Language of document : ECLI:EU:C:2014:279

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

30. April 2014(*)

„Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie 93/13/EWG – 13. Erwägungsgrund – Art. 1 Abs. 2 – Verbraucherverträge – Hypothekendarlehensvertrag – Hypothekenvollstreckungsverfahren – Nationale Rechtsvorschriften – Ausgewogenes Vertragsverhältnis“

In der Rechtssache C‑280/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de Primera Instancia nº 4 de Palma de Mallorca (Spanien) mit Entscheidung vom 23. April 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Mai 2013, in dem Verfahren

Barclays Bank SA

gegen

Sara Sánchez García,

Alejandro Chacón Barrera

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Borg Barthet sowie der Richter E. Levits und S. Rodin (Berichterstatter),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Barclays Bank SA, vertreten durch J. Rodríguez Cárcamo und B. García Gómez, abogados,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek, É. Gippini Fournier und L. Banciella als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95, S. 29).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Barclays Bank SA (im Folgenden: Barclays) und Frau Sánchez García sowie Herrn Chacón Barrera (im Folgenden: Schuldner) über die Beitreibung von Schulden aus einem zwischen diesen Parteien geschlossenen Hypothekendarlehensvertrag.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Laut dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 93/13

„sind … Käufer von Waren oder Dienstleistungen vor Machtmissbrauch des Verkäufers oder des Dienstleistungserbringers… zu schützen“.

4        Der 13. und der 14. Erwägungsgrund dieser Richtlinie sehen in Bezug auf die nationalen Rechtsvorschriften vor:

„Bei Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, in denen direkt oder indirekt die Klauseln für Verbraucherverträge festgelegt werden, wird davon ausgegangen, dass sie keine missbräuchlichen Klauseln enthalten. Daher sind Klauseln, die auf bindenden Rechtsvorschriften oder auf Grundsätzen oder Bestimmungen internationaler Übereinkommen beruhen, bei denen die Mitgliedstaaten oder die Gemeinschaft Vertragsparteien sind, nicht dieser Richtlinie zu unterwerfen; der Begriff ‚bindende Rechtsvorschriften‘ in Artikel 1 Absatz 2 umfasst auch Regeln, die nach dem Gesetz zwischen den Vertragsparteien gelten, wenn nichts anderes vereinbart wurde.

Die Mitgliedstaaten müssen jedoch dafür sorgen, dass darin keine missbräuchlichen Klauseln enthalten sind, zumal diese Richtlinie auch für die gewerbliche Tätigkeit im öffentlich-rechtlichen Rahmen gilt.“

5        Art. 1 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Zweck dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über missbräuchliche Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern.

(2)      Vertragsklauseln, die auf bindenden Rechtsvorschriften … beruhen, … unterliegen nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie.“

6        In Art. 3 der Richtlinie heißt es:

„(1)      Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.

(2)      Eine Vertragsklausel ist immer dann als nicht im Einzelnen ausgehandelt zu betrachten, wenn sie im Voraus abgefasst wurde und der Verbraucher deshalb, insbesondere im Rahmen eines vorformulierten Standardvertrags, keinen Einfluss auf ihren Inhalt nehmen konnte.

(3)      Der Anhang enthält eine als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste der Klauseln, die für missbräuchlich erklärt werden können.“

7        Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 sieht vor:

„Die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages oder eines anderen Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beurteilt.“

8        Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

9        Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“

10      Unter Nr. 1 des Anhangs der Richtlinie sind die in ihrem Art. 3 Abs. 3 genannten Klauseln aufgeführt. In diesem Anhang heißt es:

„1.      Klauseln, die darauf abzielen oder zur Folge haben, dass

e)      dem Verbraucher, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, ein unverhältnismäßig hoher Entschädigungsbetrag auferlegt wird;

…“

 Spanisches Recht

11      Art. 1911 Código civil (Bürgerliches Gesetzbuch) sieht vor:

„Der Schuldner haftet für die Erfüllung seiner Verbindlichkeiten mit seinem gesamten gegenwärtigen und künftigen Vermögen.“

