Language of document : ECLI:EU:C:2014:2111

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 17. Juli 2014(1)

Verbundene Rechtssachen C‑148/13 bis C‑150/13

A (C‑148/13), B (C‑149/13) und C (C‑150/13)

gegen

Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Niederlande])

„Gemeinsames Europäisches Asylsystem – Richtlinie 2004/83/EG – Flüchtlingseigenschaft – Richtlinie 2005/85/EG – Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz – Prüfung der Ereignisse und Umstände – Glaubhaftigkeit der von einem Antragsteller behaupteten sexuellen Ausrichtung“





1.        Mit diesen Vorabentscheidungsersuchen stellt der niederländische Raad van State, Afdeling Bestuursrechtspraak (Abteilung Verwaltungsstreitigkeiten) (im Folgenden: Raad van State oder auch vorlegendes Gericht), eine begriffliche Frage von großer Tragweite, nämlich ob das Unionsrecht dem Vorgehen der Mitgliedstaaten Grenzen setzt bei der Prüfung der Asylanträge von Antragstellern, die befürchten, in ihrem Herkunftsland wegen ihrer sexuellen Ausrichtung verfolgt zu werden. Diese Frage berührt schwierige und heikle Problemkreise betreffend zum einen die Rechte des Einzelnen, wie etwa das Recht auf persönliche Identität und die Grundrechte, und zum anderen die Befugnisse der Mitgliedstaaten im Rahmen der Durchführung der zur Erreichung einer Mindestharmonisierung erlassenen Maßnahmen, nämlich der Anerkennungsrichtlinie(2) und der Asylverfahrensrichtlinie(3), bei der Erhebung und Würdigung von Beweisen für Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Bei der Behandlung dieser Problemkreise ergeben sich weitere Fragen. Muss ein Mitgliedstaat von der von einem Antragsteller behaupteten sexuellen Ausrichtung ausgehen? Gestattet das Unionsrecht den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten die Überprüfung der behaupteten sexuellen Ausrichtung, und ist diese Prüfung gegebenenfalls im Einklang mit den Grundrechten vorzunehmen? Unterscheiden sich Anträge, mit denen Asyl aus Gründen der sexuellen Ausrichtung beantragt wird, von auf andere Gründe gestützten Anträgen, und gelten für die Prüfung solcher Asylbegehren durch die Mitgliedstaaten besondere Regeln?

 Völkerrecht

 Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge

2.        Nach Art. 1 Abschnitt A Nr. 2 Unterabs. 1 der Genfer Konvention(4) findet der Ausdruck „Flüchtling“ auf jede Person Anwendung, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“.

3.        Nach Art. 3 ist die Genfer Konvention im Einklang mit dem Verbot unterschiedlicher Behandlung anzuwenden.

 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten

4.        Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten(5) verbietet Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Art. 8 garantiert das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. In Art. 13 ist das Recht auf wirksame Beschwerde vorgesehen. In Art. 14 ist das Diskriminierungsverbot verankert(6). Das Protokoll Nr. 7 zur EMRK enthält bestimmte verfahrensrechtliche Schutzvorschriften in Bezug auf die Ausweisung von Ausländern, darunter das Recht des Ausländers, Gründe vorzubringen, die gegen seine Ausweisung sprechen, das Recht, seinen Fall prüfen zu lassen, und das Recht, sich zu diesem Zweck vertreten zu lassen.

 Unionsrecht

 Charta der Grundrechte der Europäischen Union

5.        Nach Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(7) (im Folgenden: Charta) ist die Würde des Menschen unantastbar; sie ist zu achten und zu schützen. Gemäß Art. 3 Abs. 1 hat jeder Mensch das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Art. 3 Abs. 2 Buchst. a bestimmt, dass im Rahmen der Medizin und der Biologie die freie Einwilligung des Betroffenen nach vorheriger Aufklärung entsprechend den gesetzlich festgelegten Einzelheiten vorliegen muss. Art. 4 entspricht Art. 3 EMRK. Art. 7 lautet: „Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“ Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe der Genfer Konvention und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union durch Art. 18 der Charta gewährleistet. Art. 21 verbietet Diskriminierung u. a. wegen der sexuellen Ausrichtung. Art. 41 der Charta ist an die Organe gerichtet und garantiert das Recht auf eine gute Verwaltung(8). In Art. 52 Abs. 1 heißt es, dass jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein muss und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegt. Einschränkungen dürfen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Nach Art. 52 Abs. 3 sind die in der Charta verankerten Rechte im Sinne der entsprechenden durch die EMRK garantierten Rechte auszulegen.

 Gemeinsames Europäisches Asylsystem

6.        Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) wurde nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam im Mai 1999 geschaffen; mit ihm soll die Genfer Konvention durchgeführt werden(9). Maßnahmen im Rahmen des GEAS achten die Grundrechte und befolgen die in der Charta anerkannten Grundsätze(10). Bei der Behandlung von Personen, die unter den Geltungsbereich dieser Maßnahmen fallen, sind die Mitgliedstaaten durch die völkerrechtlichen Instrumente gebunden, nach denen eine Diskriminierung verboten ist(11). Durch das GEAS soll der in den Mitgliedstaaten geltende rechtliche Rahmen auf der Grundlage gemeinsamer Mindestnormen harmonisiert werden. Es liegt in der Natur von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestnormen, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, günstigere Regelungen einzuführen oder beizubehalten(12). Das GEAS hat zum Erlass einer Reihe von Maßnahmen geführt(13).

 Anerkennungsrichtlinie

7.        Durch die Anerkennungsrichtlinie sollen in allen Mitgliedstaaten geltende Mindestnormen und gemeinsame Kriterien bezüglich der Anerkennung und des Inhalts der Flüchtlingseigenschaft für Personen, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen, sowie für ein gerechtes und effizientes Asylsystem festgelegt werden(14).

8.        Nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie bezeichnet der Ausdruck „‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet“.

9.        Art. 4 („Prüfung der Ereignisse und Umstände“) bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

(2)      Zu den in Absatz 1 genannten Anhaltspunkten gehören Angaben des Antragstellers zu Alter, familiären und sozialen Verhältnissen – auch der betroffenen Verwandten –, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen, Identitätsausweisen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz und sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen hierzu.

(3)      Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

a)      alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslands und der Weise, in der sie angewandt werden;

b)      die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

c)      die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

d)      die Frage, ob die Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslands ausschließlich oder hauptsächlich aufgenommen wurden, um die für die Beantragung des internationalen Schutzes erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, um bewerten zu können, ob der Antragsteller im Fall einer Rückkehr in dieses Land aufgrund dieser Aktivitäten verfolgt oder ernsthaften Schaden erleiden würde;

e)      die Frage, ob vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er den Schutz eines anderen Staats in Anspruch nimmt, dessen Staatsangehörigkeit er für sich geltend machen könnte.

(5)      Wenden die Mitgliedstaaten den in Absatz 1 Satz 1 genannten Grundsatz an, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese Aussagen keines Nachweises, wenn

a)      der Antragsteller sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu substantiieren;

b)      alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde;

c)      festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen;

d)      der Antragsteller internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war;

e)      die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.“

10.      In Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie sind Verfolgungshandlungen definiert. Als Verfolgung gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der (in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten) unabdingbaren Rechte, oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass sie einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommt(15). Die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, kann als Verfolgungshandlung gelten(16). Es muss eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 genannten Gründen und den in Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen(17).

11.      Art. 10 („Verfolgungsgründe“) bestimmt in seinem Abs. 1 Buchst. d:

„Eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn

–        die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und

–        die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Als sexuelle Ausrichtung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten; geschlechterbezogene Aspekte können berücksichtigt werden, rechtfertigen aber für sich allein genommen noch nicht die Annahme, dass dieser Artikel anwendbar ist.

(2)      Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.“(18)

 Asylverfahrensrichtlinie

12.      Ziel der Asylverfahrensrichtlinie ist die Schaffung eines Mindestrahmens für die Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft(19). Sie gilt für alle Asylanträge, die im Gebiet der Union gestellt werden(20). Jeder Mitgliedstaat benennt eine Asylbehörde, die für die Prüfung der Anträge gemäß der Asylverfahrensrichtlinie zuständig ist(21).

13.      Die Anforderungen an die Prüfung von Anträgen sind in Art. 8 aufgeführt. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Asylbehörde ihre Entscheidung über einen Asylantrag nach angemessener Prüfung trifft. Zu diesem Zweck stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass a) die Anträge einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft und entschieden werden, b) genaue und aktuelle Informationen verschiedener Quellen gesammelt werden, wie etwa des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), und c) die für die Prüfung der Anträge und die Entscheidungen zuständigen Bediensteten die anzuwendenden Normen im Bereich Asyl- und Flüchtlingsrecht kennen(22).

14.      Bei der Ablehnung eines Antrags werden die sachlichen und rechtlichen Gründe dafür in der Entscheidung dargelegt (Art. 9 Abs. 2 Unterabs. 1), und bevor die zuständige Behörde eine Entscheidung trifft, wird dem Asylbewerber Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu seinem Asylantrag unter Bedingungen gegeben, die dem Antragsteller eine zusammenhängende Darlegung der Gründe seines Asylantrags gestatten (Art. 12).

15.      In Art. 13 sind die Anforderungen an die persönliche Anhörung festgelegt, die in der Regel ohne die Anwesenheit von Familienangehörigen stattfindet und im Übrigen unter Bedingungen erfolgt, die eine angemessene Vertraulichkeit gewährleisten und dem Antragsteller eine zusammenhängende Darlegung der Gründe seines Asylantrags gestatten(23). Zu diesem Zweck gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die anhörende Person ausreichend befähigt ist, um die persönlichen oder allgemeinen Umstände des Antrags einschließlich der kulturellen Herkunft oder der Verletzlichkeit des Antragstellers zu berücksichtigen, soweit dies möglich ist, und wählen einen Dolmetscher, der eine angemessene Verständigung zwischen dem Antragsteller und der anhörenden Person zu gewährleisten vermag(24).

16.      Nach Art. 14 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass über jede persönliche Anhörung ein schriftlicher Bericht angefertigt wird, der zumindest die vom Antragsteller vorgetragenen für den Antrag relevanten Informationen im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie enthält, und dass der Antragsteller rechtzeitig Zugang zu diesem Bericht hat(25). Die Mitgliedstaaten können festlegen, dass der Inhalt des Berichts vom Antragsteller zu genehmigen ist(26).

17.      Die Mitgliedstaaten gestatten den Asylbewerbern, auf eigene Kosten einen Rechtsanwalt oder sonstigen nach nationalem Recht zulässigen Rechtsberater in Fragen ihres Asylantrags zu konsultieren(27).

