Language of document : ECLI:EU:C:2016:66

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 28. Januar 2016(1)

Rechtssache C‑81/15

Kapnoviomichania Karelia AE

gegen

Ypourgos Oikonomikon

(Vorabentscheidungsersuchen des Symvoulio tis Epikrateias [Staatsrat, Griechenland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerwesen – Verbrauchsteuern – Richtlinie 92/12/EWG – Haftung des zugelassenen Lagerinhabers – Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, den zugelassenen Lagerinhaber gesamtschuldnerisch für die Zahlung der finanzieller Sanktionen haftbar zu machen, die gegen Schmuggler verhängt wurden“





1.        In dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen geht es um die Auslegung der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren(2) in der durch die Richtlinie 92/108/EWG des Rates vom 14. Dezember 1992 geänderten Fassung(3) im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit.

2.        Konkret wird mit diesem Ersuchen, das im Rahmen eines Rechtsstreits der Kapnoviomichania Karelia AE(4) gegen den Ypourgos Oikonomikon (Finanzminister) vorgelegt worden ist, die Frage gestellt, ob ein zugelassener Lagerinhaber gesamtschuldnerisch für die Zahlung der finanziellen Sanktionen haftbar gemacht werden kann, die gegen Personen verhängt worden sind, die des Schmuggels von Tabakwaren unter Steueraussetzung für schuldig befunden wurden.

3.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich den Standpunkt vertreten, dass die Richtlinie 92/12 im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, darunter insbesondere der Grundsätze der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen und der persönlichen Verantwortlichkeit, dahin auszulegen ist, dass sie dem nicht entgegensteht, dass der zugelassene Lagerinhaber als Versender bei einer unrechtmäßigen Entnahme von Waren aus dem Verfahren der Steueraussetzung aufgrund eines beim Transport begangenen Schmuggels für gesamtschuldnerisch haftbar für die Zahlung der gegen die Schmuggler verhängten zollrechtlichen Geldbußen erklärt wird, sofern eine solche Regelung der gesamtschuldnerischen Haftung, die den Charakter einer strafrechtlichen Sanktion hat, ausdrücklich im nationalen Recht vorgesehen ist und sofern, falls diese Regelung auf einer Vermutung beruht, dass der zugelassene Lagerinhaber Eigentümer oder Besitzer der Waren ist und durch die Schmuggler vertreten wird, diese Vermutung nicht unwiderlegbar ist, wodurch dem zugelassenen Lagerinhaber die Möglichkeit genommen würde, sich von seiner Haftung zu befreien, indem er dartut, dass ihn kein Verschulden trifft. Das vorlegende Gericht hat unter Berücksichtigung aller relevanten rechtlichen und tatsächlichen Umstände zu prüfen, ob die Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, diesen Anforderungen genügt.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

4.        Die Richtlinie 92/12, die zum Zeitpunkt des Ausgangsverfahrens in Kraft war, wurde durch die Richtlinie 2008/118/EG(5) mit Wirkung zum 1. April 2010 aufgehoben.

5.        Art. 4 Buchst. a der Richtlinie 92/12, die gemäß ihrem Art. 3 Abs. 1 auf Tabakwaren Anwendung fand, definierte den zugelassenen Lagerinhaber als „die natürliche oder juristische Person, die von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ermächtigt wurde, in Ausübung ihres Berufs unter Steueraussetzung verbrauchsteuerpflichtige Waren in einem Steuerlager herzustellen, zu bearbeiten, zu lagern, zu empfangen und zu versenden“.

6.        In Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie hieß es:

„Die Verbrauchsteuer entsteht mit der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr oder mit der Feststellung von Fehlmengen gemäß Artikel 14 Absatz 3.

Als Überführung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr gelten

a)      jede – auch unrechtmäßige – Entnahme der Ware aus dem Verfahren der Steueraussetzung;

…“

7.        Art. 13 Buchst. a der Richtlinie bestimmte, dass der zugelassene Lagerinhaber „eine Sicherheit in Bezug auf die Beförderung nach näherer Bestimmung der Steuerbehörden des Mitgliedstaats, in dem er zugelassen worden ist, … leisten“ musste.

8.        Art. 15 der Richtlinie 92/12 sah vor:

„…

(3)      Die mit der innergemeinschaftlichen Warenbeförderung verbundenen Risiken werden von der Sicherheitsleistung gemäß Artikel 13, die der zugelassene Lagerinhaber als Versender gestellt hat, und gegebenenfalls durch eine gesamtschuldnerische Sicherheitsleistung des Versenders und des Beförderers gedeckt. Die Mitgliedstaaten können gegebenenfalls vom Empfänger eine Sicherheitsleistung verlangen.

Die Einzelheiten der Sicherheitsleistung werden von den Mitgliedstaaten geregelt. Die Sicherheitsleistung muss für die gesamte Gemeinschaft gültig sein.

(4)      Unbeschadet des Artikels 20 können der zugelassene Lagerinhaber als Versender und gegebenenfalls der Beförderer erst dann aus ihrer Verantwortung entlassen werden, wenn der Nachweis dafür vorliegt, dass der Empfänger die Waren übernommen hat, insbesondere mittels des … Begleitdokuments …“

9.        Art. 20 der Richtlinie bestimmte:

„(1)      Wurde während des Verfahrens der Steueraussetzung eine Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit begangen, aufgrund derer eine Verbrauchsteuer entsteht, so wird die Verbrauchsteuer in dem Mitgliedstaat, in dem die Unregelmäßigkeit oder die Zuwiderhandlung begangen wurde, ungeachtet einer etwaigen Strafverfolgung von der natürlichen oder juristischen Person geschuldet, die gemäß Artikel 15 Absatz 3 eine Sicherheit für die Zahlung der Verbrauchsteuern geleistet hat.

