Nebenwirkungen auf die Gesundheit, die Umwelt und Nichtzielarten“ enthalten sein muss (Nr. 1.4), dass „Versuche und Analysen, die der Gewinnung von Daten über Eigenschaften oder die Unbedenklichkeit für die Gesundheit von Mensch und Tier oder für die Umwelt dienen, … nach den Grundsätzen durchzuführen [sind], die in der Richtlinie 2004/10/EG(11) festgelegt sind“ (Nr. 3.1), und dass „[d]ie Ergebnisse der durchgeführten und vorgelegten Langzeituntersuchungen … zusammen mit anderen relevanten Daten und Informationen über den Wirkstoff“ enthalten sein müssen, die „ausreichen, [um] schädliche Auswirkungen durch die langfristige Exposition gegenüber dem Wirkstoff festzustellen“ (Anhang Teil A Nr. 5.5 der Verordnung (EU) Nr. 283/2013). Nach Nr. 2 der Einleitung zum Anhang der Verordnung (EU) Nr. 283/2013 „[handelt es sich b]ei den in dieser Verordnung festgelegten Anforderungen bezüglich der vorzulegenden Daten … um Mindestanforderungen“.
15. Der zweite Schritt nach der Pflanzenschutzmittelverordnung besteht darin, dass der berichterstattende Mitgliedstaat das Dossier prüft. Ist das Dossier seiner Ansicht nach vollständig, erstellt der berichterstattende Mitgliedstaat innerhalb von zwölf Monaten nach Unterrichtung des antragstellenden Unternehmens, der anderen Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (im Folgenden: Behörde) über die Zulässigkeit des Antrags einen Entwurf des Bewertungsberichts, „in dem er bewertet, ob der Wirkstoff die Genehmigungskriterien … voraussichtlich erfüllt“, und übermittelt diesen Bericht der Kommission „mit Kopie an die Behörde“ (Art. 11 Abs. 1 der Pflanzenschutzmittelverordnung). Die Bewertung des berichterstattenden Mitgliedstaats muss „unabhängig, objektiv und transparent“ sein und „vor dem Hintergrund des neuesten Stands von Wissenschaft und Technik“ vorgenommen werden (Art. 11 Abs. 2).
16. Der dritte Schritt besteht darin, dass die Behörde den Entwurf des Bewertungsberichts prüft. Nach Weiterleitung des Entwurfs des Bewertungsberichts an alle anderen Mitgliedstaaten, wobei eine Ausfertigung des Berichts der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und eine Frist von 60 Tagen für die Übermittlung schriftlicher Stellungnahmen zu gewähren ist (Art. 12 Abs. 1 der Pflanzenschutzmittelverordnung), „[nimmt die Behörde] unter Berücksichtigung des neuesten Stands von Wissenschaft und Technik und unter Heranziehung der zum Zeitpunkt des Antrags verfügbaren Leitlinien eine Schlussfolgerung dazu an, ob der Wirkstoff voraussichtlich die Genehmigungskriterien des Artikels 4 erfüllt …“ (Art. 12 Abs. 2).
17. Der vierte Schritt besteht darin, dass die Kommission die Schlussfolgerungen der Behörde und den Entwurf des Bewertungsberichts(12) berücksichtigt und einen „Überprüfungsbericht“ sowie einen Verordnungsentwurf mit einer Empfehlung dazu vorlegt, ob der betreffende Wirkstoff (mit oder ohne Bedingungen) genehmigt werden soll oder nicht (Art. 13 Abs. 1 der Pflanzenschutzmittelverordnung). Schließlich erlässt der Ausschuss nach Art. 79 Abs. 1 der Verordnung auf der Grundlage dieses Berichts, „anderer in Bezug auf den zu prüfenden Sachverhalt zu berücksichtigender Faktoren und des Vorsorgeprinzips“ eine Verordnung, durch die der betreffende Wirkstoff mit oder ohne Bedingungen genehmigt oder nicht genehmigt wird (Art. 13 Abs. 2).
18. Die Genehmigung eines Wirkstoffs kann auf Antrag des betreffenden Herstellers/der betreffenden Hersteller nach Art. 14 Abs. 1 der Pflanzenschutzmittelverordnung erneuert werden, wenn „festgestellt wird, dass die in Artikel 4 genannten Genehmigungskriterien erfüllt sind“.
19. Die Genehmigung eines Wirkstoffs an sich erlaubt einem Hersteller noch nicht, diesen Stoff in einem Pflanzenschutzmittel zu verwenden und dieses in Verkehr zu bringen.
20. Nach Art. 28 Abs. 1 der Pflanzenschutzmittelverordnung „[darf e]in Pflanzenschutzmittel … nur in Verkehr gebracht oder verwendet werden, wenn es in dem betreffenden Mitgliedstaat gemäß der vorliegenden Verordnung zugelassen wurde“. Nach Art. 29 Abs. 1 wird ein Pflanzenschutzmittel nur zugelassen, wenn es „entsprechend den einheitlichen Grundsätzen gemäß Absatz 6“(13) (u. a.) folgende Anforderungen erfüllt: „a) Seine Wirkstoffe, Safener und Synergisten sind genehmigt; … c) seine Beistoffe sind nicht in Anhang III enthalten[(14)]; d) infolge seiner technischen Formulierung sind die Exposition der Verwender oder andere Risiken so weit minimiert, wie es ohne Beeinträchtigung der Funktion des Produkts möglich ist; e) er erfüllt unter Berücksichtigung des neuesten Stands von Wissenschaft und Technik die Anforderungen gemäß Artikel 4 Absatz 3[(15)]; f) Art und Menge seiner Wirkstoffe, Safener und Synergisten und gegebenenfalls toxikologisch, ökotoxikologisch oder ökologisch relevante Verunreinigungen und Beistoffe lassen sich durch geeignete Methoden feststellen …“.
21. Nach Art. 29 Abs. 2 der Verordnung muss das antragstellende Unternehmen „nachweisen, dass die Anforderungen nach Absatz 1 Buchstaben a bis h erfüllt sind“. Nach Art. 29 Abs. 3 wird die Erfüllung „der Anforderungen in Absatz 1 Buchstabe b sowie Buchstaben e bis h … durch amtliche oder amtlich anerkannte Versuche und Analysen ermittelt …“.
22. Wie beim Verfahren der Genehmigung eines Wirkstoffs auf der Unionsebene sieht die Pflanzenschutzmittelverordnung eine Abfolge von Schritten vor, die für die Zulassung eines Pflanzenschutzmittels auf der Ebene der Mitgliedstaaten notwendig sind. Der erste Schritt besteht darin, dass das antragstellende Unternehmen in jedem einzelnen Mitgliedstaat, „in dem das Pflanzenschutzmittel in Verkehr gebracht werden soll“, einen Antrag stellt (Art. 33 Abs. 1). Diesem Antrag ist Folgendes beizufügen: „a) … ein vollständiges Dossier und eine Kurzfassung davon, die jeden Punkt der Datenanforderungen für das Pflanzenschutzmittel abdecken; b) für jeden Wirkstoff, Safener und Synergisten im Pflanzenschutzmittel ein vollständiges Dossier sowie eine Kurzfassung davon, die jeden Punkt der Datenanforderungen für den Wirkstoff, Safener und Synergisten abdecken …“ (Art. 33 Abs. 3).
