Language of document : ECLI:EU:C:2020:925

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 12. November 2020(1)

Verbundene Rechtssachen C354/20 PPU und C412/20 PPU

L. und P.,

Beteiligte:

Openbaar Ministerie

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam [Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Übergabe der festgenommenen Person an die ausstellende Justizbehörde – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht – Systemische oder allgemeine Mängel hinsichtlich der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats“






1.        Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass eine Justizbehörde, die einen gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI(2) ausgestellten Europäischen Haftbefehl (EHB) zu vollstrecken hat, die Übergabe der gesuchten Person aussetzen kann, wenn eine echte Gefahr der Verletzung ihrer Grundrechte festgestellt wird.

2.        Die Große Kammer des Gerichtshofs hat entschieden, dass u. a. die Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren (Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, im Folgenden: Charta) eine Ablehnung der Übergabe der gesuchten Person rechtfertigen kann. Dies kann der Fall sein, wenn aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, der den EHB ausgestellt hat, eine Gefahr der Verletzung dieses Grundrechts besteht(3).

3.        Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, hat der Gerichtshof im Urteil Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) die gleiche Methode angewandt, die er zuvor bei systemischen oder allgemeinen Mängeln nicht hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz, sondern hinsichtlich einer Situation in den Gefängnissen angewandt hatte, die potenziell die Würde des Menschen verletzt, über dessen Übergabe im Rahmen des EHB entschieden wird(4).

4.        Nach dieser Methode muss die Justizbehörde, die einen EHB vollstreckt, konkret und genau prüfen, ob neben den systemischen oder allgemeinen Mängeln hinsichtlich der Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme existieren, dass die gesuchte Person im Fall ihrer Übergabe der Gefahr einer Verletzung ihres in Art. 47 der Charta verankerten Grundrechts ausgesetzt sein wird.

5.        Die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) fragt, ob sie angesichts der nach Erlass des Urteils in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) eingetretenen Zuspitzung der allgemeinen Mängel in der polnischen Justiz die von einem polnischen Gericht beantragte Übergabe ablehnen kann, ohne die konkreten Umstände des EHB im Einzelnen prüfen zu müssen.

6.        Aus Gründen, die ich nachstehend erläutern werde, schlage ich dem Gerichtshof vor, die mit dem Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) festgelegte Rechtsprechung zu bestätigen. Ich teile mithin den Standpunkt, den das Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft, Niederlande), die belgische und die irische Regierung sowie  die Kommission in dieser Rechtssache vertreten(5).

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Vertrag über die Europäische Union

7.        Art. 7 sieht vor:

„(1)      Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht. Der Rat hört, bevor er eine solche Feststellung trifft, den betroffenen Mitgliedstaat und kann Empfehlungen an ihn richten, die er nach demselben Verfahren beschließt.

Der Rat überprüft regelmäßig, ob die Gründe, die zu dieser Feststellung geführt haben, noch zutreffen.

(2)      Auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments kann der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat.

(3)      Wurde die Feststellung nach Absatz 2 getroffen, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat. Dabei berücksichtigt er die möglichen Auswirkungen einer solchen Aussetzung auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen.

Die sich aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen des betroffenen Mitgliedstaats sind für diesen auf jeden Fall weiterhin verbindlich.

…“

2.      Charta der Grundrechte der Europäischen Union

8.        Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) bestimmt:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.

…“

3.      Rahmenbeschluss 2002/584

9.        Der zehnte Erwägungsgrund lautet:

„Grundlage für den Mechanismus des [EHB] ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 [EUV] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 des genannten Vertrags mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.“

10.      Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) legt fest:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten.“

11.      Art. 6 („Bestimmung der zuständigen Behörden“) des genannten Rahmenbeschlusses lautet:

„(1)      Ausstellende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist.

(2)      Vollstreckende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats zuständig für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist.

(3)      Jeder Mitgliedstaat unterrichtet das Generalsekretariat des Rates über die nach seinem Recht zuständige Justizbehörde.“

12.      In den Art. 3, 4 und 4a sind die Gründe, aus denen die Vollstreckung eines EHB abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann, aufgezählt.

13.      In Art. 15 („Entscheidung über die Übergabe“) heißt es:

„(1)      Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.

(2)      Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; sie kann eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist.

(3)      Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.“

B.      Nationales Recht

14.      Durch die Wet tot implementatie van het kaderbesluit van de Raad van de Europese Unie betreffende het Europees aanhoudingsbevel en de procedures van overlevering tussen de lidstaten van de Europese Unie)(6) vom 29. April 2004(7) in der durch das Gesetz vom 22. Februar 2017(8) geänderten Fassung wurde der Rahmenbeschluss in niederländisches Recht umgesetzt.

II.    Sachverhalt der Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

A.      Rechtssache C354/20 PPU

15.      Am 7. Februar 2020 stellte der Officier van justitie (Staatsanwalt, Niederlande) beim vorlegenden Gericht einen Antrag auf Vollstreckung eines EHB, den das Sąd Rejonowy w Poznaniu (Rayongericht Posen, Polen) am 31. August 2015 erlassen hatte und der auf die Festnahme eines polnischen Staatsangehörigen ohne Wohnsitz oder Aufenthalt in den Niederlanden und seine Übergabe an Polen zum Zweck der Strafverfolgung wegen Drogenhandels und des Besitzes gefälschter Ausweispapiere gerichtet war.

16.      Am 24. März 2020 setzte die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) das Verfahren aus, damit die gesuchte Person und die Staatsanwaltschaft Stellungnahmen in Anbetracht des Urteils in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) hinsichtlich der jüngsten rechtsstaatlichen Entwicklungen in Polen sowie der eventuellen Auswirkungen auf die Übergabe der gesuchten Person abgeben konnten.

17.      Am 12. Juni 2020 ersuchte die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) nach Vorlage dieser Stellungnahmen den Staatsanwalt, der ausstellenden Justizbehörde bestimmte Fragen zu stellen. Die ausstellende Justizbehörde beantwortete diese Fragen mit Ausnahme der Fragen über den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen), für die sie das vorlegende Gericht aufforderte, sich direkt an den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu wenden.

18.      Daraufhin stellte die Staatsanwaltschaft dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) die ihn betreffenden Fragen, die jedoch unbeantwortet blieben.