(3)      … Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um Zuwiderhandlungen oder Unregelmäßigkeiten zu begegnen und wirksame Sanktionen zu verhängen.

…“

B –    Griechisches Recht

10.      Die Richtlinie wurde durch das Gesetz 2127/1993 über die Harmonisierung der Steuerregelung für Mineralöle, Alkohol und alkoholische Getränke, Tabakwaren und anderer Bestimmungen mit dem Gemeinschaftsrecht(6) in die griechische Rechtsordnung umgesetzt.

11.      Art. 67 Abs. 5 des Gesetzes lautet:

„Jede Umgehung oder versuchte Umgehung der Zahlung der geschuldeten Verbrauchsteuern und sonstigen Abgaben sowie die Nichteinhaltung der gesetzlich vorgesehenen Förmlichkeiten mit dem Ziel, die genannten Verbrauchsteuern und sonstigen Abgaben nicht zu zahlen, werden als Schmuggel im Sinne der Vorschriften der Art. 89 ff. des Gesetzes 1165/1918 über das Zollgesetzbuch (im Folgenden: Zollgesetzbuch) angesehen; diese Handlungen werden mit einer in diesen Vorschriften vorgesehenen erhöhten Abgabe belegt, auch wenn die zuständige Behörde feststellt, dass die Merkmale des Straftatbestands des Schmuggels nicht erfüllt sind.“

12.      Art. 97 Abs. 3 und 5 des Zollgesetzbuchs bestimmt:

„(3)      … zulasten derjenigen, die an dem Zollvergehen im Sinne von Art. 89 Abs. 2 dieses Gesetzbuchs beteiligt waren, wird im Verhältnis zum Grad ihrer jeweiligen Beteiligung und unabhängig von der strafrechtlichen Verfolgung, der sie unterliegen, gesamtschuldnerisch eine erhöhte Abgabe in doppelter bis zehnfacher Höhe der auf den Gegenstand des Vergehens erhobenen Verbrauchsteuern und sonstigen Abgaben erhoben …

(5)      Nach Durchführung einer Verwaltungsuntersuchung erstellt und erlässt der … Direktor der zuständigen Zollstelle so schnell wie möglich einen mit Gründen versehenen Akt, mit dem er die nach dem Zollgesetzbuch Verantwortlichen entlastet bzw. benennt, bestimmt den Grad der Verantwortlichkeit jedes Einzelnen sowie die hinsichtlich der Schmuggelware geschuldeten oder entgangenen Zölle und anderen Abgaben und zieht die erhöhte Abgabe im Sinne dieses Artikels und die gegebenenfalls entgangenen Zölle und anderen Abgaben ein.“

13.      Art. 99 Abs. 2 des Zollgesetzbuchs bestimmt, dass die Bestimmungen des Art. 108 des Zollgesetzbuchs „entsprechend“ auf Zollvergehen anwendbar sind und dass die „fehlende Kenntnis der zivilrechtlich mitverantwortlichen Personen von der Absicht der Haupttäter, das Vergehen zu begehen, diese Personen nicht von ihrer Haftung befreit“.

14.      In Art. 100 Abs. 1 des Zollgesetzbuchs heißt es:

„Schmuggel ist

a)      die Einfuhr oder Ausfuhr von Waren in den Staat oder aus dem Staat, die einem Einfuhrzoll oder einer Verbrauchsteuer, einer Abgabe oder einem Zoll unterliegen, ohne schriftliche Genehmigung der zuständigen Zollbehörde oder an einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt als den von der Behörde genehmigten und

b)      jede Handlung, die darauf gerichtet ist, dem Staat Zölle, Verbrauchsteuern, Abgaben und Steuern auf eingeführte oder ausgeführte Waren zu entziehen, einschließlich der Handlungen, die zu einer anderen Zeit und in einer anderen Art als nach dem Gesetz festgelegt begangen worden sind.“

15.      Art. 108 dieses Gesetzbuchs lautet:

„Das Strafgericht, das über die Anklage wegen Schmuggels befindet, kann in seinem Strafurteil feststellen, dass der Eigentümer oder der Empfänger der Schmuggelware mit dem Verurteilten zivilrechtlich als Gesamtschuldner für die Zahlung der verhängten Geldbuße, der Kosten und des Betrags, der dem als Nebenkläger auftretenden Staat auf dessen Antrag zugesprochen wurde, haftet; dies gilt auch dann, wenn gegen den Mitverantwortlichen kein Strafverfahren durchgeführt wird, sofern der Verurteilte über die Schmuggelware als Bevollmächtigter, Verwalter oder Vertreter des Eigentümers oder des Empfängers verfügt hat, unabhängig davon, wie der Auftrag rechtlich gestaltet ist oder verschleiert wird; es kommt demnach nicht darauf an, ob der Auftragnehmer in eigenem Namen handelt …, ob er sich als Eigentümer der Waren oder als in einer sonstigen rechtlichen Beziehung zu diesen Waren stehend ausgibt oder ob es sich bei der tatsächlichen Vertretung des Eigentümers um eine besondere oder allgemeine Vertretung handelt, es sei denn, es wird nachgewiesen, dass die vorgenannten Personen nicht wissen konnten, dass möglicherweise Schmuggel begangen würde.“

II – Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

16.      Karelia ist eine Gesellschaft nach griechischem Recht, die die Tätigkeit der Produktion von Tabakwaren mit dem Status eines zugelassenen Lagerinhabers ausübt.

17.      Nachdem Karelia von einem bulgarischen Unternehmen eine Bestellung über 760 Kartons Zigaretten erhalten hatte, reichte sie am 9. Juni 1994 bei der Zollstelle eine Ausfuhranmeldung ein.

