Language of document : ECLI:EU:C:2013:864

Rechtssache C‑209/12

Walter Endress

gegen

Allianz Lebensversicherungs AG

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs)

„Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinien 90/619/EWG und 92/96/EWG – Direktversicherung (Lebensversicherung) – Rücktrittsrecht – Fehlende Belehrung über die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts – Erlöschen des Rücktrittsrechts ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie – Vereinbarkeit mit den Richtlinien 90/619/EWG und 92/96/EWG“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 19. Dezember 2013

1.        Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungsverkehr – Direktversicherung (Lebensversicherung) – Richtlinien 90/619 und 92/96 – Rücktrittsrecht eines Versicherungsnehmers, der nicht über dieses Recht belehrt worden ist – Nationale Bestimmung, nach der ein Rücktrittsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt – Unzulässigkeit

(Richtlinien des Rates 90/619, Art. 15 Abs. 1, und 92/96, Art. 31)

2.        Vorabentscheidungsverfahren – Auslegung – Zeitliche Wirkung der Auslegungsurteile – Rückwirkung – Begrenzung durch den Gerichtshof – Voraussetzungen

(Art. 267 AEUV)

1.        Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs (Zweite Richtlinie Lebensversicherung) in der durch die Richtlinie 92/96 (Dritte Richtlinie Lebensversicherung) geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Bestimmung entgegensteht, nach der ein Rücktrittsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, wenn der Versicherungsnehmer nicht über das Recht zum Rücktritt belehrt worden ist.

Eine solche nationale Bestimmung, wonach das Recht des Versicherungsnehmers, von dem Vertrag zurückzutreten, zu einem Zeitpunkt erlischt, zu dem er über dieses Recht nicht belehrt war, läuft nämlich der Verwirklichung des grundlegenden Ziels der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung – der Information der Versicherungsnehmer – und damit der praktischen Wirksamkeit dieser Richtlinien zuwider. Da Versicherungsverträge rechtlich komplexe Finanzprodukte sind, die je nach anbietendem Versicherer große Unterschiede aufweisen und über einen potenziell sehr langen Zeitraum erhebliche finanzielle Verpflichtungen mit sich bringen können, befindet sich der Versicherungsnehmer dem Versicherer gegenüber in einer schwachen Position, die derjenigen eines Verbrauchers beim Abschluss eines außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrags entspricht. Demnach kann sich der Versicherer nicht mit Erfolg auf Gründe der Rechtssicherheit berufen, um einer Situation abzuhelfen, die er dadurch selbst herbeigeführt hat, dass er seiner unionsrechtlichen Obliegenheit zur Mitteilung von in einer Liste festgelegten Informationen, zu denen insbesondere die Informationen über das Recht des Versicherungsnehmers, vom Vertrag zurückzutreten, gehören, nicht nachgekommen ist.

(vgl. Randnrn. 26, 29, 30, 32 und Tenor)

2.        Siehe Text der Entscheidung.

(vgl. Randnrn. 35-40)