Language of document : ECLI:EU:C:2018:911

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

15. November 2018(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen – Anwendungsbereich – Art. 1 Abs. 1 – Begriff ,Zivil- und Handelssachen‘ – Von einem Mitgliedstaat begebene Anleihen – Beteiligung des privaten Sektors an der Umstrukturierung der Staatsschuld dieses Staates – Einseitige, rückwirkende Änderung der Anleihebedingungen – Umschuldungsklauseln – Klage privater Gläubiger, die als natürliche Personen Inhaber solcher Anleihen sind, gegen diesen Staat – Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte“

In der Rechtssache C‑308/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 25. April 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Mai 2017, in dem Verfahren

Hellenische Republik

gegen

Leo Kuhn

erlässt


DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter J.‑C. Bonichot, E. Regan, C. G. Fernlund und S. Rodin,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. April 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Hellenischen Republik, vertreten durch Rechtsanwältin K. Kitzberger,

–        von Herrn Kuhn, vertreten durch Rechtsanwalt M. Brand,

–        der hellenischen Regierung, vertreten durch K. Boskovits, S. Charitaki, M. Vlassi und S. Papaioannou als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Pucciariello, avoccato dello Stato,

–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo und P. Lacerda als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und M. Heller als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Juli 2018

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).


2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Hellenischen Republik und Herrn Leo Kuhn wegen eines Antrags auf Erfüllung der Anleihebedingungen im Zusammenhang mit Anleihen, die von diesem Mitgliedstaat begeben wurden, bzw. auf Schadenersatz wegen Nichteinhaltung dieser Bedingungen.

 Rechtlicher Rahmen

 ESM-Vertrag

3        Am 2. Februar 2012 wurde in Brüssel (Belgien) der Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Estland, Irland, der Hellenischen Republik, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, der Italienischen Republik, der Republik Zypern, dem Großherzogtum Luxemburg, Malta, dem Königreich der Niederlande, der Republik Österreich, der Portugiesischen Republik, der Republik Slowenien, der Slowakischen Republik und der Republik Finnland (im Folgenden: ESM-Vertrag) geschlossen. Sein Art. 12 Abs. 3 sieht vor, dass ab dem 1. Januar 2013 alle neuen Staatsschuldtitel des Euro-Währungsgebiets mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr Umschuldungsklauseln enthalten, die so ausgestaltet sind, dass gewährleistet wird, dass ihre rechtliche Wirkung in allen Rechtsordnungen des Euro-Währungsgebiets gleich ist.

 Unionsrecht

4        Die Erwägungsgründe 4, 15 und 16 der Verordnung Nr. 1215/2012 lauten:

„(4)      Die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen erschweren das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Es ist daher unerlässlich, Bestimmungen zu erlassen, um die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen und eine rasche und unkomplizierte Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen zu gewährleisten, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind.

(15)      Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. Diese Zuständigkeit sollte stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte zu vermeiden.

(16)      Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten sollte durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuzulassen sind. Das Erfordernis der engen Verbindung soll Rechtssicherheit schaffen und verhindern, dass die Gegenpartei vor einem Gericht eines Mitgliedstaats verklagt werden kann, mit dem sie vernünftigerweise nicht rechnen konnte. Dies ist besonders wichtig bei Rechtsstreitigkeiten, die außervertragliche Schuldverhältnisse infolge der Verletzung der Privatsphäre oder der Persönlichkeitsrechte einschließlich Verleumdung betreffen.“

5        Art. 1 Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie gilt insbesondere nicht für Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten oder die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte (acta iure imperii).“

6        Art. 4 Abs. 1 der Verordnung lautet:

„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.“

7        Art. 7 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung lautet:

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:

1.      a)      wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre“.

 Griechisches Recht

8        Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung basiert das Girosystem der griechischen Zentralbank auf Konten im Namen der jeweiligen, vom Gouverneur der griechischen Zentralbank zugelassenen Systemteilnehmer.

9        Nach Art. 6 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 2198/1994 können die Teilnehmer am Girosystem der griechischen Zentralbank Dritten (Investoren) Rechtspositionen in Bezug auf eine Anleihe einräumen; das Rechtsgeschäft, mit dem diese Rechtspositionen eingeräumt werden, wirkt jedoch nur zwischen den betreffenden Parteien und hat ausdrücklich keine Wirkung für oder gegen die Hellenische Republik.