19.      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Stehen der Rahmenbeschluss, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und/oder Art. 47 Abs. 2 der Charta dem entgegen, dass die vollstreckende Justizbehörde einen von einem Gericht ausgestellten EHB vollstreckt, wenn die nationalen Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats nach der Ausstellung dieses EHB so geändert wurden, dass das Gericht den Anforderungen des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes bzw. des wirksamen Rechtsschutzes nicht mehr genügt, weil diese Rechtsvorschriften seine Unabhängigkeit nicht mehr gewährleisten?

2.      Stehen der Rahmenbeschluss und Art. 47 Abs. 2 der Charta dem entgegen, dass die vollstreckende Justizbehörde einen EHB vollstreckt, wenn sie festgestellt hat, dass im Ausstellungsmitgliedstaat für jede verdächtige Person – und daher auch für die gesuchte Person – unabhängig von den für die Verfahren gegen die gesuchte Person zuständigen Gerichten dieses Mitgliedstaats, ihrer persönlichen Situation, der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und dem Sachverhalt, auf dem der EHB beruht, eine echte Gefahr der Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht besteht, die damit zusammenhängt, dass die Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats aufgrund systemischer und allgemeiner Mängel nicht mehr unabhängig sind?

3.      Stehen der Rahmenbeschluss und Art. 47 Abs. 2 der Charta dem entgegen, dass die vollstreckende Justizbehörde einen EHB vollstreckt, wenn sie festgestellt hat, dass

–      im Ausstellungsmitgliedstaat für jede verdächtige Person eine echte Gefahr der Verletzung ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, die mit systemischen und allgemeinen Mängeln hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz dieses Mitgliedstaats zusammenhängt,

–      diese systemischen und allgemeinen Mängel deshalb die für die Verfahren gegen die gesuchte Person zuständigen Gerichte dieses Mitgliedstaats nicht nur berühren können, sondern auch tatsächlich berühren und

–      es deshalb ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, dass ihr Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird,

auch wenn die gesuchte Person unabhängig von diesen systemischen und allgemeinen Mängeln keine konkreten Bedenken geäußert hat und ihre persönliche Situation, die Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und der Sachverhalt, auf dem der EHB beruht, unabhängig von diesen systemischen und allgemeinen Mängeln keinen Anlass zur Befürchtung geben, dass die Exekutive und/oder die Legislative im Rahmen des fraglichen Strafverfahrens konkret Druck ausüben oder dieses beeinflussen wird?

B.      Rechtssache C412/20 PPU

20.      Am 23. Juni 2020 stellte der Officier van justitie (Staatsanwalt, Niederlande) beim vorlegenden Gericht einen Antrag auf Vollstreckung eines EHB, der am 26. Mai 2015 vom Sąd okręgowy w Sieradzu (Bezirksgericht Sieradz, Polen) ausgestellt wurde und sich auf die Festnahme und Übergabe einer Person bezieht, die von einem anderen polnischen Gericht zu einer Freiheitsstrafe(9) verurteilt worden war.

21.      Die gesuchte Person beantragte am 17. August 2020 beim vorlegenden Gericht, die Antworten des Gerichtshofs auf die in der Rechtssache C‑354/20 PPU gestellten Vorlagefragen abzuwarten, wogegen der Staatsanwalt keine Einwände geltend machte.

22.      Nach einer Verhandlung am 20. August 2020 beschloss die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam), zu den Vorlagefragen aus der Rechtssache C‑354/20 PPU die folgende Frage hinzuzufügen:

Stehen der Rahmenbeschluss, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und/oder Art. 47 Abs. 2 der Charta dem entgegen, dass die vollstreckende Justizbehörde einen von einem Gericht ausgestellten EHB vollstreckt, wenn dieses Gericht den Anforderungen des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes bzw. des wirksamen Rechtsschutzes nicht genügt und bereits zum Zeitpunkt der Ausstellung des EHB nicht mehr genügte, weil die Rechtsvorschriften im ausstellenden Mitgliedstaat seine Unabhängigkeit nicht gewährleisten und bereits zum Zeitpunkt der Ausstellung des EHB nicht mehr gewährleisteten?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

23.      Die Vorabentscheidungsersuchen sind am 31. Juli 2020 (Rechtssache C‑354/20 PPU) und am 3. September 2020 (Rechtssache C‑412/20 PPU) beim Gerichtshof eingegangen.

24.      Der Gerichtshof hat dem Antrag, die Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattgegeben und die Verfahren verbunden.

25.      Die Vertreter der gesuchten Personen, die Staatsanwaltschaft, die niederländische und die polnische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Sie alle sowie die belgische und die irische Regierung haben an der mündlichen Verhandlung vom 12. Oktober 2020 teilgenommen.

IV.    Würdigung

A.      Vorüberlegungen

1.      Anwendbare Bestimmung des Rahmenbeschlusses

26.      Sowohl im Tenor als auch in der Begründung der Vorlagebeschlüsse wird allgemein auf den Rahmenbeschluss Bezug genommen, ohne dass der Artikel genannt wird, um dessen Auslegung ersucht wird.

27.      Wie in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) kann jedoch auch hier den Vorlagebeschlüssen entnommen werden, dass sich das vorlegende Gericht auf Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses bezieht.

2.      Begründung der Vorabentscheidungsersuchen

28.      Im Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑354/20 PPU stellt die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) fest, es bestehe kein Anlass zur Ablehnung der Vollstreckung des EHB gemäß den in den Art. 3 bis 5 des Rahmenbeschlusses genannten Gründen(10). Obwohl der Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑412/20 PPU eine solche Feststellung nicht enthält, ist davon auszugehen, dass dies für diese Rechtssache ebenfalls gilt.

29.      Die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) ist jedoch der Ansicht, dass die „jüngsten gesetzlichen Entwicklungen in Polen bezüglich der Unabhängigkeit der polnischen Justiz“(11) einen ausreichenden Grund für die Ablehnung der Vollstreckung des EHB darstellen könnten. Sie fragt sich, ob diese Gesetzesreformen an sich und allein aufgrund der Gefahr, dass das in Art. 47 der Charta verankerte Grundrecht der gesuchten Person auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht verletzt werden könne, Auswirkungen auf die Vollstreckung des EHB haben könnten.

