Language of document : ECLI:EU:C:2019:345

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

2. Mai 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Lugano‑II‑Übereinkommen – Art. 15 – Verbrauchervertrag – Zusammenhang mit der Richtlinie 2008/48/EG – Verbraucherkreditvertrag – Art. 2 und 3 – Begriffe ‚Verbraucher‘ und ‚Geschäfte, auf die die Richtlinie Anwendung findet‘ – Höchstbetrag des Kredits – Unerheblichkeit in Bezug auf Art. 15 des Lugano‑II‑Übereinkommens“

In der Rechtssache C‑694/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Luxemburg) mit Entscheidung vom 7. Dezember 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Dezember 2017, in dem Verfahren

Pillar Securitisation Sàrl

gegen

Hildur Arnadottir

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen, J. Malenovský und C. G. Fernlund (Berichterstatter) sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Pillar Securitisation Sàrl, vertreten durch A. Moro, avocat,

–        von Frau Arnadottir, vertreten durch M. Mailliet, avocat,

–        der luxemburgischen Regierung, vertreten durch D. Holderer als Bevollmächtigte,

–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo und P. Lacerda als Bevollmächtigte,

–        der schweizerischen Regierung, vertreten durch M. Schöll als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Heller und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. Januar 2019

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des am 30. Oktober 2007 unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, das im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss 2009/430/EG des Rates vom 27. November 2008 genehmigt wurde (ABl. 2009, L 147, S. 1, im Folgenden: Lugano‑II-Übereinkommen).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Pillar Securitisation Sàrl und Frau Hildur Arnadottir wegen eines Antrags auf Rückzahlung eines Kredits.

 Rechtlicher Rahmen

 LuganoII-Übereinkommen

3        In Titel II („Zuständigkeit“) Abschnitt 4 („Zuständigkeit bei Verbrauchersachen“) Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens heißt es:

„(1)      Bilden ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag, den eine Person, der Verbraucher, zu einem Zweck geschlossen hat, der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person zugerechnet werden kann, den Gegenstand des Verfahrens, so bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 4 und des Artikels 5 Nummer 5 nach diesem Abschnitt,

a)      wenn es sich um den Kauf beweglicher Sachen auf Teilzahlung handelt,

b)      wenn es sich um ein in Raten zurückzuzahlendes Darlehen oder ein anderes Kreditgeschäft handelt, das zur Finanzierung eines Kaufs derartiger Sachen bestimmt ist, oder

c)      in allen anderen Fällen, wenn der andere Vertragspartner in dem durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausübt oder eine solche auf irgendeinem Wege auf diesen Staat oder auf mehrere Staaten, einschließlich dieses Staates, ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt.

(3)      Dieser Abschnitt ist nicht auf Beförderungsverträge mit Ausnahme von Reiseverträgen, die für einen Pauschalpreis kombinierte Beförderungs- und Unterbringungsleistungen vorsehen, anzuwenden.“

4        Art. 16 Abs. 2 dieses Übereinkommens lautet:

„Die Klage des anderen Vertragspartners gegen den Verbraucher kann nur vor den Gerichten des durch dieses Übereinkommen gebundenen Staates erhoben werden, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat.“

5        Art. 17 dieses Übereinkommens bestimmt:

„Von den Vorschriften dieses Abschnitts kann im Wege der Vereinbarung nur abgewichen werden:

1.      wenn die Vereinbarung nach der Entstehung der Streitigkeit getroffen wird, oder

2.      wenn sie dem Verbraucher die Befugnis einräumt, andere als die in diesem Abschnitt angeführten Gerichte anzurufen, oder

3.      wenn sie zwischen einem Verbraucher und seinem Vertragspartner, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in demselben durch dieses Übereinkommen gebundenen Staat haben, getroffen ist und die Zuständigkeit der Gerichte dieses Staates begründet, es sei denn, dass eine solche Vereinbarung nach dem Recht dieses Staates nicht zulässig ist.“

6        Der vierte Erwägungsgrund des Beschlusses 2009/430 lautet:

„Angesichts der Parallelität zwischen den Bestimmungen des [Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in seiner konsolidierten Fassung (ABl. 1998, C 27, S. 1) und des am 16. September 1988 in Lugano unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1988, L 319, S. 9)] über die Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sollten die Bestimmungen des Übereinkommens von Lugano an die Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 [des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1)] angepasst werden, damit Urteile im Rechtsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten der Union und mit den betreffenden EFTA-Staaten in gleicher Weise Geltung erhalten.“

 Verordnung Nr. 44/2001 und Verordnung (EU) Nr. 1215/2012

7        Das Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen wurde durch die Verordnung Nr. 44/2001, dann durch die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1), durch die die Verordnung Nr. 44/2001 aufgehoben wurde, ersetzt.

