Language of document : ECLI:EU:T:2016:496

Rechtssache T‑340/14

Andriy Klyuyev

gegen

Rat der Europäischen Union

„Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers – Verteidigungsrechte – Begründungspflicht – Rechtsgrundlage – Anspruch auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz – Nichtbeachtung der Kriterien für die Aufnahme in die Liste – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Eigentumsrecht – Recht auf den guten Ruf“

Urteil des Gerichts (Neunte erweiterte Kammer) vom 15. September 2016 ? II – 0000

Leitsätze – Urteil des Gerichts (Neunte erweiterte Kammer) vom 15. September 2016

1.      Europäische Union – Gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Organe – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Umfang der Kontrolle – Beweis für die Rechtmäßigkeit der Maßnahme – Pflicht der zuständigen Unionsbehörde, im Streitfall die Stichhaltigkeit der gegen die betroffenen Personen oder Organisationen angeführten Begründung zu nachzuweisen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47; Beschluss 2014/119/GASP des Rates; Verordnung Nr. 208/2014 des Rates)

2.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Beschluss über das Einfrieren von Geldern – Verteidigungsrechte – Mitteilung der belastenden Umstände – Folgebeschluss über den Verbleib des Namens einer Person auf der Liste der von den Maßnahmen betroffenen Personen – Stützung dieses Beschlusses auf neue Gesichtspunkte, die im ursprünglichen Beschluss nicht aufgeführt waren – Verletzung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Fehlen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 Abs. 2 Buchst. a und 47; Beschluss 2014/119/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse 2015/143/GASP und 2015/364/GASP geänderten Fassung; Verordnung Nr. 208/2014 des Rates in der durch die Verordnungen 2015/138 und 2015/357 geänderten Fassung)

3.      Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren der Gelder der Personen, die an rechtswidrigen Verwendungen staatlicher Gelder beteiligt sind – Beschluss, der in einem Kontext ergeht, der dem Betroffenen bekannt ist und der es ihm ermöglicht, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu verstehen – Zulässigkeit einer summarischen Begründung – Grenzen – Begründung, die nicht aus einer allgemeinen und stereotypen Formulierung bestehen darf

(Art. 296 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 41 Abs. 2 Buchst. c; Beschluss 2014/119/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse 2015/143/GASP und 2015/364/GASP geänderten Fassung; Verordnung Nr. 208/2014 des Rates in der durch die Verordnungen 2015/138 und 2015/357 geänderten Fassung)

4.      Recht der Europäischen Union – Werte und Ziele der Union – Werte – Achtung der Rechtsstaatlichkeit – Rechtsstaat – Begriff

(Art. 2 EUV und 49 EUV)

5.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren der Gelder der Personen, die an rechtswidrigen Verwendungen staatlicher Gelder des ukrainischen Staates beteiligt sind – Veruntreuung öffentlicher Gelder – Begriff – Veruntreuung öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte, die geeignet sind, die institutionellen und rechtlichen Grundlagen der Ukraine und die Achtung der Rechtsstaatlichkeit in diesem Land zu beeinträchtigen

(Beschluss 2014/119/GASP des Rates, Art. 1 Abs. 1 Buchst. a in der durch den Beschluss 2015/143/GASP geänderten Fassung)

6.      Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen angesichts der Lage in der Ukraine – Einfrieren der Gelder der Personen, die an rechtswidrigen Verwendungen staatlicher Gelder beteiligt sind – Einschränkung des Eigentumsrechts – Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Fehlen – Verletzung des Rechts auf den guten Ruf – Fehlen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 17; Beschluss 2014/119/GASP des Rates in der durch die Beschlüsse 2015/143/GASP und 2015/364/GASP geänderten Fassung; Verordnung Nr. 208/2014 des Rates in der durch die Verordnungen 2015/138 und 2015/357 geänderten Fassung)