18.      Art. 23 („Prüfungsverfahren“) gehört zu Kapitel III der Asylverfahrensrichtlinie, in dem das erstinstanzliche Verfahren geregelt ist. Die Mitgliedstaaten bearbeiten Asylanträge im Rahmen eines Prüfungsverfahrens, bei dem die in Kapitel II der Richtlinie enthaltenen Grundsätze beachtet werden. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ein derartiges Verfahren unbeschadet einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge so rasch wie möglich zum Abschluss gebracht wird(28).

19.      Gemäß Art. 39 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Asylbewerbern ein wirksamer Rechtsbehelf vor einem Gericht oder Tribunal gegen u. a. eine Entscheidung über ihren Antrag zur Verfügung steht(29).

 Nationales Recht

20.      Das vorlegende Gericht hat im Rahmen seiner Erläuterung der nationalen Regelung darauf hingewiesen, dass es Sache des Antragstellers sei, die Glaubhaftigkeit der Gründe für die Beantragung von Asyl darzutun und alle sachdienlichen Informationen zur Begründung des Antrags vorzulegen. Sodann laden die zuständigen Behörden den Antragsteller zu zwei Anhörungen vor. Die Antragsteller können die Dienste eines Dolmetschers sowie Prozesskostenhilfe für die Beauftragung eines Rechtsbeistands in Anspruch nehmen. Dem Antragsteller wird ein Anhörungsprotokoll übermittelt. Er hat die Möglichkeit, Änderungen des Protokolls zu verlangen und weitere Informationen beizubringen. Eine Entscheidung über das Asylbegehren des Antragstellers wird vom zuständigen Minister getroffen, der den Antragsteller über die vom Minister in Aussicht genommene Entscheidung vor deren endgültigem Erlass unterrichtet, woraufhin der Antragsteller eine schriftliche Stellungnahme abgeben kann. Anschließend gibt der Minister dem Antragsteller seine endgültige Entscheidung bekannt, gegen die dieser Klage erheben kann(30).

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage

21.      A, B und C beantragten bei den niederländischen Behörden gemäß der Vreemdelingenwet 2000 eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis (Asyl) mit der Begründung, sie hätten Grund zu der Befürchtung, in ihren jeweiligen Herkunftsländern verfolgt zu werden, weil sie homosexuelle Männer seien.

22.      A hatte zuvor einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund seiner sexuellen Ausrichtung gestellt, den der Minister jedoch wegen fehlender Glaubhaftigkeit abgelehnt hatte. Mit Bescheid vom 12. Juli 2011 lehnte der Minister auch den von A anschließend gestellten Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit der Begründung ab, er halte das Vorbringen von A für nicht glaubhaft. Der Minister vertrat die Auffassung, dass die von A erklärte Bereitschaft, sich einem Test zum Nachweis seiner Homosexualität zu unterziehen, nicht dazu führe, dass der Minister ohne eine Würdigung der Glaubhaftigkeit vorbehaltlos von der von A behaupteten sexuellen Ausrichtung ausgehen müsse.

23.      Im Fall von B gelangte der Minister zu dem Ergebnis, dass der Antrag nicht glaubhaft sei, da darin sowohl die Darstellung der sexuellen Beziehung, die B in frühem Alter zu einem Freund gehabt haben wolle, als auch die Schilderung, wie B sich seiner Homosexualität bewusst geworden sei, nur oberflächlich und vage seien. Da B aus einer muslimischen Familie und einem Land stamme, in dem Homosexualität nicht akzeptiert werde, sei von ihm zu erwarten, dass er seine Gefühlswelt und den Vorgang des Erkennens seiner Homosexualität im Einzelnen näher hätte erläutern können. Der Minister lehnte den Antrag von B auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit Bescheid vom 1. August 2012 ab.

24.      Der Behauptung von C, homosexuell zu sein, fehlte es nach Ansicht des Ministers an Glaubhaftigkeit, weil sie Widersprüche aufweise. C habe geltend gemacht, er habe erst nach Verlassen seines Herkunftslands zu akzeptieren vermocht, dass er möglicherweise homosexuell sei. Er habe geglaubt, solche Gefühle seit seinem 14. oder 15. Lebensjahr empfunden zu haben, und habe den zuständigen Behörden gegenüber angegeben, er habe eine sexuelle Beziehung zu einem Mann in Griechenland unterhalten. Zunächst habe er seinen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hingegen damit begründet, in seinem Herkunftsland wegen seiner sexuellen Kontakte zur Tochter seines Arbeitgebers Problemen ausgesetzt gewesen zu sein. Der Umstand, dass C einen Film vorgelegt habe, in dem er sexuelle Handlungen mit einem Mann vornehme, bedeutet nach Ansicht des Ministers nicht, dass er dadurch seine Homosexualität dargetan hätte. Darüber hinaus habe C keine eindeutigen Angaben zur Bewusstwerdung seiner homosexuellen Gefühle machen und keine Fragen beispielsweise nach der Bezeichnung niederländischer Organisationen beantworten können, die sich für die Rechte Homosexueller einsetzten. Mit Bescheid vom 8. Oktober 2012 lehnte der Minister den Antrag von C auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab.

25.      A, B und C fochten die Bescheide des Ministers bei dem für die Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz zuständigen Richter der Rechtbank ’s-Gravenhage (im Folgenden: Rechtbank) an. Die Rechtsbehelfe wurden im summarischen Verfahren („kort geding“) durch Urteile vom 9. September 2011, vom 23. August 2012 bzw. vom 30. Oktober 2012 zurückgewiesen. Jeder Antragsteller legte dagegen Rechtsmittel beim Raad van State ein.

26.      In seinem Vorabentscheidungsersuchen hat das vorlegende Gericht ausdrücklich beim Gerichtshof anhängige Rechtssachen berücksichtigt, nämlich zum einen die Rechtssachen Y und Z(31), in denen damals bereits ein Urteil vorlag, und zum anderen die seinerzeit beim Gerichtshof noch anhängigen Rechtssachen X, Y und Z(32) (auf die der Raad van State am 18. April 2012 Bezug nahm). In den letztgenannten Rechtssachen war um Hinweise u. a. zu der Frage ersucht worden, ob Ausländer mit einer homosexuellen Ausrichtung eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Anerkennungsrichtlinie bilden. Die Rechtsmittel in den Ausgangsverfahren wurden bis zur Entscheidung in den Rechtssachen X, Y und Z ausgesetzt.

27.      In den Ausgangsverfahren rügen A, B und C, die Bescheide des Ministers seien fehlerhaft, weil er seine Entscheidung der Frage, ob sie homosexuell seien, nicht auf ihre jeweiligen Angaben zu ihrer sexuellen Ausrichtung gestützt habe. Der Minister verstoße mit seiner Auffassung gegen die Art. 1, 3, 4, 7 und 21 der Charta, da sie auf die Nichtanerkennung einer behaupteten sexuellen Ausrichtung hinauslaufe.

28.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist die Prüfung einer behaupteten sexuellen Ausrichtung komplexer als die Prüfung der anderen in Art. 10 Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie aufgeführten Verfolgungsgründe. Solche Prüfungen würden in den Mitgliedstaaten nicht einheitlich durchgeführt(33). Es bezweifelt jedoch das Vorbringen der Antragsteller, wonach der Minister von der behaupteten sexuellen Ausrichtung auszugehen habe und ihm deren Überprüfung verwehrt sei. Angesichts dieser Erwägungen, des Urteils des Gerichtshofs in den Rechtssachen Y und Z sowie des Urteils in den (damals anhängigen) Rechtssachen X, Y und Z ersucht der Raad van State um Hinweise zu der Frage, ob das Unionsrecht der Prüfung Grenzen setzt, die die zuständigen nationalen Behörden hinsichtlich der behaupteten sexuellen Ausrichtung eines die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft Beantragenden vornehmen dürfen. Er hat deshalb dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Welche Grenzen setzen Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie sowie die Charta, insbesondere deren Art. 3 und 7, der Art und Weise, wie die Glaubhaftigkeit einer behaupteten sexuellen Ausrichtung zu prüfen ist, und unterscheiden sich diese Grenzen von denen, die für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der anderen Verfolgungsgründe gelten, und wenn ja, inwieweit?

29.      A und B, der UNHCR, die Niederlande, Belgien, die Tschechische Republik, Frankreich, Deutschland und Griechenland sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme von B, der Tschechischen Republik und Deutschland haben alle Verfahrensbeteiligten in der Sitzung vom 25. Februar 2014 mündlich verhandelt.

 Würdigung

 Vorbemerkungen

30.      Nach ständiger Rechtsprechung stellt die Genfer Konvention einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar. Die Anerkennungsrichtlinie wurde erlassen, um die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Konvention auf der Grundlage gemeinsamer Konzepte und Kriterien zu leiten(34). Die Bestimmungen dieser Richtlinie sind daher im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention und einschlägigen anderen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt, auszulegen. Die Anerkennungsrichtlinie muss zudem im Einklang mit den in der Charta anerkannten Grundrechten ausgelegt werden(35).

31.      Im Rahmen des GEAS wird durch die Asylverfahrensrichtlinie ein gemeinsamer Garantierahmen aufgestellt, durch den bei den Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft die uneingeschränkte Wahrung der Genfer Konvention und der Grundrechte sichergestellt werden kann(36).

32.      Weder in der Asylverfahrensrichtlinie selbst noch in der Genfer Konvention noch in der Charta finden sich jedoch spezifische Regeln für die Prüfung der Glaubwürdigkeit eines Antragstellers, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus einem der in Art. 10 Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie aufgeführten Gründen begehrt, zu denen auch die Mitgliedschaft in einer bestimmten sozialen Gruppe aufgrund der sexuellen Ausrichtung gehört. Diese Prüfung fällt in den Bereich der nationalen Vorschriften(37), wobei jedoch das Ermessen, das den Mitgliedstaaten hinsichtlich der zulässigerweise anwendbaren Regeln bei der Prüfung der Glaubwürdigkeit von Asylbewerbern zusteht, durch das Unionsrecht eingeschränkt sein kann.