12      Art. 105 der durch das Dekret vom 8. Februar 1946 (BOE Nr. 58 vom 27. Februar 1946, S. 1518) kodifizierten Ley Hipotecaria (Hypothekengesetz) in der durch das Gesetz 1/2013 geänderten Fassung bestimmt:

„Die Hypothek kann als Garantie für jede Art von Verpflichtungen bestellt werden und lässt die persönliche unbeschränkte Haftung des Schuldners nach Art. 1911 des Código civil unberührt.“

13      Art. 140 dieses Gesetzes lässt jedoch abweichende Vereinbarungen zu, durch die die Haftung des Schuldners beschränkt wird. Dieser Artikel lautet:

„Unbeschadet des Art. 105 kann in der Urkunde über die Bestellung einer freiwilligen Hypothek rechtswirksam vereinbart werden, dass sich die gesicherte Verpflichtung nur auf die mit einer Hypothek belasteten Sachen auswirkt.

In diesem Fall sind die Haftung des Schuldners und das Vorgehen des Gläubigers aufgrund des Hypothekendarlehens auf den Betrag der mit der Hypothek belasteten Sachen beschränkt und erstrecken sich nicht auf die übrigen Vermögensgegenstände des Schuldners.“

14      Art. 570 („Ende der Vollstreckung“) der Ley de enjuiciamiento civil (Zivilprozessgesetz, im Folgenden: LEC) sieht vor:

„Die Vollstreckung endet erst bei vollständiger Erfüllung gegenüber dem Vollstreckungsgläubiger und wird im Wege einer Verfügung des zuständigen Justizbeamten durchgeführt, die unmittelbar gerichtlich angefochten werden kann.“

15      In Art. 579 („Vollstreckung wegen einer Geldforderung im Fall von durch eine Hypothek oder eine Beleihung besonders gesicherten Sachen“) LEC heißt es:

„Reicht der Versteigerungserlös von durch eine Hypothek oder eine Beleihung gesicherten Sachen nicht aus, um den Kredit zu tilgen, kann der Vollstreckungsgläubiger für den Fehlbetrag und unter Angabe des Schuldners die Anordnung der Vollstreckung beantragen; die Vollstreckung erfolgt dann nach den allgemeinen Vollstreckungsvorschriften.“

16      In Art. 671 („Versteigerung ohne Gebot“) LEC in der sich aus dem Gesetz 13/2009 vom 3. November 2009 über die Reform des Prozessrechts zur Einführung der neuen Gerichtskanzlei (BOE Nr. 266 vom 4. November 2009, S. 92103) ergebenden Fassung hieß es:

„Endet die Versteigerung ohne Gebot, kann der Gläubiger beantragen, den Zuschlag ab einem Wert von 50 % des Schätzwerts der Sache oder zu dem ihm insgesamt geschuldeten Betrag zu erteilen.

…“

17      Art. 9 des Real Decreto 716/2009 vom 24. April 2009 zur Regelung bestimmter Aspekte des Gesetzes 2/1981 vom 25. März 1981 zur Regelung des Hypothekenmarktes und anderer Bestimmungen des Hypotheken- und Finanzsystems (BOE Nr. 107 vom 2. Mai 2009, S. 38490) bestimmte:

„Falls der Wert der mit einer Hypothek belasteten Sache aufgrund der Marktentwicklung oder aus irgendeinem anderen Grund den ursprünglich geschätzten Wert um mehr als 20 % unterschreitet …, kann der Kreditgeber nach der Schätzung durch eine zugelassene unabhängige Gesellschaft vom Schuldner verlangen, die Hypothek auf hinreichend weitere Sachen zu erstrecken, damit der Wert des Gegenstands zu dem Darlehen oder Kredit, zu dessen Absicherung der Gegenstand dienen soll, im erforderlichen Verhältnis steht.