18.      Diese Ladung gelangte jedoch nie an ihren Bestimmungsort. Die von der Zollbehörde durchgeführte Untersuchung ergab, dass der für den Transport der Ladung bestimmte Lastkraftwagen ohne Ladung in Richtung Bulgarien abgefahren war und dass die Ladung in einen anderen Lastkraftwagen umgeladen worden war. Im Lauf der Untersuchung erklärte der Exportabteilungsleiter von Karelia, dass er nach der Bestellung die Zahlung eines Betrags von 82 000 Euro erhalten habe, der dem Wert der Waren entsprochen habe und den er auf ein Bankkonto von Karelia in Griechenland eingezahlt habe. Der Generaldirektor von Karelia gab an, dass er nicht wisse, ob das bulgarische Unternehmen, das die Bestellung aufgegeben hatte, tatsächlich existiere, da in Bulgarien bei der Handelskammer Chaos geherrscht habe, so dass jeder Versuch der Identifizierung dieses Unternehmens vergeblich gewesen wäre.

19.      Da der Nachweis der Ausfuhr der streitigen Ladung nicht erbracht worden war, wurde die Bankgarantie, die Karelia zur Deckung der Verbrauchsteuern geleistet hatte, nämlich 114 726 750 griechische Drachmen (GRD) (336 688,92 Euro), einbehalten.

20.      Anschließend erließen die Zollbehörden einen Abgabenbescheid hinsichtlich des Schmuggels von 760 Kartons Zigaretten, mit dem sie u. a. die Personen, die im Namen des bulgarischen Unternehmens die Bestellung der Zigaretten beim Exportabteilungsleiter von Karelia aufgegeben hatten, zu gemeinschaftlichen Tätern des Schmuggels erklärten. Diesen Tätern wurden die erhöhte Abgabe von insgesamt 573 633 750 GRD (1 683 444,60 Euro) und die erhöhte Verbrauchsteuer von 9 880 000 GRD (28 994,86 Euro) auferlegt. Mit demselben Bescheid wurde Karelia zur zivilrechtlichen Gesamtschuldnerin der Zahlung dieser Beträge erklärt.

21.      Der von dieser Gesellschaft gegen den Abgabenbescheid erhobenen Klage gab das Dioikitiko Protodikeio Peiraia (erstinstanzliches Verwaltungsgericht Piräus) mit der Begründung statt, dass weder ein Auftrag noch eine Vertretung, noch ein anderes Rechtsverhältnis, mit dem ein Auftrag zwischen Karelia und den Schmugglern verschleiert werde, nachgewiesen worden sei.

22.      Das Dioikitiko Efeteio Peiraia (Berufungsgericht in Verwaltungssachen Piräus) gab der Berufung des Ypourgos Oikonomikon gegen dieses Urteil statt, setzte den Betrag der erhöhten Abgabe aber auf 344 180 250 GRD (336 688,91 Euro) herab. Unter Hinweis darauf, dass sich die Zigaretten im Verfahren der Steueraussetzung befunden hätten, entschied das Gericht, dass die Schmuggler als Bevollmächtigte von Karelia gehandelt hätten, die als zugelassene Lagerinhaberin die Besitzerin der Waren gewesen sei und die ausschließliche Verantwortung für die Beförderung der Waren bis zu ihrer Ausfuhr gehabt habe, und zwar unabhängig von der Eigenschaft, in der die Schmuggler vorgeblich gehandelt hätten (Fahrer, Zwischenhändler, Empfänger, Käufer).

23.      Karelia legte gegen das Urteil des Dioikitiko Efeteio Peiraia (Berufungsgericht in Verwaltungssachen Piräus) Rechtsmittel ein.

24.      Der Mehrheitsansicht des Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat) nach erstreckt sich die gesamtschuldnerische Haftung des zugelassenen Lagerinhabers nicht nur auf die Zahlung der Verbrauchsteuern, sondern auch auf die sonstigen wirtschaftlichen Folgen des Schmuggels. Dies gelte unabhängig von etwaigen besonderen Vereinbarungen zwischen Lieferer und Erwerber, wonach das Eigentum an den Waren unter Steueraussetzung mit ihrer Auslieferung auf den Erwerber übergehe, der ihre Beförderung übernehme. Diese verschärfte Haftung des Lagerinhabers diene dem Ziel der Verhinderung von Steuerhinterziehung, weil ein starker Anreiz für ihn geschaffen werde, die ordnungsgemäße Durchführung des Ausfuhrverfahrens zu gewährleisten, indem er im Rahmen seiner Vertragsverhältnisse alle geeigneten Maßnahmen ergreife, um sich vor der Gefahr einer Verurteilung als Gesamtschuldner zu schützen. Diese Regelung stehe im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sofern der Lagerinhaber die Möglichkeit habe, sich von seiner Haftung zu befreien, indem er nachweise, dass er gutgläubig gehandelt und alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen habe und dabei die Sorgfalt eines umsichtigen Berufsangehörigen aufgewandt habe.

25.      Im Gegensatz hierzu ist die Minderheit der Auffassung, dass der zugelassene Lagerinhaber nur für die Zahlung der Verbrauchsteuer gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden dürfe, nicht aber für die gegen die Schmuggler verhängten finanziellen Sanktionen. Zum einen könne der zugelassene Lagerinhaber kraft Gesetzes nicht als Eigentümer der in seinem Besitz befindlichen Waren angesehen werden, die sein Steuerlager verließen und unter Steueraussetzung in ein Drittland befördert würden, bis die Waren ihre rechtmäßige Bestimmung erreicht oder das Gebiet der Europäischen Union verlassen hätten, zum anderen bestehe keine gesetzliche Vermutung dafür, dass die natürlichen Personen, die in irgendeiner Weise an der Beförderung dieser Waren beteiligt seien, als Bevollmächtigte oder Vertreter des zugelassenen Lagerinhabers handelten.