 Anerkennung als Flüchtling

33.      Wie das vorlegende Gericht erläutert, weisen die jetzigen Vorabentscheidungsersuchen einen Bezug zu den früheren Ersuchen desselben Gerichts in den Rechtssachen X, Y und Z(38) auf. Einige Fragen betreffend die Auslegung der Anerkennungsrichtlinie, soweit diese auf Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus Gründen der sexuellen Ausrichtung Anwendung findet, sind bereits durch das Urteil des Gerichtshofs in jenen Rechtssachen entschieden worden. Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass das Vorbringen, der Antragsteller sei Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Anerkennungsrichtlinie, auch mit dem Vorliegen einer homosexuellen Ausrichtung begründet werden könne(39). Von einem Antragsteller könne nicht erwartet werden, sich in seinem Herkunftsland in bestimmter Weise zu verhalten, z. B. sich beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung zurückzuhalten oder seine sexuelle Ausrichtung geheim zu halten(40). In Bezug auf die Prüfung, ob begründete Furcht vor Verfolgung besteht, hat der Gerichtshof entschieden, dass die zuständigen Behörden herauszufinden hätten, ob die festgestellten Umstände eine solche Bedrohung darstellten, dass der Betroffene in Anbetracht seiner individuellen Lage begründete Furcht haben könne, tatsächlich Verfolgungshandlungen zu erleiden(41). Die Beurteilung der Größe der Gefahr, die in allen Fällen mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen sei, beruhe ausschließlich auf einer konkreten Prüfung der Ereignisse und Umstände anhand der Regeln, die insbesondere in Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie enthalten seien(42).

34.      Die vorliegenden Rechtssachen sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Es bedarf daher z. B. keiner Entscheidung des Gerichtshofs in der Frage, ob einem Antragsteller, der seine Homosexualität dartut, automatisch die Flüchtlingseigenschaft in einem Mitgliedstaat zuerkannt werden muss. Nach den in der gesetzlichen Regelung festgelegten Schritten ist vielmehr zunächst festzustellen, ob der Antragsteller einer bestimmten sozialen Gruppe angehört(43). Schutz wird auch dann gewährt, wenn der Antragsteller nicht Mitglied der Gruppe (hier der Homosexuellen) ist, aber als ein solches Mitglied wahrgenommen wird(44). Sodann ist zu prüfen, ob der betroffene Antragsteller begründete Furcht vor Verfolgung hat(45).

35.      Das vorlegende Gericht gibt in seinen Vorabentscheidungsersuchen nicht an, ob Art. 10 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie als solcher einschlägig ist. Zu dem Kontext, in dem sich die Vorlagefrage stellt, gibt das Gericht nur minimale Hinweise und formuliert die Frage daher entsprechend abstrakt. Ich werde mich daher auf die Problematik konzentrieren, ob es unionsrechtlich zulässig ist, dass die zuständigen nationalen Behörden prüfen, ob ein Antragsteller aufgrund seiner Homosexualität Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d ist (anstatt ihm einfach zu glauben), wie die Prüfung vorzunehmen ist und ob der Art und Weise, in der diese Frage beurteilt werden kann, Grenzen gesetzt sind.

 Eigenerklärung über die sexuelle Ausrichtung

36.      Die Verfahrensbeteiligten, die dem Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, gehen einhellig davon aus, dass die Sexualität einer Person ein hochkomplexer Bereich sei, der einen wesentlichen Bestandteil ihrer persönlichen Identität ausmache und ihre Privatsphäre berühre. Darüber hinaus sind sich alle Verfahrensbeteiligten einig, dass es kein objektives Verfahren zur Überprüfung einer behaupteten sexuellen Ausrichtung gebe. Allerdings gehen die Meinungen auseinander bezüglich der Frage, ob die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats prüfen sollen, ob der Antragsteller homosexuell ist und deshalb Mitglied einer sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Anerkennungsrichtlinie ist.

37.      A und B sind beide der Ansicht, dass nur der Antragsteller selbst seine eigene Sexualität definieren könne und dass eine Überprüfung der behaupteten Sexualität durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten mit dem Recht auf Privatleben(46) nicht vereinbar sei. Nach Auffassung von A gibt es keine allgemeinen Merkmale in Bezug auf Homosexualität und besteht kein Konsens hinsichtlich der für eine solche sexuelle Ausrichtung entscheidenden Faktoren. Angesichts dessen seien die nationalen Behörden nicht befugt, ihre Beurteilung an die Stelle der eigenen Aussage des Antragstellers über seine sexuelle Ausrichtung zu setzen. Alle Mitgliedstaaten, die dem Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, machen geltend, dass ihren jeweiligen nationalen Behörden die Befugnis verbleibe, die Glaubhaftigkeit einer vom Antragsteller behaupteten sexuellen Ausrichtung zu prüfen. Die Kommission schließt sich dieser Ansicht an und geht davon aus, dass diese mit Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie in Einklang stehe. Der UNHCR trägt vor, dass die Nachprüfung der Angaben des Antragstellers über seine sexuelle Ausrichtung Bestandteil der üblichen Tatsachenwürdigung in solchen Fällen sei und den Ausgangspunkt für die Prüfung dieser Frage bilden müsse(47).

38.      Auch ich bin der Ansicht, dass die sexuelle Ausrichtung einer Person ein komplexer Bereich ist, der mit der Identität des Betroffenen untrennbar verwoben ist und zu seiner Privatsphäre gehört. Deshalb ist die Frage, ob die behauptete sexuelle Ausrichtung einer Person ohne weitere Prüfung seitens der zuständigen nationalen Behörden akzeptiert werden sollte, in folgendem Rahmen zu beurteilen. Erstens ist das Recht auf Privatleben durch Art. 7 der Charta garantiert, und in Art. 21 Abs. 1 ist der Schutz vor Diskriminierung aus bestimmten Gründen, u. a. wegen der sexuellen Ausrichtung, ausdrücklich vorgesehen. Diese Rechte entsprechen Art. 8 EMRK, gegebenenfalls in Verbindung mit deren Art. 14(48). Sie gehören jedoch nicht zu den unabdingbaren Rechten, von denen nicht abgewichen werden darf(49). Zweitens hat der EGMR ausgeführt, dass der Begriff des Privatlebens ein umfassender Terminus sei, der keine erschöpfende Begriffsbestimmung zulasse. Er decke die physische und psychische Integrität einer Person ab, einschließlich Merkmalen wie die sexuelle Prägung und das Sexualleben, die in den von Art. 8 EMRK geschützten persönlichen Bereich fielen(50).

39.      Drittens hat der EGMR in Rechtssachen, die geschlechtliche Identität und Transsexualität zum Gegenstand hatten, entschieden, dass der Begriff der persönlichen Autonomie einen wichtigen Grundsatz darstelle, der den Garantien des Art. 8 EMRK zugrunde liege(51). Die in der genannten Rechtsprechung behandelten Fragen sind zwar nicht genau identisch mit Fragen, die sich im Rahmen der sexuellen Ausrichtung stellen, dennoch lassen sich dieser Rechtsprechung meines Erachtens wertvolle Hinweise entnehmen(52). Der EGMR hatte bisher noch nicht zu entscheiden, ob Art. 8 EMRK das Recht gewährleistet, dass die von einer Person behauptete sexuelle Ausrichtung nicht von den zuständigen Behörden insbesondere im Rahmen eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft überprüft wird. Ich verstehe die bisherige Rechtsprechung in dem Sinne, dass dem Einzelnen, da der Begriff der persönlichen Autonomie einen wichtigen Grundsatz darstellt, der der Auslegung des durch Art. 8 EMRK gewährten Schutzes zugrunde liegt, ein Recht auf Definition der eigenen Identität zusteht, wozu auch die Definition der eigenen sexuellen Ausrichtung gehört.

40.      Die von einem Antragsteller vorgenommene Definition der eigenen sexuellen Ausrichtung muss daher bei der Prüfung von Anträgen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie eine wichtige Rolle spielen. Ich bin mit dem UNHCR der Meinung, dass eine entsprechende Selbsterklärung zumindest den Ausgangspunkt der Prüfung bilden muss. Es stellt sich jedoch die Frage, ob den Mitgliedstaaten die Überprüfung solcher Selbsterklärungen verwehrt ist.

 Würdigung im Rahmen der Anerkennungsrichtlinie

41.      Nach Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie sind die Mitgliedstaaten zur Prüfung aller Anträge auf internationalen Schutz verpflichtet. Es wird nicht nach den verschiedenen in Art. 10 der Richtlinie aufgeführten Verfolgungsgründen unterschieden. Folglich sind Antragsteller, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit der Begründung beantragen, dass sie homosexuell seien und einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d angehörten, nicht von der Prüfung nach Maßgabe der Richtlinie freigestellt(53).

42.      Nach Art. 4 Abs. 1 können die Mitgliedstaaten dem Antragsteller die Last auferlegen, „so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen“(54). Die genannte Bestimmung sieht auch eine Handlungspflicht der Mitgliedstaaten vor, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen. Diese Prüfung ist individuell durchzuführen, wobei die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers zu berücksichtigen sind(55). Art. 4 Abs. 5 der Anerkennungsrichtlinie liegt die Erkenntnis zugrunde, dass ein Antragsteller nicht immer in der Lage sein wird, seinen Antrag durch Unterlagen oder sonstige Beweise zu substantiieren. Solche Beweise werden daher nicht verlangt, wenn die kumulativ geltenden Bedingungen des Art. 4 Abs. 5 Buchst. a bis e erfüllt sind(56).

43.      Begehrt ein Antragsteller unter Berufung auf Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit der Begründung, dass er aufgrund seiner sexuellen Ausrichtung Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe sei, ist es meiner Meinung nach praktisch unausweichlich, dass Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie zum Tragen kommt. Die behauptete sexuelle Ausrichtung lässt sich nicht ohne Weiteres objektiv überprüfen; außerdem werden wahrscheinlich keine Unterlagen oder sonstigen Beweise für die vom Antragsteller selbst angegebene eigene sexuelle Ausrichtung vorliegen(57). Damit rückt die Glaubhaftigkeit in den Mittelpunkt der Problematik.

44.      Steht eine Prüfung der Glaubwürdigkeit des Antragstellers in Einklang mit der Charta und der Achtung der Grundrechte?

45.      Meines Erachtens ist dies zu bejahen.

46.      Art. 18 der Charta gewährleistet das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Konvention und der Verträge. Ein entsprechendes Recht fehlt in der EMRK, allerdings sieht Art. 1 des Protokolls Nr. 7 bestimmte verfahrensrechtliche Schutzvorschriften in Bezug auf die Ausweisung von Ausländern vor. Bei Anträgen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat der EGMR eine (vorbehaltlich vertraglicher Verpflichtungen) bestehende völkerrechtliche Befugnis der Vertragsstaaten zur Kontrolle der Einreise, des Aufenthalts und der Ausweisung von Ausländern in ihrem Hoheitsgebiet anerkannt(58). Das ist nicht verwunderlich. Bei der Durchführung der Asylpolitik müssen die Mitgliedstaaten feststellen, welche Personen tatsächlich des internationalen Schutzes bedürfen, und diese Personen als Flüchtlinge anerkennen. Umgekehrt dürfen sie Scheinasylanten die Unterstützung verweigern.