… Falls der Schuldner binnen zwei Monaten nach entsprechender Aufforderung die Hypothek weder erweitert noch den vorstehend genannten Teil des Darlehens bzw. Kredits zurückzahlt, wird die Rückzahlung des gesamten Darlehens bzw. des gesamten Kredits gegenüber dem Kreditgeber sofort fällig.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18      Am 30. August 2005 schlossen die Schuldner bei der Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Baleares einen Darlehensvertrag über 91 560 Euro. Zur Sicherung dieses Darlehens bestellten sie eine Hypothek zulasten der Wohnung, in der sie wohnten. Die Parteien nahmen in die Urkunde über die Bestellung der Hypothek eine besondere Klausel auf, der zufolge der Richtwert der Wohnung für den Fall einer etwaigen Versteigerung der Sache auf 149 242,80 Euro festgesetzt wird. Nach Auffassung von Barclays vereinbarten die Vertragsparteien auch die persönliche unbeschränkte Haftung der Schuldner für die Rückzahlung des Darlehens, ohne diese Haftung allein auf den Wert der hypothekarisch belasteten Sache zu beschränken.

19      Mit Urkunde vom 24. Juli 2007 gingen die Forderungen des Darlehensgebers auf Barclays über. Barclays und die Schuldner vereinbarten in einer Urkunde vom selben Tag eine Aufstockung des Darlehensbetrags auf 153 049,08 Euro. Die Schätzung des Werts der mit der Hypothek belasteten Sache und die Klausel über die Haftung der Schuldner wurden nicht geändert. Für diese Punkte, die in die neue Urkunde nicht ausdrücklich aufgenommen wurden, sollten die Bestimmungen des ursprünglichen Hypothekendarlehensvertrags gelten.

20      Nach Ansicht von Barclays wurde das Hypothekendarlehen, da die Schuldner seit dem 24. Oktober 2009 die Darlehensraten nicht mehr bezahlt hatten, am 25. März 2010 fällig. Zu diesem Zeitpunkt betrug die geschuldete Summe aus dem Darlehen insgesamt 150 011,52 Euro.

21      Am 10. Dezember 2010 beantragte Barclays beim Juzgado de Primera Instancia nº 4 de Palma de Mallorca (Gericht erster Instanz Palma de Mallorca IV) die Vollstreckung ihrer hypothekarischen Sicherheit gegen die Schuldner und machte eine Hauptforderung von 148 142,83 Euro, 1 689,95 Euro für fällige Zinsen und 45 003 Euro für Zinsen und Kosten geltend. Der Juzgado de Primera Instancia nº 4 de Palma de Mallorca ordnete mit Entscheidung vom 15. Dezember 2010 die Zwangsvollstreckung in die hypothekarisch belastete Immobilie an.

22      Am 25. Mai 2011 fand die öffentliche Versteigerung dieser Immobilie statt, ohne dass ein Bieter erschien. Gemäß Art. 671 LEC wurde dem Gläubiger, Barclays, der Zuschlag für die Immobilie zum Preis von 74 621,40 Euro erteilt, d. h. zu 50 % des Schätzwerts, den die Parteien in die Urkunde über die Bestellung der Hypothek aufgenommen hatten.

23      Am 18. Oktober 2012 erging auf Antrag von Barclays ein Vollstreckungsbeschluss gegen die Schuldner. Mit diesem Beschluss wurde die Fortsetzung der Zwangsbeitreibung der Restforderung von Barclays für einen Betrag von 95 944,11 Euro, d. h. 75 390,12 Euro für die restliche Hauptforderung, 10 960,50 Euro für die bis zum 25. Mai 2011 festgestellten Zinsen und 9 593,49 Euro für die Kosten der Hypothekenvollstreckung, sowie für einen weiteren vorläufigen Betrag von 22 617,03 Euro für die Zinsen und die Kosten der Vollstreckungsmaßnahmen zugelassen.

24      Die Schuldner legten gegen diesen Beschluss innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist Widerspruch ein. Zur Begründung führten sie aus, Barclays sei für die Immobilie, die einer von ihr selbst in Auftrag gegebenen Schätzungsbescheinigung vom 18. Mai 2007 zufolge mit 182 700 Euro bewertet worden sei, der Zuschlag zu einem Preis von 74 621,40 Euro erteilt worden. Damit aber müsse der Kredit als mit der Zuschlagserteilung zurückgezahlt und der durch den Betrag von 74 621,40 Euro nicht abgedeckte Teil der Forderung von Barclays als beglichen gelten. Außerdem machen sie einen Rechtsmissbrauch und eine ungerechtfertigte Bereicherung von Barclays geltend.

