Language of document : ECLI:EU:C:2016:839

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

9. November 2016(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten – Verordnung (EG) Nr. 258/97 – Art. 1 Abs. 2 Buchst. c – Begriff der Lebensmittel und Lebensmittelzutaten mit neuer primärer Molekularstruktur“

In der Rechtssache C‑448/14

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 15. September 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 26. September 2014, in dem Verfahren

Davitas GmbH

gegen

Stadt Aschaffenburg,

Beteiligte:

Landesanwaltschaft Bayern,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano (Berichterstatter) sowie der Richter A. Borg Barthet, E. Levits und F. Biltgen,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. Oktober 2015,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Davitas GmbH, vertreten durch Rechtsanwältin C. Sachs,

–        der Stadt Aschaffenburg, vertreten durch Rechtsanwältin A. Schellenberg,

–        der Landesanwaltschaft Bayern, vertreten durch R. Käβ als Bevollmächtigten,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch I. Chalkias, O. Tsirkinidou und A. Vasilopoulou als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und K. A. Herbout-Borczak als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Januar 2016

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Januar 1997 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten (ABl. 1997, L 43, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 596/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 (ABl. 2009, L 188, S. 14) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 258/97).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Davitas GmbH und der Stadt Aschaffenburg (Deutschland) wegen eines Bescheids der Letztgenannten, mit dem das Inverkehrbringen eines als „De Tox Forte“ bezeichneten Lebensmittels (im Folgenden: De Tox Forte) untersagt wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 1 und 2 der Verordnung Nr. 258/97 heißt es:

„(1)      Die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über neuartige Lebensmittel oder neuartige Lebensmittelzutaten können den freien Verkehr mit Lebensmitteln behindern. Sie können zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen führen und dadurch das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes unmittelbar beeinträchtigen.

(2)      Zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ist dafür Sorge zu tragen, dass neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten einer einheitlichen Sicherheitsprüfung in einem Gemeinschaftsverfahren unterliegen, bevor sie in der [Europäischen Union] in den Verkehr gebracht werden. …“

4        Art. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      In dieser Verordnung ist das Inverkehrbringen neuartiger Lebensmittel und neuartiger Lebensmittelzutaten in der [Union] geregelt.

(2)      Diese Verordnung findet Anwendung auf das Inverkehrbringen von Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten in der [Union], die in dieser bisher noch nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurden und die unter nachstehende Gruppen von Erzeugnissen fallen:

c)      Lebensmittel und Lebensmittelzutaten mit neuer oder gezielt modifizierter primärer Molekularstruktur;

d)      Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die aus Mikroorganismen, Pilzen oder Algen bestehen oder aus diesen isoliert worden sind;

e)      Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die aus Pflanzen bestehen oder aus Pflanzen isoliert worden sind, und aus Tieren isolierte Lebensmittelzutaten, außer Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, die mit herkömmlichen Vermehrungs- oder Zuchtmethoden gewonnen wurden und die erfahrungsgemäß als unbedenkliche Lebensmittel gelten können;

f)      Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, bei deren Herstellung ein nicht übliches Verfahren angewandt worden ist und bei denen dieses Verfahren eine bedeutende Veränderung ihrer Zusammensetzung oder der Struktur der Lebensmittel oder der Lebensmittelzutaten bewirkt hat, was sich auf ihren Nährwert, ihren Stoffwechsel oder auf die Menge unerwünschter Stoffe im Lebensmittel auswirkt.

…“

 Deutsches Recht

5        § 39 Abs. 2 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuchs in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. Juni 2013 (BGBl. 2013 I S. 1426), geändert durch Gesetz vom 7. August 2013 (BGBl. 2013 I S. 3154), bestimmt:

„Die zuständigen Behörden treffen die notwendigen Anordnungen und Maßnahmen, die zur Feststellung oder zur Ausräumung eines hinreichenden Verdachts eines Verstoßes oder zur Beseitigung festgestellter Verstöße oder zur Verhütung künftiger Verstöße sowie zum Schutz vor Gefahren für die Gesundheit oder vor Täuschung erforderlich sind. Sie können insbesondere

3.      das Herstellen, Behandeln oder das Inverkehrbringen von Erzeugnissen verbieten oder beschränken,

…“

6        § 3 Abs. 1 der Verordnung zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Februar 2000 (BGBl. 2000 I S. 123), geändert durch Bekanntmachung vom 27. Mai 2008 (BGBl. 2008 I S. 919), lautet:

„Lebensmittel und Lebensmittelzutaten im Sinne des Artikels 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 258/97 dürfen vorbehaltlich des Absatzes 2 von demjenigen, der für das Inverkehrbringen verantwortlich ist, nicht ohne eine nach den in Artikel 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 258/97 genannten Verfahren erteilte Genehmigung in den Verkehr gebracht werden.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

7        Ab dem 1. August 2012 vermarktete Davitas in Deutschland De Tox Forte, ein Lebensmittel mit Klinoptilolith, einem Mineral vulkanischen Ursprungs, als einziger Zutat.