47.      Die Frage, ob ein Antragsteller Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d ist (oder als solches Mitglied wahrgenommen wird, was zur Anwendung von Art. 10 Abs. 2 führt), ist untrennbar mit der Frage verknüpft, ob der Antragsteller begründete Furcht vor Verfolgung hat(59). Die zwangsläufig strenge Prüfung, ob eine tatsächliche Gefahr besteht(60), muss mit Wachsamkeit und Vorsicht durchgeführt werden. In solchen Fällen sind Fragen der Integrität der menschlichen Person, der individuellen Freiheiten und der Grundwerte der Europäischen Union betroffen(61).

48.      Selbstverständlich muss die von einem Antragsteller behauptete sexuelle Ausrichtung zunächst einmal den Ausgangspunkt bilden, jedoch sind die zuständigen nationalen Behörden berechtigt, dieses Element seiner Aussage zusammen mit allen anderen Elementen im Rahmen der Beurteilung zu prüfen, ob er begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne der Anerkennungsrichtlinie und der Genfer Konvention hat.

49.      Daraus folgt zwingend, dass mit der sexuellen Ausrichtung begründete Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ebenso wie alle anderen Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer Prüfung nach Maßgabe der Anerkennungsrichtlinie unterliegen. Diese Prüfung muss jedoch unter Wahrung der durch die Charta garantierten Rechte des Betroffenen durchgeführt werden. (Dies ist zwischen den Verfahrensbeteiligten soweit auch unstreitig.)

 Glaubwürdigkeitsprüfung

50.      Weder in der Anerkennungsrichtlinie noch in der Asylverfahrensrichtlinie finden sich spezifische Bestimmungen darüber, wie die Glaubwürdigkeit eines Antragstellers zu prüfen ist. Somit ist es nach dem allgemeinen Grundsatz in Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung jeweils Sache des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten, die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten(62).

51.      Unterliegt dieser allgemeine Grundsatz Einschränkungen durch das Unionsrecht?

52.      A und B tragen vor, dass bei jeder Prüfung die Tatsachen festgestellt werden müssten, die der Antragsteller im Rahmen seines Vorbringens zur Begründung seines Begehrens auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft angebe, und dass der Zweck des nächsten Schritts (Tätigwerden der nationalen Behörden unter Mitwirkung des Antragstellers) darin bestehe, zu ermitteln, ob sich diese Tatsachen bestätigen lassen. Von den Antragstellern könne nicht verlangt werden, Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einer Weise zu begründen, die ihre Würde bzw. die Unversehrtheit ihrer Person verletze. Daher seien Methoden wie ärztliche Untersuchungen, Befragungen zu den sexuellen Erfahrungen des Antragstellers oder eine Einordnung des betreffenden Antragstellers anhand stereotyper Vorstellungen von Homosexuellen nicht mit der Charta zu vereinbaren(63).

53.      Die Niederlande weisen darauf hin, dass Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie nicht zu entnehmen sei, in welcher Weise die eigenen Angaben eines Antragstellers zu seiner Sexualität zu prüfen seien. Es sei daher Sache der Mitgliedstaaten, diese Modalitäten nach innerstaatlichem Recht selbst festzulegen. Nach Ansicht der Tschechischen Republik sind die Methoden anzuwenden, die den geringsten Eingriff in das Privatleben des Antragstellers darstellen. Der Rückgriff auf andere Verfahren dürfe jedoch nicht ausgeschlossen werden, wenn sich die Glaubwürdigkeit des Antragstellers durch weniger einschneidende Verfahren nicht bestätigen lasse und vorausgesetzt, dass der Antragsteller einwillige. Die französische, die deutsche und die griechische Regierung sind sich darin einig, dass die UNHCR-Richtlinien sachdienliche Hinweise zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit enthielten. Deutschland trägt vor, dass es gegen Art. 1 der Charta verstieße, wenn man zur Feststellung der sexuellen Ausrichtung pseudo-medizinische Tests durchführen oder dem Antragsteller die Vornahme sexueller Akte abverlangen wollte. Auch die belgische Regierung befürwortet die UNHCR-Richtlinien und macht geltend, dass die klinische oder wissenschaftliche Überprüfung der sexuellen Ausrichtung eines Antragstellers nicht notwendig sei. Es komme vielmehr auf die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Antragstellers an. Dem Recht auf Privatleben werde durch die Formulierungen der Anerkennungsrichtlinie und der Asylverfahrensrichtlinie bereits hinreichend Rechnung getragen. Dieses Recht könne daher nicht ein zweites Mal herangezogen werden, um die Strenge der Prüfung zu mildern oder die Regeln flexibler zugunsten von Asylbewerbern zu handhaben, die behaupteten, homosexuell zu sein.

54.      Der UNHCR teilt die verschiedenen Methoden zur Beurteilung einer nicht unzweifelhaften Glaubhaftigkeit in zwei Kategorien ein. Die Methoden, die seiner Ansicht nach in jedem Fall gegen die Charta verstoßen, fasst er in einer „schwarzen Liste“ zusammen. Zu diesen Methoden gehörten verletzende Befragung zu Einzelheiten der sexuellen Praktiken des Antragstellers, medizinische oder pseudo-medizinische Untersuchungen sowie missbräuchliche Beweisanforderungen, etwa von den Antragstellern zu verlangen, Fotos vorzulegen, auf denen sie bei der Vornahme sexueller Akte abgebildet seien. Eine zweite Kategorie von Methoden bezeichnet der UNHCR als „graue Liste“. Gemeint sind damit Vorgehensweisen, bei denen die Gefahr einer Verletzung der Charta bestehe, wenn sie nicht angemessen oder sensibel eingesetzt würden. Die graue Liste umfasst Vorgehensweisen wie etwa die Schlussfolgerung, dass ein Antragsteller deshalb unglaubwürdig sei, weil er seine sexuelle Ausrichtung als Grund für die Beantragung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht bei der ersten sich bietenden Gelegenheit angeführt habe oder weil er Fragen aus dem Bereich des Allgemeinwissens, etwa nach Interessenverbänden von Homosexuellen im Land des Asylantrags, falsch beantworte. In seine graue Liste reiht der UNHCR auch innerstaatliche Verfahren ein, in deren Rahmen dem Antragsteller keine Gelegenheit gegeben wird, unglaubhaft erscheinende Elemente zu erläutern.

55.      Die Kommission ist der Ansicht, dass die Anerkennungsrichtlinie die Art der Beweise, die zur Begründung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorgelegt werden könnten, nicht beschränke. Beweise seien allerdings unter Wahrung der Grundrechte der Antragsteller zu erheben. Erniedrigende oder gegen die Menschenwürde verstoßende Methoden wie etwa pseudomedizinische Tests oder eine Einschätzung anhand stereotyper Vorstellungen seien weder mit der Anerkennungsrichtlinie noch mit der Charta vereinbar. Es sei unmöglich, über die bereits in Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie und den Art. 3 und 7 der Charta aufgeführten Anhaltspunkte hinaus allgemeine Aussagen zu treffen.

56.      Es trifft zwar zu, dass sich in der Anerkennungsrichtlinie keine ausdrücklichen Formulierungen zur Regelung des Ermessens finden, das den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Vorgehensweisen und Methoden zur Prüfung der Glaubwürdigkeit eines Antragstellers zusteht. Daraus folgt meines Erachtens jedoch noch nicht, dass das Unionsrecht diesem Ermessen keine Grenzen setzt.

57.      Die Charta setzt übergreifende Standards, die bei der Umsetzung jeder Richtlinie gewahrt werden müssen. Durch die Anerkennungsrichtlinie erfolgt eine Harmonisierung durch Festlegung von Mindestnormen für die Anerkennung von Flüchtlingen in der Europäischen Union(64). Das GEAS, insbesondere das Dublin-System, würde ausgehöhlt, wenn die Mitgliedstaaten bei der Prüfung der entsprechenden Anträge völlig unterschiedlich vorgingen. Es wäre nicht wünschenswert, wenn Unterschiede in der Umsetzung der Richtlinie dazu führten, dass Anträgen wegen leichter erfüllbarer Beweisanforderungen in einem Land wahrscheinlich eher stattgegeben werde als in einem anderen.

58.      Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist meines Erachtens notwendig, diejenigen Vorgehensweisen aufzuzeigen, die unionsrechtlich unzulässig sind. Insoweit sind die Erklärungen des UNHCR besonders hilfreich. Dennoch bediene ich mich nicht der Terminologie einer „schwarzen Liste“ oder einer „grauen Liste“, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist die Erstellung einer schwarzen Liste mit der Festlegung allgemeingültiger Vorschriften verbunden – einer Aufgabe, die zu erfüllen eher der Gesetzgeber in der Lage ist. Zweitens würde eine solche Kennzeichnung weder zur Klarheit noch zur Rechtssicherheit beitragen, da sich die Würdigung des Gerichtshofs im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV auf die ihm vorgelegten Angaben beschränkt und nicht feststünde, ob die Listen als beispielhaft oder als erschöpfend zu verstehen sind.

59.      Ich möchte außerdem darauf hinweisen, dass ich nicht die Auffassung der belgischen Regierung teile, der zufolge es problematisch ist, eine flexiblere Handhabung zugunsten von Antragstellern zu ermöglichen, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus Gründen der sexuellen Ausrichtung begehrten. Es geht vielmehr darum, die Parameter für das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Anerkennungsrichtlinie und der Asylverfahrensrichtlinie festzulegen. Dementsprechend werde ich die Vorgehensweisen darlegen, die meines Erachtens mit Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie in ihrer Auslegung im Licht der Charta unvereinbar sind.

60.      In der Europäischen Union gilt Homosexualität nicht mehr als physischer oder psychischer Krankheitszustand(65). Es gibt keine anerkannte medizinische Untersuchung, mit der sich die sexuelle Ausrichtung einer Person feststellen ließe. Was das Recht auf Privatleben betrifft, dürfen Eingriffe in das Recht des Einzelnen auf seine sexuelle Ausrichtung u. a. nur dann vorgenommen werden, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen(66).

61.      Da es sich bei Homosexualität nicht um eine Krankheit handelt, kann meiner Meinung nach kein medizinischer Test zur vorgeblichen Feststellung der sexuellen Ausrichtung eines Antragstellers als mit Art. 3 der Charta vereinbar angesehen werden. Die Zulässigkeit eines solchen Tests würde als Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben auch an dem Verhältnismäßigkeitserfordernis (Art. 52 Abs. 1) scheitern, da das Ziel der Feststellung der sexuellen Ausrichtung einer Person naturgemäß nicht erreicht werden kann. Folglich können medizinische Tests nicht zur Feststellung der Glaubwürdigkeit eines Antragstellers eingesetzt werden, da sie gegen die Art. 3 und 7 der Charta verstoßen(67).