26.      Unter diesen Umständen hat der Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist die Richtlinie 92/12 im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts wie der Grundsätze der Effektivität, der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass sie in einem Fall wie dem vorliegenden der Anwendung einer gesetzlichen Bestimmung eines Mitgliedstaats wie jener des Art. 108 des griechischen Zollgesetzbuchs entgegensteht, wonach der zugelassene Lagerinhaber in Bezug auf Waren, die unter Steueraussetzung aus seinem Steuerlager verbracht und diesem Verfahren aufgrund eines Schmuggels unrechtmäßig entnommen wurden, für die Zahlung der Verwaltungssanktionen wegen Schmuggels gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden kann, und zwar unabhängig davon, ob er zur Tatzeit nach den privatrechtlichen Vorschriften Eigentümer der Waren war, und auch unabhängig davon, ob die an der Beförderung beteiligten Täter mit dem zugelassenen Lagerinhaber in einem bestimmten Vertragsverhältnis standen, aus dem sich ergibt, dass sie als seine Bevollmächtigten gehandelt haben?

III – Analyse

27.      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 92/12 im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und insbesondere der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der der zugelassene Lagerinhaber als Versender für die Zahlung erhöhter Abgaben, die wegen einer Zuwiderhandlung entstehen, die bei der Beförderung von Waren unter Steueraussetzung begangen wurde, gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden kann, und zwar selbst dann, wenn der Lagerinhaber nach den nationalen privatrechtlichen Vorschriften zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung nicht Besitzer dieser Waren war und mit dem Zuwiderhandelnden in keinem Vertragsverhältnis stand, aus dem sich ergibt, dass dieser als sein Bevollmächtigter gehandelt hat.

28.      Die vorliegende Rechtssache wirft die Frage auf, ob die Richtlinie 92/12 den Mitgliedstaaten verbietet, dem zugelassenen Lagerinhaber als Versender eine verschuldensunabhängige gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der Geldbußen aufzuerlegen, die Schmuggler von Tabakwaren unter Steueraussetzung schulden.

29.      Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden(7).

30.      Zur allgemeinen Systematik der Richtlinie 92/12 ist festzustellen, dass dem zugelassenen Lagerinhaber im Rahmen der Beförderung von Waren im Verfahren der Steueraussetzung eine zentrale Rolle zukommt, die sich darin zeigt, dass der Verbrauchsteueranspruch für die Waren, die diesem Verfahren unterliegen, noch nicht entstanden ist, obwohl der Steuertatbestand bereits erfüllt ist(8).

31.      Als Gegenleistung für die behördliche Ermächtigung, verbrauchsteuerpflichtige Waren unter Steueraussetzung in einem Steuerlager herzustellen, zu bearbeiten, zu lagern, zu empfangen und zu versenden, muss der zugelassene Lagerinhaber zunächst gemäß Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie eine Sicherheitsleistung erbringen, die alle Risiken der Beförderung dieser Waren abdeckt.

32.      Des Weiteren geht aus Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie 92/12 hervor, dass ein zugelassener Lagerinhaber aus seiner Verantwortung nur durch die Erledigung des Verfahrens der Steueraussetzung entlassen werden kann, die sich aus dem Nachweis ergibt, dass der Empfänger die Waren übernommen hat, wobei dieser Nachweis u. a. durch das Begleitdokument erbracht wird, von dem eine Ausfertigung durch die Zollstelle der Union, an der die Waren die Gemeinschaft verlassen, an den Versender zurückgeschickt werden muss. Außerdem kann er gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie nur dann für Verluste, die während des Verfahrens der Steueraussetzung entstanden sind, von der Steuer befreit werden, wenn er belegt, dass diese Verluste durch Untergang oder infolge höherer Gewalt oder aus Gründen, die sich aus der Eigenart der Waren ergeben, entstanden sind.

33.      Art. 20 Abs. 1 der Verordnung schließlich erlegt dem zugelassenen Lagerinhaber die Zahlung der Verbrauchsteuer auf, wenn bei der Beförderung von Waren unter Steueraussetzung eine Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit begangen wurde.

34.      Aus der Zusammenschau sämtlicher in den drei vorstehenden Nummern genannten Bestimmungen ergibt sich, dass die Richtlinie 92/12 zulasten des zugelassenen Lagerinhabers eine Regelung der Risikohaftung schafft, von der dieser sich nur befreien kann, wenn er nachweist, dass ein Fall höherer Gewalt vorlag. Nach dieser Regelung gilt der zugelassene Lagerinhaber als Verantwortlicher für alle Risiken, die der Beförderung von Waren, die sich im Verfahren der Steueraussetzung befinden, innewohnen, und er wird folglich zum Steuerpflichtigen für die Zahlung der Verbrauchsteuer, wenn eine Unregelmäßigkeit oder Zuwiderhandlung bei der Beförderung zu deren Entstehen führt.

35.      Zudem geht aus Art. 15 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 92/12 unzweifelhaft hervor, dass die Haftung des zugelassenen Lagerinhabers als Versender sehr weit gefasst ist und sich auf alle Risiken erstreckt, die während des Zeitraums der Beförderung der Waren unter Steueraussetzungen eintreten können. Diese Haftung endet keineswegs an den Toren des Steuerlagers, von dem aus der Lagerinhaber die Waren versendet, sondern sie bleibt so lange bestehen, bis der Nachweis erbracht worden ist, dass die Waren beim Empfänger angekommen sind.