30.      Das vorlegende Gericht erklärt im Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑354/20 PPU, es sei vor den oben genannten Reformen und seit dem Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) davon ausgegangen, dass in Polen eine echte Gefahr einer Verletzung des genannten Grundrechts aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz dieses Mitgliedstaats drohe.

31.      Unter diesen Voraussetzungen habe die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) die von der polnischen Justiz ausgestellten EHB bisher in zweifacher Hinsicht, so wie im Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) festgestellt, untersucht. Diese Methode habe folgende Prüfung beinhaltet: a) ob diese Mängel sich auf der Ebene der für die Verfahren gegen die gesuchte Person zuständigen Gerichte auswirken könnten und, b) falls ja, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gebe, dass diese Person einer echten Gefahr einer Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht ausgesetzt sein werde.

32.      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts könnte ein solches Vorgehen angesichts der in den letzten Monaten in Polen verabschiedeten Gesetzesreformen nicht mehr zulässig sein. Diese Reformen führten dazu, dass solche systemischen und allgemeinen Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der polnischen Justiz vorlägen, dass das Recht auf ein unabhängiges Gericht gegenüber keiner einzigen verdächtigen Person, die sich vor den polnischen Gerichten verantworten müsse, gewährleistet sei, und zwar unabhängig von ihrer persönlichen Situation, der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und dem Sachverhalt, auf dem der EHB beruhe.

33.      In diesem neuen Kontext bestehe die Möglichkeit, die Vollstreckung eines EHB abzulehnen, ohne noch im Einzelfall prüfen zu müssen, ob sich die systemischen Mängel negativ auf die konkret für die gesuchte Person zuständigen Gerichte auswirkten und ob für diese Person in Anbetracht ihrer persönlichen Situation eine echte Gefahr bestehe, dass ihr Grundrecht auf ein faires Verfahren verletzt werde(12).

34.      Im Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑412/20 PPU wird ferner festgestellt, dass die vorliegende Rechtssache sich insoweit von der Rechtssache C‑354/20 PPU unterscheide, als der EHB a) sich auf die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe beziehe und b) am 26. Mai 2020 ausgestellt worden sei, d. h. nach den Entwicklungen, aus denen sich ergebe, dass der Druck auf die Unabhängigkeit der polnischen Justiz weiter zugenommen habe.

B.      Zur Beantwortung der Fragen

35.      Die wichtigsten Fragen des vorlegenden Gerichts sind, allgemein betrachtet, die Fragen, die die Möglichkeit betreffen, die Vollstreckung eines EHB abzulehnen, wenn die Gerichte im ausstellenden Mitgliedstaat aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel hinsichtlich ihrer Unabhängigkeit nicht mehr als unabhängig anzusehen sind (zweite Vorlagefrage in der Rechtssache C‑354/20 PPU und einzige Vorlagefrage in der Rechtssache C‑412/20 PPU).

36.      Sollte eine solche allgemeine Situation vorliegen, ist im Anschluss zu prüfen, ob die Vollstreckung eines EHB auch dann abgelehnt werden kann, „wenn die gesuchte Person … keine konkreten Bedenken geäußert hat und ihre persönliche Situation, die Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und der Sachverhalt, auf dem der EHB beruht, … keinen Anlass zur Befürchtung geben, dass die Exekutive und/oder die Legislative im Rahmen des fraglichen Strafverfahrens konkret Druck ausüben oder dieses beeinflussen wird“ (dritte Vorlagefrage in der Rechtssache C‑354/20 PPU).

37.      Schließlich ist zusätzlich zu diesen Fragen zu klären, welcher Zeitpunkt für die Feststellung, ob die einen EHB ausstellende Justizbehörde unabhängig ist, relevant ist (erste Vorlagefrage in der Rechtssache C‑354/20 PPU und einzige Vorlagefrage in der Rechtssache C‑412/20 PPU).

38.      Meiner Überzeugung nach sind die zweite und die dritte Vorlagefrage in der Rechtssache C‑354/20 PPU vor der ersten Vorlagefrage zu beantworten: Erst wenn eingeräumt wird, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines EHB aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats ablehnen kann, kann sinnvollerweise im Anschluss geprüft werden, ob auch die Vollstreckung derjenigen EHB abgelehnt werden kann, die vor bzw. nach dem Zeitpunkt ausgestellt wurden, zu dem die Mängel das vom vorlegenden Gericht beschriebene Ausmaß erreichten.

1.      Auswirkungen der systemischen oder allgemeinen Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats auf die Vollstreckung eines EHB

39.      Der Gerichtshof hat anerkannt, dass die Vollstreckung eines EHB neben den ausdrücklich im Rahmenbeschluss (Art. 3 bis 5) vorgesehenen Fällen auch unter „außergewöhnlichen Umständen“ abgelehnt werden kann, die aufgrund ihrer Schwere eine Beschränkung der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, auf denen die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen aufbaut, erforderlich machen.

40.      Zu diesen „außergewöhnlichen Umständen“ zählen Umstände, die die Gefahr mit sich bringen, dass die gesuchte Person einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt sein wird(13), sowie solche Umstände, die eine echte Gefahr dafür darstellen, dass die Person eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet und damit ihr in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgtes Grundrecht auf ein faires Verfahren angetastet wird(14).

41.      In beiden Fällen – es handelt sich hierbei um die beiden Fälle, über die der Gerichtshof bisher entschieden hat – wird für das Vorliegen „außergewöhnlicher Umstände“ der Nachweis von „systemischen oder allgemeinen Mängeln“ im Ausstellungsmitgliedstaat, sei es im Hinblick auf die Unabhängigkeit seiner Gerichte oder sei es im Hinblick auf die Situation bestimmter Personengruppen oder bestimmter Haftanstalten, vorausgesetzt.

42.      Für die Feststellung, dass solche „außergewöhnlichen Umstände“ vorliegen, ist die vollstreckende Justizbehörde zuständig, die hierfür über „objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben“(15) verfügen muss, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel belegen.

43.      Bei diesen Beurteilungselementen hat der Gerichtshof insbesondere Bezug genommen auf „Anhaltspunkte – wie diejenigen in einem begründeten Vorschlag der Kommission nach Art. 7 Abs. 1 EUV – dafür …, dass wegen systemischer oder allgemeiner Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz … eine echte Gefahr der Verletzung des … Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht“(16).