 Richtlinie 2008/48/EG

8        Im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl. 2008, L 133, S. 66) heißt es:

„Mit den Begriffsbestimmungen dieser Richtlinie wird der Bereich der Harmonisierung festgelegt. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Bestimmungen dieser Richtlinie sollte sich daher nur auf den durch diese Begriffsbestimmungen festgelegten Bereich erstrecken. Diese Richtlinie sollte die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran hindern, nach Maßgabe des [Unionsrechts] die Bestimmungen dieser Richtlinie auch auf Bereiche anzuwenden, die nicht in deren Geltungsbereich fallen. So könnte ein Mitgliedstaat für Kreditverträge, die nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen, innerstaatliche Vorschriften beibehalten oder einführen, die den Bestimmungen dieser Richtlinie oder manchen ihrer Bestimmungen außerhalb des Geltungsbereichs dieser Richtlinie ganz oder zum Teil entsprechen, beispielsweise für Kreditverträge über einen Betrag von weniger als 200 [Euro] oder von mehr als 75 000 [Euro]. …“

9        Art. 2 („Geltungsbereich“) dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für Kreditverträge.

(2)      Diese Richtlinie gilt nicht für:

c)      Kreditverträge, bei denen der Gesamtkreditbetrag weniger als 200 [Euro] oder mehr als 75 000 [Euro] beträgt;

…“

10      In Art. 3 Buchst. a der Richtlinie 2008/48 wird der Begriff „Verbraucher“ wie folgt definiert:

„… eine natürliche Person, die bei den von dieser Richtlinie erfassten Geschäften zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann“.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

11      Frau Arnadottir, die ihren Wohnsitz in Island hat, nahm im März 2005 bei der Kaupthing Bank Luxemburg (KBL) ein Darlehen in Höhe von 193 621 074 ISK (isländische Kronen), was mehr als 1 Mio. Euro entspricht, auf. Dieses Darlehen war in einer einzigen Zahlung bis spätestens 1. März 2010 zurückzuzahlen.

12      Zweck dieses Darlehens war es, ihr den Erwerb von Anteilen an der isländischen Gesellschaft Bakkavör Group hf zu ermöglichen, in der sie beschäftigt war.

13      Die Zahlung des Kredits war durch eine Bürgschaft der Bakkavör Group besichert, die, wie das vorlegende Gericht ausführt, frühestens im Jahr 2009 gestellt wurde. Diese Bürgschaft wurde von zwei Mitgliedern der Geschäftsleitung dieser Gesellschaft unterzeichnet, darunter Frau Arnadottir selbst.

14      In der Folge wurde KBL in zwei Unternehmen aufgespalten. Eines dieser beiden, Pillar Securitisation, forderte von Frau Arnadottir die Rückzahlung des Darlehens.

15      Da Frau Arnadottir dieses Darlehen nicht zurückzahlte, erhob Pillar Securitisation im Jahr 2011 Klage vor den luxemburgischen Gerichten und stützte sich dabei auf die Klausel des Darlehensvertrags, die diesen die Zuständigkeit zuwies.

16      Das Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg, Luxemburg) erklärte sich jedoch für die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit nicht zuständig, da Frau Arnadottir als „Verbraucher“ im Sinne von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens zu betrachten sei. Es war der Ansicht, dass die die luxemburgischen Gerichte benennende Gerichtsstandsklausel nicht anzuwenden sei, da sie nicht den in Art. 17 des Lugano‑II-Übereinkommens vorgesehenen Ausnahmebestimmungen entspreche.

17      In zweiter Instanz bestätigte die Cour d’appel (Berufungsgericht, Luxemburg) mit Urteil vom 27. April 2016 die Unzuständigkeit der luxemburgischen Gerichte für die Entscheidung über den Antrag der Pillar Securitisation.