10      Gemäß Art. 6 Abs. 4 dieses Gesetzes wird eine Anleihe durch Gutschrift auf dem Konto eines Teilnehmers am Girosystem übertragen.

11      Im Übrigen sieht das Gesetz Nr. 4050/2012 vom 23. Februar 2012 mit Regeln zur Änderung von Wertpapieren, die vom griechischen Staat emittiert oder garantiert wurden, mit Zustimmung der Anleiheinhaber (FEK A’ 36/23.2.2012) im Wesentlichen vor, dass die Inhaber bestimmter griechischer Staatsanleihen ein Angebot zur „Umstrukturierung“ erhalten, mit dem sie vom griechischen Staat aufgefordert werden, zu entscheiden, ob sie der Änderung der darin genannten in Betracht kommenden Wertpapiere zustimmen.

12      Nach Art. 1 Abs. 4 dieses Gesetzes bedarf die Änderung der Wertpapiere eines Quorums in Höhe von 50 % des gesamten ausstehenden Kapitals der betreffenden Anleihen und einer qualifizierten Mehrheit, die zwei Dritteln des teilnehmenden Kapitals entspricht.

13      Art. 1 Abs. 9 dieses Gesetzes sieht zudem die Einführung einer Umstrukturierungsklausel oder „Collective Action Clause“ (im Folgenden: CAC) vor, die eine Änderung der ursprünglichen Anleihebedingungen mit qualifizierter Mehrheit des ausstehenden Kapitals ermöglicht und auch für die Minderheit gilt.

14      Nach dieser Bestimmung gilt die Entscheidung der Anleiheinhaber, das vom griechischen Staat unterbreitete Umstrukturierungsangebot anzunehmen oder abzulehnen, erga omnes, ist für alle betroffenen Anleihegläubiger bindend und setzt alle etwa entgegenstehenden allgemeinen oder speziellen Gesetze, behördlichen Entscheidungen und Verträge außer Kraft.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

15      Herr Kuhn, wohnhaft in Wien (Österreich), erwarb zu einem nicht genannten Zeitpunkt vor dem Jahr 2011 über eine in Österreich niedergelassene Depotbank von der Hellenischen Republik begebene, dem griechischen Recht unterliegende und an der Börse von Athen (Griechenland) als „Wertrechte“, d. h. im Staatsschuldbuch eingetragene Forderungen, gehandelte Anleihen im Nennwert von 35 000 Euro. Diese Wertrechte wurden im Girosystem der griechischen Zentralbank registriert.

16      Die Staatsanleihen mit Fälligkeit am 20. Februar 2012 wurden dem von der Depotbank für Herrn Kuhn geführten Wertpapierkonto gutgeschrieben. Es handelt sich um Inhaberpapiere, die dem Inhaber das Recht auf Kapitaltilgung bei Fälligkeit und auf Zahlung von Zinsen entsprechend der Anleihebedingungen geben.


17      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts besteht zwischen Herrn Kuhn und der Hellenischen Republik keine Vertragsbeziehung.

18      Dem vorlegenden Gericht zufolge ergibt sich sowohl aus dem Gesetz Nr. 2198/1994 als auch aus den Anleihebedingungen der betreffenden Staatsanleihen, dass zunächst die Teilnehmer am Girosystem der griechischen Zentralbank Inhaber und Gläubiger dieser durch Gutschrift auf ihr Konto übertragenen Anleihen wurden, wobei die Teilnehmer zwar anderen Investoren Rechtspositionen in Bezug auf die Anleihe einräumen können, das Rechtsgeschäft zur Einräumung dieser Rechtspositionen jedoch nur zwischen den betreffenden Parteien wirkt und ausdrücklich keine Wirkung für oder gegen die Hellenische Republik hat.

19      Nach dem Erlass des Gesetzes Nr. 4050/2012 wandelte die Hellenische Republik die von Herrn Kuhn erworbenen Anleihen um und ersetzte sie durch neue Staatsanleihen mit einem niedrigeren Nennwert.