62.      Die deutsche Regierung und der UNHCR haben sich in ihren jeweiligen Erklärungen insbesondere zu pseudomedizinischen phallometrischen Untersuchungen(68) geäußert. Aus meinen Ausführungen oben in den Nrn. 60 und 61, die entsprechend auch für solche pseudomedizinischen Tests gelten, folgt, dass ich solche Untersuchungen für durch die Art. 3 und 7 der Charta verboten erachte. Phallometrie ist eine besonders dubiose Art und Weise, eine homosexuelle Orientierung festzustellen. Erstens müssen dabei die zuständigen nationalen Behörden die Bereitstellung von Pornografie ermöglichen, damit solche Untersuchungen durchgeführt werden können. Zweitens wird dabei der Umstand außer Acht gelassen, dass der menschliche Geist über starke Kräfte verfügt und die körperliche Reaktion auf das dem Antragsteller vorgelegte Material dadurch hervorgerufen werden könnte, dass sich der Betreffende etwas anderes vorstellt als das, was ihm gezeigt wird. Solche Tests vermögen nicht zwischen genuinen Antragstellern und Scheinasylanten zu unterscheiden und sind somit nicht nur eindeutig ungeeignet, sondern stellen auch eine Verletzung der Grundrechte dar.

63.      Meines Erachtens sind explizite Fragen nach den sexuellen Aktivitäten und Neigungen eines Antragstellers ebenfalls unvereinbar mit den Art. 3 und 7 der Charta. Solche Fragen verletzen schon ihrer Natur nach die durch Art. 3 Abs. 1 der Charta garantierte Unversehrtheit der Person. Sie stellen einen Eingriff dar und verletzen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Im Übrigen ist ihr Beweiswert bei Anträgen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zweifelhaft. Erstens kann ein Scheinasylant ohne Weiteres die notwendigen Informationen erfinden. Zweitens mag eine solche Vorgehensweise bestimmten Personen (auch genuinen Antragstellern) befremdlich erscheinen und damit den Grundsatz aushöhlen, dass die nationalen Behörden unter Mitwirkung des Antragstellers tätig werden (Art. 4 Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie).

64.      Zudem hat der Gerichtshof im Urteil X, Y und Z ausgeführt, dass der Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Anerkennungsrichtlinie keinen Anhaltspunkt dafür biete, dass der Unionsgesetzgeber bestimmte andere Arten von Handlungen oder Ausdrucksweisen im Zusammenhang mit der sexuellen Ausrichtung vom Geltungsbereich dieser Bestimmung habe ausnehmen wollen(69). So sehe Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Anerkennungsrichtlinie keine Beschränkungen in Bezug auf die Haltung der Mitglieder der bestimmten sozialen Gruppe in Bezug auf ihre Identität oder die Verhaltensweisen vor, die vom Begriff der sexuellen Ausrichtung für die Zwecke dieser Bestimmung erfasst würden oder nicht erfasst würden(70).

65.      Dem entnehme ich, dass der Gerichtshof also davon ausgeht, dass sich die zuständigen Behörden bei der Prüfung von Anträgen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht an einer homosexuellen Urform orientieren dürfen. Leider dürfte eine auf Fragen nach den sexuellen Aktivitäten eines Antragstellers beruhende Prüfung tatsächlich darauf hindeuten, dass diese Behörden ihrer Beurteilung stereotype Vorstellungen von homosexuellen Verhaltensweisen zugrunde legen. Solche Fragen werden wohl kaum geeignet sein, zwischen genuinen Antragstellern und Scheinasylanten zu unterscheiden, die sich für ihre Anträge entsprechend vorbereitet haben; die Fragen sind daher unangemessen und unverhältnismäßig im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta.

66.      Meines Erachtens verstößt es eindeutig gegen Art. 7 der Charta, von den Antragstellern die Vorlage von Beweisen wie Filme oder Fotos oder die Vornahme sexueller Akte zum Nachweis ihrer sexuellen Ausrichtung zu verlangen. Ich füge ein weiteres Mal hinzu, dass der Wert solcher Beweismittel zweifelhaft ist, denn sie können bei Bedarf fabriziert werden und vermögen genuine Antragsteller nicht von Scheinasylanten zu unterscheiden.

67.      Selbst wenn ein Antragsteller in eine der drei Vorgehensweisen (ärztliche Untersuchung(71), verletzende Befragung oder Vorlage expliziter Beweise) einwilligt, ändert dies nichts am vorstehenden Ergebnis. Die Einwilligung des Antragstellers in einen medizinischen Test zur Feststellung von etwas (Homosexualität), das nicht als Krankheit gilt, i) kann eine Verletzung von Art. 3 der Charta nicht heilen, ii) würde den Beweiswert gegebenenfalls gewonnener Ergebnisse nicht erhöhen und iii) kann nicht dazu führen, dass eine solche Einschränkung der von Art. 7 der Charta garantierten Rechte dem Verhältnismäßigkeitsgebot des Art. 52 Abs. 1 genügt. Außerdem bezweifle ich ernsthaft, dass einem Antragsteller, der im Verfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die schutzbedürftige Partei ist, unter solchen Umständen wirklich unterstellt werden kann, gegenüber den zuständigen Behörden seine freie Einwilligung nach vorheriger Aufklärung erklärt zu haben.

68.      Alle Verfahrensbeteiligten gehen in ihren dem Gerichtshof eingereichten Erklärungen davon aus, dass es sich bei der sexuellen Ausrichtung um einen komplexen Bereich handelt. Deshalb dürfen die nationalen Behörden bei der Glaubhaftigkeitsprüfung des Vorbringens der Antragsteller keine stereotypen Muster zum Maßstab nehmen. Die Feststellungen dürfen nicht auf der Annahme gründen, dass es „richtige“ und „falsche“ Antworten auf die Fragen eines Prüfers gibt – z. B., dass ein Antragsteller unglaubwürdig ist, wenn er, als er sich bewusst wurde, dass er nicht heterosexuell, sondern homosexuell ist, keine Beklemmungen empfunden hat oder wenn er keine Kenntnisse über Homosexuelle betreffende politische Fragen oder bestimmte Aktivitäten aufweist. Solche Vorgehensweisen sind nicht mit Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie vereinbar, wonach die zuständigen Behörden die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des betreffenden Antragstellers berücksichtigen müssen. Der Ordnung halber füge ich hinzu, dass der Zweck der Anhörung darin besteht, den Antragsteller zur Darstellung seines Falls aufzufordern. Wenn er in diesem Rahmen freiwillig z. B. explizite sexuelle Angaben über sich macht, ist dies etwas anderes als eine von den zuständigen Behörden ausgehende entsprechende Befragung. Dennoch obliegt diesen Behörden die Prüfung seiner Glaubwürdigkeit, wobei sie zu beachten haben, dass Angaben dieser Art nicht geeignet sind, die sexuelle Ausrichtung mit Bestimmtheit festzustellen. Ich verweise insoweit auf die UNHCR-Richtlinien.

69.      Ich gelange zu dem Ergebnis, dass angesichts der Unmöglichkeit, die sexuelle Ausrichtung einer Person mit Bestimmtheit festzustellen, Vorgehensweisen, durch die dies erreicht werden soll, im Rahmen der Prüfung nach Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie unzulässig sind. Solche Vorgehensweisen verstoßen gegen die Art. 3 und 7 der Charta. Je nach den Umständen des Einzelfalls mögen sie auch weitere durch die Charta garantierte Rechte verletzen. Die Beurteilung, ob die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden soll, hat sich vielmehr auf die Frage zu konzentrieren, ob der Antragsteller glaubwürdig ist. Dies bedeutet, dass geprüft werden muss, ob sein Vorbringen plausibel und kohärent ist.

 Durchführung der Glaubwürdigkeitsprüfung

70.      Die Glaubwürdigkeit eines Antragstellers wird zunächst von den zuständigen nationalen Behörden geprüft (im Folgenden: erstinstanzliches Verfahren), deren Entscheidung der gerichtlichen Kontrolle unterliegt, falls der Antragsteller bei den betreffenden innerstaatlichen Gerichten Klage gegen die Entscheidung erhebt.

71.      Die Bestimmungen über die im erstinstanzlichen Verfahren geltenden Grundsätze und Garantien finden sich in Kapitel II der Asylverfahrensrichtlinie(72). Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Asylbehörde(73) ihre Entscheidung über einen Asylantrag nach angemessener Prüfung trifft(74). Bevor die Asylbehörde eine Entscheidung trifft, wird dem Antragsteller Gelegenheit zur Teilnahme an einer persönlichen Anhörung gegeben(75). Die Anforderungen an die persönliche Anhörung sind in Art. 13 der Asylverfahrensrichtlinie festgelegt. So ist u. a. sicherzustellen, dass die persönliche Anhörung unter Bedingungen durchgeführt wird, die dem Antragsteller eine zusammenhängende Darlegung der Gründe seines Asylantrags gestatten. Dementsprechend gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die anhörenden Bediensteten ausreichend befähigt sind und dass die Antragsteller die Dienste eines Dolmetschers in Anspruch nehmen können, der ihnen behilflich ist(76).

72.      Zur Glaubwürdigkeitsprüfung trägt B vor, dass sich, sollte der Gerichtshof sich nicht der Auffassung anschließen, dass für die Frage der sexuellen Ausrichtung eines Antragstellers einfach dessen eigene Erklärung maßgebend sei, die Beweislast auf die zuständigen Behörden verlagern müsse, die dann nachzuweisen hätten, dass er nicht homosexuell sei.