1.      Der Rat verfügt zwar in Bezug auf die allgemeinen Kriterien, die beim Erlass restriktiver Maßnahmen anzuwenden sind, über ein weites Ermessen. Die durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Wirksamkeit der gerichtlichen Kontrolle erfordert jedoch, dass sich der Unionsrichter bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Begründung der Entscheidung, den Namen einer bestimmten Person in die Liste der restriktiven Maßnahmen unterliegenden Personen aufzunehmen oder darin zu belassen, vergewissert, dass diese Entscheidung, die eine individuelle Betroffenheit dieser Person begründet, auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht. Dies setzt eine Überprüfung der der Begründung dieser Entscheidung zugrunde liegenden Tatsachen voraus, so dass sich die gerichtliche Kontrolle nicht nur auf die Beurteilung der abstrakten Wahrscheinlichkeit der angeführten Gründe, sondern auch auf die Frage erstreckt, ob diese Gründe – oder zumindest einer von ihnen, der für sich genommen als ausreichend angesehen wird, um die betreffende Entscheidung zu stützen – hinreichend genau und konkret belegt sind.

Die Einleitung eines Gerichtsverfahrens nach der innerstaatlichen Strafprozessordnung und der eventuelle Erlass von Sicherungsmaßnahmen auf nationaler Ebene können wichtige Anhaltspunkte für den Nachweis der Tatsachen, die den Erlass restriktiver Maßnahmen auf der Ebene der Union rechtfertigen, und für die Beurteilung der Notwendigkeit des Erlasses dieser Maßnahmen zur Gewährleistung der Wirkungen der von den nationalen Behörden vorgenommenen Handlungen bilden. Der Erlass der restriktiven Maßnahmen fällt jedoch in die Zuständigkeit des Rates, der unter Berücksichtigung der Ziele der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik und unabhängig von einem dahin gehenden Ersuchen der Behörden des betreffenden Drittstaats und jeder anderen von diesen auf nationaler Ebene getroffenen Maßnahme gestützt auf eine gesicherte tatsächliche Grundlage eigenständig über die Notwendigkeit und die Zweckmäßigkeit des Erlasses derartiger Maßnahmen entscheidet.

Im Übrigen ist es Sache der zuständigen Unionsbehörde, die Stichhaltigkeit der gegen die betroffene Person angeführten Begründung nachzuweisen, und nicht Sache der betroffenen Person, den Negativbeweis der fehlenden Stichhaltigkeit dieser Begründung zu erbringen.

(vgl. Rn. 36, 44, 99, 119, 120)

2.      Das Recht auf Achtung der Verteidigungsrechte – das in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte niedergelegt ist, die nach dem EU-Vertrag den Verträgen rechtlich gleichwertig ist – umfasst den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf Akteneinsicht, während der in Art. 47 der Charta verankerte Anspruch auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verlangt, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht, erlangen kann. Folglich muss der Rat beim Erlass eines Beschlusses, durch den die Aufnahme einer Person, einer Organisation oder einer Einrichtung in die Liste der Personen, Organisationen oder Einrichtungen, gegen die restriktive Maßnahmen erlassen werden, beibehalten wird, das Recht dieser Person, Organisation oder Einrichtung auf vorherige Anhörung beachten, wenn er sich ihr gegenüber in dem Beschluss über die Beibehaltung der Aufnahme in die Liste auf neue Tatsachen stützt, d. h. auf Tatsachen, die im ursprünglichen Beschluss über die Aufnahme nicht genannt waren.

Hatte der Kläger aber Zugang zu den Informationen und den Beweisen, die den Rat dazu veranlassten, die restriktiven Maßnahmen gegen ihn aufrechtzuerhalten, und konnte er rechtzeitig dazu Stellung nehmen, kann nicht auf eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Klägers und seines Anspruchs auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz geschlossen werden.