44.      Der Gerichtshof hat entschieden, dass die vollstreckende Justizbehörde bei Vorliegen derartiger „außergewöhnlicher Umstände“ das im Rahmenbeschluss festgelegte Übergabeverfahren beenden kann. Es handelt sich somit in Bezug auf den Rahmenbeschluss, der, wie ich noch einmal betonen möchte, nur die in den Art. 3 bis 5 genannten Gründe für die Nichtvollstreckung vorsieht, um eine außergewöhnliche Reaktion. Das Unionsrecht reagiert auf die Außergewöhnlichkeit der in einem Mitgliedstaat festgestellten Umstände auf ebenso außergewöhnliche Art und Weise(17).

45.      Diese außergewöhnliche Reaktion hat jedoch ihre Grenzen und ist von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängig. Der Ausnahmecharakter geht nicht so weit, dass die Vollstreckung aller EHB, die von einer Justizbehörde des Mitgliedstaats ausgestellt werden, der systemische oder allgemeine Mängel aufweist, automatisch abzulehnen ist. Die Reaktion des Unionsrechts ist zwar streng, aber gemäßigt und beinhaltet die Pflicht der vollstreckenden Justizbehörde, zu prüfen, ob diese Mängel unter den Umständen der zu beurteilenden Rechtssache zu einer tatsächlichen und echten Verletzung der Grundrechte der gesuchten Person führen können.

46.      Wenn die systemischen oder allgemeinen Mängel die richterliche Unabhängigkeit betreffen, muss die vollstreckende Justizbehörde, nachdem sie festgestellt hat, dass sie eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren mit sich bringen, „in einem zweiten Schritt konkret und genau prüfen, ob es unter den gegebenen Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird“(18).

47.      Die Möglichkeit, die Vollstreckung eines EHB aus anderen als den in den Art. 3 bis 5 des Rahmenbeschlusses genannten Gründen abzulehnen, erfordert folglich eine sorgfältige Prüfung durch die vollstreckende Justizbehörde, die sich in zwei Phasen gliedert:

–      In der ersten Phase muss die Behörde prüfen, ob angesichts der allgemeinen Lage im ersuchenden Mitgliedstaat eine tatsächliche Gefahr einer Grundrechtsverletzung besteht.

–      Wenn dies bejaht wird, muss die Behörde in der zweiten Phase „konkret und genau“ prüfen, ob für die gesuchte Person angesichts der Umstände des Einzelfalls die Gefahr einer Grundrechtsverletzung droht.

48.      Das vorlegende Gericht fragt nun, ob infolge der Zuspitzung systemischer oder allgemeiner Mängel im Ausstellungsmitgliedstaat auf die zweite Phase der zweifachen Prüfung verzichtet werden könne.

49.      Wenn dies der Fall wäre, hätte die vollstreckende Justizbehörde die Umstände des Einzelfalls nicht zu prüfen: Sie könnte das Übergabeverfahren einfach beenden, wenn die Mängel so gravierend werden, dass sie im Ausstellungsmitgliedstaat der Nichtexistenz einer Justizbehörde, die einen solchen Namen auch verdient, gleichkommen.

50.      Die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene Lösung mag zwar attraktiv erscheinen(19), folgt jedoch nicht der bereits vom Gerichtshof vorgegebenen Lösung. Außerdem würde, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen feststellt, eine Ablehnung(20) der Vollstreckung sämtlicher in einem Mitgliedstaat ausgestellten EHB wahrscheinlich zur Straffreiheit zahlreicher Straftaten führen(21).

51.      Die Pflicht zur Verhinderung der Straffreiheit wird auch von der niederländischen Regierung erwähnt. In der mündlichen Verhandlung hat die belgische Regierung des Weiteren erklärt, dass der Vorschlag des vorlegenden Gerichts die Rechte der Opfer der Verbrechen, derentwegen die mit dem EHB gesuchte Person verfolgt werde, verletzen könne(22).

52.      Anders betrachtet könnte es, wenn der These des vorlegenden Gerichts gefolgt würde, als eine Entwertung der professionellen Tätigkeit aller Richter in der Republik Polen verstanden werden, die sich in so sensiblen Rechtsgebieten wie dem Strafrecht bemühen, die im Rahmenbeschluss vorgesehenen Mechanismen der justiziellen Zusammenarbeit einzusetzen. Zusätzlich zu der Gefahr für ihre Unabhängigkeit, die von den oben erwähnten systemischen oder allgemeinen Mängeln ausgeht, wäre es den Gerichten unmöglich, sich als ausstellende oder vollstreckende Justizbehörden an diesen Mechanismen für die innereuropäische Zusammenarbeit zu beteiligen.

53.      Im Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) erkannte der Gerichtshof an, dass das Vorliegen eines begründeten Vorschlags der Kommission nach Art. 7 Abs. 1 EUV, damit der Rat feststellt, dass eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung durch Polen der in Art. 2 EUV genannten Werte besteht, in Verbindung mit anderen Anhaltspunkten eine ausreichende Grundlage für die Feststellung darstellen kann, dass in diesem Mitgliedstaat systemische oder allgemeine Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit seiner Gerichte bestehen(23).

54.      Trotz der zu jenem Zeitpunkt vorliegenden schwerwiegenden Mängel schloss der Gerichtshof die Möglichkeit aus, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines von den Gerichten der Republik Polen ausgestellten EHB automatisch und unterschiedslos ablehnt.

55.      Eine solche allgemeine Entscheidung ist nämlich für die Fälle vorbehalten, in denen der Europäische Rat förmlich feststellt, dass der Ausstellungsmitgliedstaat die in Art. 2 EUV verankerten Werte verletzt.

56.      Dem Gerichtshof zufolge geht „[a]us dem zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses … nämlich hervor, dass die Anwendung des Mechanismus des [EHB] nur ausgesetzt werden darf, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Europäischen Rat gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV mit den Folgen von Art. 7 Abs. 3 EUV festgestellt wird“(24).

57.      Ich stimme mit dem vorlegenden Gericht darin überein, dass die zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) gegebenen Umstände bereits besorgniserregend waren, die danach eingetretenen Umstände jedoch auf eine weitere Zuspitzung hinzudeuten scheinen(25).