23. Die Datenanforderungen an den Inhalt des Dossiers sind in der Verordnung (EU) Nr. 284/2013 der Kommission(16) geregelt. Demnach muss das Dossier u. a. folgende Anforderungen erfüllen: „Die Informationen [in dem Dossier] müssen ausreichen für die Bewertung der Wirksamkeit und der vorhersehbaren unmittelbaren oder langfristigen Risiken, die das Pflanzenschutzmittel für Menschen (einschließlich besonders gefährdeter Gruppen), Tiere und Umwelt mit sich bringen kann, und zumindest die Angaben und Ergebnisse der Untersuchungen enthalten, auf die dieser Anhang Bezug nimmt“ (Nr. 1.1 der Einleitung zum Anhang der Verordnung [EU] Nr. 284/2013); „[s]ämtliche Informationen über möglicherweise schädliche Auswirkungen des Pflanzenschutzmittels auf die Gesundheit von Mensch und Tier oder auf das Grundwasser sowie bekannte und erwartete kumulative und synergistische Effekte müssen enthalten sein“ (Nr. 1.2); „[s]ämtliche Informationen über möglicherweise unannehmbare Auswirkungen des Pflanzenschutzmittels auf die Umwelt, auf Pflanzen und auf Pflanzenerzeugnisse sowie bekannte und erwartete kumulative und synergistische Effekte müssen enthalten sein“ (Nr. 1.3); „[d]ie Informationen müssen alle relevanten Daten aus der einem Peer-Review unterzogenen, offen zugänglichen wissenschaftlichen Literatur zu dem Wirkstoff, den Metaboliten und den Abbau- oder Reaktionsprodukten sowie den Pflanzenschutzmitteln, die den Wirkstoff enthalten, umfassen, welche Nebenwirkungen auf die Gesundheit, die Umwelt und Nichtziel-Arten beschreiben“ (Nr. 1.4); und „[d]ie Informationen über das Pflanzenschutzmittel und über den Wirkstoff müssen ausreichen, um Folgendes zu ermöglichen: … c) eine Bewertung der Kurz- und Langzeitrisiken für nicht zu den Zielgruppen gehörende Arten, Populationen, Gesellschaften bzw. Prozesse; … e) eine Risikobewertung der akuten und chronischen Verbraucherexposition sowie, falls erforderlich, eine kumulative Risikobewertung der Exposition gegenüber mehr als einem Wirkstoff; f) eine Einschätzung der akuten und chronischen Exposition von Anwendern, Arbeitern, Anwohnern und Umstehenden sowie, falls erforderlich, der kumulativen Exposition gegenüber mehr als einem Wirkstoff“ (Nr. 1.12).
24. Wie bei Anträgen auf Genehmigung eines Wirkstoffs handelt es sich bei dem Inhalt des Dossiers nach der Verordnung Nr. 284/2013 „bezüglich der vorzulegenden Daten … um Mindestanforderungen“ (Nr. 2 der Einleitung zum Anhang); die „Versuche und Analysen … sind nach den Grundsätzen durchzuführen, die in der Richtlinie 2004/10/EG … festgelegt sind“ (gute Laborpraxis, Nr. 3).
25. Nach Art. 36 Abs. 1 der Pflanzenschutzmittelverordnung beinhaltet der zweite Schritt die Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats, „eine unabhängige, objektive und transparente Bewertung unter Berücksichtigung des neuesten Stands von Wissenschaft und Technik und unter Heranziehung der zum Zeitpunkt des Antrags verfügbaren Leitlinien vor[zunehmen]“. Dieser Mitgliedstaat hat die „in Artikel 29 Absatz 6 genannten einheitlichen Grundsätze für die Bewertung und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln“ anzuwenden und ferner „allen Mitgliedstaaten in der gleichen Zone die Gelegenheit zu einer Stellungnahme [zu geben], die in der Bewertung berücksichtigt wird“.
26. Der dritte Schritt besteht darin, dass der oder die betreffenden Mitgliedstaaten „auf der Grundlage der Schlussfolgerungen aus der Bewertung“ die Zulassungen gewähren oder verweigern (Art. 36 Abs. 2 der Pflanzenschutzmittelverordnung).
27. Im Laufe sowohl des Genehmigungs- als auch des Zulassungsverfahrens nach der Pflanzenschutzmittelverordnung kann ein antragstellendes Unternehmen beantragen, dass bestimmte, von ihm in seinen Anträgen und Dossiers vorgelegte Daten von den betreffenden Mitgliedstaaten vertraulich behandelt werden (Art. 7 Abs. 3 und Art. 33 Abs. 4 der Pflanzenschutzmittelverordnung). Der Antragsteller beantragt dies nach Art. 63 der Pflanzenschutzmittelverordnung, wonach „[e]ine Person, die beantragt, dass gemäß dieser Verordnung vorgelegte Informationen vertraulich behandelt werden sollen, … einen nachprüfbaren Beweis vor[legt], aus dem hervorgeht, dass die Offenlegung dieser Informationen ihre kommerziellen Interessen oder den Schutz ihrer Privatsphäre und ihre Integrität beeinträchtigen könnte“. Art. 63 lässt die Richtlinie 2003/4/EG über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen(17) unberührt.
28. Die Genehmigung eines Wirkstoffs kann jederzeit widerrufen werden. So sieht Art. 21 Abs. 1 der Pflanzenschutzmittelverordnung vor, dass die „Kommission … die Genehmigung eines Wirkstoffs jederzeit überprüfen [kann, und] den Antrag eines Mitgliedstaats auf Überprüfung der Genehmigung eines Wirkstoffs im Lichte neuer wissenschaftlicher und technischer Kenntnisse und Überwachungsdaten [berücksichtigt] …“.
29. Schließlich sieht Art. 69 der Pflanzenschutzmittelverordnung einen Mechanismus für Notfallmaßnahmen vor, wenn „davon auszugehen [ist], dass ein genehmigter Wirkstoff, Safener, Synergist oder Beistoff oder ein Pflanzenschutzmittel, das gemäß dieser Verordnung zugelassen wurde, wahrscheinlich ein schwerwiegendes Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellt und dass diesem Risiko durch Maßnahmen, die der betreffende Mitgliedstaat oder die betreffenden Mitgliedstaaten getroffen hat bzw. haben, nicht auf zufriedenstellende Weise begegnet werden kann“. In solchen Fällen „trifft die Kommission … von sich aus oder auf Verlangen eines Mitgliedstaats unverzüglich Maßnahmen zur Einschränkung oder zum Verbot der Verwendung und/oder des Verkaufs dieses Stoffes oder Produkts“; „[b]evor die Kommission diese Maßnahmen trifft, prüft sie [jedoch] die Sachlage und ersucht gegebenenfalls die Behörde um ein Gutachten“. In Situationen „extremer Notfälle“ erlaubt Art. 70, „Notfallmaßnahmen“ zu treffen, nachdem die Kommission den oder die betreffenden Mitgliedstaat(en) konsultiert hat. Ferner kann, wenn „ein Mitgliedstaat die Kommission offiziell über die Notwendigkeit von Notfallmaßnahmen [unterrichtet] und … die Kommission nicht gemäß Artikel 69 oder 70 gehandelt [hat], … der Mitgliedstaat vorläufige Schutzmaßnahmen ergreifen“ (Art. 71 der Pflanzenschutzmittelverordnung).