(vgl. Rn. 55, 56, 59, 61)

3.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 65-71)

4.      Die Achtung der Rechtsstaatlichkeit ist, wie sich aus Art. 2 EUV und aus den Präambeln des EU-Vertrags und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergibt, einer der grundlegenden Werte, auf denen die Union beruht. Sie ist zudem nach Art. 49 EUV eine Voraussetzung für den Beitritt zur Union. Der Begriff der Rechtsstaatlichkeit findet sich im Übrigen auch in der Präambel der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte.

In der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie den Arbeiten der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht, einer Einrichtung des Europarats, findet sich eine nicht erschöpfende Aufzählung der Grundsätze und Normen, die die Rechtsstaatlichkeit ausmachen. Dazu gehören die Grundsätze der Rechtmäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Verbots der Willkür der Exekutive; unabhängige und unparteiische Gerichte, eine wirksame gerichtliche Kontrolle einschließlich der Wahrung der Grundrechte sowie die Gleichheit vor dem Gesetz. Ferner wird in bestimmten Rechtsakten im Zusammenhang mit dem auswärtigen Handeln der Union, wie z.B. der Verordnung Nr. 1638/2006 zur Festlegung allgemeiner Bestimmungen zur Schaffung eines Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstruments unter anderem die Bekämpfung der Korruption als ein der Rechtsstaatlichkeit innewohnender Grundsatz genannt.

(vgl. Rn. 87, 88)

5.      Zwar lässt sich nicht ausschließen, dass bestimmte Handlungen, die die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte betreffen, geeignet sind, die Rechtsstaatlichkeit zu beeinträchtigen; es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass jede in einem Drittland begangene Veruntreuung öffentlicher Vermögenswerte ein Eingreifen der Union im Rahmen ihrer Zuständigkeiten im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit dem Ziel einer Stärkung und Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit in diesem Land rechtfertigt. Eine Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte kann ein Eingreifen der Union im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit dem Ziel der Stärkung und Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit in diesem Land nur dann rechtfertigen, wenn die streitigen Handlungen geeignet sind, die institutionellen und rechtlichen Grundlagen des betreffenden Landes zu beeinträchtigen.

Ein Aufnahmekriterium wie das in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2014/119/GASP des Rates über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Organisationen und Einrichtungen angesichts der Lage in der Ukraine in der durch den Beschluss 2015/143/GASP geänderten Fassung, das insbesondere Personen, die als für die Veruntreuung staatlicher Vermögenswerte der Ukraine verantwortlich identifiziert wurden, betrifft, ist nur insoweit als mit der Rechtsordnung der Union vereinbar anzusehen, als es so ausgelegt werden kann, dass es mit den Erfordernissen der von ihm zu beachtenden höherrangigen Normen, genauer mit dem Ziel der Stärkung und Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine, in Einklang steht. Eine solche Auslegung ermöglicht es im Übrigen, dem weiten Ermessensspielraum Rechnung zu tragen, über den der Rat bei der Aufstellung der allgemeinen Aufnahmekriterien verfügt, und gewährleistet zugleich eine grundsätzlich umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Union im Hinblick auf die Grundrechte. Folglich ist dieses Kriterium dahin auszulegen, dass es nicht abstrakt jede Veruntreuung öffentlicher Vermögenswerte erfasst, sondern nur solche Veruntreuungen öffentlicher Gelder oder Vermögenswerte, die angesichts der Höhe oder der Natur der veruntreuten Gelder oder Vermögenswerte oder in Anbetracht der Tatumstände zumindest geeignet sind, die institutionellen und rechtlichen Grundlagen der Ukraine, namentlich die Grundsätze der Rechtmäßigkeit, des Verbots der Willkür der Exekutive, der wirksamen gerichtlichen Kontrolle und der Gleichheit vor dem Gesetz und letzten Endes die Achtung der Rechtsstaatlichkeit in diesem Land zu beeinträchtigen. So ausgelegt steht das Aufnahmekriterium mit den einschlägigen Zielen des EU-Vertrags in Einklang und in einem angemessenen Verhältnis zu ihnen.

(vgl. Rn. 89-91)

6.      Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Rn. 130-135)