20      Das vorlegende Gericht führt aus, die Hellenische Republik habe nach dem Vorbringen von Herrn Kuhn bis zum Zeitpunkt der Umwandlung Zinsen auf sein Konto bei einer in Österreich niedergelassenen Bank überwiesen. Herr Kuhn habe die konvertierten Anleihen für 7 831,58 Euro verkauft, wodurch ihm gegenüber dem Nennwert der Anleihen bei Fälligkeit am 20. Februar 2012 ein Schaden von 28 673,42 Euro zuzüglich Zinsen und Kosten entstanden sei.

21      Herr Kuhn erhob beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien (Österreich) gegen die Hellenische Republik Klage auf Erfüllung der ursprünglichen Anleihebedingungen für die streitigen Anleihen bzw. auf Schadenersatz wegen deren Nichterfüllung.

22      Mit Beschluss vom 8. Januar 2016 verneinte dieses Gericht seine internationale Zuständigkeit für die Entscheidung über die Klage.

23      Auf das gegen diesen Beschluss erhobene Rechtsmittel lehnte das Oberlandesgericht Wien (Österreich) mit Beschluss vom 25. Februar 2016 die Einrede der Unzuständigkeit der österreichischen Gerichte mit der Begründung ab, Herr Kuhn leite seinen Anspruch nicht aus einem griechischen Gesetzgebungsakt ab, sondern aus den ursprünglichen Anleihebedingungen der fraglichen Staatsanleihen; das zuständige Gericht bestimme sich nach griechischem Recht und damit nach dem Wohnsitz des Gläubigers als Erfüllungsort für die Geldschuld.

24      Die Hellenische Republik hat gegen diesen Beschluss einen außerordentlichen Revisionsrekurs an den Obersten Gerichtshof (Österreich) erhoben.


25      Der Oberste Gerichtshof führt aus, Herr Kuhn berufe sich, indem er die Erfüllung der Anleihebedingungen für die betreffenden Staatsanleihen begehre, zu Recht auf ein behauptetes Rechtsverhältnis zwischen ihm als Erwerber und der Hellenischen Republik als Emittentin der Anleihen, so dass ein vertraglicher „(Sekundär‑)Anspruch“ nach Art. 7 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 vorliege.

26      Unter diesen Umständen hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 7 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen,

–        dass sich der Erfüllungsort im Sinn dieser Bestimmung auch im Fall eines – wie hier – mehrfachen vertraglichen Übergangs einer Forderung nach der erstmaligen vertraglichen Vereinbarung richtet,

–        dass der tatsächliche Erfüllungsort im Fall der Geltendmachung eines Anspruchs auf Einhaltung der Bedingungen einer Staatsanleihe – wie der hier konkret von der Hellenischen Republik begebenen – bzw. des Schadenersatzes wegen Nichterfüllung dieses Anspruchs bereits durch die Zahlung von Zinsen aus dieser Staatsanleihe auf ein Konto eines Inhabers eines inländischen Wertpapierdepots begründet wird,

–        dass der Umstand, dass durch die erstmalige vertragliche Vereinbarung ein rechtlicher Erfüllungsort im Sinn dieser Bestimmung begründet wurde, der Annahme entgegensteht, dass die nachfolgende tatsächliche Erfüllung eines Vertrags einen – weiteren – Erfüllungsort im Sinn dieser Bestimmung begründet?

 Zur Vorlagefrage

27      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem eine Person über eine Depotbank von einem Mitgliedstaat begebene Staatsanleihen erworben hat, dahin auszulegen ist, dass sich der „Ort, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre“, nach den bei der Emission der Anleihen geltenden Anleihebedingungen richtet, oder ob es sich um den Ort handelt, an dem die Anleihebedingungen, etwa durch die Zahlung von Zinsen, tatsächlich erfüllt werden.

28      Die Hellenische Republik sowie die griechische und die italienische Regierung tragen vor, der Ausgangsrechtsstreit falle nicht unter den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012, da er das souveräne Recht eines Mitgliedstaats betreffe, Rechtsvorschriften zur Umstrukturierung seiner Staatsschulden zu erlassen.