Nationales Recht
30. Nach Art. 322-1 des Code pénal (französisches Strafgesetzbuch) wird die Zerstörung, Beschädigung oder Zustandsverschlechterung eines einem Dritten gehörenden Gegenstands mit einer Geldstrafe von bis zu 30 000 Euro oder einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bestraft. Entsteht nur geringer Schaden, der unter Übertretungen der fünften Klasse fällt, beträgt die Höchststrafe 1 500 Euro.
31. Nach den Art. 40 und 40-1 des Code de procédure pénale (französische Strafprozessordnung) verfügt die Staatsanwaltschaft über ein Ermessen, wie mit Anzeigen, Hinweisen und Berichten, mit denen sie befasst wird, weiter zu verfahren ist. Liegt nach Ansicht der Staatsanwaltschaft eine Straftat vor und steht der Verfolgung kein rechtliches Hindernis entgegen, hat sie darüber zu entscheiden, ob sie die öffentliche Klage erhebt oder das Verfahren einstellt. Nach Art. 122‑7 des Code de procédure pénale kann der Tatbestand eines Notstands eine Strafbarkeit ausschließen.
Sachverhalt und Prozessgeschichte
32. In zwei Fällen – am 27. September 2016 und am 1. März 2017 – betraten die Angeklagten, die Mitglieder der Aktivistengruppe „Faucheurs volontaires d’OGM ariègeois“ („Freiwillige Schnitter der Ariège gegen GVO“) waren, drei Geschäfte. In zwei dieser Geschäfte beschädigten sie Kanister mit glyphosathaltigen Unkrautvernichtungsmitteln (konkret: „Roundup“) mit Farbe. Im dritten Geschäft verwendeten sie aus dem Geschäft stammende Farbe und Rollen, um Roundup-Produkte und einige Glasschränke zu beschädigen. In einem der Geschäfte verteilten sie Flugblätter mit der Überschrift „Roundup und Co., wir können nicht mehr, wir wollen nicht mehr“. Einige Mitglieder der Gruppe gaben gegenüber der Polizei an, sie hätten „ein Zeichen setzen“ wollen, dass gegen Regelungen verstoßen werde, wonach glyphosathaltige Produkte in abgeschlossenen Vitrinen aufbewahrt und vom Verkäufer mit dem Warnhinweis versehen werden müssten, dass Glyphosat krebserregend sei.
33. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, gemeinschaftlich handelnd einen einem Dritten gehörenden Gegenstand beschädigt oder zerstört zu haben. In der mündlichen Verhandlung vor dem vorlegenden Gericht vom 17. August 2017 haben die Angeklagten beantragt, dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Diesem Antrag wurde durch den Staatsanwalt nicht widersprochen, weil i) die Staatsanwaltschaft für den Fall, dass festgestellt würde, dass glyphosathaltige Produkte möglicherweise Gefahren für die menschliche Gesundheit und die Umwelt darstellen könnten, von einer Strafverfolgung der Angeklagten hätte absehen können und ii) eine solche Feststellung die Tatbestandsmerkmale, auf die sich die Strafverfolgung stütze, möglicherweise entfallen lasse. Die Angeklagten haben ferner geltend gemacht, dass das vorlegende Gericht aufgrund einer solchen Feststellung selbst im Fall ihrer Verurteilung unter Berücksichtigung der lobenswerten Beweggründe ihres Handelns von einer Strafe absehen könne.
34. Das vorlegende Gericht hat Zweifel im Hinblick darauf geäußert, i) ob das antragstellende Unternehmen zu weitreichenden Einfluss darauf haben könnte, den dem Genehmigungsverfahren unterliegenden Wirkstoff zu definieren, ii) ob die Regelungen antragstellenden Unternehmen erlaubten, die in dem Dossier enthaltenen Versuche und Analysen selbst durchzuführen und von den Vertraulichkeitsbestimmungen Gebrauch zu machen, um eine unabhängige Gegenuntersuchung dieses Dossiers zu verhindern, und iii) ob vorgeschrieben sei, dass das tatsächliche, in den Verkehr gebrachte glyphosathaltige Pflanzenschutzmittel (sowohl im Hinblick auf den sogenannten „Cocktail-Effekt“ als auch die langfristige Toxizität) ausreichend getestet werde.
35. Vor dem Hintergrund streitiger wissenschaftlicher Einschätzungen zu Glyphosat und in Anbetracht dessen, dass die Pflanzenschutzmittelverordnung auf dem Vorsorgeprinzip beruhe, könnte nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die europäische Regelung in ihrer derzeitigen Form möglicherweise unzureichend sein, um den Schutz der Bevölkerung und ihrer Umwelt vollständig zu gewährleisten. Daher hat es beschlossen, die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist die Verordnung Nr. 1107/2009 insofern mit dem Vorsorgegrundsatz vereinbar, als sie keine genaue Definition eines Wirkstoffs enthält und dem Antragsteller damit die Wahl, was er in seinem Produkt als Wirkstoff benennt, und die Möglichkeit gelassen wird, sein gesamtes Antragsdossier auf einen einzigen Stoff auszurichten, obwohl sein vermarktetes Endprodukt mehrere Stoffe enthält?
2. Sind der Vorsorgegrundsatz und die Unparteilichkeit einer Zulassung der Vermarktung gewahrt, wenn die zur Prüfung des Dossiers erforderlichen Tests, Analysen und Bewertungen allein von den – in ihrer Darstellung möglicherweise parteiischen – Antragstellern durchgeführt werden, ohne irgendeine unabhängige Gegenuntersuchung und ohne dass die Berichte der Anträge auf Zulassung veröffentlicht würden – wofür der Schutz von Geschäftsgeheimnissen angeführt wird?
3. Ist die Verordnung Nr. 1107/2009 insofern mit dem Vorsorgegrundsatz vereinbar, als sie in keiner Weise eine Mehrzahl von Wirkstoffen und ihren kumulierten Einsatz berücksichtigt, insbesondere wenn sie auf europäischer Ebene keinerlei vollständige spezifische Analyse des Zusammenwirkens von Wirkstoffen in einem Produkt vorsieht?