58.      Neben den im Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑354/20 PPU genannten Gesetzesreformen zeigen nämlich die jüngsten Urteile des Gerichtshofs, auf die dieser Beschluss ebenfalls verweist(26), dass die systemischen oder allgemeinen Mängel, die im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Gerichte in der Republik Polen ersichtlich sind, eine Gefahr für die Grundrechte der in ihre Zuständigkeit fallenden Personen darstellen.

59.      Auf jeden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der ihm zur Verfügung stehenden Quellen zu entscheiden, ob es zu einer Zunahme der systemischen oder allgemeinen Mängel gekommen ist, die den Gerichtshof im Jahr 2018 veranlassten, ausnahmsweise und unter bestimmten Bedingungen zuzulassen, dass eine vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines EHB aus anderen als den im Rahmenbeschluss ausdrücklich vorgesehenen Gründen ablehnt.

60.      So sehr sich die Bedrohung der Unabhängigkeit der polnischen Gerichte in dieser Hinsicht intensiviert haben mag, ist jedoch eine automatische und unterschiedslose Aussetzung der Anwendung des Rahmenbeschlusses für sämtliche von den polnischen Gerichten ausgestellten EHB nicht ohne Weiteres zulässig.

61.      Eine derart extreme Entscheidung hängt nicht von der Anzahl und der Art der Anzeichen, die auf das Bestehen einer echten Gefahr der Verletzung der Rechte des Betroffenen hindeuten, ab, sondern von der Eigenschaft der Behörde, die für diese Feststellung und die entsprechende Reaktion zuständig ist.

62.      Nach dem Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) ist die den EHB vollstreckende Justizbehörde befugt, nach Feststellung von systemischen oder allgemeinen Mängeln im Ausstellungsmitgliedstaat die Übergabe der gesuchten Person zu verweigern, wenn sie angesichts der Situation dieser Person, der Art der ihr vorgeworfenen Straftat und des Sachverhalts, auf dem der EHB beruht, zu dem Ergebnis kommt, dass für diese Person tatsächlich die Gefahr einer Verletzung des durch Art. 47 der Charta garantierten Grundrechts besteht(27).

63.      In einem solchen Fall wendet die vollstreckende Justizbehörde den Rahmenbeschluss so an, wie er nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auszulegen ist, um den Mechanismus des EHB mit der Achtung der Grundrechte der Union in Einklang zu bringen.

64.      Nach dieser Auslegung wird der Grundsatz der Übergabe beibehalten, jedoch ausnahmsweise ihre Ablehnung zugelassen, wenn in Anbetracht der besonderen Umstände des Falles eine echte Gefahr einer Verletzung der Grundrechte der gesuchten Person besteht.

65.      Wird hingegen nach der Feststellung von systemischen oder allgemeinen Mängeln im Ausstellungsmitgliedstaat automatisch die Vollstreckung sämtlicher EHB abgelehnt, führt dies schlicht und einfach zur Nichtanwendung des Rahmenbeschlusses.

66.      Wie ich bereits erläutert habe, lassen der zehnte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses und die Rechtsprechung des Gerichtshofs in solchen Fällen eine radikale Nichtvollstreckung der EHB nicht zu. Hierfür ist ein spezifischer Rechtsakt erforderlich: die Feststellung durch den Europäischen Rat gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV, dass eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten rechtsstaatlichen Werte durch den Ausstellungsmitgliedstaat vorliegt.

67.      Während systemische oder allgemeine Mängel eine einzelfallbezogene Nichtvollstreckung eines EHB rechtfertigen können, kann nur eine förmliche Feststellung durch den Europäischen Rat einer schweren und anhaltenden Verletzung der in Art. 2 EUV verankerten Werte eine unterschiedslose Nichtanwendung des Rahmenbeschlusses und damit die Nichtvollstreckung aller von den Gerichten des entsprechenden Mitgliedstaats ausgestellten EHB rechtfertigen.

68.      Beide Fälle sind unterschiedlich einzuordnen.

69.      Im ersten Fall (Entscheidung der vollstreckenden Justizbehörde) führen die Mängel zu einer Gefahr,  deren Ausmaß in der konkreten Rechtssache zu prüfen ist. Daher ist es hier erforderlich, dass die vollstreckende Justizbehörde die besonderen Umstände des zu beurteilenden Einzelfalls berücksichtigt.

70.      Im zweiten Fall (Feststellung durch den Europäischen Rat) liegt keine Gefahr mehr vor, sondern vielmehr eine bereits eingetretene Verletzung der in Art. 2 EUV verankerten Werte mit der Folge, dass der Rahmenbeschluss allgemein nicht angewandt wird.

71.      Es geht nicht nur darum, dass in einem Fall die Gefahr einer Rechtsverletzung und im anderen Fall eine Verletzung der Grundsätze von Art. 2 EUV vorliegt. Vielmehr handelt es sich im ersten Fall um systemische oder allgemeine Mängel eines Rechtsschutzsystems, das aufgrund dieser Mängel nicht in der von der eigenen Rechtsordnung beabsichtigten Art und Weise funktioniert. Im zweiten Fall hingegen fallen sämtliche Bedingungen weg, unter denen ein Justizsystem die in Art. 2 EUV verankerten Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit schützen kann.

72.      Die systemischen oder allgemeinen Mängel, die im Hinblick auf die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte festgestellt werden können, ändern meiner Ansicht nach nichts daran, dass es sich bei ihnen weiterhin um Gerichte handelt. Sie behalten diesen Status bei(28), obwohl die Unabhängigkeit der Justiz – im Sinne der Gesamtheit der für die Rechtsprechung zuständigen Organe – durch Regierungsstrukturen (oder sogar durch die nicht ordnungsgemäße Ausübung der Disziplinarfunktionen) bedroht ist. Die Feststellung solcher Mängel, so gravierend sie auch sein mögen, vermag den Gerichten nicht ihre Eigenschaft als solche zu nehmen(29).

73.      Gewiss können systemische oder allgemeine Mängel ein solches Ausmaß aufweisen, dass sich ernsthafte Zweifel an der Achtung der Grundrechte im Ausstellungsmitgliedstaat aufdrängen. Dies wäre der Fall, wenn die Disziplinarordnung der polnischen Richter zum Nachteil ihrer Unabhängigkeit und als ständige Drohung zu ihrer Unterwerfung unter die Exekutive eingesetzt würde, sei es, indem die Anwendung der Disziplinarordnung (auch gerichtlichen) Organen überlassen wird, die nicht die entsprechenden Garantien bieten(30), oder sei es, indem Disziplinarmaßnahmen eingesetzt werden, um voll und ganz rechtmäßige Handlungen der Richter zu verhindern(31).