18      Diese hat daraufhin Kassationsbeschwerde eingelegt, in der sie geltend macht, dass die Cour d’appel (Berufungsgericht) gegen Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens verstoßen habe. Sie macht insbesondere erstens geltend, dass die Cour d’appel (Berufungsgericht) zu Unrecht angenommen habe, dass Frau Arnadottir für private Zwecke gehandelt habe. Zweitens habe dieses Gericht den genannten Art. 15 fehlerhaft ausgelegt, indem es davon ausgegangen sei, dass ein Darlehensvertrag über mehr als 1 Mio. Euro, wie er im Ausgangsverfahren in Rede stehe, ein von einem „Verbraucher“ im Sinne des genannten Art. 15 geschlossener Vertrag sein könne.

19      Nach Auffassung der Pillar Securitisation ist für die Klärung, ob ein Kreditvertrag ein von einem Verbraucher im Sinne von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens geschlossener Vertrag ist, zu prüfen, ob er ein „Verbraucherkreditvertrag“ im Sinne der Richtlinie 2008/48 ist. Dies gehe aus dem erläuternden Bericht von Prof. Fausto Pocar zu diesem Übereinkommen (ABl. 2009, C 319, S. 1) hervor. So gelte diese Richtlinie nur für Darlehensverträge über einen Betrag von mehr als 200 Euro oder weniger als 75 000 Euro, sofern die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie keine höhere Obergrenze vorsähen. Da das luxemburgische Recht eine solche Obergrenze nicht vorsehe, falle der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Darlehensvertrag nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie, so dass Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens keine Anwendung finde.

20      Nach Ansicht der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Luxemburg) stellt sich die Frage, wie der Begriff „Verbraucher“ im Sinne von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens und von Art. 3 der Richtlinie 2008/48 auszulegen ist. Sie fragt sich insbesondere, ob die Definition des Geltungsbereichs dieser Richtlinie über Verbraucherkreditverträge Auswirkungen auf die Definition des „Verbrauchers“ im Sinne des genannten Art. 15 hat.

21      Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Kann eine Person im Rahmen eines Kreditvertrags, der aufgrund des Gesamtkreditbetrags nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/48 fällt, als Verbraucher im Sinne von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens angesehen werden, weil der Vertrag für einen Zweck geschlossen wurde, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann, wenn es keine nationale Vorschrift gibt, nach der die Bestimmungen der Richtlinie auf Bereiche angewendet werden, die nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen?

 Zur Vorlagefrage

22      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass für die Bestimmung, ob ein Kreditvertrag ein Kreditvertrag ist, der von einem Verbraucher im Sinne dieses Art. 15 geschlossen wurde, zu prüfen ist, ob er in dem Sinne in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/48 fällt, dass der Gesamtbetrag des in Rede stehenden Kredits die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. c dieser Richtlinie festgelegte Obergrenze nicht überschreitet, und ob insoweit von Bedeutung ist, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie keine höhere Obergrenze vorsehen.

23      Wenn ein Darlehensvertrag wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende ein Vertrag ist, den ein „Verbraucher“ im Sinne von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens geschlossen hat, folgt daraus gemäß Art. 16 dieses Übereinkommens, dass die Gerichte des durch das Lugano‑II-Übereinkommen gebundenen Staates zuständig sind, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, hier die isländischen Gerichte. Ist dagegen der betreffende Vertrag kein Verbrauchervertrag, der unter den genannten Art. 15 fällt, sind die in der Gerichtsstandsklausel dieses Vertrags bezeichneten Gerichte zuständig, im vorliegenden Fall die luxemburgischen Gerichte.

24      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Pillar Securitisation geltend macht, Frau Arnadottir habe für berufliche bzw. gewerbliche Zwecke gehandelt und erfülle nicht die Definition des „Verbrauchers“. Das vorlegende Gericht fragt den Gerichtshof jedoch nicht nach dem Zweck des von einer Person wie Frau Arnadottir aufgenommenen Darlehens. Wie sich aus dem Wortlaut der Vorlagefrage ergibt, fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof vielmehr ausgehend von der Prämisse, dass der fragliche Vertrag zu einem Zweck geschlossen wurde, der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit von Frau Arnadottir zugerechnet werden kann. Überdies enthält die Vorlageentscheidung jedenfalls keine hinreichenden Angaben, damit der Gerichtshof gegebenenfalls sachdienliche Hinweise dazu geben könnte.