4. Ist die Verordnung Nr. 1107/2009 insofern mit dem Vorsorgegrundsatz vereinbar, als sie in ihren Kapiteln III und IV Pestizide in ihren Handelszusammensetzungen, so wie sie in den Verkehr gebracht werden und so wie die Verbraucher und die Umwelt ihnen ausgesetzt sind, von Toxizitätsprüfungen (Genotoxizität, Prüfung der Karzinogenität, Prüfung der endokrinschädlichen Eigenschaften usw.) ausnimmt, indem sie lediglich summarische, stets vom Antragsteller selbst durchgeführte Versuche verlangt?
36. Der Gerichtshof hat das vorlegende Gericht am 15. März 2018 gebeten, anzugeben, welche konkreten Auswirkungen die Antworten auf die vorgelegten Vorabentscheidungsfragen auf die strafrechtliche Verfolgung der Angeklagten hätten. Das vorlegende Gericht hat mit Schreiben vom 10. April 2018 geantwortet.
37. Die Angeklagten, die finnische, die französische und die griechische Regierung, das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der finnischen und der griechischen Regierung haben die vorgenannten Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 25. November 2018 ergänzend vorgetragen und Fragen des Gerichtshofs beantwortet.
Zulässigkeit
38. Die Kommission, das Europäische Parlament und die französische Regierung stellen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens im Hinblick darauf in Frage, dass unklar sei, inwieweit die Antworten auf die Fragen – die das Gesamtsystem der Pflanzenschutzmittelregulierung auf der Unionsebene beträfen – Auswirkungen auf das Strafverfahren hätten, das eine Beschädigung von Produkten mit dem Wirkstoff Glyphosat betreffe.
39. Das vorlegende Gericht weist in seinem Vorabentscheidungsersuchen darauf hin, dass die Angeklagten sich auf den Tatbestand eines Notstands berufen hätten. In seiner Antwort auf die Fragen des Gerichtshofs hat es u. a. bestätigt, dass „die Bejahung der Fragen … das im Rahmen der Strafverfolgung befasste Gericht veranlassen könnte, unter Berücksichtigung der Schädlichkeit der vermarkteten und von der Gruppe der Angeklagten beschädigten Waren die Tatbestandsmerkmale der Straftat als neutralisiert anzusehen“. In der mündlichen Verhandlung hat die französische Regierung anerkannt, dass die Antworten für das vom Gericht zu verhängende Strafmaß von Bedeutung sein könnten. Dies steht im Einklang mit dem im Vorabentscheidungsersuchen angeführten Hilfsvorbringen der Angeklagten im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht.
40. Nach ständiger Rechtsprechung besitzt im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV das vorlegende Gericht, das allein über eine unmittelbare Kenntnis des Sachverhalts verfügt, die besten Voraussetzungen, um unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Rechtssache die Notwendigkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils zu beurteilen. Der Gerichtshof ist dann grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden. Dem Gerichtshof obliegt es jedoch, zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er vom nationalen Gericht angerufen wird(18).
41. Meines Erachtens ist das Vorabentscheidungsersuchen plausibel als zulässig anzusehen. Jedenfalls kann nach Ansicht der Angeklagten und der französischen Regierung die Entscheidung des Gerichtshofs für die Bestimmung des gegen die Angeklagten möglicherweise zu verhängenden Strafmaßes von Bedeutung sein. Es gibt keinen vernünftigen Grund, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV zwischen der Strafverfolgung an sich und der möglichen Strafe zu unterscheiden. Was den Tatbestand des Notstands und die Frage angeht, ob dieser nach nationalem Recht durchgreift oder nicht, ist diese Beurteilung allein Sache des vorlegenden Gerichts. Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher meines Erachtens zulässig(19).
Würdigung
Vorbemerkungen
42. Zu dem Kontext, in dem die Vorlagefragen dem Gerichtshof vorgelegt wurden, habe ich zwei Anmerkungen zu machen. Die erste betrifft die Verwendung des Wirkstoffs Glyphosat als Beispiel für angebliche Mängel des Gesamtsystems der Regulierung von Pflanzenschutzmitteln. Die zweite beinhaltet die Bedeutung, die dem Vorsorgegrundsatz bei der Überprüfung der Gültigkeit eines Unionsrechtsakts zukommt.
Die Verwendung von Glyphosat als Beispiel
43. Die Angeklagten sehen in Glyphosat einen exemplarischen Fall für die Unzulänglichkeiten der Pflanzenschutzmittelverordnung. Auch wenn die Unionsorgane spezielle Unionsrechtsakte zur Verwendung von Glyphosat erlassen haben(20), werden diese in den vier Vorlagefragen nicht erwähnt – geschweige denn gezielt in den Blick genommen. Das Hauptaugenmerk liegt vielmehr auf der allgemeinen Regulierungsarchitektur der Pflanzenschutzmittelverordnung, die alle Pflanzenschutzmittel berührt.
44. Die Frage, ob eine Unionsrechtsvorschrift gültig ist, ist anhand ihrer Tatbestandsmerkmale zu beurteilen und kann nicht von den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls abhängen(21). Dieser Grundsatz ist meines Erachtens vorliegend von besonderer Relevanz. Sofern nicht dargelegt und bewiesen wird, dass in den Bedenken gegen Glyphosat eine systematische und grundlegende Unzulänglichkeit der Pflanzenschutzmittelverordnung und des mit dieser Verordnung verfolgten Ziels zum Ausdruck kommt, können sie das mit dieser Verordnung begründete System vorheriger Genehmigungen in seiner Gesamtheit nicht erschüttern.
45. So wurden zwar Nachweise dafür vorgelegt, dass es unterschiedliche wissenschaftliche Einschätzungen unter Dritten wie etwa Wissenschaftlern(22) und internationalen Einrichtungen(23) sowie den Unionsorganen gibt, die angeblichen Fehler in den von diesen gezogenen Schlussfolgerungen beschränken sich jedoch zwangsläufig auf den konkreten Fall Glyphosat. Ebenso kann aus dem Umstand, dass die Bewertungen von Glyphosat möglicherweise Fragen der Unabhängigkeit und Transparenz aufgeworfen haben könnten, nicht darauf geschlossen werden, dass jede einzelne Bewertung eines Wirkstoffs nach der Verordnung an denselben Mängeln leidet(24).
46. Im Kern geht es im Verfahren vor dem Gerichtshof schlicht um die Frage, ob eigene, systematische Bestimmungen der Pflanzenschutzmittelverordnung unter so gravierenden Mängeln leiden, dass diese Verordnung ungültig wird.
Die Bedeutung des Vorsorgegrundsatzes bei der gerichtlichen Überprüfung der Gültigkeit von Unionsrechtsakten
47. In allen Vorlagefragen wird nach der Vereinbarkeit der Pflanzenschutzmittelverordnung mit dem Vorsorgegrundsatz gefragt. Das vorlegende Gericht erläutert jedoch nicht, was es als von diesem Grundsatz umfasst ansieht, und gibt auch nicht an, inwieweit dieser Grundsatz vom Gerichtshof bei der Prüfung anzuwenden ist, ob eine Unionsmaßnahme wie die Pflanzenschutzmittelverordnung ungültig ist. Das Verständnis dieser beiden Aspekte ist notwendig, um den Umfang der vorliegenden Prüfung festzulegen.