73.      Ich kann mich dieser Sichtweise nicht anschließen. Bei der nach Art. 4 Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie vorgesehenen Mitwirkung handelt es sich nicht um einen Gerichtsprozess. Sie ermöglicht vielmehr einerseits dem Antragsteller, seinen Fall darzustellen und seine Beweise vorzulegen, und andererseits den zuständigen Behörden, Informationen zu sammeln, den Antragsteller zu sehen und anzuhören, sein Auftreten zu beurteilen und die Plausibilität und Kohärenz seines Vorbringens in Frage zu stellen. Der Begriff „Mitwirkung“ impliziert eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Seiten im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel(77). Nach der genannten Bestimmung können die Mitgliedstaaten zwar vom Antragsteller verlangen, alle zur Begründung seines Begehrens erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Daraus folgt aber nicht, dass es mit Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie vereinbar wäre, Beweisvorschriften anzuwenden, die es für einen Antragsteller praktisch unmöglich oder übermäßig schwierig machen (wie z. B. Beweismaßstäbe nach dem Grundsatz „jenseits jeden vernünftigen Zweifels“ oder Beweismaßstäbe, wie sie in Strafverfahren oder Quasi-Strafverfahren gelten), die zur Begründung seines Antrags erforderlichen Anhaltspunkte gemäß der Anerkennungsrichtlinie darzulegen(78). Von dem Antragsteller darf auch nicht verlangt werden, seine sexuelle Ausrichtung nach einem anderen (abweichenden) Maßstab „zu beweisen“, da sie grundsätzlich gar nicht bewiesen werden kann. Der die Entscheidung treffende Bedienstete muss daher Gelegenheit haben, den Antragsteller bei dessen Vorbringen zu sehen, oder dem Bediensteten muss zumindest ein vollständiger Bericht über das Auftreten des Antragstellers während der Prüfung vorliegen (meines Erachtens ist die erste Variante vorzuziehen).

74.      Häufig ist es so, dass Personen, die genuin die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragen, deshalb Asyl begehren, weil sie einen Leidensweg mit schwierigen und verstörenden Erfahrungen zurückgelegt haben. Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen und der zur Begründung vorgelegten Unterlagen müssen Zweifel oftmals zu ihren Gunsten ausgelegt werden. Das scheint mir das Art. 4 Abs. 1 der Anerkennungsrichtlinie zugrunde liegende Prinzip zu sein. Bei Angaben, die begründeten Anlass geben, den Wahrheitsgehalt des Vorbringens des Asylbewerbers in Frage zu stellen, muss der Betroffene jedoch eine zufriedenstellende Erklärung für die ihm vorgehaltenen Widersprüche liefern(79).

75.      Fraglich ist, ob ein Antragsteller, dessen Glaubwürdigkeit von den zuständigen Behörden in Zweifel gezogen wird, vor Erlass einer ablehnenden Entscheidung entsprechend zu unterrichten ist.

76.      In der Asylverfahrensrichtlinie ist eine solche Unterrichtungspflicht nicht normiert. Art. 14 Abs. 1 sieht lediglich vor, dass ein Statusbericht über die persönliche Anhörung angefertigt und dem Antragsteller zur Verfügung gestellt wird und dass der Bericht „zumindest“ die für den Antrag relevanten Informationen enthält. Außerdem kann der Mitgliedstaat den Betroffenen bitten, den Inhalt des Berichts zu genehmigen, wobei die Punkte, über die keine Einigkeit besteht, in seiner persönlichen Akte vermerkt werden können. Dem Antragsteller soll damit die Möglichkeit gegeben werden, bestimmte Elemente vor dem Erlass einer Entscheidung oder andernfalls danach im Rahmen eines gerichtlichen Rechtsbehelfs zu korrigieren. Im Übrigen sind bei der Ablehnung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Gründe dafür in der betreffenden Entscheidung darzulegen und Informationen darüber zu erteilen, wie die Entscheidung angefochten werden kann (Art. 9 der Asylverfahrensrichtlinie).

77.      Mit diesem Verfahren(80) soll sichergestellt werden, dass der Antragsteller in erster Instanz angemessen gehört wird. Er hat die Möglichkeit, bei der persönlichen Anhörung seine Argumente vorzutragen und die zuständigen Behörden auf weitere Anhaltspunkte aufmerksam zu machen. Der Asylverfahrensrichtlinie lässt sich jedoch nicht entnehmen, ob der Gesetzgeber sich konkret mit der Problematik befasst hat, inwieweit eine Glaubhaftigkeitsprüfung in Fällen entscheidend sein könnte, in denen wie hier die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus Gründen der sexuellen Ausrichtung beantragt wird, aber keine Beweise vorliegen, die die behauptete Homosexualität belegen. In solchen Fällen ist das Auftreten des Antragstellers bei seiner Schilderung ebenso bedeutsam wie der eigentliche Inhalt des Vorbringens. Die Asylverfahrensrichtlinie schreibt nicht vor, dass die Entscheidung von demjenigen Bediensteten getroffen wird, der die Anhörung durchführt (Art. 12 und 13 der Richtlinie). Es kann daher vorkommen, dass ein Bediensteter, der den Antragsteller weder gesehen noch gehört hat, nach Lage der Akten entscheidet, die vielleicht einen Bericht mit Auslassungszeichen enthalten, mit denen angedeutet wird, dass der Antragsteller Fragen nach seinem sexuellen Verhalten nicht beantwortet oder keine Kenntnisse über „Schwulenrechte“ nachgewiesen hat. Die Videoaufzeichnung von Befragungen könnte dieses Problem zwar bis zu einem gewissen Grad abmildern; sie ist aber nicht ohne eigene Gefahren, insbesondere in so einem sensiblen Bereich.

78.      Der Gerichtshof hat im Urteil M. M.(81) ausgeführt, dass das Recht auf eine gute Verwaltung insbesondere das Recht jeder Person umfasse, gehört zu werden, und dass dieses Recht auch dann zu wahren sei, wenn die anwendbare Regelung ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsehe(82). Zudem garantiere dieses Recht jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen werde, sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen(83).

79.      Je nach den Umständen des Einzelfalls kann es zu einem Verstoß gegen diese allgemeine Verfahrensvorschrift kommen, wenn i) einem Antragsteller nicht mitgeteilt wird, dass sein Antrag wahrscheinlich abgelehnt werde, weil die zuständigen Behörden die Glaubwürdigkeit des Antragstellers anzweifeln, ii) dem Antragsteller nicht die Gründe für diese Einschätzung genannt werden und iii) ihm keine Gelegenheit gegeben wird, diese konkreten Bedenken auszuräumen.

80.      Dem vorlegenden Gericht zufolge ist in Situationen, wie sie den Ausgangsverfahren zugrunde liegen, nach den in den Niederlanden anwendbaren Verfahrensvorschriften den Antragstellern jeweils Gelegenheit zu geben, zu den in der Frage der Glaubwürdigkeit getroffenen Feststellungen der zuständigen Behörden Stellung zu nehmen. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, dass hier auch tatsächlich so verfahren wurde, wird meines Erachtens in den vorliegenden Fällen ein solcher Verstoß wohl nicht vorliegen.

81.      Nach Art. 4 Abs. 5 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie sind im Fall des Fehlens sonstiger Beweise für Aussagen des Antragstellers alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorzulegen und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte zu geben. Das deutet meines Erachtens darauf hin, dass im Verfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sichergestellt werden muss, dass die Antragsteller die Möglichkeit haben, konkret auf ihre Glaubwürdigkeit betreffende Fragen einzugehen, wenn der einzige Beweis für ihre sexuelle Ausrichtung in ihrer eigenen Erklärung besteht.

82.      Meiner Meinung nach wäre es nicht nur wünschenswert, sondern auch klug, wenn die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Antragsteller die Möglichkeit haben, im Verwaltungsverfahren (d. h. im erstinstanzlichen Verfahren) auf konkrete Bedenken hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit einzugehen, ehe die Asylbehörden endgültig entscheiden.

83.      Sowohl A als auch B bestreiten die vom vorlegenden Gericht gegebene Darstellung der Art und Weise der Umsetzung der Anerkennungsrichtlinie und der Asylverfahrensrichtlinie in nationales Recht sowie des Ablaufs der Prüfung von Anträgen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in den Niederlanden, insbesondere die Darstellung der Regelung für die gerichtliche Kontrolle von Entscheidungen der zuständigen nationalen Behörden. Die niederländische Regierung hingegen erachtet die Darstellung des vorlegenden Gerichts als fundiert und zutreffend. Das vorlegende Gericht führt aus, dass die mit den Rechtsbehelfen der drei Antragsteller gegen die Bescheide des Ministers befassten Gerichte die Frage der Glaubwürdigkeit der Antragsteller geprüft hätten.

84.      Es stellt sich die grundsätzliche Frage, wie intensiv die Überprüfung einer ablehnenden Verwaltungsentscheidung ausfallen muss, wenn die Ablehnung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit der mangelnden Glaubwürdigkeit des Antragstellers begründet wird. Sollte sich die Überprüfung auf Rechtsfragen beschränken, oder sollte sie sich auch auf eine Nachprüfung der Beweise erstrecken? Das vorlegende Gericht hat diese Problematik in den vorliegenden Rechtssachen nicht angesprochen, so dass ich ihr an dieser Stelle nicht nachgehe. Da es im Übrigen nicht Sinn des Vorabentscheidungsverfahrens ist, zu untersuchen, ob die Niederlande ihren Verpflichtungen bei der Umsetzung der Anerkennungsrichtlinie bzw. der Asylverfahrensrichtlinie nicht nachgekommen sind (es handelt sich hier nicht um ein Vertragsverletzungsverfahren), braucht der Gerichtshof über die Meinungsverschiedenheit, die zwischen A und B auf der einen Seite und der Regierung der Niederlande auf der anderen Seite hinsichtlich der tatsächlich geltenden Regelung besteht, nicht zu entscheiden(84).

85.      Unterscheiden sich die Grenzen, die das Unionsrecht der Glaubhaftigkeitsprüfung von Anträgen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen der sexuellen Ausrichtung setzt, von den Grenzen, die für die Prüfung der anderen in der Anerkennungsrichtlinie genannten Verfolgungsgründe gelten?

86.      Meiner Ansicht nach ist die Frage zu verneinen.

87.      Die Charta setzt die übergeordneten Maßstäbe für die Auslegung sowohl der Anerkennungsrichtlinie als auch der Asylverfahrensrichtlinie hinsichtlich aller in Art. 10 der Anerkennungsrichtlinie aufgeführten Verfolgungsgründe. Es mag sein, dass bei den einzelnen Gründen jeweils andere Grundrechte zum Tragen kommen. So wäre es z. B. logisch, wenn bei Anträgen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Verfolgung aus religiösen Gründen(85) auf das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 10 der Charta) abgestellt würde. Dennoch gelten bei allen Anträgen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Prüfung der Ereignisse und Umstände die Vorschriften von Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie sowie die Bestimmungen der Asylverfahrensrichtlinie. Diese Sichtweise steht in Einklang mit dem in Art. 3 der Genfer Konvention und Art. 21 der Charta verankerten Diskriminierungsverbot. Die von mir aufgezeigten Regelungslücken treten ebenso bei Anträgen zutage, die auf irgendeinen anderen der in Art. 10 der Anerkennungsrichtlinie genannten Verfolgungsgründe gestützt werden, da in Fällen, in denen wenige oder keine Beweise zum Beleg vorliegen, die Glaubwürdigkeit des Antragstellers in den Mittelpunkt rückt.