36.      Der Umstand, dass die Haftung des zugelassenen Lagerinhabers als Versender ausdrücklich auf dem Begriff des Risikos beruht und im Fall von Verlusten nur beim Nachweis höherer Gewalt nicht greift, zeigt, dass es sich um eine objektive Haftung handelt, die nicht auf dem nachgewiesenen oder vermuteten Verschulden des Lagerinhabers beruht, sondern auf seiner Teilnahme an einer wirtschaftlichen Tätigkeit. Als Gegenstück zu dem Recht, Waren unter Steueraussetzung herzustellen, zu bearbeiten, zu lagern, zu empfangen und zu versenden, unterliegt der zugelassene Lagerinhaber dieser Haftung allein aufgrund dieser Eigenschaft, wobei es nicht darauf ankommt, ob er außerdem Eigentümer der verbrauchsteuerpflichtigen Waren ist oder ob es im Fall einer festgestellten Zuwiderhandlung ein Vertragsverhältnis mit dem Zuwiderhandelnden gibt. Zu diesem letzten Punkt ist festzustellen, dass die Begehung eines strafbaren Schmuggels als Verwirklichung eines Risikos betrachtet werden kann, das der Beförderung von Waren unter Steueraussetzung innewohnt und das der Lagerinhaber mit der Entscheidung, diese Waren zu versenden, akzeptiert hat.

37.      Allerdings ist die Verpflichtung des zugelassenen Lagerinhabers, obwohl sie in Art. 15 der Richtlinie 92/12 sehr allgemein formuliert ist, nach Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie auf die Zahlung der Verbrauchsteuern begrenzt, die auf die ausgeführten Waren entfallen. Die in der Richtlinie vorgesehene Regelung der Risikohaftung ist daher auf die Übernahme der Zahlung der Verbrauchsteuer beschränkt, die der zugelassene Lagerinhaber schuldet, wenn sie bei einer Unregelmäßigkeit oder Zuwiderhandlung entsteht. Die Richtlinie 92/12 schafft hingegen keine Gesamtschuldregelung, die den zugelassenen Lagerinhaber zum Mitschuldner der finanziellen Sanktionen machen würde, die gegen die Täter der festgestellten Zuwiderhandlung verhängt werden.

38.      Wegen des Schweigens der Richtlinie ist daher zu prüfen, ob die Mitgliedstaaten die Verpflichtungen des zugelassenen Lagerinhabers erweitern können, indem sie eine solche Regelung einführen.

39.      Ein erstes Argument für eine bejahende Antwort scheint sich Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie entnehmen zu lassen, der es den Mitgliedstaaten überlässt, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen oder Unregelmäßigkeiten zu begegnen und „wirksame Sanktionen“ zu verhängen, damit die Steuerschuld nach ihrer Entstehung tatsächlich eingezogen wird. Diese Bestimmung kann als Ermächtigungsgrundlage für den nationalen Gesetzgeber verstanden werden, die ihm insbesondere das Recht gewährt, mittels der möglichen Sanktionen den Umfang der Haftung des zugelassenen Lagerinhabers zu erweitern und dabei über die ausdrücklich in der Richtlinie 92/12 bestimmte Verpflichtung zur Zahlung der Verbrauchsteuer hinauszugehen.

40.      Ein zweites Argument in diesem Sinne ergibt sich aus der Feststellung, dass im Steuerrecht die gesamtschuldnerische Haftung einer Person, die nicht der Steuerpflichtige ist, ein klassisches Mittel darstellt, um die Einziehung der Steuern zu gewährleisten und Betrug zu bekämpfen(9). Im Bereich der Verbrauchsteuern entspricht die Verpflichtung des zugelassenen Lagerinhabers, gesamtschuldnerisch für die finanziellen Folgen strafbaren Schmuggels einzustehen, dem legitimen Anliegen, die Entwicklung eines illegalen Handels zu bekämpfen und die Verfolgung des Schmuggels von für die Gesundheit gefährlichen Tabakwaren sicherzustellen.

41.      Daraus ist zu schließen, dass die Richtlinie 92/12 es den Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht verwehrt, die Haftung des zugelassenen Lagerinhabers dadurch zu erweitern, dass sie ihn für die finanziellen Folgen der Zuwiderhandlungen, die bei der Beförderung der Waren unter Steueraussetzung festgestellt wurden, gesamtschuldnerisch haften lassen.

42.      Die Mitgliedstaaten müssen jedoch bei der Ausübung der Sanktionsbefugnisse, die ihnen die Richtlinie verleiht, die allgemeinen Rechtsgrundsätze beachten, die Teil der Rechtsordnung der Union sind.

43.      Die allgemeinen Grundsätze, die den Rahmen für das Handeln des nationalen Gesetzgebers vorgeben, unterscheiden sich je nachdem, ob die von ihm erlassene Regelung der gesamtschuldnerischen Haftung den Charakter strafrechtlicher Sanktionen hat oder nicht. Deshalb bin ich der Auffassung, dass diese Frage vorab unter Anwendung der in diesem Bereich üblicherweise angewandten Prüfungsmethode zu untersuchen ist.

44.      Die Unionsgerichte wenden zur Beurteilung des strafrechtlichen Charakters eines Verfahrens, das zur Verhängung von Sanktionen führt, die drei Kriterien an, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum ersten Mal in seinem Urteil Engel u. a. gegen Niederlande(10) entwickelt hat, um die Begriffe „strafrechtliche Anklage“, „Strafe“ und „strafrechtliches Verfahren“ im Sinne der Art. 6 und 7 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, unterzeichnet in Rom am 4. November 1950, und des Art. 4 Abs. 1 des dazugehörigen Protokolls Nr. 7 zu bestimmen. Das erste Kriterium ist die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, das zweite die Art der Zuwiderhandlung und das dritte die Art und der Schweregrad der angedrohten Sanktion(11).