48. Die korrekte Anwendung des Vorsorgeprinzips erfordert erstens die Bestimmung der möglicherweise negativen Auswirkungen der vorgeschlagenen Anwendung des fraglichen Stoffes auf die Gesundheit (oder die Umwelt) und zweitens eine umfassende Bewertung des Risikos für die Gesundheit (oder die Umwelt) auf der Grundlage der zuverlässigsten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und der neuesten Ergebnisse der internationalen Forschung(25). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, können die zuständigen Behörden (sei es auf der Unionsebene oder auf der Ebene der Mitgliedstaaten) den Vorsorgegrundsatz anwenden, um „Schutzmaßnahmen [zu treffen] ohne dass abgewartet werden müsste, dass das Bestehen und die Schwere dieser Risiken vollständig dargelegt werden“(26). Die getroffenen Maßnahmen müssen ferner verhältnismäßig in dem Sinne sein, dass sie nicht „die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist …“(27).
49. Daher können Nichtigkeitsklagen auf der Grundlage des Vorsorgegrundsatzes gegen eine als zu einschränkend angesehene Maßnahme(28), nicht aber gegen eine als nicht hinreichend einschränkend angesehene Maßnahme erhoben werden(29). Im ersteren Fall ist die Frage, ob eine Verletzung vorliegt, im Wesentlichen darauf zu beziehen, ob die betreffende Maßnahme gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt(30). Im letzteren Fall dient die Geltendmachung einer Verletzung des Vorsorgegrundsatzes eher „nur zur Untermauerung anderweitig ausdrücklich geltend gemachter Klagegründe und Argumente“(31).
50. Die Pflanzenschutzmittelverordnung stellt selbst eine Vorsorgemaßnahme dar, weil sie ein System vorheriger Genehmigungen für eine eigene Produktgruppe (Pflanzenschutzmittel) einführt(32). Dem Wortlaut der Verordnung ist sehr eindeutig zu entnehmen, dass sie auf dem Vorsorgeprinzip beruht(33) und dass auf ihrer Grundlage erlassene Maßnahmen auf dem Vorsorgeprinzip beruhen müssen(34).
51. Den Fragen des vorlegenden Gerichts ist nicht zu entnehmen, dass das mit der Pflanzenschutzmittelverordnung eingeführte System vorheriger Genehmigungen per se gegen den Vorsorgegrundsatz verstößt. Diese Fragen betreffen vielmehr angebliche, dem Gesamtsystem der Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln eigene Unzulänglichkeiten – insbesondere, dass die Bewertung nicht hinreichend umfassend (Fragen 1, 3 und 4) bzw. unabhängig und transparent (Frage 2) sei.
52. Das unter die Pflanzenschutzmittelverordnung fallende Rechtsgebiet ist technisch und wissenschaftlich komplex. Die Unionsorgane verfügen dementsprechend über ein besonders weites Ermessen bei der Gestaltung der von ihnen erlassenen Maßnahmen. Diese Maßnahmen können nur dann für nichtig erklärt werden, wenn sie offensichtlich ungeeignet sind oder wenn den Organen gemessen an dem verfolgten Ziel offensichtliche Fehler unterlaufen sind(35).
Erste und dritte Frage
53. Die erste und die dritte Frage überschneiden sich insofern, als sie beide die Frage aufwerfen, ob der „Cocktail-Effekt“ eines Wirkstoffs – d. h. die Auswirkungen der Exposition i) gegenüber verschiedenen, denselben Wirkstoff enthaltenden Pflanzenschutzmitteln oder ii) gegenüber in einem einzigen Pflanzenschutzmittel enthaltenen verschiedenen Wirkstoffen – nach der Pflanzenschutzmittelverordnung vollständig bewertet wird. Da die Definition des Begriffs „Wirkstoff“ dem antragstellenden Unternehmen überlassen ist, hat das nationale Gericht ferner Bedenken, dass das Letztere zu weitreichenden Einfluss darauf haben könnte, was letztlich Gegenstand der Bewertung durch die zuständigen Behörden ist(36).
54. Ich werde mich zunächst den konkreten Datenanforderungen der Pflanzenschutzmittelverordnung zuwenden, die sowohl die Identität des Wirkstoffs als auch den „Cocktail-Effekt“ berühren, und sodann den mit der Verordnung eingeführten allgemeinen Sicherheitsnetzmechanismus untersuchen.
55. Art. 2 Abs. 2 der Pflanzenschutzmittelverordnung stellt klar, dass jeder Stoff, „mit allgemeiner oder spezifischer Wirkung gegen Schadorganismen an Pflanzen, Pflanzenteilen oder Pflanzenerzeugnissen“ als „Wirkstoff“ zu betrachten ist, auf den die Verordnung Anwendung findet. Fällt ein solcher Stoff unter diese Definition, kann er zu einem der in Art. 2 Abs. 1 der Verordnung genannten Zwecke in der Union rechtmäßig nur in den Verkehr gebracht werden, wenn der Hersteller, der dies beabsichtigt, eine Genehmigung beantragt und erhalten hat. Wenn er dies tut, ist klar, dass er den zuständigen Behörden objektiv erlangte Daten vorlegen muss, wenn er eine Genehmigung erhalten möchte. Insbesondere muss er detaillierte Daten (u. a.) zur Identität seines Stoffes, seiner Summen- und Strukturformel, Angaben zum Reinheitsgrad, relevanten und signifikanten Verunreinigungen und Additiven vorlegen(37). Das durch die Pflanzenschutzmittelverordnung eingeführte System soll somit den zuständigen Behörden eine detaillierte Kenntnis von der genauen Zusammensetzung des Wirkstoffs, einschließlich Unreinheiten, verschaffen.
56. Ebenso sollen die Pflanzenschutzmittelverordnung und mit ihr im Zusammenhang stehende sekundärrechtliche Rechtsvorschriften in Verbindung miteinander meines Erachtens sicherstellen, dass die möglichen „Cocktail-Effekte“ eines Wirkstoffs einerseits und eines Pflanzenschutzmittels andererseits in die von den zuständigen Behörden durchgeführte Gesamtrisikobewertung einfließen.
57. So sieht Art. 4 Abs. 2 und 3 der Pflanzenschutzmittelverordnung für Wirkstoffe vor, dass die Bewertung eines Wirkstoffs „unter Berücksichtigung von Kumulations- und Synergieeffekten, wenn es von der Behörde anerkannte wissenschaftliche Methoden zur Messung solcher Effekte gibt …“, erfolgen muss(38). Hierzu müssen nach der Verordnung Nr. 283/2013 die von einem antragstellenden Unternehmen vorgelegten Daten ausreichen, um eine „Risikobewertung der Verbraucherexposition sowie, falls erforderlich, [eine] kumulative Risikobewertung der Exposition gegenüber mehr als einem Wirkstoff [und eine] Einschätzung der Exposition von Anwendern, Arbeitern, Anwohnern und Umstehenden sowie, falls erforderlich, der kumulativen Exposition gegenüber mehr als einem Wirkstoff“ zu ermöglichen(39). Diese Datenanforderungen und Bewertungsziele finden sich auf der Ebene der Mitgliedstaaten bei der Prüfung von Anträgen auf Zulassung von Pflanzenschutzmitteln wieder(40).