74.      Die Zuständigkeit der vollstreckenden Justizbehörde beschränkt sich ausschließlich auf denjenigen EHB, über den sie zu entscheiden hat, und ihre Beurteilung der systemischen oder allgemeinen Mängel muss sich auf deren eventuelle Auswirkungen auf den EHB beziehen. Aus diesem Grund kann sich ihre Entscheidung nur auf die Vollstreckung dieses EHB auswirken.

75.      Die Entscheidung, ob die Werte aus Art. 2 EUV gewahrt werden, erstreckt sich hingegen auf die allgemeine Lage des betroffenen Mitgliedstaats und liegt in der ausschließlichen Zuständigkeit des Europäischen Rates, dessen förmliche Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 2 EUV folglich die Anwendung des Rahmenbeschlusses in seiner Gesamtheit in Bezug auf diesen Mitgliedstaat betrifft.

76.      Angesichts der Zuspitzung der systemischen oder allgemeinen Mängel und des Fehlens einer förmlichen Feststellung des Europäischen Rates muss die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) bei der Prüfung der Umstände des EHB, um dessen Vollstreckung sie ersucht wurde, äußerst genau vorgehen(32), sie ist jedoch von der Pflicht, diese Prüfung durchzuführen, nicht befreit.

77.      An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Informationen, die von der ausstellenden Justizbehörde gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses gefordert werden, nicht nur für diese spezielle Prüfung relevant sein müssen, sondern sich auch auf das zu beschränken haben, was die ausstellende Justizbehörde vernünftigerweise zur Verfügung stellen kann(33).

78.      Folglich kann die vollstreckende Justizbehörde in Übereinstimmung mit dem Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems), solange der Europäische Rat nicht förmlich eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Grundsätze durch den Ausstellungsmitgliedstaat festgestellt hat, „einem [EHB] auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses … nur unter außergewöhnlichen Umständen keine Folge leisten, wenn sie nach einer konkreten und genauen Prüfung des Einzelfalls feststellt, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die dieser [EHB] ergangen ist, nach ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, dass ihr Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird“(34).

79.      Aus den Vorlagebeschlüssen geht hervor, dass das vorlegende Gericht keinen Grund sieht, die Übergabe der zwei in den Verfahren gesuchten Personen aus den im Rahmenbeschluss genannten Gründen abzulehnen. Angesichts ihrer persönlichen Situation, der Art der ihnen zur Last gelegten Straftaten und des Sachverhalts, auf dem die EHB beruhen, schließt das vorlegende Gericht außerdem eine Gefahr einer unzulässigen Einflussnahme in ihre Strafverfahren aus.

80.      Wenn es sich so verhält, dann berechtigt die Zuspitzung der systemischen oder allgemeinen Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der polnischen Gerichte das vorlegende Gericht nicht dazu, die Vollstreckung der in Rede stehenden EHB ohne Weiteres abzulehnen.

2.      Relevanter Zeitpunkt für die Beurteilung, ob es sich bei der einen EHB ausstellenden Behörde um eine unabhängige Justizbehörde handelt

81.      Wenn die vollstreckende Justizbehörde, wie ich der Meinung bin, das Übergabeverfahren nicht schon beenden darf, sobald sie schwerwiegende systemische oder allgemeine Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats feststellt, ohne zuvor die Möglichkeit echter und tatsächlicher Auswirkungen dieser Mängel auf die Umstände jedes einzelnen EHB zu prüfen, ist es meiner Ansicht nach unerheblich, ob die Zuspitzung dieser Mängel vor oder nach der Ausstellung des EHB eingetreten ist.

82.      Unabhängig davon, ob die Zuspitzung der Mängel vor der Ausstellung des EHB oder nach seiner Weiterleitung eingetreten ist, ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die ausstellende Justizbehörde (die nach der Übergabe über die gesuchte Person zu entscheiden hat) ihre Unabhängigkeit bewahrt, um ohne Einflussnahme, Drohungen oder Druck von außen über den diese Person betreffenden Fall entscheiden zu können.

83.      Was die Behörde betrifft, die die Übergabe der gesuchten Person beantragt, endet der justizielle Charakter des im Rahmenbeschluss geregelten Verfahrens nicht mit der Ausstellung des EHB.

84.      Wie aus Art. 15 des Rahmenbeschlusses hervorgeht, muss die vollstreckende Justizbehörde jederzeit über einen justiziellen Ansprechpartner im Ausstellungsmitgliedstaat verfügen, damit sie auf der Grundlage ausreichender und zuverlässiger Informationen, die direkt von der ausstellenden Justizbehörde zur Verfügung gestellt wurden, über die Übergabe entscheiden kann.

85.      In Anbetracht der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Freiheit, zu der es beim Übergabeverfahren kommt(35), kann nämlich die Einholung von zusätzlichen Informationen unerlässlich sein, die der vollstreckenden Justizbehörde die Feststellung ermöglichen, auf welchen Umständen die Ausstellung des EHB genau beruht und insbesondere welche Bedingungen die gesuchte Person nach ihrer Übergabe vorfinden wird.

86.      Das hohe Maß an Vertrauen, auf das sich die vollstreckende Justizbehörde bei der Entscheidung, ob eine Übergabe zulässig ist, verlassen muss, kann nur eine ausstellende Justizbehörde bieten, die in der Zwischenzeit ihre Eigenschaft als unabhängiges Gericht nicht verloren hat.

87.      Die vollstreckende Justizbehörde muss somit prüfen, ob unter den Umständen jedes einzelnen EHB, der ihr vorgelegt wird, das Recht der gesuchten Person auf ein faires Verfahren ernsthaft und tatsächlich gefährdet sein kann. Und dies gilt, wie ich hier noch einmal hervorheben möchte, unabhängig davon, ob die systemischen oder allgemeinen Mängel bei der Ausstellung des EHB auftraten oder ob sie später aufgetreten sind und bei einer eventuellen Übergabe der gesuchten Person fortbestehen.