8        Im Januar 2013 beauftragte die Stadt Aschaffenburg das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (Deutschland) mit der Begutachtung einer Probe dieses Produkts.

9        In seinem Gutachten vom 1. März 2013 stellte dieses Amt fest, dass Klinoptilolith als „neuartige Lebensmittelzutat“ im Sinne der Verordnung Nr. 258/97 anzusehen sei, da kein Beleg dafür vorgelegt worden sei, dass diese Zutat in der Union vor dem 15. Mai 1997 in nennenswertem Umfang für den Verzehr verwendet worden sei.

10      Auf der Grundlage dieses Gutachtens stufte die Stadt Aschaffenburg De Tox Forte mit Bescheid vom 6. Juni 2013 als „neuartiges Lebensmittel“ im Sinne der genannten Verordnung ein, da dieses Produkt ausschließlich aus Klinoptilolith bestehe. Sie untersagte deshalb Davitas den Vertrieb des Produkts bis zur Erteilung einer Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß den Bestimmungen der Verordnung Nr. 258/97.

11      Davitas erhob gegen diesen Bescheid Anfechtungsklage vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg (Deutschland). Im Rahmen dieser Klage gestand sie zu, dass Klinoptilolith vor dem 15. Mai 1997 in der Union „nicht in nennenswertem Umfang“ für den menschlichen Verzehr verwendet wurde. Sie machte jedoch geltend, diese Zutat könne jedenfalls nicht als „neuartig“ eingestuft werden, da sie nicht das zweite Tatbestandsmerkmal des Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 258/97 erfülle, weil sie unter keine der in den Buchst. c bis f dieser Bestimmung definierten Kategorien falle.

12      Davitas brachte insbesondere zu der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 258/97 genannten Kategorie vor, Klinoptilolith weise keine „neue primäre Molekularstruktur“ im Sinne dieser Bestimmung auf, da es diese Zutat vor dem 15. Mai 1997 in der Natur mit der gleichen Molekularstruktur gegeben habe, wie sie zur Herstellung von De Tox Forte verwendet werde.

13      Mit Entscheidung vom 23. April 2014 wies das Bayerische Verwaltungsgericht Würzburg die Klage von Davitas mit der Begründung ab, für die Anwendung von Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 258/97 komme es nicht darauf an, dass es Klinoptilolith vor dem 15. Mai 1997 in der Natur mit einer gleichartigen Molekularstruktur, wie sie für die Zubereitung von De Tox Forte verwendet werde, gegeben habe, da erwiesen sei, dass diese Zutat zur damaligen Zeit nicht als Lebensmittel verzehrt worden sei.

14      Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (Deutschland), bei dem die Berufung von Davitas gegen die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg anhängig ist, hat Zweifel, wie Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 258/97 auszulegen ist.

15      Unter diesen Umständen hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Handelt es sich bei dem von der Klägerin vertriebenen De Tox Forte um ein Lebensmittel oder eine Lebensmittelzutat mit neuer Molekularstruktur im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 258/97?

2.      Ist es zur Bejahung dieser Frage insbesondere ausreichend, dass dieses Produkt mit dem Inhaltsstoff Klinoptilolith in seiner bestimmten primären Molekularstruktur noch vor dem 15. Mai 1997 nicht als Lebensmittel verwendet wurde, oder ist es zusätzlich notwendig, dass dieses Produkt durch den Herstellungsprozess mit einem Verfahren erzeugt werden muss, das zu einer neuen oder gezielt modifizierten Molekularstruktur führt, es sich also um einen Stoff handeln muss, den es vorher in der Natur so nicht gegeben hat?

 Zu den Vorlagefragen

16      Mit seinen gemeinsam zu prüfenden Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 258/97 dahin auszulegen ist, dass sich der Begriff „neue primäre Molekularstruktur“ auf Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten bezieht, die vor dem 15. Mai 1997 im Unionsgebiet nicht für den menschlichen Verzehr verwendet wurden, oder aber auf Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, deren Molekularstruktur es vor diesem Datum in der Natur so nicht gab.

17      Zur Beantwortung dieser Frage ist eingangs daran zu erinnern, dass die besagte Verordnung das Inverkehrbringen neuartiger Lebensmittel und neuartiger Lebensmittelzutaten regelt (Urteil vom 9. Juni 2005, HLH Warenvertrieb und Orthica, C‑211/03, C‑299/03 und C‑316/03 bis C‑318/03, EU:C:2005:370, Rn. 81).