58. Die Begriffe „Kumulation“ und „Synergie“ sind nach meinem Verständnis wissenschaftlichere Alternativen zu dem Wort „Cocktail“. Sollten Zweifel daran bestehen, ob der „Cocktail-Effekt“ unter diese Begriffe fällt, werden sie durch Art. 29 Abs. 6 der Pflanzenschutzmittelverordnung ausgeräumt. Dieser Artikel betont noch einmal, dass das Bewertungsverfahren sowohl auf der Unionsebene als auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten für Genehmigungen und Zulassungen über die besonderen Eigenschaften eines einzelnen Wirkstoffs für sich allein hinausgeht, indem er verlangt, dass „Wechselwirkungen zwischen dem Wirkstoff, den Safenern, den Synergisten und den Beistoffen … berücksichtigt“ werden.
59. Eine breiter angelegte Auslegung der Pflanzenschutzmittelverordnung führt daher eindeutig zu der Schlussfolgerung, dass das durch sie festgelegte Bewertungsverfahren den „Cocktail-Effekt“ durchaus berücksichtigt. Auf die in der mündlichen Verhandlung an den Prozessbevollmächtigten der Angeklagten gerichtete Frage, welche Änderungen der Gesetzgeber an der Pflanzenschutzmittelverordnung konkret vornehmen solle, um auf deren angebliche Unzulänglichkeiten im Hinblick auf die Bewertung des Cocktail-Effekts zu reagieren, brachte dieser vor, dass eine zusätzliche Voraussetzung vorgesehen werden solle, wonach antragstellende Unternehmen bei Anträgen auf Zulassung ihrer Pflanzenschutzmittel Versuchsdaten zur Langzeittoxizität vorzulegen hätten(41). Die breitere, systematische Auslegung der Verordnung, die ich soeben skizziert habe, wurde tatsächlich nicht bestritten.
60. Sollte ein einzelnes Genehmigungsverfahren den Cocktail-Effekt nicht angemessen berücksichtigen, gibt es Sicherheitsnetze, die die Ergreifung restriktiver Maßnahmen auf der Grundlage des Vorsorgegrundsatzes erlauben. So gestattet die Pflanzenschutzmittelverordnung beispielsweise spätere Einschränkungen eines genehmigten Wirkstoffs, wenn „die Kommission zu dem Schluss [kommt], dass die Genehmigungskriterien des Artikels 4 nicht mehr erfüllt sind“. Das Gesamtsystem stellt daher sicher, dass Probleme, die auf der Ebene der Genehmigung möglicherweise unerkannt durchrutschen, auf einer späteren Ebene erfasst werden(42). Außerdem können Vorsorgemaßnahmen unabhängig einer Risikobewertung ergriffen werden, die im Rahmen der Genehmigungs- und Zulassungsverfahren der Pflanzenschutzmittelverordnung durchgeführt wird(43). Die Pflanzenschutzmittelverordnung erlaubt somit den zuständigen Behörden auf der Unionsebene und auf der Ebene der Mitgliedstaaten konkret, anderweitige Bewertungen heranzuziehen, um gegebenenfalls Vorsorgemaßnahmen zu rechtfertigen.
61. Kurz gesagt, ist nichts dafür dargelegt und bewiesen worden, dass die Pflanzenschutzmittelverordnung offensichtlich fehlerhaft in dem Sinne wäre, dass nach dieser Verordnung vorgenommene Bewertungen den „Cocktail-Effekt“ nicht berücksichtigten oder dass ein antragstellendes Unternehmen die Vorlage seiner Daten so manipulieren könnte, dass dieser Effekt nicht bewertet wird. Das mit der Verordnung eingeführte System ist solide und ermöglicht eine Erfassung und Korrektur von Bewertungsfehlern im Einzelfall.
Zweite Frage
62. Die zweite Frage geht von verschiedenen Annahmen aus: Erstens, dass ein Antragsteller, der eine Genehmigung seines Wirkstoffs oder eine Zulassung seines Pflanzenschutzmittels begehrt, den Behörden parteiische Daten zur Bewertung vorlegen könnte; zweitens, dass diese Daten keiner unabhängigen „Gegenuntersuchung“ unterzogen werden; und drittens, dass Genehmigungsanträge (und ebenso Zulassungsanträge) einer Kontrolle durch Dritte durch Anwendung industriefreundlicher Vertraulichkeitsbestimmungen entzogen sein könnten. Wenn diese Annahmen zutreffen, sind die durchgeführten Bewertungen nicht unparteilich und transparent und könnten somit einer regulatorischen Heranziehung des Vorsorgegrundsatzes entgegenstehen.
63. Meines Erachtens halten diese Annahmen einer Prüfung nicht stand. Ich werde sie nacheinander prüfen.
64. Alle Bewertungen, die nach der Pflanzenschutzmittelverordnung, sei es auf der Unionsebene oder auf der Ebene der Mitgliedstaaten, durchgeführt werden, sind von der Vorlage eines vollständigen Dossiers mit Daten abhängig. Bei Einhaltung der Regeln entsprechen diese Daten einem bestimmten, durch diese Verordnung und mit ihr im Zusammenhang stehende sekundärrechtliche Rechtsvorschriften festgelegten Standard. Beispielsweise müssen in das Dossier zur Genehmigung eines Wirkstoffs vom antragstellenden Unternehmen „wissenschaftliche und von Fachleuten überprüfte frei verfügbare Literatur“(44) sowie gegebenenfalls „amtliche oder amtlich anerkannte Versuche“(45) einbezogen und diese Versuche und Analysen nach den Regeln der guten Laborpraxis durchgeführt werden(46).
65. Diese ausdrücklichen Anforderungen stehen einer Durchführung der erforderlichen Untersuchungen durch das antragstellende Unternehmen selbst anhand seiner eigenen (parteiischen) Protokolle und (parteilichen) Standards ebenso wie einer Auswahl, welchen Daten es für die Vorlage in seinem Dossier den Vorzug gibt, entgegen. Vielmehr fordert die Pflanzenschutzmittelverordnung meines Erachtens genau das Gegenteil, indem sie objektive Anforderungen an die Qualität der vorzulegenden Daten stellt.
66. Nach ihrer Vorlage müssen die den Antrag auf Genehmigung stützenden Daten nach der Pflanzenschutzmittelverordnung von einer Reihe von Behörden bewertet werden. So werden die Daten zu Wirkstoffen von einem berichterstattenden Mitgliedstaat geprüft und diese Bewertung anschließend von den anderen Mitgliedstaaten und der Behörde überprüft(47). Für Pflanzenschutzmittel wird die Bewertung von einem Mitgliedstaat durchgeführt und diese Bewertung anschließend von den anderen Mitgliedstaaten innerhalb der gleichen geografischen Zone überprüft(48). Alle diese Bewertungen werden „unter Berücksichtigung des neuesten Stands von Wissenschaft und Technik“ durchgeführt(49). Ebenso werden alle diese Bewertungen „unabhängig, objektiv und transparent“ durchgeführt, diejenigen durch die Mitgliedstaaten, weil die Verordnung Nr. 1107/2009 hierzu verpflichtet(50), und diejenigen durch die Behörde, weil diese Verpflichtungen für diese Behörde bei ihrer Errichtung verpflichtend gemacht wurden(51).