88.      Im ersten Fall kann die vollstreckende Justizbehörde berechtigte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausstellung des EHB haben. Im zweiten Fall kann sie die Behandlung in Frage stellen, die der gesuchten Person nach ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde möglicherweise zuteilwird.

89.      In beiden Fällen kommt es darauf an, dass die vollstreckende Justizbehörde prüft, inwieweit der eine oder andere Umstand im Fall einer Übergabe zu einer echten Gefahr für die Rechte der gesuchten Person führen kann.

90.      Es ist jedoch anzunehmen, dass die konkrete Gefahr einer Verletzung von Art. 47 der Charta infolge der mangelnden Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde erheblich geringer ausfällt, wenn diese Behörde zum Zeitpunkt der Ausstellung des EHB unabhängig war, selbst wenn sie diese Unabhängigkeit (theoretisch) danach verloren hat.

91.      Von einer geringeren Gefahr ist auch dann auszugehen, wenn der EHB für die Verbüßung einer Freiheitsstrafe ausgestellt wurde, die gegen die gesuchte Person zu einem Zeitpunkt verhängt wurde, zu dem die Unabhängigkeit des erkennenden Gerichts außer Zweifel stand.

V.      Ergebnis

92.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) wie folgt zu antworten:

Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist wie folgt auszulegen:

Solange der Europäische Rat nicht gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV förmlich festgestellt hat, dass eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch den Ausstellungsmitgliedstaat vorliegt, kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur ablehnen, nachdem sie konkret und genau geprüft hat, dass angesichts der Situation der verfolgten Person, der Art der ihr vorgeworfenen Straftat und des Sachverhalts, auf dem dieser Europäische Haftbefehl beruht, ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass die fragliche Person bei einer Übergabe einer echten Gefahr der Verletzung des ihr durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Grundrechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt sein wird.

Diese Gefahr kann unabhängig davon bestehen, ob die systemischen oder allgemeinen Mängel bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls auftraten oder ob sie später aufgetreten sind und bei einer eventuellen Übergabe der gesuchten Person fortbestehen.


1      Originalsprache: Spanisch.


2      Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).


3      Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586), im Folgenden: Urteil Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems).


4      Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, im Folgenden: Urteil Aranyosi und Căldăraru).


5      Die polnische Regierung widerspricht dem Hauptargument des Vorlagebeschlusses, ist jedoch der Auffassung, dass sich die Antworten auf die im Vorlagebeschluss gestellten Fragen ohne Weiteres aus dem Urteil Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) ergeben.


6      Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.


7      Stb. 2004, 195.


8      Stb. 2017, 82.


9      Konkret zur Verbüßung der verbleibenden sieben Monate einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, die am 18. Juli 2019 vom Sąd rejonowy w Wieluniu (Rayongericht Wielun, Polen) wegen Bedrohung und Körperverletzung verhängt worden war.


10      Rn. 4 des Vorlagebeschlusses in der Rechtssache C‑354/20 PPU.


11      Ebd.


12      Diese These deckt sich mit dem Standpunkt, der vom High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) in der Rechtssache C‑216/18 PPU, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems), vertreten, vom Gerichtshof jedoch nicht übernommen wurde. Generalanwalt Tanchev stellte in seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache (EU:C:2018:517) fest, dass „[d]as vorlegende Gericht … der Ansicht [ist], dass es, wenn die Mängel des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats besonders schwerwiegend sind, d. h., wenn dieser Mitgliedstaat die Rechtsstaatlichkeit nicht mehr achtet, die Übergabe abzulehnen habe, ohne überprüfen zu müssen, ob der Betroffene einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird“ (Nr. 98).


13      Urteil in der Rechtssache Aranyosi und Căldăraru, Rn. 104.


14      Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems), Rn. 59.


15      Urteil in der Rechtssache Aranyosi und Căldăraru, Rn. 104.


16      Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems), Rn. 79.


17      Nach Überzeugung des Gerichtshofs ist diese außergewöhnliche Reaktion gerechtfertigt „zum einen [aufgrund von] Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses, nach dem dieser nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in den Art. 2 und 6 EUV niedergelegt sind, zu achten, und zum anderen [aufgrund des] absoluten Charakter[s] des durch Art. 4 der Charta verbürgten Grundrechts“ (Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], Rn. 45). Nach diesem Urteil werden diese Gründe durch Art. 47 Abs. 2 der Charta ergänzt, in dem das Recht auf ein unabhängiges Gericht und damit auf ein faires Verfahren verankert ist (Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], Rn. 59).


18      Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems), Rn. 68, Hervorhebung nur hier.


19      Diese Attraktivität kann über eine gewisse Radikalität jedoch nicht hinwegtäuschen. In der Rechtssache C‑216/18 PPU, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems), vertrat die Kommission den Schlussanträgen von Generalanwalt Tanchev (EU:C:2018:517) zufolge hierzu den Standpunkt, dass sich, „auch wenn festgestellt worden ist, dass die Rechtsstaatlichkeit im Ausstellungsmitgliedstaat … ernsthaft bedroht ist, nicht ausschließen lässt, dass die Gerichte unter bestimmten Umständen in der Lage sind, ein Verfahren mit der Unabhängigkeit zu führen, die erforderlich ist, um die Beachtung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechts sicherzustellen“ (Nr. 108). Die Kommission wiederholt mit anderen Worten den gleichen Standpunkt in Rn. 27 ihrer schriftlichen Erklärungen in der Rechtssache C‑354/20 PPU.


20      Im Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑354/20 PPU erkennt das vorlegende Gericht an, dass eine Bejahung seiner Fragen „de facto die Aussetzung der Übergaben nach Polen, bis die polnischen Rechtsvorschriften die Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörden wieder garantieren“, zur Folge hätte (Rn. 19).


21      Rn. 30 ihrer schriftlichen Erklärungen. Die Staatsanwaltschaft warnt ebenfalls davor, dass eine solche Verallgemeinerung das gesamte Übergabesystem innerhalb der Union undurchführbar machen könne (letzter Absatz ihrer schriftlichen Erklärungen).