45.      Die Anwendung der genannten Kriterien bringt mich zu der Feststellung, dass die Sanktionen, denen der zugelassene Lagerinhaber nach der griechischen Regelung der gesamtschuldnerischen Haftung unterliegt, strafrechtsähnlichen Charakter im Sinne dieser Kriterien haben. Auch wenn sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, dass diese Haftung im griechischen Recht als „zivilrechtliche Haftung“ eingestuft wird, die „keine Verwaltungssanktion darstellt“, und die griechische Regierung ausführt, dass sie nicht den Charakter einer Strafe, sondern einer Garantie für die Zahlung der auferlegten Beträge habe, ist doch festzustellen, dass das Zollvergehen nach Art. 89 Abs. 2 des Zollgesetzbuchs, für das den Verantwortlichen eine erhöhte Steuer auferlegt wird, in den gleichen Worten wie der strafbare Schmuggel nach Art. 67 Abs. 5 des Gesetzes 2127/1993 definiert ist. Demnach gibt es keine klare Trennlinie zwischen Zollstrafen und Straftaten, zumal die Mithaftung des zugelassenen Lagerinhabers auf der „entsprechenden“ Anwendung(12) des Art. 108 des Zollgesetzbuchs beruht, der es dem Strafgericht ermöglicht, in seinem Strafurteil den Eigentümer der geschmuggelten Waren neben der strafrechtlich verurteilten Person zum Gesamtschuldner der Geldbuße zu erklären. Zudem hat die vom zugelassenen Lagerinhaber zu zahlende erhöhte Steuer im Gegensatz zu den Verbrauchsteuern im eigentlichen Sinne zugleich strafenden Charakter, da sie dessen fehlende Wachsamkeit und mangelnde Sorgfalt ahndet, und präventiven Charakter, da sie dem vorlegenden Gericht zufolge darauf abzielt, die Wirksamkeit der verhängten Geldbußen zu gewährleisten und dafür zu sorgen, dass die Wirtschaftsbeteiligten, die aus der Tätigkeit, in deren Rahmen der Schmuggel begangen wurde, Gewinn ziehen, sämtliche Maßnahmen zur Verhinderung von Schmuggel ergreifen(13). Diese beiden in Bezug auf die Hinterziehung von Verbrauchsteuern verfolgten Ziele der Repression und der Abschreckung sind nun aber charakteristisch für strafrechtliche Sanktionen. Die Steuerstrafen, für die der zugelassene Lagerinhaber als Gesamtschuldner haftbar gemacht werden kann, können schließlich erhebliche Beträge – bis zum Zehnfachen der geschuldeten Steuer – erreichen(14).

46.      Aufgrund der vorstehenden Ausführungen komme ich zu dem Schluss, dass eine Regelung der gesamtschuldnerischen Haftung, wie sie das griechische Recht vorsieht, zum Strafrecht gehört und infolgedessen die für dieses Rechtsgebiet geltenden Grundsätze beachten muss. Dies bringt mich zur Prüfung der Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der persönlichen Verantwortung.

47.      Zunächst werde ich das Prüfungsschema für diese beiden Grundsätze in Erinnerung rufen, wie es sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt.

48.      Was erstens den Grundsatz der Rechtssicherheit betrifft, der zur Rechtsordnung der Union gehört und von jeder mit der Anwendung des Unionsrechts betrauten innerstaatlichen Stelle zu beachten ist, so gebietet er insbesondere, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können – klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen voraussehbar sein müssen(15). Im Strafrecht findet dieser allgemeine Grundsatz seine „besondere Ausprägung“(16) im Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, der von Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert wird und nach dem das Gesetz klar die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen definieren muss; diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen(17).

49.      Der Gerichtshof hat die Reichweite des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen näher bestimmt und für Recht erkannt, dass er nicht so verstanden werden dürfe, dass er die schrittweise Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch richterliche Auslegung von Fall zu Fall untersage, vorausgesetzt, dass das Ergebnis zum Zeitpunkt der Begehung der Zuwiderhandlung insbesondere unter Berücksichtigung der Auslegung, die zu dieser Zeit in der Rechtsprechung zur fraglichen Rechtsvorschrift vertreten wurde, hinreichend vorhersehbar sei(18).

50.      Dieser Grundsatz bedeutet, dass niemand wegen einer Straftat verfolgt oder zu einer Strafe verurteilt werden kann, die nicht ausdrücklich durch das Gesetz bestimmt war.

51.      Was zweitens den Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit angeht, der aus dem Strafrecht stammt, so bedeutet er, dass jeder nur für seine eigenen Handlungen verantwortlich ist. Unter Berücksichtigung des quasi repressiven Charakters der Sanktionen, die infolge der Begehung von Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln verhängt worden waren, hat der Gerichtshof diesen Grundsatz mehrfach auf diese Sanktionen angewandt. So befand er im Urteil Kommission/Anic Partecipazioni(19), dass angesichts der Art der fraglichen Zuwiderhandlungen sowie der Art und der Schwere der ihretwegen verhängten Sanktionen die Verantwortlichkeit für ihre Begehung persönlicher Natur sei(20).

52.      Nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortung muss die Person, deren gesamtschuldnerische Haftung festgestellt wird, die Möglichkeit haben, sich von ihrer Haftung zu befreien, indem sie dartut, dass sie alle Maßnahmen getroffen hat, um sicherzustellen, dass der Vorgang ordnungsgemäß abläuft und dass die unrechtmäßige Entnahme der Ware aus dem Verfahren der Steueraussetzung auf Gründen außerhalb ihrer Sphäre beruht.