29      Folglich ist zunächst zu klären, ob ein Rechtsstreit wie der des Ausgangsverfahrens als ein Rechtsstreit in „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung angesehen werden kann.

30      Nach dieser Vorschrift gilt die Verordnung Nr. 1215/2012 insbesondere nicht für die „Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte (acta iure imperii)“.

31      Da mit der Verordnung Nr. 1215/2012 die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) aufgehoben und ersetzt wurde, gilt die Auslegung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 44/2001 durch den Gerichtshof auch für die Verordnung Nr. 1215/2012, soweit die Bestimmungen dieser beiden Unionsrechtsakte als gleichwertig angesehen werden können (Urteile vom 16. November 2016, Schmidt, C‑417/15, EU:C:2016:881, Rn. 26, und vom 9. März 2017, Pula Parking, C‑551/15, EU:C:2017:193, Rn. 31).

32      Dies ist bei Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 und Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 der Fall, da sie den Anwendungsbereich dieser Verordnungen auf „Zivil- und Handelssachen“ beschränken, aber weder den Inhalt noch die Tragweite dieses Begriffs definieren, der – wie der Gerichtshof entschieden hat – als autonomer Begriff anzusehen ist, bei dessen Auslegung die Zielsetzungen und die Systematik der Verordnungen sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich aus der Gesamtheit der nationalen Rechtsordnungen ergeben, berücksichtigt werden müssen (Urteile vom 11. Juni 2015, Fahnenbrock u. a., C‑226/13, C‑245/13 und C‑247/13, EU:C:2015:383, Rn. 35, und vom 9. März 2017, Pula Parking, C‑551/15, EU:C:2017:193, Rn. 33).

33      Diese Auslegung führt dazu, dass bestimmte Klagen und gerichtliche Entscheidungen wegen der Natur der zwischen den Parteien des Rechtsstreits bestehenden Rechtsbeziehungen oder wegen des Gegenstands des Rechtsstreits vom Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1215/2012 ausgeschlossen sind (Urteil vom 15. Februar 2007, Lechouritou u. a., C‑292/05, EU:C:2007:102, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Dabei hat der Gerichtshof entschieden, dass zwar bestimmte Verfahren, in denen sich eine Behörde und eine Privatperson gegenüberstehen, unter diese Verordnung fallen können, doch verhält es sich anders, wenn die Behörde einen Rechtsstreit im Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse führt (Urteil vom 15. Februar 2007, Lechouritou u. a., C‑292/05, EU:C:2007:102, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).


35      Dies ist insbesondere bei Streitigkeiten der Fall, die einer Wahrnehmung von Hoheitsrechten durch eine der Parteien des Rechtsstreits entspringen, da diese Befugnisse ausübt, die über die im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden allgemeinen Regeln hinausgehen (Urteil vom 15. Februar 2007, Lechouritou u. a., C‑292/05, EU:C:2007:102, Rn. 34).

36      In Bezug auf den Ausgangsrechtsstreit ist daher zu ermitteln, ob er auf Handlungen der Hellenischen Republik zurückgeht, die einer Ausübung hoheitlicher Rechte entspringen.

37      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 62 ff. seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich die Ausübung solcher Rechte im vorliegenden Fall sowohl aus der Natur und den Modalitäten der Änderungen der Vertragsbeziehung zwischen der Hellenischen Republik und den Inhabern der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Staatsanleihen als auch aus den außergewöhnlichen Umständen, unter denen diese Änderungen eingetreten sind.

38      Nachdem der griechische Gesetzgeber das Gesetz Nr. 4050/2012 erlassen und dadurch rückwirkend eine CAC eingeführt hatte, wurden die Anleihen nämlich durch neue Anleihen mit einem erheblich niedrigeren Nennwert ersetzt. Eine derartige Ersetzung von Anleihen war weder in den ursprünglichen Anleihebedingungen vorgesehen noch in den griechischen Rechtsvorschriften, die zum Zeitpunkt der Emission der nach diesen Bedingungen begebenen Anleihen galten.

39      Die rückwirkende Einführung einer CAC ermöglichte es der Hellenischen Republik somit, allen Anleiheinhabern eine wesentliche Änderung der finanziellen Bedingungen dieser Anleihen aufzuerlegen, und zwar auch jenen, die mit dieser Änderung nicht einverstanden waren.