88.      Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass das vorlegende Gericht seine Frage abstrakt formuliert hat und dass dem Gerichtshof kaum Angaben zu den den Ausgangsverfahren zugrunde liegenden einzelnen Sachverhalten vorliegen. Der Ordnung halber sei dazu Folgendes angemerkt.

89.      A hat den zuständigen nationalen Behörden gegenüber seine Bereitschaft erklärt, sich einer Untersuchung zum Nachweis seiner homosexuellen Ausrichtung zu unterziehen. Meines Erachtens wäre es jedoch unvereinbar mit den Art. 3 und 7 der Charta, wenn die Behörden sich auf ein solches Verfahren zur Feststellung seiner sexuellen Ausrichtung einließen.

90.      Der Minister hat den Antrag von B abgelehnt, weil i) er das Vorbringen von B für unzureichend erachte und ii) B, als sich dieser seiner Homosexualität bewusst geworden sei, nicht so reagiert habe, wie dies von einem homosexuellen Mann zu erwarten sei, der aus einer muslimischen Familie und einem Land stamme, in dem Homosexualität nicht akzeptiert werde. Soweit der Bescheid des Ministers auf dem ersten Grund beruht, wird das zuständige nationale Gericht als alleinige Tatsacheninstanz festzustellen haben, ob B hinreichend Gelegenheit zur Vorlage aller relevanten Informationen nach Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie hatte. Zur Wahrung des Rechts von B auf eine gute Verwaltung müssen die nationalen Behörden sicherstellen, dass B darüber informiert wurde, inwieweit ihrer Meinung nach Anhaltspunkte zur Begründung seines Vorbringens fehlen, und dass B Gelegenheit gegeben wurde, diese Bedenken auszuräumen. Beim zweiten Grund wäre es jedoch unvereinbar mit Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie, wenn die nationalen Behörden ihre Entscheidung ausschließlich auf die stereotype Annahme stützen würden, dass das Vorbringen von B, da dieser ein Muslim sei und aus einem Land stamme, in dem Homosexualität nicht akzeptiert werde, ohne detaillierte Erläuterung seiner Gefühlswelt und seines Wegs der Bewusstwerdung seiner Homosexualität nicht glaubhaft sein könne.

91.      Der Antrag von C wurde vom Minister mit der Begründung abgelehnt, i) das Vorbringen von C sei in sich widersprüchlich, ii) es fehle an Informationen, da C nicht klar geschildert habe, wie er sich seiner Homosexualität bewusst geworden sei, und iii) ein Film, in dem C bei der Vornahme sexueller Handlungen mit einem Mann gezeigt werde, belege nicht die sexuelle Ausrichtung von C. Soweit sich der Bescheid des Ministers auf den ersten und den zweiten Grund stützt, wird das zuständige nationale Gericht als alleinige Tatsacheninstanz festzustellen haben, ob C hinreichend Gelegenheit zur Vorlage aller relevanten Informationen nach Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie hatte. Zur Wahrung des Rechts von C auf eine gute Verwaltung müssen die nationalen Behörden sicherstellen, dass C darüber informiert wurde, inwieweit ihrer Meinung nach Anhaltspunkte zur Begründung seines Vorbringens fehlen, und dass C Gelegenheit gegeben wurde, diese Bedenken auszuräumen. Beim dritten Grund verstieße es meines Erachtens jedoch gegen die Art. 3 und 7 der Charta, wenn die zuständigen Behörden von C Beweis in Form eines Films zulassen würden, in dem C bei sexuellen Handlungen gezeigt wird.

92.      Abschließend meine ich, dass es nicht nur wünschenswert, sondern auch klug wäre, sicherzustellen, dass alle drei Antragsteller die Möglichkeit hatten, im Verwaltungsverfahren (d. h. im erstinstanzlichen Verfahren) auf konkrete Bedenken hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit einzugehen, ehe die Asylbehörden endgültig entscheiden, und dass der die Entscheidung treffende Bedienstete entweder (vorzugsweise) das Auftreten der Antragsteller bei ihrem Vorbringen gesehen hat oder ihm zumindest Informationen zugänglich sind, aus denen hervorgeht, wie sich die Antragsteller bei der Anhörung verhalten haben.

 Ergebnis

93.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Raad van State (Niederlande) vorgelegte Frage in folgendem Sinne zu beantworten:

Wird ein Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, der nach Maßgabe der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes) gestellt und nach Maßgabe der Regelungen der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 (über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) geprüft wird, damit begründet, dass der Antragsteller aufgrund seiner sexuellen Ausrichtung einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/83 angehöre, unterliegt der Antrag einer Prüfung der Ereignisse und Umstände im Sinne von Art. 4 der Richtlinie 2004/83. Zweck dieser Prüfung ist die Feststellung, ob das Vorbringen des Antragstellers glaubhaft ist; bei Durchführung der Untersuchung müssen die zuständigen Behörden die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere deren Art. 3 und 7, beachten.

Die Erklärung des Antragstellers über seine von ihm behauptete sexuelle Ausrichtung stellt einen wichtigen Anhaltspunkt dar, der zu berücksichtigen ist. Vorgehensweisen wie medizinische Untersuchungen, pseudomedizinische Untersuchungen, verletzende Befragungen zu den sexuellen Aktivitäten des Antragstellers und die Zulassung explizierter Beweismittel, die einen Antragsteller bei der Vornahme sexueller Handlungen zeigen, sind hingegen mit den Art. 3 und 7 der Charta nicht vereinbar, und allgemeine Fragen der zuständigen Behörden, denen stereotype Vorstellungen von Homosexuellen zugrunde liegen, stehen nicht in Einklang mit der nach Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 vorgeschriebenen Prüfung der konkret eine Einzelperson betreffenden Ereignisse und Umstände.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, im Folgenden: Anerkennungsrichtlinie); siehe näher hierzu unten, Fn. 13. Diese Richtlinie wurde mit Wirkung vom 21. Dezember 2013 neugefasst und aufgehoben durch die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337, S. 9).


3 – Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13, im Folgenden: Asylverfahrensrichtlinie); siehe näher hierzu unten, Fn. 13. Diese Richtlinie wird mit Wirkung vom 21. Juli 2015 neugefasst, aufgehoben und ersetzt durch die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180, S. 60).


4 – Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde ergänzt durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat. Ich werde das Abkommen und das Protokoll zusammen als „Genfer Konvention“ bezeichnen.


5 – Am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet (im Folgenden: EMRK).


6 – Die laut Art. 15 Abs. 2 EMRK unabdingbaren Rechte sind das Recht auf Leben (Art. 2), das Verbot der Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art. 3 und 4) sowie das Recht des Einzelnen, nicht ohne ordentliches Gerichtsverfahren bestraft zu werden (Art. 7).


7 – ABl. 2010, C 83, S. 389.


8 – Siehe näher hierzu unten, Nr. 78 und Fn. 83.


9 – Vgl. dritter Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie.


10 – Vgl. zehnter Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie bzw. achter Erwägungsgrund der Asylverfahrensrichtlinie.


11 – Vgl. elfter Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie bzw. neunter Erwägungsgrund der Asylverfahrensrichtlinie.


12 – Vgl. achter Erwägungsgrund und Art. 3 der Anerkennungsrichtlinie sowie siebter Erwägungsgrund und Art. 5 der Asylverfahrensrichtlinie.


13 – Neben der Anerkennungsrichtlinie und der Asylverfahrensrichtlinie vgl. Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (ABl. L 212 S. 12), Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31, S. 18) sowie die als „Dublin-System“ bekannten Maßnahmen (die Dublin- und EURODAC-Verordnungen), namentlich die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1). Im Jahr 2013 wurden neue Regelungen für das GEAS vereinbart. Die Maßnahmen zur Ersetzung der Anerkennungsrichtlinie und der Asylverfahrensrichtlinie sind in den Fn. 2 bzw. 3 genannt. Die übrigen neuen Maßnahmen habe ich nicht aufgeführt, da sie in den vorliegenden Rechtssachen nicht unmittelbar einschlägig sind.


14 – Vgl. Erwägungsgründe 1 bis 4, 6, 7, 8, 10, 11 und 17 der Anerkennungsrichtlinie.


15 – Art. 9 Abs. 1.


16 – Art. 9 Abs. 2.


17 – Art. 9 Abs. 3.


18 –      Zu den in Art. 10 genannten Verfolgungsgründen gehören Rasse, Religion, Nationalität und politische Überzeugung.


19 – Vgl. Erwägungsgründe 2, 3, 5, 7, 8, 10, 13 und 22 der Asylverfahrensrichtlinie.


20 – Art. 3 Abs. 1.


21 – Art. 4 Abs. 1.


22 – Art. 8 Abs. 2.


23 – Art. 13 Abs. 1, 2 und 3.


24 – Art. 13 Abs. 3 Buchst. a und b.


25 – Art. 14 Abs. 1 und 2.


26 – Art. 14 Abs. 3.


27 – Art. 15 Abs. 1.


28 – Art. 23 Abs. 2.


29 – Art. 39 Abs. 1 Buchst. a.


30 – Die innerstaatliche Regelung findet sich in Art. 31 Abs. 1 der Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz 2000), Art. 3.111 des Vreemdelingenbesluit 2000 (Ausländerverordnung 2000) und Art. 3.35 der Voorschrift Vreemdelingen 2000 (interministerielle Ausländerverordnung 2000). Leitlinien zu diesen Vorschriften sind im Vreemdelingencirculaire 2000 (Ausländerrunderlass 2000), insbesondere in den Abschnitten C2/2.1, C2/2.1.1 und C14/2.1 bis C14/2.4, enthalten.


31 – Urteil Y und Z (C‑71/11 und C‑99/11, EU:C:2012:518), betreffend den Begriff der religiösen Überzeugung im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie.


32 – Urteil X, Y und Z (C‑199/12, C‑200/12 und C‑201/12, EU:C:2013:720).


33 – Vgl. Janden, S., und Spijkerboer, T., Fleeing homophobia – asylum claims related to sexual orientation and gender identity in Europe, Vrije Universiteit Amsterdam, 2011 (im Folgenden: Fleeing homophobia).


34 – Urteile Salahadin Abdulla u. a. (C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, EU:C:2010:105, Rn. 52), Y und Z (EU:C:2012:518, oben in Fn. 31 angeführt, Rn. 47) und X, Y und Z (EU:C:2013:720, oben in Fn. 32 angeführt, Rn. 39).