22      Die belgische Regierung hat auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 9. Juli 2019, Romeo Castaño/Belgien (CE:ECHR:2019:0709JUD000835117), zur Verletzung des in Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantierten Rechts in solchen Fällen verwiesen, in denen die Staaten ihrer Pflicht zur Zusammenarbeit mit Hilfe des Mechanismus des EHB, um den mutmaßlichen Täter eines Mordes und anderer Straftaten vor Gericht zu stellen, nicht nachkommen.


23      Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems), Rn. 69.


24      Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems), Rn. 70.


25      In ihrem Bericht vom September 2020 über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union warnt die Kommission in Bezug auf Polen: „The reforms, impacting the Constitutional Tribunal, the Supreme Court, ordinary courts, the National Council for the Judiciary and the prosecution service, have increased the influence of the executive and legislative powers over the justice system and therefore weakened judicial independence“. Commission Staff Working Document, 2020 Rule of Law Report, Country Chapter on the rule of law situation in Poland (SWD[2020] 320 final).


26      Insbesondere Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982), und vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234). Außerdem Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen (C‑791/19 R, EU:C:2020:277).


27      Generalanwalt Tanchev befürwortete in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache C‑216/18, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (EU:C:2018:517, Nr. 113), den Vorschlag der Kommission, „zu prüfen, ob es sich bei der Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, um einen politischen Gegner handelt oder sie einer diskriminierten gesellschaftlichen oder ethnischen Gruppe angehört. Die Kommission schlägt ferner vor, insbesondere zu prüfen, ob die Straftat, derentwegen die betroffene Person verfolgt wird, politischer Natur ist oder die Staatsmacht öffentliche Erklärungen zu dieser Straftat oder ihrer Ahndung abgegeben hat.“ Bei den hier in Rede stehenden EHB scheinen solche Zusammenhänge nicht zu bestehen.


28      Wäre dies nicht der Fall, könnte sich dies auch auf andere Bereiche der gerichtlichen Tätigkeit auswirken wie z. B. auf die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen oder die Zuständigkeit für Vorabentscheidungsersuchen (Art. 267 AEUV), die Gerichten im eigentlichen Sinne vorbehalten ist.


29      Die Rechtsprechung, die vom Gerichtshof in Bezug auf die Stellung der Staatsanwaltschaft als Justizbehörde im Rahmen der Ausstellung eines EHB entwickelt wurde, ist somit nicht einschlägig. Vgl. statt aller Urteil vom 27. Mai 2019, OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) (C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456). Bei der mangelnden Unabhängigkeit einer Staatsanwaltschaft, die nach innerstaatlichen Vorschriften Anweisungen unterworfen werden kann, handelt es sich nicht um einen systemischen oder allgemeinen Mangel des institutionellen Systems, sondern um ein Merkmal dieses Systems, und für die Staatsanwaltschaft entfällt infolgedessen die Befugnis zur Ausstellung eines EHB, nicht jedoch die Befugnis für ihre staatsanwaltschaftliche Tätigkeit. Die allgemein fehlende Unabhängigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats kann jedoch nur auf einen Mangel des Justizsystems zurückzuführen sein, da in die Union keine Staaten aufgenommen werden können, deren Gerichte nicht unabhängig sind.


30      Im Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 171), entschied der Gerichtshof, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, festzustellen, ob nach dem Inkrafttreten der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) am 3. April 2018 die Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) als unabhängig und unparteiisch angesehen werden kann, und dass hierfür zu prüfen ist, ob „die objektiven Bedingungen, unter denen die Einrichtung geschaffen wurde, ihre Merkmale sowie die Art und Weise der Ernennung ihrer Mitglieder geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und daher dazu führen können, dass diese Einrichtung nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss“. Im Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen (C‑791/19 R, EU:C:2020:277), hat der Gerichtshof die Anwendung einiger Bestimmungen der polnischen Rechtsvorschriften, auf denen die Zuständigkeit der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) für Disziplinarverfahren gegen Richter beruht, vorläufig ausgesetzt.


31      Im Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234), hat der Gerichtshof, dem die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen polnische Richter, die ihm Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hatten, unterbreitet wurde, festgestellt, dass „[n]ationale Bestimmungen, nach denen gegen nationale Richter ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden kann, weil sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet haben, … daher nicht zugelassen werden“ können (Rn. 58).


32      Insbesondere sind, wie ich bereits erläutert habe, die persönliche Situation der gesuchten Person sowie die Art der ihr vorgeworfenen Straftat und der Sachverhalt, auf dem der EHB beruht, zu berücksichtigen (Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], Rn. 75).


33      Zwei der Fragen, die in der Rechtssache C‑354/20 PPU an die ausstellende Justizbehörde gesendet wurden, könnten eventuell an den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu richten sein. Vgl. Nr. 17 der vorliegenden Schlussanträge.


34      Urteil in der Rechtssache Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems), Rn. 73. Nach Auffassung der niederländischen Regierung entspricht dies dem Ansatz des EGMR, der bei der Feststellung, ob eine konkrete Gefahr besteht, dass die mangelnde Unabhängigkeit zu einer eklatanten Rechtsverweigerung führt, der Prüfung der Umstände des Einzelfalls eine besondere Bedeutung zumisst (Urteile vom 17. Januar 2012, Othman [Abu Qatada] gegen Vereinigtes Königreich [CE:ECHR:2012:0117JUD000813909, §§ 258 bis 262], und vom 9. Juli 2019, Kislov gegen Russland, [CE:ECHR:2019:0709JUD000359810, § 109]). Auf diese Urteile verwies auch Generalanwalt Tanchev in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache C‑216/18 (EU:C:2018:517, Nr. 109) und betonte unter Berufung auf das Urteil des EGMR vom 17. Januar 2012, Othman (Abu Qatada) gegen Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2012:0117JUD000813909, § 272 und §§ 277 bis 279), dass der EGMR „[b]ei der Prüfung, ob die echte Gefahr einer eklatanten Rechtsverweigerung vorliegt, … in der Praxis außerdem nicht nur die Situation im Bestimmungsland, sondern auch die spezifischen Umstände des Betroffenen“ berücksichtigt.


35      Das Übergabeverfahren kann zu einem Freiheitsentzug von bis zu 120 Tagen führen, wie ich in den Schlussanträgen in den Rechtssachen OG (Staatsanwaltschaft Lübeck) und PI (Staatsanwaltschaft Zwickau) (C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:337, Nr. 58) erläutert habe.