25      Der Zweck des Darlehensvertrags, den eine Person wie Frau Arnadottir abgeschlossen hat, ist im Rahmen der vorliegenden Rechtssache folglich nicht zu prüfen.

26      Hingegen ist zu prüfen, ob der Umstand, dass ein Kreditvertrag die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2008/48 festgelegte Obergrenze von 75 000 Euro übersteigt, der Anwendung von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens entgegensteht, wenn das nationale Recht keine über diesem Betrag liegende Obergrenze vorsieht.

27      Was die Auslegung des Lugano‑II-Übereinkommens anbelangt, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass dieses und die entsprechenden Artikel der Verordnungen Nrn. 44/2001 und 1215/2012 beinahe wortgleich sind und gleichwertige Vorschriften dieser Instrumente einheitlich auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Schlömp, C‑467/16, EU:C:2017:993, Rn. 46 und 47).

28      Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens betrifft die Verträge, die eine Person, der Verbraucher, zu einem Zweck geschlossen hat, der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person zugerechnet werden kann. Die betreffenden Verträge sind in Art. 15 Abs. 1 Buchst. a bis c aufgeführt. Wie der Gerichtshof in Bezug auf die gleichwertige Vorschrift der Verordnung Nr. 44/2001, die in die Verordnung Nr. 1215/2012 übernommen worden ist, entschieden hat, erfasst Art. 15 Abs. 1 Buchst. c – mit Ausnahme bestimmter Beförderungsverträge, die nach Art. 15 Abs. 3 des genannten Übereinkommens vom Anwendungsbereich der Zuständigkeitsvorschriften über Verbraucherverträge ausgeschlossen sind – unabhängig von ihrem Gegenstand alle Verträge, die ein Verbraucher mit einem Berufstätigen oder Gewerbetreibenden abschließt und die dessen beruflicher oder gewerblicher Tätigkeit zugerechnet werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2009, Ilsinger, C‑180/06, EU:C:2009:303, Rn. 50).

29      In Art. 3 der Richtlinie 2008/48 wird der „Verbraucher“ als eine natürliche Person definiert, die bei den von dieser Richtlinie erfassten Geschäften zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann.

30      Die in Rede stehenden Geschäfte sind, ohne definiert zu werden, Gegenstand des Art. 2 („Geltungsbereich“) der Richtlinie 2008/48, in dessen Abs. 1 vorgesehen ist, dass diese Richtlinie für Kreditverträge gilt, nach dessen Abs. 2 Buchst. c sie aber nicht für Kreditverträge gilt, bei denen der Gesamtkreditbetrag weniger als 200 Euro oder mehr als 75 000 Euro beträgt.

31      Sodann ergibt sich, wie auch der Generalanwalt in Nr. 31 seiner Schlussanträge sinngemäß ausgeführt hat, aus Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens und aus Art. 3 der Richtlinie 2008/48, dass der Begriff „Verbraucher“ in beiden Rechtsvorschriften weitgehend identisch definiert wird, nämlich als eine Person, die einen Vertrag zu einem Zweck abschließt oder zu einem Zweck handelt, „der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person zugerechnet werden kann“.

32      Die von der Richtlinie 2008/48 erfassten Geschäfte betreffen jedoch nur die Verbraucherkreditverträge, deren Gesamtkreditbetrag weder unterhalb des Schwellenwerts von 200 Euro noch oberhalb der Obergrenze von 75 000 Euro liegt, während bei Verbraucherverträgen im Sinne des Lugano‑II-Übereinkommens ein solcher Schwellenwert und eine solche Obergrenze nicht vorgesehen sind.

33      Es ist daher zu prüfen, ob nur solche Verbraucherkreditverträge in den Anwendungsbereich von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens fallen, die in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/48 fallen, so dass keine Verträge erfasst werden, deren Gesamtkreditbetrag niedriger ist als der Schwellenwert von 200 Euro oder die Obergrenze von 75 000 Euro übersteigt.

34      Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass insbesondere der in anderen unionsrechtlichen Regelungen enthaltene Verbraucherbegriff zu berücksichtigen ist, um die Beachtung der vom Gesetzgeber der Europäischen Union auf dem Gebiet der Verbraucherverträge verfolgten Ziele und die Kohärenz des Unionsrechts zu gewährleisten (Urteile vom 5. Dezember 2013, Vapenik, C‑508/12, EU:C:2013:790, Rn. 25, und vom 25. Januar 2018, Schrems, C‑498/16, EU:C:2018:37, Rn. 28).