18      In Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung wird ihr Geltungsbereich u. a. durch die Festlegung dessen abgegrenzt, was unter neuartigen Lebensmitteln und neuartigen Lebensmittelzutaten zu verstehen ist (Urteile vom 9. Juni 2005, HLH Warenvertrieb und Orthica, C‑211/03, C‑299/03 und C‑316/03 bis C‑318/03, EU:C:2005:370, Rn. 82, und vom 15. Januar 2009, M-K Europa, C‑383/07, EU:C:2009:8, Rn. 15).

19      Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, dass Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten zwei kumulative Voraussetzungen erfüllen müssen, um als „neuartig“ im Sinne der Verordnung Nr. 258/97 eingestuft zu werden.

20      Zum einen ist erforderlich, dass sie in der Union vor dem 15. Mai 1997, dem Datum des Inkrafttretens dieser Verordnung, „noch nicht in nennenswertem Umfang“ für den menschlichen Verzehr verwendet wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2005, HLH Warenvertrieb und Orthica, C‑211/03, C‑299/03 und C‑316/03 bis C‑318/03, EU:C:2005:370, Rn. 82 und 87).

21      Zum anderen müssen sie auch zu einer der Gruppen gehören, die in Art. 1 Abs. 2 Buchst. c bis f der Verordnung ausdrücklich beschrieben werden.

22      Insoweit ist festzustellen, dass die in Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 258/97 definierte Gruppe, die Gegenstand der Vorlagefragen ist, u. a. Lebensmittel und Lebensmittelzutaten „mit neuer … primärer Molekularstruktur“ umfasst.

23      Aus dieser Formulierung ergibt sich, dass sich die in dieser Bestimmung definierte Gruppe von den anderen in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 258/97 genannten Gruppen durch ihren allgemeinen Verweis auf die Merkmale der „primären Molekularstruktur“ eines Lebensmittels oder einer Lebensmittelzutat unterscheidet. Demgegenüber bezieht sich Art. 1 Abs. 2 Buchst. d und e dieser Verordnung spezifischer auf organische Stoffe mit einer besonderen Zusammensetzung, und Art. 1 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung verweist auf Stoffe, bei deren Herstellung ein neues Verfahren angewandt wurde, das eine bedeutende Veränderung ihrer Zusammensetzung oder ihrer Struktur bewirkt hat.

24      Daraus folgt, dass die in Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 258/97 genannte Gruppe verschiedene Stoffe unabhängig von ihrer Zusammensetzung oder ihrem Herstellungsverfahren umfassen kann, soweit sie eine „neue primäre Molekularstruktur“ aufweisen.

25      Allerdings wird dieser Begriff in der Verordnung Nr. 258/97 nicht definiert. Diese enthält somit keine Angaben, anhand deren sich feststellen lässt, ob die in ihrem Art. 1 Abs. 2 Buchst. c genannte Gruppe Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten einschließt, die vor dem 15. Mai 1997 in der Union nicht für den menschlichen Verzehr verwendet wurden, oder ob sie nur Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten erfasst, deren primäre Molekularstruktur neu geschaffen oder gegenüber derjenigen verändert wurde, die es in der Natur vor diesem Datum bereits gab.

26      Wie sich aus ständiger Rechtsprechung ergibt, sind Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem üblichen Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden, zu bestimmen (Urteil vom 24. Juni 2015, Hotel Sava Rogaška, C‑207/14, EU:C:2015:414, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Im vorliegenden Fall erlaubt der übliche Sinn des Begriffs „neue primäre Molekularstruktur“ für sich allein genommen keine eindeutige Auslegung dieses Begriffs. Wie nämlich der Generalanwalt in Nr. 30 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann sich dieser Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch ebenso auf eine neu für die menschliche Ernährung verwendete wie auf eine vom Menschen neu geschaffene oder veränderte primäre Molekularstruktur beziehen.

28      Somit sind für die Auslegung des besagten Begriffs sowohl der Zusammenhang, in dem die Formulierung des Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 258/97 verwendet wird, als darüber hinaus auch die Zielsetzung dieser Verordnung heranzuziehen.

29      Was als Erstes den Zusammenhang dieser Bestimmung betrifft, ist festzustellen, dass es sich, wie vom Generalanwalt in Nr. 39 seiner Schlussanträge ausgeführt, bei der Verordnung Nr. 258/97 insoweit um ein Instrument mit allgemeinem Charakter handelt, als sie alle neuartigen Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten unabhängig von ihrer Natur erfasst, ausgenommen bestimmte Bereiche, die durch sektorielle Rechtsvorschriften geregelt sind.