67. Es besteht mit anderen Worten auf allen Ebenen des Genehmigungs- oder Zulassungsverfahrens nach der Pflanzenschutzmittelverordnung ein gewisses Maß an Kontrolle, das gesetzlich einem bestimmten objektiven Standard genügen muss und durch das, so würde ich anerkennen, eine systematische unabhängige Analyse des von einem antragstellenden Unternehmen vorgelegten Materials vorgesehen ist(52).
68. Es ist daher unerheblich, dass das antragstellende Unternehmen wählen kann, in welchem Mitgliedstaat es das Bewertungsverfahren für seinen Wirkstoff beginnt. Für alle Mitgliedstaaten gelten dieselben Kontrollpflichten. Sollte der berichterstattende Mitgliedstaat aus irgendeinem Grund keine angemessene unabhängige Analyse der Daten des antragstellenden Unternehmens durchführen, besteht das Sicherheitsnetz darin, dass andere Mitgliedstaaten zusammen mit der Behörde verpflichtet sind, nach denselben Pflichten eine weitere Überprüfung durchzuführen.
69. Demnach ist meines Erachtens nichts dargelegt und bewiesen worden, was der Schlussfolgerung entgegenstände, dass das durch die Pflanzenschutzmittelverordnung eingeführte System der strukturierten Bewertung auf der Unionsebene und auf der Ebene der Mitgliedstaaten zur Erreichung des angestrebten hohen Schutzniveaus für die Umwelt und die menschliche Gesundheit sowohl geeignet als auch ausreichend ist. Bei richtiger Anwendung wird dieses regulatorische System zu einer umfassenden Risikobewertung führen, auf die die zuständigen Behörden sich gegebenenfalls zur Rechtfertigung des Erlasses von Vorsorgemaßnahmen stützen können.
70. Was ist davon zu halten, dass das antragstellende Unternehmen von den Vertraulichkeitsbestimmungen der Pflanzenschutzmittelverordnung Gebrauch machen könnte, um eine Veröffentlichung von Teilen ihrer Genehmigungsanträge zu vermeiden und somit eine Kontrolle durch Dritte zu umgehen?
71. Meines Erachtens folgt aus diesen Regelungen nicht, dass es der vorgenommenen Bewertung selbst an Transparenz oder Unabhängigkeit mangelt.
72. Diese Regelungen bilden eine Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz des Zugangs zu Informationen und Dokumenten. Dies folgt eindeutig aus Art. 63 Abs. 3 der Pflanzenschutzmittelverordnung, wonach die Vertraulichkeitsbestimmungen unbeschadet der Richtlinie 2003/4 gelten. Diese Richtlinie regelt die Rechte und Pflichten der Behörden der Mitgliedstaaten bei an sie gerichteten Anträgen auf Zugang zu Umweltinformationen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hat diese Richtlinie das Ziel, „einen grundsätzlichen Zugang zu Umweltinformationen, die bei Behörden vorhanden sind oder für sie bereitgehalten werden, zu gewährleisten und … eine möglichst umfassende und systematische Verfügbarkeit und Verbreitung von Umweltinformationen in der Öffentlichkeit zu erreichen“(53). Jede auf öffentliche oder private Interessen gestützte Abweichung von diesem allgemeinen Grundsatz ist eng auszulegen und anzuwenden(54). Die entsprechenden Regelungen für Anträge auf Bekanntgabe dieser Art von Informationen durch die Unionsorgane finden sich in der Verordnung (EG) Nr. 1367/2006(55). Es gelten dieselben Grundsätze des möglichst umfassenden Zugangs und eng auszulegender Ausnahmen(56).
73. Art. 63 der Pflanzenschutzmittelverordnung lässt diese hergebrachten Grundsätze unberührt. Nach Art. 63 Abs. 1 ist vielmehr für den Anspruch des antragstellenden Unternehmens auf Vertraulichkeit von Informationen mit der Begründung, dass eine Offenlegung dieser Informationen „ihre kommerziellen Interessen oder den Schutz ihrer Privatsphäre und ihre Integrität beeinträchtigen könnte“, „ein nachprüfbarer Beweis“ vorzulegen(57). Ferner entfallen Ansprüche auf Vertraulichkeit für Angaben zu einer Verunreinigung oder einer Analysenmethode für eine Verunreinigung, wenn diese Verunreinigungen oder Methoden „als toxikologisch, ökotoxikologisch oder ökologisch relevant angesehen werden“ (Art. 63 Abs. 2 Buchst. b und d).
74. Es gibt kein absolutes öffentliches Recht auf Zugang zu sämtlichen, in dem Dossier eines antragstellenden Unternehmens enthaltenen Daten. Ein solches absolutes Recht wäre mit dem Primärrecht der Union in Gestalt von Art. 15 Abs. 3 AEUV kaum vereinbar, wonach die Unionsorgane in ihren Verordnungen „aufgrund öffentlicher oder privater Interessen geltende Einschränkungen“ des allgemeinen Grundsatzes des möglichst umfassenden Zugangs vorsehen können(58). Ein Dritter hat kein absolutes Recht auf Durchführung einer Gegenrisikobewertung auf der Grundlage der Rohdaten des Dossiers des antragstellenden Unternehmens. Die Rolle Dritter im Risikobewertungsverfahren wird jedoch durch andere Mechanismen innerhalb der Pflanzenschutzmittelverordnung gewährleistet, wie etwa die öffentliche Verbreitung der Kurzfassung des Dossiers des antragstellenden Unternehmens (Art. 10 der Pflanzenschutzmittelverordnung) und des Entwurfs des Bewertungsberichts mit einer Frist zur Stellungnahme (Art. 12 der Pflanzenschutzmittelverordnung).
75. Meines Erachtens stehen die von den Unionsorganen in der Pflanzenschutzmittelverordnung erlassenen Bestimmungen über den Zugang der Öffentlichkeit zu Daten, die vom antragstellenden Unternehmen vorgelegt werden, mit Art. 15 Abs. 3 AEUV und mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten allgemeinen Grundsätzen im Einklang(59). Sie sind dementsprechend angemessen und nicht offensichtlich fehlerhaft.