35      Jedoch kann diese Notwendigkeit der Sicherstellung einer Kohärenz zwischen verschiedenen Rechtsakten der Union keinesfalls zu einer Auslegung der Bestimmungen einer Verordnung über die Zuständigkeitsvorschriften führen, die ihrer Systematik und ihren Zielsetzungen fremd ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Januar 2014, Kainz, C‑45/13, EU:C:2014:7, Rn. 20).

36      Folglich ist schließlich der Zweck der betreffenden Rechtsvorschriften zu berücksichtigen, im vorliegenden Fall der des Lugano‑II-Übereinkommens und der der Richtlinie 2008/48, um festzustellen, ob nur Verbraucherkreditverträge in den Anwendungsbereich von Art. 15 des Lugano-Übereinkommens fallen, die in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/48 fallen, so dass keine Verträge wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende erfasst werden, deren Gesamtkreditbetrag über der Obergrenze von 75 000 Euro liegt.

37      Hierzu ist festzustellen, dass das Lugano‑II-Übereinkommen und die Richtlinie 2008/48 unterschiedliche Ziele verfolgen.

38      Ziel der Richtlinie 2008/48 ist es, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 7 und 9 ergibt, in Bezug auf Verbraucherkredite in einigen Schlüsselbereichen eine vollständige, unabdingbare Harmonisierung vorzusehen, die als notwendig erachtet wird, um allen Verbrauchern in der Union ein hohes und vergleichbares Maß an Schutz ihrer Interessen zu gewährleisten und um die Entwicklung eines reibungslos funktionierenden Binnenmarkts bei Verbraucherkrediten zu erleichtern (Urteil vom 27. März 2014, LCL Le Crédit Lyonnais, C‑565/12, EU:C:2014:190, Rn. 42).

39      Der Gerichtshof hat darüber hinaus festgestellt, dass dieses Ziel darauf abzielt, einen wirksamen Schutz der Verbraucher vor der unverantwortlichen Gewährung von Krediten, die ihre finanziellen Möglichkeiten überschreiten und zu ihrer Zahlungsunfähigkeit führen können, zu gewährleisten (Urteil vom 27. März 2014, LCL Le Crédit Lyonnais, C‑565/12, EU:C:2014:190‚ Rn. 43).

40      Zu diesem Zweck soll die Richtlinie 2008/48 bestimmte Aspekte des materiellen Rechts der Verbraucherkreditverträge harmonisieren, insbesondere die Bedingungen betreffend die Information des Verbrauchers, der auch Kreditnehmer ist. Damit erlegt sie dem Kreditgeber u. a. vorvertragliche Informationspflichten auf.

41      Bei der Verwirklichung der beiden Ziele dieser Richtlinie – Verbraucherschutz und Erleichterung der Entwicklung eines reibungslos funktionierenden Binnenmarkts bei Verbraucherkrediten – hat der Unionsgesetzgeber die Verbraucherkreditverträge festgelegt, die von den Harmonisierungsmaßnahmen dieser Richtlinie erfasst werden, indem er diese auf Verträge beschränkt hat, deren Gesamtkreditbetrag weder unterhalb des Schwellenwerts von 200 Euro noch oberhalb einer Obergrenze von 75 000 Euro liegt.

42      Ziel des Lugano‑II-Übereinkommens ist es nicht, das materielle Recht der Verbraucherverträge zu harmonisieren, sondern, wie die Verordnung Nr. 44/2001, dann die Verordnung Nr. 1215/2012, die Vorschriften zur Bestimmung der zuständigen Gerichtsbarkeit festzulegen, um einen Rechtsstreit in Zivil- oder Handelssachen zu entscheiden, der sich insbesondere auf einen Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einer Person bezieht, die zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann, um Letztere in diesem Fall zu schützen. Bei der Verfolgung dieses Ziels ist der Anwendungsbereich dieses Übereinkommens nicht auf besondere Beträge beschränkt und erstreckt sich auf alle Vertragstypen, abgesehen von denen, die in Art. 15 Abs. 3 des genannten Übereinkommens aufgeführt sind.