25      Barclays trug gegen diese Begründung des Widerspruchs vor, ihr Kredit sei nicht vollständig zurückgezahlt worden, und das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) habe bereits entschieden, dass in Fällen wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden weder ein Rechtsmissbrauch noch eine ungerechtfertigte Bereicherung vorliege.

26      Unter diesen Umständen hat der Juzgado de Primera Instancia nº 4 de Palma de Mallorca beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die Richtlinie 93/13 und die den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätze des Unionsrechts dahin auszulegen, dass sie der spanischen Regelung für Hypotheken entgegenstehen, die zwar vorsieht, dass der Hypothekengläubiger eine Erhöhung der Garantien verlangen kann, wenn sich der Schätzwert einer hypothekarisch belasteten Immobilie um 20 % verringert, jedoch im Rahmen des Hypothekenvollstreckungsverfahrens nicht vorsieht, dass der Verbraucher/Vollstreckungsschuldner nach kontradiktorischer Schätzung eine Änderung des Schätzwerts begehren kann, und sei es zumindest zu den in Art. 671 LEC vorgesehenen Zwecken, wenn dieser Wert in der Zeit zwischen der Bewilligung der Hypothek und der Vollstreckung aus derselben in gleichem oder höherem Maße gestiegen ist?

2.      Sind die Richtlinie 93/13 und die den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätze des Unionsrechts dahin auszulegen, dass sie dem spanischen Hypothekenvollstreckungsverfahren entgegenstehen, wonach dem Hypothekengläubiger die durch eine Hypothek belastete Immobilie zu 50 % (jetzt 60 %) ihres Schätzwerts zugeschlagen werden kann, was eine ungerechtfertigte Benachteiligung des Verbrauchers/Vollstreckungsschuldners in Höhe von 50 % (jetzt 40 %) des genannten Schätzwerts darstellt?

3.      Sind die Richtlinie 93/13 und die den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätze des Unionsrechts dahin auszulegen, dass ein Rechtsmissbrauch und eine ungerechtfertigte Bereicherung vorliegen, wenn der Vollstreckungsgläubiger, nachdem ihm die hypothekarisch belastete Immobilie zu 50 % (jetzt 60 %) des Schätzwerts zugeschlagen wurde, die Vollstreckung im Hinblick auf die Restschuld beantragt, obwohl der Schätzwert und/oder der reale Wert der versteigerten Sache höher als die gesamten Schulden ist, und zwar trotz der Tatsache, dass dies im Einklang mit dem nationalen Prozessrecht steht?

4.      Sind die Richtlinie 93/13 und die den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätze des Unionsrechts dahin auszulegen, dass die Erteilung des Zuschlags für die hypothekarisch belastete Immobilie, deren Schätzwert und/oder realer Wert höher ist als das gesamte Hypothekendarlehen, zur Anwendung von Art. 570 LEC führt, der an die Stelle der Art. 579 und 671 LEC tritt, und dass demzufolge die Forderung des Vollstreckungsgläubigers in voller Höhe erfüllt ist?

27      Das vorlegende Gericht hat den Parteien Gelegenheit gegeben, sich zu diesen Fragen zu äußern. Barclays hat ausgeführt, dass die spanische Regelung dem Unionsrecht nicht zuwiderlaufe, und beantragt, die Zwangsvollstreckungsmaßnahmen fortzusetzen. Die Vollstreckungsschuldner haben sich mit der Vorlage der Vorabentscheidungsfragen einverstanden erklärt.