40      Außerdem erfolgte der erstmalige Rückgriff auf die rückwirkende Einführung einer CAC und die daraus resultierende Änderung der erwähnten finanziellen Bedingungen im außergewöhnlichen Kontext und unter den außergewöhnlichen Umständen einer schweren Finanzkrise. Die Maßnahmen gingen insbesondere auf die im Rahmen eines zwischenstaatlichen Unterstützungsmechanismus bestehende Notwendigkeit zurück, die griechische Staatsschuld umzustrukturieren und die Gefahr des Scheiterns des entsprechenden Umstrukturierungsplans auszuschließen, um den Zahlungsausfall Griechenlands zu verhindern und die Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets sicherzustellen. In Erklärungen vom 21. Juli und vom 26. Oktober 2011 bekräftigten die Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets daher, dass in Bezug auf die Beteiligung des privaten Sektors die Situation der Hellenischen Republik eine außergewöhnliche Lösung erfordere.


41      Der außergewöhnliche Charakter dieser Situation ergibt sich auch daraus, dass gemäß Art. 12 Abs. 3 des ESM-Vertrags ab dem 1. Januar 2013 alle neuen Staatsschuldtitel des Euro-Währungsgebiets mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr Umschuldungsklauseln enthalten, die so ausgestaltet sind, dass gewährleistet wird, dass ihre rechtliche Wirkung in allen Rechtsordnungen des Euro-Währungsgebiets gleich ist.

42      Somit ist angesichts des außergewöhnlichen Charakters der Bedingungen und der Umstände, unter denen das Gesetz Nr. 4050/2012 erlassen wurde, mit dem die ursprünglichen Anleihebedingungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Staatsanleihen durch Einführung einer CAC einseitig und rückwirkend geändert wurden, sowie des mit diesem Gesetz verfolgten im Allgemeininteresse liegenden Ziels festzustellen, dass der Ausgangsrechtsstreit auf eine Wahrnehmung hoheitlicher Rechte zurückgeht und aus Handlungen des griechischen Staates in Ausübung dieser hoheitlichen Rechte resultiert, so dass er nicht unter den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 fällt.

43      Nach alledem ist auf die gestellte Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass ein Rechtsstreit wie der des Ausgangsverfahrens, den eine natürliche Person, die von einem Mitgliedstaat begebene Anleihen erworben hatte, gegen diesen führt, wobei sich ihre Klage gegen den Austausch der genannten Anleihen gegen Anleihen mit einem niedrigeren Wert richtet, der ihr durch ein vom nationalen Gesetzgeber unter außergewöhnlichen Umständen erlassenes Gesetz auferlegt wurde, mit dem die Anleihebedingungen einseitig und rückwirkend geändert wurden, indem eine CAC eingeführt wurde, die es der Mehrheit der Inhaber der betreffenden Anleihen ermöglicht, der Minderheit diesen Austausch aufzuzwingen, nicht unter den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne dieser Bestimmung fällt.

 Kosten

44      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass ein Rechtsstreit wie der des Ausgangsverfahrens, den eine natürliche Person, die von einem Mitgliedstaat begebene Anleihen erworben hatte, gegen diesen führt, wobei sich ihre Klage gegen den Austausch der genannten Anleihen gegen Anleihen mit einem niedrigeren Wert richtet, der ihr durch ein vom nationalen Gesetzgeber unter außergewöhnlichen Umständen erlassenes Gesetz auferlegt wurde, mit dem die Anleihebedingungen einseitig und rückwirkend geändert wurden, indem eine Umstrukturierungsklausel eingeführt wurde, die es der Mehrheit der Inhaber der betreffenden Anleihen ermöglicht, der Minderheit diesen Austausch aufzuzwingen, nicht unter den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ im Sinne dieser Bestimmung fällt.

Silva de Lapuerta

Bonichot

Regan

Fernlund

 

Rodin

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. November 2018.

Der Kanzler

 

      Der Präsident

A. Calot Escobar

 

      K. Lenaerts


*      Verfahrenssprache: Deutsch.