53.      Entsprechend ist darauf hinzuweisen, dass es der Gerichtshof auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer für unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angesehen hat, die Haftung für die Mehrwertsteuer einer anderen Person als dem Steuerschuldner aufzuerlegen – auch wenn es sich bei dieser Person um den zugelassenen Inhaber eines Steuerlagers handelt, dem die spezifischen Verpflichtungen nach der Richtlinie 92/12 obliegen –, ohne es dieser Person zu ermöglichen, sich von der Haftung zu befreien, indem sie den Beweis erbringt, dass sie mit den Machenschaften des Steuerschuldners nichts zu tun hat. Der Gerichtshof hat dies damit begründet, dass es „offenkundig unverhältnismäßig [wäre], dieser Person unbedingt den Verlust von Steuereinnahmen anzulasten, der durch das Tun eines Dritten verursacht worden ist, auf das sie keinen Einfluss hat“(21). Unter Bezugnahme auf seine frühere Rechtsprechung hat er hinzugefügt, dass „es nicht gegen das Unionsrecht [verstößt], wenn von der anderen Person als dem Steuerschuldner gefordert wird, dass sie alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise von ihr verlangt werden können, um sicherzustellen, dass ihre Tätigkeit nicht zur Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt“(22).

54.      Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es dem Gerichtshof zufolge also, dass das nationale Recht der Person, auf der die gesamtschuldnerische Haftung lastet, eine wirksame Möglichkeit einräumt, sich von ihrer Haftung zu befreien, indem sie dartut, dass sie guten Glaubens ist und sie kein Verschulden trifft.

55.      Meines Erachtens sollte man sich angesichts des quasi strafrechtlichen Charakters einer Regelung der gesamtschuldnerischen Haftung, wie sie das griechische Recht vorsieht, für die es im Unterschied zu der Regelung der gesamtschuldnerischen Haftung im Bereich der Mehrwertsteuer keine geschriebene Grundlage im Unionsrecht gibt, hier zwar eher auf den Grundsatz der persönlichen Verantwortung stützen, doch führt dessen Anwendung zum gleichen Ergebnis wie die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

56.      Gemessen an den Anforderungen der Grundsätze der Rechtssicherheit und der persönlichen Verantwortlichkeit bleibt aber eine Unsicherheit über den Anwendungsbereich des griechischen Rechts, die sowohl auf einer gewissen Mehrdeutigkeit seines Wortlauts als auch auf der Auslegung beruht, die es anscheinend durch die nationalen Gerichte erfährt.

57.      Die Haftung des zugelassenen Lagerinhabers als Versender scheint auf die Bestimmungen des Gesetzes 2127/1993 in Verbindung mit den Art. 89 Abs. 2, 97 Abs. 3, 99 Abs. 2 und 108 des Zollgesetzbuchs gestützt zu werden. Aus dem Wortlaut des letztgenannten Artikels, der durch die Ausführungen in der Vorlageentscheidung erläutert worden ist, ergibt sich nun aber, dass das griechische Recht bei strafbarem Schmuggel eine gesamtschuldnerische Haftung nur zulasten des Eigentümers der geschmuggelten Waren oder ihres Empfängers vorsieht und dies zudem nur unter der Voraussetzung, dass der Zuwiderhandelnde als Beauftragter, Geschäftsführer oder Bevollmächtigter des Eigentümers oder Empfängers handelte.

58.      Art. 108 des Zollgesetzbuchs erlaubt es daher nur, den Eigentümer oder den Empfänger der Waren zu belangen, und betrifft nicht ausdrücklich den zugelassenen Lagerinhaber, der nicht Eigentümer der Waren geblieben ist.

59.      Anscheinend kann daher der zugelassene Lagerinhaber nur aufgrund einer richterlichen Vermutung, nach der er so lange als Eigentümer der Waren gilt, bis diese ihren Bestimmungsort erreicht haben, zum Gesamtschuldner der erhöhten Steuer erklärt werden, zu deren Zahlung die Schmuggler verurteilt worden sind.

60.      Die Voraussetzungen, unter denen auf diese Weise dem zugelassenen Lagerinhaber die Haftung für die Begehung eines Schmuggels zugerechnet wird, stoßen in zweifacher Hinsicht auf Bedenken.

61.      Erstens scheinen sie gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit in seiner besonderen Ausprägung als Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen zu verstoßen, da die gesamtschuldnerische Haftung des zugelassenen Lagerinhabers nicht ausdrücklich auf dem nationalen Recht beruht, sondern entweder auf einer Auslegung ultra legem der Richtlinie 92/12 oder auf einer extensiven richterlichen Auslegung einer nationalen Bestimmung, die nur den Eigentümer oder den Empfänger der Waren betrifft.

62.      Zweitens könnten sich diese Voraussetzungen auch als dem Grundsatz der persönlichen Verantwortung zuwiderlaufend herausstellen, wenn sie eine unwiderlegbare Vermutung für die Verantwortlichkeit schafften. Zwar bestimmt Art. 108 des Zollgesetzbuchs, dass die Personen, deren gesamtschuldnerische Haftung geltend gemacht wird, nachweisen können, dass sie keine Kenntnis eines etwaigen Schmuggels haben konnten, die Erklärungen des vorlegenden Gerichts lassen jedoch Zweifel aufkommen, ob der zugelassene Lagerinhaber eine wirksame Möglichkeit hat, sich von seiner Haftung zu befreien. Meines Erachtens muss diese Vermutung bei unionsrechtskonformer Auslegung als widerlegbar angesehen werden.

63.      Auch wenn die Widerlegung dieser Vermutung nicht einfach ist, muss der zugelassene Lagerinhaber die Möglichkeit haben, vor Gericht darzutun, dass er sämtliche Maßnahmen ergriffen hat, die vernünftigerweise zur Verhinderung eines Schmuggels gefordert werden können, und dass ihn kein Verschulden trifft.

64.      Wie die Europäische Kommission zu bedenken gibt, muss es möglich sein, eine als „chaotisch“ bezeichnete Situation der Handelskammer des Bestimmungsstaats oder die Tatsache zu berücksichtigen, dass der zugelassene Lagerinhaber selbst einen früheren Schmuggel angezeigt hatte, der die Entdeckung eines Netzwerks ermöglichte.