 Zu den Vorlagefragen

28      Mit diesen vier Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 93/13 und die den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätze des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, nach denen einerseits der Hypothekengläubiger, obwohl ihm in einer Zwangsversteigerung, in der kein Dritter ein Angebot abgegeben hat, für eine hypothekarisch belastete Immobilie, deren Schätzwert höher ist als die gesamte für diesen Hypothekengläubiger gesicherte Forderung, der Zuschlag zu einem Betrag erteilt worden ist, der 50 % dieses Schätzwerts beträgt, die Zwangsvollstreckung aus dem Titel, auf dem seine Forderung beruht, in Höhe seiner Restforderung fortsetzen kann und andererseits, sobald sich die Schätzung des Werts der hypothekarisch belasteten Immobilie um 20 % verringert, die dem Hypothekengläubiger eingeräumten Sicherheiten ausgeweitet werden können, ohne dass zugunsten des Schuldners die Möglichkeit einer Neubewertung dieser Schätzung nach oben vorgesehen wäre.

29      Zweck der Richtlinie 93/13 ist nach ihrem Art. 1 Abs. 1 die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über missbräuchliche Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern.

30      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie „Vertragsklauseln, die auf bindenden Rechtsvorschriften … beruhen, … nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie [unterliegen]“.

31      Weiter umfasst Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 nach ihrem 13. Erwägungsgrund „auch Regeln, die nach dem [nationalen] Gesetz zwischen den Vertragsparteien gelten, wenn nichts anderes vereinbart wurde“.

32      Nach ständiger Rechtsprechung geht das durch die Richtlinie eingeführte Schutzsystem davon aus, dass der Verbraucher sich gegenüber dem Gewerbetreibenden in einer schwächeren Verhandlungsposition befindet und einen geringeren Informationsstand besitzt (Urteil Aziz, C‑415/11, EU:C:2013:164, Rn. 44).

33      In Anbetracht dieser schwächeren Position sieht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie vor, dass missbräuchliche Klauseln für den Verbraucher unverbindlich sind. Wie sich aus der Rechtsprechung ergibt, handelt es sich um eine zwingende Bestimmung, die darauf abzielt, die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so deren Gleichheit wiederherzustellen (Urteil Aziz, EU:C:2013:164, Rn. 45).

34      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits mehrfach entschieden, dass das nationale Gericht von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 fällt, prüfen und damit dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abhelfen muss, sobald es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt (Urteil Aziz, EU:C:2013:164, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass die Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegensteht, wonach ein mit einem Antrag auf Erlass eines Mahnbescheids befasstes Gericht, sofern der Verbraucher keinen Widerspruch erhebt, weder a limine noch in irgendeiner anderen Phase des Verfahrens von Amts wegen prüfen darf, ob eine Verzugszinsklausel in einem Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher missbräuchlich ist, obwohl es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt (Urteil Banco Español de Crédito, C‑618/10, EU:C:2012:349, Rn. 57).

36      Darüber hinaus hat der Gerichtshof in Rn. 64 des Urteils Aziz (EU:C:2013:164) festgestellt, dass die Richtlinie dahin auszulegen ist, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die im Rahmen eines Hypothekenvollstreckungsverfahrens keine Einwendungen in Bezug auf die Missbräuchlichkeit einer dem vollstreckbaren Titel zugrunde liegenden Vertragsklausel zulässt, dem für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel zuständigen Gericht des Erkenntnisverfahrens aber auch nicht erlaubt, vorläufige Maßnahmen – wie insbesondere die Aussetzung des genannten Vollstreckungsverfahrens – zu treffen, wenn der Erlass dieser Maßnahmen erforderlich ist, um die volle Wirksamkeit seiner Endentscheidung zu gewährleisten.

37      Insoweit ist festzustellen, dass mangels einer Vereinheitlichung der nationalen Zwangsvollstreckungsverfahren die Modalitäten für die Geltendmachung der im Rahmen eines Hypothekenvollstreckungsverfahrens zulässigen Einwendungen einerseits und für die Wahrnehmung der dem Vollstreckungsgericht in diesem Stadium verliehenen Befugnisse, die Rechtmäßigkeit der Klauseln von Verbraucherverträgen zu prüfen, andererseits nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten unterfallen, vorausgesetzt allerdings, dass diese Modalitäten nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzprinzip), und dass sie die Ausübung der den Verbrauchern durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsprinzip) (vgl. entsprechend Urteil Aziz, EU:C:2013:164, Rn. 50).