43      Angesichts der unterschiedlichen Ziele der Richtlinie 2008/48 und des Lugano‑II-Übereinkommens ist es für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens unerheblich, dass ein Kreditvertrag wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/48 fällt, da der Gesamtkreditbetrag oberhalb der in Art. 2 Abs. 2 Buchst. c festgelegten Obergrenze von 75 000 Euro liegt.

44      Wenn im Übrigen, wie auch der Generalanwalt in Nr. 48 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Schwellenwerte für den Gesamtkreditbetrag der Richtlinie 2008/48 die Tragweite von Art. 15 des Lugano-II-Übereinkommens begrenzen würden, würde dies dazu führen, dass Personen, die einen Kreditvertrag über einen Betrag von weniger als 200 Euro abgeschlossen haben, nicht die in diesem Art. 15 vorgesehene Schutznorm geltend machen könnten. Eine solche Situation wäre mit den Zielen des Lugano‑II-Übereinkommens jedoch nicht vereinbar, da hinsichtlich der vermuteten Schwäche zwischen einer Person, die einen Kreditvertrag über 100 Euro abgeschlossen hat, und einer, die einen Kreditvertrag über 200 Euro abgeschlossen hat, kein wesentlicher Unterschied besteht.

45      Ebenso verdient in Bezug auf die Obergrenze von 75 000 Euro ein Verbraucher, der einen Kreditvertrag über einen Betrag geschlossen hat, der diese Obergrenze übersteigt, nicht weniger den in diesem Art. 15 vorgesehenen Schutz.

46      Folglich ist auch der Umstand, dass die im nationalen Recht vorgesehene Obergrenze nicht die in der Richtlinie 2008/48 festgelegte Obergrenze übersteigt, für die Feststellung, ob ein Kreditvertrag in den Anwendungsbereich des Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens fällt, unerheblich.

47      Auf der Grundlage dieser Überlegungen ist der in Rn. 19 des vorliegenden Urteils erwähnte erläuternde Bericht von Prof. Pocar, auf den sich Pillar Securitisation bezieht, zu verstehen. In Rn. 81 des Berichts heißt es, dass, verglichen mit den Vorgängerbestimmungen, mit Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens das Spektrum der Verbraucherverträge erheblich ausgeweitet wird. Im Bericht wird weiter ausgeführt, dass mit diesem weiter gefassten Begriff des Verbrauchervertrags der Anwendungsbereich des gebotenen Schutzes ausgeweitet wird und er alle Verträge umfasst, die als Verbraucherverträge in Richtlinien der Union geregelt werden, einschließlich Verbraucherkreditverträge, soweit sie in der Richtlinie 2008/48 geregelt sind. In diesem Zusammenhang ist der Verweis auf diese Richtlinie als Veranschaulichung zu verstehen und kann nicht dahin verstanden werden, dass im Fall von Verbraucherkreditverträgen nur diejenigen, die unter die Richtlinie 2008/48 fallen und die von ihr vorgesehene Obergrenze nicht überschreiten, in den Anwendungsbereich von Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens fallen.

48      Daher ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 15 des Lugano‑II-Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass für die Bestimmung, ob ein Kreditvertrag ein Kreditvertrag ist, der von einem Verbraucher im Sinne dieses Art. 15 geschlossen wurde, nicht zu prüfen ist, ob er in dem Sinne in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/48 fällt, dass der Gesamtbetrag des in Rede stehenden Kredits die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. c dieser Richtlinie festgelegte Obergrenze nicht überschreitet, und dass es insoweit nicht von Bedeutung ist, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie keine höhere Obergrenze vorsehen.

 Kosten

49      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 15 des am 30. Oktober 2007 unterzeichneten Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, das im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss 2009/430/EG des Rates vom 27. November 2008 genehmigt wurde, ist dahin auszulegen, dass für die Bestimmung, ob ein Kreditvertrag ein Kreditvertrag ist, der von einem Verbraucher im Sinne dieses Art. 15 geschlossen wurde, nicht zu prüfen ist, ob er in dem Sinne in den Geltungsbereich der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates fällt, dass der Gesamtbetrag des in Rede stehenden Kredits die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. c dieser Richtlinie festgelegte Obergrenze nicht überschreitet, und dass es insoweit nicht von Bedeutung ist, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie keine höhere Obergrenze vorsehen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.