30      Mit einem solchen Zusammenhang lässt sich aber allein eine Auslegung von Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 258/97 vereinbaren, wonach sich der Begriff „neue primäre Molekularstruktur“ auf Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten bezieht, die vor dem 15. Mai 1997 in der Union nicht für den menschlichen Verzehr verwendet wurden. Eine andere Auslegung dieses Begriffs nähme dieser Verordnung nämlich ihren allgemeinen Charakter, da eine solche Auslegung dazu führte, dass vom Geltungsbereich der Verordnung alle in der Natur vor dem 15. Mai 1997 in ihrer primären Molekularstruktur bereits existierenden Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, u. a. diejenigen mineralischen Ursprungs, ausgenommen würden, die nicht aus den in Art. 1 Abs. 2 Buchst. d und e dieser Verordnung genannten organischen Stoffen bestehen oder die nicht in einem neuen Verfahren im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. f der Verordnung hergestellt werden.

31      Was als Zweites die Ziele der Verordnung Nr. 258/97 anbelangt, ist daran zu erinnern, dass sie durch eine doppelte Zielsetzung gekennzeichnet ist. Sie soll nicht nur das Funktionieren des Binnenmarkts für neuartige Lebensmittel sicherstellen, sondern auch die öffentliche Gesundheit vor den Risiken schützen, die durch diese Lebensmittel entstehen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Januar 2009, M-K Europa, C‑383/07, EU:C:2009:8, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Hierzu sollen mit dieser Verordnung in der Union gemeinsame Standards im Bereich der neuartigen Lebensmittel und Lebensmittelzutaten gesetzt werden, die, wie aus dem zweiten Erwägungsgrund der Verordnung hervorgeht, u. a. damit umgesetzt werden, dass ein Gemeinschaftsverfahren mit einer einheitlichen Prüfung der Sicherheit dieser Lebensmittel und Lebensmittelzutaten vor ihrem Inverkehrbringen in der Union eingerichtet wird (Urteil vom 15. Januar 2009, M-K Europa, C‑383/07, EU:C:2009:8, Rn. 23).

33      Es erweist sich aber, dass allein die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 258/97 dahin, dass der Begriff „neue primäre Molekularstruktur“ Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten erfasst, die vor dem 15. Mai 1997 in der Union nicht für den menschlichen Verzehr verwendet wurden, mit der Verfolgung dieser Ziele in Einklang steht. Mit dieser Auslegung kann nämlich ein wirksamer Schutz der öffentlichen Gesundheit vor den potenziellen Risiken neuartiger Lebensmittel und Lebensmittelzutaten gewährleistet werden, da die einheitliche Sicherheitsprüfung jedes Mal erforderlich sein wird, wenn beabsichtigt wird, für die menschliche Ernährung einen Stoff zu verwenden, der dem Menschen zuvor nicht als Nahrungsmittel gedient hat.

34      Umgekehrt wäre, wenn der Begriff der Lebensmittel und Lebensmittelzutaten mit „neuer primärer Molekularstruktur“ einzig und allein die Stoffe erfassen sollte, die es vor dem 15. Mai 1997 in der Natur mit der gleichen primären Molekularstruktur nicht gab, jeder zu diesem Datum existierende Stoff, der noch nicht für die menschliche Ernährung verwendet wurde und zu keiner der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. d bis f der Verordnung Nr. 258/97 genannten spezifischen Gruppen gehört, automatisch von der in dieser Verordnung vorgesehenen Sicherheitsprüfung vor seinem Inverkehrbringen in der Union befreit, ohne dass es möglich wäre, zu beurteilen, ob eine Gefahr für die Gesundheit besteht.

35      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, vor diesem Hintergrund im Rahmen des Ausgangsverfahrens zu überprüfen, ob die zuständigen nationalen Stellen Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 258/97 bei der Einstufung von De Tox Forte als „neuartiges Lebensmittel“ richtig angewandt haben.

36      Nach alledem ist auf die Fragen zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 258/97 dahin auszulegen ist, dass sich der Begriff „neue primäre Molekularstruktur“ auf Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten bezieht, die vor dem 15. Mai 1997 im Unionsgebiet nicht für den menschlichen Verzehr verwendet wurden.

 Kosten

37      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Januar 1997 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten in der durch die Verordnung (EG) Nr. 596/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sich der Begriff „neue primäre Molekularstruktur“ auf Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten bezieht, die vor dem 15. Mai 1997 im Gebiet der Europäischen Union nicht für den menschlichen Verzehr verwendet wurden.


Da Cruz Vilaça

Tizzano

Borg Barthet

Levits

 

      Biltgen

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. November 2016.

Der Kanzler

 

      Der Präsident der Fünften Kammer

A. Calot Escobar

 

      J. L. da Cruz Vilaça


* Verfahrenssprache: Deutsch.