Vierte Frage
76. Die vierte Frage geht davon aus, dass die Pflanzenschutzmittelverordnung von der Verpflichtung des antragstellenden Unternehmens zur Vorlage von Daten zur „Analyse der langfristigen Toxizität für Pestizide …, die sich im Handel befinden und denen die Bevölkerung ausgesetzt ist“, „befreie“ (d. h., dass eine Vorlage dieser Daten für Anträge auf Zulassung von Pflanzenschutzmitteln nicht erforderlich sei). Insbesondere müssten keine vollständigen Versuche zur Genotoxizität, Karzinogenität und zu endokrinschädlichen Eigenschaften (o. Ä.) durchgeführt werden, sondern würden summarische Versuche als ausreichend angesehen. Diese „Befreiung“ stehe im Gegensatz zu den Datenanforderungen für Anträge auf eine Wirkstoffgenehmigung.
77. Die rechtlichen Anforderungen an die Daten zu Versuchen in Bezug auf die Toxizität für die menschliche Gesundheit unterscheiden sich in der Tat je nachdem, ob es sich um einen Wirkstoff(60) oder ein Pflanzenschutzmittel handelt, für den bzw. das ein Antrag gestellt wird. Genau genommen gibt es keine grundlegende „Befreiung“ von der Vorlage dieser Daten für Pflanzenschutzmittel. Vielmehr legen die Pflanzenschutzmittelverordnung und die Verordnung Nr. 284/2013 fest, dass die vorzulegenden Daten für Pflanzenschutzmittel belegen müssen, dass das „Produkt“ „keine sofortigen oder verzögerten schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen, einschließlich besonders gefährdeter Personengruppen, oder von Tieren – weder direkt noch über das Trinkwasser (unter Berücksichtigung der bei der Trinkwasserbehandlung entstehenden Produkte), über Nahrungs- oder Futtermittel oder über die Luft oder Auswirkungen am Arbeitsplatz oder durch andere indirekte Effekte unter Berücksichtigung bekannter Kumulations- und Synergieeffekte … [hat]“(61). Bei den Datenanforderungen nach der Verordnung Nr. 284/2013 handelt es sich um Mindestanforderungen(62). Die prüfenden Behörden sind jedoch ausdrücklich befugt, zusätzliche Daten zu verlangen. Beispielsweise können sie „zusätzliche Untersuchungen“ verlangen, „wobei die Ergebnisse der Untersuchungen zur akuten Toxizität der einzelnen Pflanzenschutzmittel und die toxikologischen Eigenschaften der Wirkstoffe, die Möglichkeit der Exposition durch eine Kombination der betreffenden Mittel, insbesondere im Hinblick auf sensible Gruppen, sowie die verfügbaren Informationen oder praktischen Erfahrungen mit den betreffenden oder ähnlichen Mitteln berücksichtigt werden müssen“(63).
78. Sollte eine Bewertung belegen, dass ein Risiko für die menschliche Gesundheit (beispielsweise) wegen der langfristigen Toxizität besteht, jedoch unklar sein, wie schwerwiegend dieses Risiko ist, sind die zuständigen Behörden durch die Pflanzenschutzmittelverordnung in keiner Weise daran gehindert, den Antrag auf eine Zulassung dieses Pflanzenschutzmittels in Anwendung des Vorsorgegrundsatzes abzulehnen.
79. Selbstverständlich besteht immer die Möglichkeit, strengere Datenanforderungen vorzusehen. Das Erfordernis einer Analyse der langfristigen Toxizität vor der Zulassung des Inverkehrbringens eines Pflanzenschutzmittels bringt einerseits zusätzliche Kosten mit sich und verzögert andererseits den Zeitpunkt, ab dem dieses Produkt für Landwirte zum Schutz ihrer Kulturpflanzen verfügbar wird. Wie bei vielen Dingen im Leben, bedeutet eine Regulierung hier, einen Ausgleich herzustellen zwischen zwei miteinander widerstreitenden Zielsetzungen, nämlich einem angemessen hohen Schutzniveau für Menschen, Tiere und die Umwelt(64), und der Möglichkeit, Produkte, die die landwirtschaftliche Produktivität erhöhen können, in den Verkehr zu bringen. Es ist nichts dargelegt und bewiesen worden, was die Schlussfolgerung stützen würde, dass der Unionsgesetzgeber bei diesem Ausgleich im Rahmen der Verordnung Nr. 1107/2009 offensichtlich fehlerhaft gehandelt hätte.
Zeitliche Wirkung der Ungültigkeit
80. Die Kommission hat vorgebracht, dass im Fall einer Ungültigerklärung der Verordnung durch den Gerichtshof die Wirkungen der Verordnung gleichwohl aufrechterhalten werden müssten, während die notwendigen Abhilfemaßnahmen von den betreffenden Unionsorganen ergriffen würden.
81. Sollte der Gerichtshof mit meiner vorstehenden Würdigung nicht übereinstimmen, würde ich mich dieser Ansicht angesichts der Komplexität dieses besonderen Rechtsgebiets sowie der etwaigen Nebenfolgen für im Zusammenhang stehende Rechtsakte, deren Rechtsgrundlage die Verordnung Nr. 1107/2009 ist, anschließen. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass die Kontinuität des Pflanzenschutzmittelsystems von wesentlicher Bedeutung ist(65).
Nachtrag
82. In der mündlichen Verhandlung haben die Angeklagten sich in erheblichem Maß auf den „Bericht über das Zulassungsverfahren der EU für Pestizide“ des Parlaments gestützt(66). Dieser Bericht stellt fest, dass „die EU zwar über eines der strengsten Systeme weltweit verfügt, dass allerdings sowohl die Verordnung als solche als auch ihre Umsetzung verbessert werden müssen, damit sie ihrem Ziel gerecht werden kann“(67). Dementsprechend wird eine Reihe von Empfehlungen ausgesprochen.
83. Die Veröffentlichung dieses Berichts ist ein ausgezeichneter Hinweis darauf, dass die in den institutionellen Regelungen der Union vorgesehenen Kontroll- und Überprüfungsverfahren so funktionieren, wie sie sollen. Nichts, was ich in den vorliegenden Schlussanträgen geäußert habe, ist dahin zu verstehen, dass es richtig wäre, wenn der Unionsgesetzgeber sich selbstzufrieden zurücklehnen und nicht darum kümmern würde, wenn die Verwendung hochentwickelter chemischer Zubereitungen in der Landwirtschaft Fragen zu möglichen Risiken für die Gesundheit von Mensch und Tier sowie die Umwelt aufwirft. Dass Empfehlungen abgegeben werden, wonach ein bestehendes Gesetz sinnvoll verbessert werden könnte, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass das bestehende Gesetz so mangelhaft ist, dass es für unzulässig erklärt werden muss. Die meisten Gesetze sind verbesserungsfähig; die Pflanzenschutzmittelverordnung ist wahrscheinlich keine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel. Nach eingehender Prüfung der Verordnung auf der Grundlage der Vorlagefragen komme ich zu dem Ergebnis, dass sie nicht mit einem offensichtlichen Fehler behaftet ist und sich die Frage ihrer Gültigkeit dementsprechend nicht stellt.
Ergebnis
84. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vier vom Tribunal correctionnel de Foix (Strafgericht, Foix, Frankreich) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:
Die Prüfung des Vorbringens vor dem Gerichtshof hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG des Rates beeinträchtigen könnte.