35 – Urteil X, Y und Z (EU:C:2013:720, oben in Fn. 32 angeführt, Rn. 40). Vgl. auch Art. 10 der Charta.


36 – Vgl. Erwägungsgründe 2, 3, 5, 7 und 8 sowie Art. 1 der Asylverfahrensrichtlinie. Vgl. näher hierzu Urteil Samba Diouf (C‑69/10, EU:C:2011:524, Rn. 34).


37 – Vgl. die auf das Urteil Rewe Zentralfinanz (33/76, EU:C:1976:188, Rn. 5) zurückgehende ständige Rechtsprechung; aus jüngerer Zeit vgl. Urteil Unibet (C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 39).


38 – Siehe oben, Nr. 28.


39 – Urteil X, Y und Z (EU:C:2013:720, oben in Fn. 32 angeführt, Rn. 46 und 47).


40 – Urteil X, Y und Z (EU:C:2013:720, oben in Fn. 32 angeführt, Rn. 67 bis 69).


41 – Urteil X, Y und Z (EU:C:2013:720, oben in Fn. 32 angeführt, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).


42 – Urteil X, Y und Z (EU:C:2013:720, oben in Fn. 32 angeführt, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).


43 – Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Anerkennungsrichtlinie.


44 – Art. 10 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie.


45 – Art. 2 Buchst. c und Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie.


46 – In der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).


47 – Was die (sachdienlichen) Ausführungen des UNHCR als Verfahrensbeteiligter angeht, weise ich darauf hin, dass in Ziff. 7 der UNHCR-Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 9 (Guidelines on international protection No 9, im Folgenden: UNHCR-Richtlinien) auf die im Jahr 2007 verabschiedeten Yogyakarta-Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität (im Folgenden: Yogyakarta-Prinzipien) Bezug genommen wird. Die Yogyakarta-Prinzipien sind zwar rechtlich nicht bindend, spiegeln aber anerkannte Grundsätze des Völkerrechts wider. In Abs. 4 der Präambel der Yogyakarta-Prinzipien wird „sexuelle Orientierung“ definiert als „Fähigkeit eines Menschen, sich emotional und sexuell intensiv zu Personen desselben oder eines anderen Geschlechts (gender) oder mehr als eines Geschlechts (gender) hingezogen zu fühlen und vertraute und sexuelle Beziehungen mit ihnen zu führen“.


48 – Der EGMR hat sich mehrfach mit Rechtssachen betreffend die Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung im Bereich des Privat- und Familienlebens befasst – vgl. Urteil des EGMR (GK) vom 19. Februar 2013, X u. a./Österreich (Beschwerde Nr. 19010/07, ECHR 2013, § 92 und die dort angeführte Rechtsprechung) zur Auslegung von Art. 8 EMRK an sich und zur Auslegung dieser Bestimmung in Verbindung mit Art. 14 EMRK.


49 – Siehe oben, Fn. 6.


50 – Urteil des EGMR vom 12. Juni 2003, Van Kück/Deutschland (Beschwerde Nr. 35968/97, ECHR 2003-VII, § 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).


51 – Urteil des EGMR Van Kück/Deutschland (oben in Fn. 50 angeführt, §§ 69 und 73 bis 75).


52 – Vgl. z. B. Urteile des EGMR (GK) vom 27. März 1996, Goodwin/Vereinigtes Königreich (Beschwerde Nr. 28957/95, ECHR 2002-VI), und Van Kück/Deutschland (oben in Fn. 50 angeführt). In der Rechtssache Goodwin ging es um die Frage, ob das Vereinigte Königreich dadurch, dass es die geschlechtliche Neuzuordnung der Beschwerdeführerin nicht anerkannte, bestimmte Pflichten zur Gewährleistung insbesondere ihres Rechts auf Privatleben verletzte. In der Rechtssache Van Kück machte die Beschwerdeführerin geltend, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte und die damit einhergehenden Verfahren, mit denen ihre Klage auf Erstattung der ärztlichen Kosten für geschlechtsangleichende Maßnahmen abgewiesen worden war, u. a. ihr Recht auf Privatleben verletzten, soweit die Gerichte den Nachweis verlangt hätten, dass die Geschlechtsangleichung die einzige mögliche Heilbehandlung für ihren Zustand sei.


53 – Vgl. elfter Erwägungsgrund der Anerkennungsrichtlinie sowie das in Art. 3 der Genfer Konvention und Art. 21 der Charta verankerte Diskriminierungsverbot.


54 – Die in Art. 4 Abs. 1 erwähnten Anhaltspunkte sind im Einzelnen in Art. 4 Abs. 2 aufgezählt – siehe oben, Nr. 9. Vgl. auch Urteil M. M. (C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 73).


55 – Vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie. Vgl. auch Art. 8 Abs. 2 der Asylverfahrensrichtlinie.


56 – Siehe oben, Nr. 9.


57 – Siehe unten, Nrn. 60 und 61.


58 – Urteil des EGMR vom 18. Dezember 2012, F. N. u. a./Schweden (Beschwerde Nr. 28774/09, § 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).


59 – Im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Anerkennungsrichtlinie.


60 – Urteil des EGMR vom 27. Juni 2013, M. K. N./Schweden (Beschwerde Nr. 72413/10, § 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


61 – Salahadin Abdulla u. a. (EU:C:2010:105, oben in Fn. 34 angeführt, Rn. 90).


62 – Vgl. z. B. Urteil Agrokonsulting-04 (C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 36).


63 – Die Rechtsmittelführer berufen sich auf die Art. 1, 3, 4 (die unabdingbaren Rechte), 7, 18, 19, 21 und 41 der Charta.


64 – Art. 1 der Anerkennungsrichtlinie.


65 – In der „Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD-9) der Weltgesundheitsorganisation von 1977 wurde Homosexualität als psychische Krankheit geführt; die Streichung in der Klassifikation erfolgte mit Billigung der 43. Weltgesundheitsversammlung vom 17. Mai 1990 durch die ICD-10. Bei der Internationalen Klassifikation der Krankheiten handelt es sich um ein normiertes Diagnoseinstrument für die Epidemiologie, die Verwaltung im Gesundheitswesen und für klinische Zwecke.


66 – Art. 7 in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 der Charta.


67 – Medizinische Tests, die ohne die Einwilligung eines Antragstellers durchgeführt werden, könnten gegen die Art. 1 und 4 der Charta verstoßen. Sie wären eindeutig nicht mit Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie vereinbar, da sie nicht mit dem Grundsatz der Mitwirkung in Einklang stehen. In seinem Urteil vom 11. Juli 2006, Jalloh/Deutschland (Beschwerde Nr. 54810/00, ECHR 2006-IX), hat der EGMR (GK) die allgemeinen Grundsätze dargelegt, die für die Auslegung des (Art. 4 der Charta) entsprechenden Art. 3 EMRK bezüglich der Durchführung einer ärztlichen Behandlung gelten. Eine Misshandlung müsse ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um unter Art. 3 zu fallen. Diese Beurteilung sei relativer Natur; sie hänge von allen Umständen des Falls ab und stelle hohe Beweisanforderungen nach dem Grundsatz „jenseits jeden vernünftigen Zweifels“ (§ 67). Bei seiner Würdigung hat der EGMR auch darauf abgestellt, ob die ärztliche Behandlung darauf gerichtet ist, den Betroffenen zu demütigen und herabzusetzen (vgl. näher §§ 68 und 69 bis 74).


68 – Der phallometrische Test konzentriert sich auf die körperliche Reaktion des Betroffenen auf pornografisches Material mit heterosexuellem oder homosexuellem Inhalt (männliche oder weibliche Homosexualität). Vgl. näher hierzu Abschnitt 6.3.5 des Berichts „Fleeing homophobia“ (oben in Fn. 33 angeführt).


69 – Abgesehen von Handlungen, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten – vgl. Rn. 67. Siehe auch oben, Nr. 34.


70 – Vgl. Urteil X, Y und Z (EU:C:2013:720, oben in Fn. 32 angeführt, Rn. 68).


71 – Vgl. Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Charta.


72 – Zweck dieser Richtlinie ist die Festlegung von Mindestnormen für die Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – vgl. Art. 1.


73 – Die „Asylbehörde“ ist eine „zuständige Behörde“ im Sinne der Anerkennungsrichtlinie.


74 – Die Anforderungen an diese Prüfung sind in Art. 8 Abs. 2 Buchst. a bis c der Asylverfahrensrichtlinie geregelt. Zu den Anforderungen an eine Entscheidung der Asylbehörde, den Garantien für Antragsteller und den Verpflichtungen der Antragsteller vgl. näher die Art. 9 bis 11.


75 – Art. 12 Abs. 1 der Asylverfahrensrichtlinie.


76 – Art. 13 Abs. 3 der Asylverfahrensrichtlinie.


77 – Vgl. Schlussanträge von Generalanwalt Bot in der Rechtssache M. M. (EU:C:2012:253, Urteil oben in Fn. 54 angeführt, Nr. 59).


78 – Vgl. z. B. Urteil San Giorgio (199/82, EU:C:1983:318, Rn. 14), betreffend innerstaatliche Beweisregeln, die es praktisch unmöglich machen, die Erstattung von unter Verstoß gegen das (damals noch) Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben zu erreichen. Insoweit verbietet nach ständiger Rechtsprechung der Effektivitätsgrundsatz den Mitgliedstaaten, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren – vgl. Urteil Littlewoods Retail u. a. (C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).


79 – Urteil des EGMR vom 20. Dezember 2011, J. H./Vereinigtes Königreich (Beschwerde Nr. 48839/09, § 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).


80 – Art. 4 der Anerkennungsrichtlinie in Verbindung mit der Asylverfahrensrichtlinie.


81 – EU:C:2012:744, oben in Fn. 54 angeführt.


82 – Urteil M. M. (EU:C:2012:744, oben in Fn. 54 angeführt, Rn. 83 und 86 und die dort angeführte Rechtsprechung).


83 – Urteil M. M. (EU:C:2012:744, oben in Fn. 54 angeführt, Rn. 87). Art. 41 der Charta ist an sich zwar nur an die Unionsorgane und nicht an die Mitgliedstaaten gerichtet – vgl. z. B. Urteil Cicala (C‑482/10, EU:C:2011:868, Rn. 28). Dennoch gelten, wie der Gerichtshof im Urteil M. M. dargelegt hat, die in dieser Bestimmung verankerten Grundsätze auch für die Mitgliedstaaten.


84 – Urteil Sjöberg und Gerdin (C‑447/08 und C‑448/08, EU:C:2010:415, Rn. 45).


85 – Art. 10 Abs. 2 Buchst. b der Anerkennungsrichtlinie.