38      Das Ausgangsverfahren unterscheidet sich jedoch von den den Urteilen Banco Español de Crédito (EU:C:2012:349) und Aziz (EU:C:2013:164) zugrunde liegenden Rechtssachen, in denen die bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten unmittelbar Vertragsklauseln betrafen und die aufgeworfenen Fragen sich auf die Beschränkung der Befugnisse des nationalen Gerichts bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit dieser Klauseln bezogen.

39      Im Ausgangsverfahren führt das vorlegende Gericht keine Vertragsklausel an, die als missbräuchlich eingestuft werden könnte. Die vier Fragen betreffen die Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit der Richtlinie 93/13. Keine der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Vorschriften ist vertraglicher Art. Darüber hinaus betrifft anders als in den den Urteilen Banco Español de Crédito (EU:C:2012:349) und Aziz (EU:C:2013:164) zugrunde liegenden Rechtssachen keine dieser Vorschriften den Umfang der Befugnisse des nationalen Gerichts bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel.

40      Die nationalen Vorschriften, die Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens sind, sind nämlich Rechtsvorschriften und nicht in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertrag aufgenommen worden. Solche Vorschriften fallen nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie, mit der missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen verboten werden sollen.

41      Im Unterschied zu der dem Urteil RWE Vertrieb (C‑92/11, EU:C:2013:180, Rn. 25) zugrunde liegenden Rechtssache, in der sich die Parteien nach den Rn. 29 bis 38 dieses Urteils auf die Ausweitung des Anwendungsbereichs einer vom nationalen Gesetzgeber vorgesehenen Regelung geeinigt hatten, gelten die hier in den Vorlagefragen angesprochenen nationalen Rechtsvorschriften, ohne dass ihr Anwendungsbereich oder ihre Reichweite durch eine Vertragsklausel geändert worden wäre. Deshalb ist die Annahme zulässig, dass die vom nationalen Gesetzgeber vorgesehene vertragliche Ausgewogenheit weiterhin beachtet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil RWE Vertrieb, EU:C:2013:180, Rn. 28). Der Unionsgesetzgeber hat sich, wie aus dem Wortlaut des 13. Erwägungsgrundes und von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 hervorgeht, ausdrücklich dafür entschieden, diese Ausgewogenheit zu schützen.

42      Darüber hinaus gelten die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften zwischen den Vertragsparteien, wenn nichts anderes vereinbart wurde. Nach dem 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 93/13 sind sie deshalb von Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie umfasst, dem zufolge sie „nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie [unterliegen]“. Daher findet die Richtlinie jedenfalls keine Anwendung.

43      Zu den den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätzen des Unionsrechts ist festzustellen, dass die Richtlinie 93/13 deren Beachtung dadurch sicherstellen soll, dass in Verbraucherverträgen missbräuchliche Klauseln als Ausdruck einer Unausgewogenheit zwischen den Vertragsparteien beseitigt werden.

44      Wie bereits ausgeführt, fallen die in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften jedoch nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13, da nicht geltend gemacht wurde, dass eine missbräuchliche Vertragsklausel vorliege. Wenn eine lex specialis wie die Richtlinie 93/13 vorhanden ist, die einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aus ihrem Anwendungsbereich ausschließt, können die ihr zugrunde liegenden allgemeinen Grundsätze daher keine Anwendung finden.

45      Nach alledem ist auf die Fragen des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass die Richtlinie 93/13 und die den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätze des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht in ihren Anwendungsbereich fallen, wenn keine Vertragsklausel vorliegt, durch die die Reichweite oder der Anwendungsbereich dieser Rechtsvorschriften geändert wird.

 Kosten

46      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen und die den Verbraucherschutz und ausgewogene Vertragsverhältnisse betreffenden Grundsätze des Unionsrechts sind dahin auszulegen, dass Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht in ihren Anwendungsbereich fallen, wenn keine Vertragsklausel vorliegt, durch die die Reichweite oder der Anwendungsbereich dieser Rechtsvorschriften geändert wird.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Spanisch.