65.      Meines Erachtens spricht freilich die Tatsache, dass der zugelassene Lagerinhaber erwiesenermaßen Kenntnis von diesen chaotischen Zuständen hatte und den Transport der Waren einem ihm unbekannten und vom Empfänger bestimmten Beförderer anvertraute, nicht gerade für eine Widerlegung der Vermutung.

66.      Wie dem auch sei, es ist wichtig, dass das nationale Gericht für seine Beurteilung über einen Spielraum verfügt, der es gestattet, Tatsachen zu berücksichtigen, die möglicherweise geeignet sind, die Vermutung zu entkräften, aufgrund deren dem zugelassenen Lagerinhaber der Schmuggel zugerechnet wird.

67.      Aus diesen Gründen bin ich der Auffassung, dass eine Regelung, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, den Anforderungen der Grundsätze der Rechtssicherheit und der persönlichen Verantwortung nur unter der Voraussetzung genügen kann, dass sie klar und ausdrücklich im nationalen Recht vorgesehen ist und dem zugelassenen Lagerinhaber eine wirksame Möglichkeit vorbehält, sich von seiner Haftung zu befreien.

IV – Ergebnis

68.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die vom Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat) gestellte Frage wie folgt zu antworten:

69.      Die Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren in der durch die Richtlinie 92/108/EWG des Rates vom 14. Dezember 1992 geänderten Fassung ist im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, darunter insbesondere der Grundsätze der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen und der persönlichen Verantwortlichkeit, dahin auszulegen, dass sie dem nicht entgegensteht, dass der zugelassene Lagerinhaber als Versender bei einer unrechtmäßigen Entnahme von Waren aus dem Verfahren der Steueraussetzung aufgrund eines beim Transport begangenen Schmuggels für gesamtschuldnerisch haftbar für die Zahlung der gegen die Schmuggler verhängten zollrechtlichen Geldbußen erklärt wird, sofern eine solche Regelung der gesamtschuldnerischen Haftung, die den Charakter einer strafrechtlichen Sanktion hat, ausdrücklich im nationalen Recht vorgesehen ist und sofern, falls diese Regelung auf einer Vermutung beruht, dass der zugelassene Lagerinhaber Eigentümer oder Besitzer der Waren ist und durch die Schmuggler vertreten wird, diese Vermutung nicht unwiderlegbar ist, wodurch dem zugelassenen Lagerinhaber die Möglichkeit genommen würde, sich von seiner Haftung zu befreien, indem er dartut, dass ihn kein Verschulden trifft. Das vorlegende Gericht hat unter Berücksichtigung aller relevanten rechtlichen und tatsächlichen Umstände zu prüfen, ob die Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, diesen Anforderungen genügt.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. L 76, S. 1.


3 – ABl. L 390, S. 124; im Folgenden: Richtlinie 92/12.


4 – Im Folgenden: Karelia.


5 – Richtlinie des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12).


6 – FEK A’ 48.


7 – Vgl. u. a. Urteil Covaci (C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 29).


8 – Vgl. Urteile Cipriani (C‑395/00, EU:C:2002:751, Rn. 42) und Dansk Transport og Logistik (C‑230/08, EU:C:2010:231, Rn. 78).


9 – Vgl. Art. 21 Abs. 3 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1), geändert durch die Richtlinie 2001/115/EG des Rates vom 20. Dezember 2001 (ABl. L 15, S. 24) sowie die Art. 205 und 207 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1), die die Sechste Richtlinie aufgehoben hat.


10 – EGMR, Urteil Engel u. a. gegen Niederlande, 8. Juni 1976, Serie A Nr. 22.


11 – Rn. 80 bis 83. Vgl. auch EGMR, Urteile Öztürk/Deutschland, 21. Februar 1984, Serie A Nr. 73, Rn. 50 bis 53, und Zolotoukhine/Russland, 10. Februar 2009, Nr. 14939/03, EGMR 2009, Rn. 52 und 53. Zur Anwendung dieser Kriterien durch den Gerichtshof vgl. u. a. Urteile Kommission/Anic Partecipazioni (C‑49/92 P, EU:C:1999:356, Rn. 78), Hüls/Kommission (C‑199/92 P, EU:C:1999:358, Rn. 150), Montecatini/Kommission (C‑235/92 P, EU:C:1999:362, Rn. 176), Spector Photo Group und Van Raemdonck (C‑45/08, EU:C:2009:806, Rn. 42) und Bonda (C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37). Vgl. auch Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105), das sich auf die genannten Kriterien bezieht und dem vorlegenden Gericht die Beurteilung überlässt, ob in ihrem Licht die nach nationalem Recht vorgesehene Kumulierung von steuerlichen und strafrechtlichen Sanktionen anhand der nationalen Schutzstandards für Grundrechte zu prüfen ist (Rn. 35 und 36).


12 – Vgl. Art. 99 Abs. 2 des Zollkodex.


13 – Vgl. Rn. 8 der Vorlageentscheidung.


14 – Vgl. Art. 97 Abs. 3 des Zollkodex.


15 – Vgl. in diesem Sinne Urteil Berlington Hungary u. a. (C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 77).


16 – Diese Einordnung hat das Gericht in seinem Urteil Intertanko u. a. (C‑308/06, EU:C:2008:312, Rn. 70) vorgenommen.


17 – Vgl. Urteil Intertanko u. a. (C‑308/06, EU:C:2008:312, Rn. 71).


18 – Vgl. Urteil AC‑Treuhand/Kommission (C‑194/14 P, EU:C:2015:717, Rn. 41).


19 – C‑49/92 P, EU:C:1999:356.


20 –      Rn. 78.


21 – Urteil Vlaamse Oliemaatschappij (C‑499/10, EU:C:2011:871, Rn. 24).


22 –      Urteil Vlaamse Oliemaatschappij (C‑499/10, EU:C:2011:871, Rn. 25).